Wer den Föderalismus in seinem letzten Raffinement studieren will, muss sich an Deutschland halten, das ihn seit Jahrhunderten praktiziert", schrieb der deutsch-amerikanische Gelehrte Karl Loewenstein einmal, und in der Tat: In der deutschen Geschichte ist es seit dem Mittelalter ziemlich bundesstaatlich zugegangen. Man kann das am Bundesrat und seinen Vorgängern erkennen - eine "Länderkammer" gibt es seit dem 17. Jahrhundert, als der Reichstag "immerwährend" wurde, als ständige Konferenz der Vertreter der Reichsstände.
Aus dem Gesandtenkongress in Regensburg wurde im Deutschen Bund die Bundesversammlung in Frankfurt am Main, im Kaiserreich von 1871 folgte der Bundesrat, nun in Berlin, in der Weimarer Republik trafen sich die Vertreter der Länder im Reichsrat, in der Bundesrepublik wurde wieder ein Bundesrat daraus. Diese Länderkammer ist eine deutsche Besonderheit, die es so in anderen Bundesstaaten nicht gibt. Denn in Deutschland werden die gesamtstaatlichen Gesetze weitgehend durch die Teilstaaten, also die Länder umgesetzt, und nicht durch eine Zentralexekutive. Wenn nun aber die Länder die Bundesgesetze ausführen, müssen deren politisch Verantwortliche auch an deren Zustandekommen beteiligt werden.
Im Grunde ist dieser deutsche Exekutiv- oder Verbundföderalismus das Ergebnis eines Herrschaftskompromisses zwischen Königtum und mächtigen Regionalfürsten im Mittelalter (ganz ähnlich übrigens dem englischen Parlamentarismus). Da die deutschen Könige gewählt wurden, setzte sich bis ins 16. Jahrhundert keine Dynastie dauerhaft auf dem Thron fest, es entstand so auch kein politisches Zentrum im Reich. Zudem war das Reich zu groß, um zentral regiert werden zu können, weshalb die Könige (deren Machtbasis ihre eigene regionale Landesherrschaft war) zur Durchsetzung von Reichsgesetzen, vor allem der Landfriedensgebote, auf die Kooperation der Landesfürsten angewiesen waren. Die agierten quasi als regionale Vizekönige und wurden dafür an der Reichsregierung beteiligt.
Was zunächst eher locker organisiert war, wurde seit dem Reichstag von 1495 zur beständigen Ordnung. Über der Landesebene, auf der sich in den folgenden zwei Jahrhunderten der moderne Staat entwickelte, wurde nun eine feste gesamtstaatliche, nur aus heutiger Sicht eher rudimentär wirkende Ebene eingerichtet: der Reichstag als Gesetzgebungsorgan, seit 1667 eine ständig tagende Einrichtung, und das Reichskammergericht. Der Versuch, mit dem Reichsregiment auch ein Regierungsorgan zu installieren, misslang. Die Exekutive der Reichsgesetze blieb Ländersache. Da die einzelnen Territorien aber sehr unterschiedlich groß und nicht wenige von ihnen gar nicht "staatsfähig" waren, wurden zehn Reichskreise als autonome Exekutivebene eingeführt. Allerdings kam es nur im Schwäbischen und im Fränkischen Kreis, also in den besonders kleinteilig strukturierten Gebieten des Reiches, zu einer lebendigen Kreispolitik. Ansonsten dominierten die größeren Fürstenstaaten wie Brandenburg, Sachsen oder Bayern.
Nach dem Ende des Alten Reiches wurde als Nachfolger 1815 der Deutsche Bund geschaffen. Er war kein Staatenbund, wie oft zu lesen ist, sondern trug durchaus bundesstaatliche Züge. Der Austritt aus dem Bund war den Mitgliedern verwehrt, die einzelstaatliche Autonomie war durch die Bundesakte eingeschränkt. Einziges Bundesorgan war die Bundesversammlung, über die es den beiden konservativen Großmächten Österreich und Preußen immer wieder gelang, reaktionäre Maßnahmen durchzusetzen und die liberalere Verfassungsentwicklung vor allem in den Südstaaten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadt zu behindern.
Dagegen richtete sich die Revolution von 1848, die verfassungshistorisch einen Wendepunkt markiert, auch wenn sie fehlschlug: Die Paulskirchenverfassung, am Ende vor allem vom national und einheitsstaatlich gesinnten Flügel der Liberalen geprägt, schuf eine erheblich gestärkte Bundesebene, während den Ländern weitaus weniger Eigenständigkeit zugebilligt wurde. Die Reichsverfassung von 1849 steht am Beginn der Entwicklung zum eher unitarischen Bundesstaat. Das begann schon im Kaiserreich von 1871, wo neben der preußischen Hegemonie auch die Gesetzgebung des Reichstags bei der Rechtsvereinheitlichung oder in der Sozialpolitik stark unitarisierend wirkte. In der Weimarer Republik übernahm die Reichsebene das Ruder in nahezu allen Politikfeldern, nicht zuletzt in der Finanzpolitik. Der Weimarer Föderalismus wirkt im Nachhinein missglückt, weil er der Landesebene (die insgesamt politisch stabiler war als die Reichsebene) zu wenig Raum für eigenständiges Agieren ließ.
Mit dem Grundgesetz sollte das aus Sicht führender Landespolitiker korrigiert werden, das NS-Regime mit seiner zentralistischen Doktrin stand allen noch vor Augen. Doch im Parlamentarischen Rat setzten sich dann jene Kräfte durch, die dem Bund die eindeutig dominierende Rolle zuweisen wollten. Mit einem Unterschied zu Weimar allerdings: Die Mechanik des Grundgesetzes führt dazu, dass jeder Machtverlust der Länder mit einem Machtzuwachs für den Bundesrat einhergeht - eine weitere Aushöhlung der Länderautonomie sollte dadurch erschwert werden, was sich aber als Illusion erwies. Das System, das sich vor allem nach der Verfassungsreform von 1969 ausbildete, wurde trotz eindeutiger Bundesdominanz beschönigend als kooperativer Föderalismus bezeichnet. In Wirklichkeit entstand ein Gestrüpp politischer Verflechtung zwischen Bund und Ländern, das die Parlamente (Bundestag wie Landtage) entmachtete und den Fachbürokratien immensen Einfluss verschaffte.
Die Erkenntnis zu großer gegenseitiger Abhängigkeit zwischen Bund und Ländern und wachsender Immobilität beider staatlicher Ebenen führte schließlich zu mehreren Föderalismusreformen (1994, 2006 und 2009). Den Grad der Verflechtung minderten sie jedoch nur zum Teil, weshalb man davon ausgehen kann, dass die nächste Reformrunde nicht lange auf sich warten lassen wird. Was auch sonst: Die Geschichte des Föderalismus in Deutschland ist seit jeher auch die seiner Reformen, denn es gilt, ihn immer wieder neuen Situationen anzupassen.
Der Autor ist Redakteur des Tagesspiegel.