Im verkürzten Bundestagswahlkampf 2005 hätte die Stunde des Internet schlagen können, denn mit der Ankündigung von Neuwahlen am Abend des 22. Mai waren alle Planungen für die Organisation der Kampagnen um das Kanzleramt über den Haufen geworfen. Ein Szenario wie geschaffen für einen Online-Wahlkampf, der in kurzer Zeit, mit vergleichsweise geringem Mitteleinsatz, bei hoher Flexibilität die Übergangsphase zwischen Mai und September hätte füllen können. Doch es kam anders. Spätestens mit der Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichtes am 25. August übernahmen die altbekannten Routinen und Formate der Fernsehdemokratie das Kommando und der Wahlkampf verlor sich auf den ausgetretenen Pfaden zwischen Interview, Talkshow und Fernsehduell. Trotz einer inzwischen unübersehbaren Online-Population von knapp 40 Millionen Nutzern ist der digitale Datenraum noch immer keine konkurrenzfähige Arena für die massenmedial hergestellte TV-Manege. Ein wesentlicher Grund dafür liegt in der "Einseitigkeit" moderner Wahlkampfkommunikation, die top-down, vom Wunsch nach maximaler Kontrolle über die Kampagneninhalte auf möglichst allen Kanälen geprägt ist.
Zeitgemäße Formen der Internet-Nutzung weisen dagegen in eine andere Richtung: Unter den Schlagwörtern "Web 2.0" und "Social Software" präsentieren sich eine Reihe von Online-Diensten, die den interaktiven Charakter der Netzkommunikation in den Vordergrund stellen. Gemeinsam ist solchen "neuen" Formen der Internet-Kommunikation die noch stärkere Fokussierung auf Kommunikation und Kooperation unter den beteiligten Nutzern: "Wir sind die Sender" oder "Wir sind die Medien" lauten bekannte Parolen im Netz der Entwicklungsstufe Zwei. "Social Software" richten sich gegen den kommerzialisierten, an den Strukturen klassischer Massenmedien ausgerichteten Mainstream des Internet.
Ansätze dafür fanden sich im vergangenen Bundestagswahlkampf - eine gemeinschaftliche Programmdiskussion und -entwicklung erlaubten die Mitschreibeprojekte von FDP und die "Polit-Wiki"-Premiere von Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen orientierten sich die Freiwilligen- und Rekrutierungsseiten von SPD und CDU am Erfolgsmodell der Business-Kontaktbörsen.
Auch die Weblogs und Podcast-Initiativen, die Audio- und Videodateien über das Netz bereit stellen, zahlreicher Wahlkämpfer ließen sich in diese Systematik eingliedern, wenn sie nur die Potenziale dieser Formate besser genutzt hätten. Doch leider wirkten die Schreib- und Sprechversuche namhafter Politikerinnen und Politiker eher unbeholfen und blieben dem bewährten "top-down"-Modell hierarchischer Wahlkampfführung verhaftet.
Wie auch in den voran gegangenen Wahlkämpfen kamen die tatsächlichen Innovativen von den Rändern: die Veranstaltung eines so genannten "Podcast-Thementages" durch private Podcaster, die ihre eigenen Ideen und Perspektiven zur Wahl koordiniert veröffentlichten oder die Sammelstellen für digitale Wahlkampf-Schnappschüsse auf der Foto-Plattform Flickr rücken die Potenziale "Sozialer Software" besser in den Vordergrund. Im gelungenen Anwendungsfall tritt das technologische Setting zugunsten der Kommunikation zwischen Menschen in den Hintergrund. Dabei wird deutlich, dass der kommunikative und kooperative Charakter von "Social Software" fast zwangsläufig zur Entstehung von virtuellen Gemeinschaften und anders geschnittenen Öffentlichkeiten führt.
Für den distanzierten Beobachter ergibt sich das Bild einer anderen Art von "digitaler Spaltung": Man erkennt "große" top-down-Angebote nach dem Vorbild herkömmlicher Massenmedien und "kleine" bottom-up-Veranstaltungen einer eingeschworenen Gemeinde. Im ersten Fall soll sich das "Soziale" einer Software an ihrer vermeintlichen Massen-Reichweite erweisen, am zweiten Fall an der fast intimen Kommunikationsatmosphäre. So waren Gesellschaft und Gemeinschaft in der soziologischen Tradition aber nie definiert. Vielmehr gelingt es modernen Gemeinwesen typischerweise, beide Dimensionen in einer passenden und flexiblen Kommunikationsinfrastruktur zu vereinbaren. Die Standardisierung von Öffentlichkeit ist ihr ebenso eingegeben wie Fragmentierung; nichts davon ist "durch das Internet" verursacht, sondern höchstens sichtbarer geworden, seitdem die Sender-Empfänger-Hierarchie tatsächlich aufgebrochen worden ist.
Wer weiter über die Bedeutung der interaktiven Kommunikation für demokratische Prozesse nachdenkt, sollte die Gegenüberstellung von "alt" und "neu" im Medienbereich aufgeben. Alte Medien bleiben, die neuen nehmen in kurzer Frist andere Gestalt an. Auch Demokratie lebt nicht allein von "großer" Öffentlichkeit, sondern von einem chaotischen, "unsauberen" und variablen Dauerprozess der Publikation von Privatem, Geheimem, Obskurem, Marginalem. Wer dies in Wahlkämpfen übersieht, mag Wahlen gewinnen, hat aber politische Vermittlungsfähigkeit schon verloren. Insofern ist auch der politische Betrieb gut beraten, genau wie Unternehmen die Szene der neuen Netzgemeinschaften genau zu beobachten und für politische Zwecke zu nutzen. Die Türsteher-Funktion, die Parteien und elektronische Massenmedien einst hatten, werden sie damit aber kaum zurückgewinnen.
Die Autoren arbeiten am Zentrum für Medien und Interaktivität der Justus-Liebig-Universität Gießen.
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