Im Westen hat sich das Bild von Indien in den vergangenen Jahren deutlich gewandelt. Schuld daran sind vor allem Zahlen, die Superlativen gleichkommen: Die Wachstumsrate der Gesamtwirtschaft etwa, die in den vergangenen zehn Jahren durchschnittlich bei über sechs Prozent und in einigen Branchen im hohen zweistelligen Bereich lag. Ein Superlativ ist aber auch die Zahl derjenigen, die unter der Armutsgrenze leben. In den offiziellen Statistiken schwanken die Zahlen zwischen 280 und 400 Millionen Menschen, die von weniger als einem US-Dollar am Tag leben müssen. Jeder dritte Arme der Welt lebt damit in Indien. So relativiert sich auch die Aussagekraft des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens, das 2003 bei 540 Dollar lag. Damit gehört Indien trotz großer Erfolge bei der Armutsbekämpfung in den vergangenen 15 Jahren nach wie vor zu den Niedrigeinkommensländern. Zum Vergleich: In Deutschland betrug das Pro-Kopf-Einkommen in jenem Jahr 25.270 Dollar.
Seit mehr als 50 Jahren ist Indien Partnerland deutscher Entwicklungszusammenarbeit, gemessen an der Gesamtzusage von etwa 8 Milliarden Euro das mit Abstand wichtigste. Forderungen, die Entwicklungszusammenarbeit mit Indien wegen des dortigen wirtschaftlichen Fortschritts zu beenden, erteilt das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) regelmäßig eine Absage. Einschließlich der Marktmittel der KfW-Bankengruppe betrug die Gesamtzusage für das Jahr 2005 295,5 Millionen Euro, so ein Sprecher des BMZ.
Die Schwerpunkte der Zusammenarbeit mit Indien liegen in der nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung, also der Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen, im Umweltschutz und in der Energiegewinnung. Indien ist inzwischen der fünftgrößte Kohlendioxidemittent der Welt und hat damit erheblichen Einfluss auf die Klimaentwicklung. Die Zusammenarbeit zielt unter anderem darauf ab, veraltete Kohlekraftwerke zu modernisieren, den Verbrauch fossiler Brennstoffe zu senken und die Nutzung erneuerbarer Energien zu fördern. Gerade bei der Stromerzeugung gibt es gewaltige Probleme, welche die wirtschaftliche Entwicklung und die Minderung der Armut behindern: So bemängelt ein KfW-Bericht von 2005 hohe Verluste bei der Übertragung und Verteilung, einen veralteten Anlagenpark sowie geringe Betriebseffizienz. Im Umweltsektor gilt das Augenmerk der Zusammenarbeit dem städtischen und industriellen Umweltschutz, also etwa umweltbewusster Stadtplanung und -entwicklung.
Man versucht dabei, zivilgesellschaftliche Akteure und Nichtregierungsorganisationen einzubinden. "Bei der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung Indiens ist es in unserem eigenen Interesse, so weit wie möglich Einfluss zu nehmen, um Natur- und Klimakatastrophen zu verhindern, die auch uns in Deutschland erreichen würden", sagt der BMZ-Sprecher. Der Erfolg ist jedoch auch hier geringer als erhofft. Die eingesetzten Mittel entfalteten nur eine "geringe Wirksamkeit", ihr Nutzen sei sehr ungleich verteilt, kritisiert der erwähnte KfW-Bericht. Im Gesundheitswesen wird mit deutschen Mitteln nur noch das Programm zur Polio-Bekämpfung unterstützt. Es soll fortgesetzt werden, bis die Krankheit in Indien ausgerottet ist. "Durch unsere Unterstützung wurde erreicht, dass die Zahl der Poliofälle von 350.000 im Jahr 1988 auf bislang 54 im laufenden Jahr gesunken ist", so der BMZ-Sprecher.
Inzwischen engagieren sich auch große Unternehmen in der Entwicklungszusammenarbeit. Der Zeichenzubehörfabrikant Faber-Castell führte Sozialstandards bei seinen indischen Zulieferern ein. Gemeinsam mit dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) und der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) testet der Versicherungskonzern Allianz das Potenzial von "Mikroversicherungen". Diese preiswerten Risikolebensversicherungen sollen verhindern, dass bei einem Ausfall des Ernährers die ganze Familie verarmt. Die Versicherungssummen sind unterschiedlich: Die Beitragssätze beginnen bei 5 Cent pro Monat, die ausgezahlte Summe beträgt in diesem Fall bei einem natürlichen oder einem Unfalltod 50 Euro. Derzeit sind in Indien laut Allianz rund 79.000 Menschen über drei Verträge versichert. Mittelfristig rechne man mit einem stark wachsenden Markt für Mikroversicherungen. Zudem hoffe man darauf, dass einige der derzeit billig Versicherten nicht das ganze Leben arm bleiben: Nach ihrem Aufstieg in die Mittelschicht sollen sie der Versicherungsfirma treu bleiben. Schließlich gelten Versicherungen als Boombranche in Indien.
Das Engagement von Unternehmen dürfte in Zukunft angesichts mangelnder Effizienz bei der Armutsbekämpfung noch wichtiger werden. So sterben laut jüngstem UN-Bericht über menschliche Entwicklung jährlich 2,5 Millionen Kinder unter fünf Jahren, die Sterblichkeitsquote liegt bei 2,3 Prozent. Kinder gehörten damit zu den eindeutigen Verlierern des Wirtschaftswachstums. "Auch wenn Indien zu den Gewinnern der Globalisierung zählt, so hat das hohe Wachstum die Kindersterblichkeit nicht reduziert", sagt Arunabha Ghosh, die Mitautorin des Berichts. Andere, wirtschaftlich wesentlich schwächere Länder in Asien wie Vietnam und sogar Bangladesch hätten zuletzt größere Erfolge bei der Bekämpfung der Kindersterblichkeit erzielt. Die Autoren des ersten indischen "Social Development Report" warnen sogar, die Einkommensunterschiede sowie die sozialen und regionalen Ungleichheiten hätten sich seit der wirtschaftlichen Liberalisierung vor 15 Jahren so stark verschärft, dass sie zu einem Sicherheitsproblem werden könnten. Die Untersuchung der Forschungsanstalt "Council for Social Development" sieht eine "Vierte Welt" der Armen und Ausgegrenzten entstehen. "In den 90er-Jahren lag das Gefälle zwischen den reichsten und ärmsten Unionsstaaten noch bei eins zu drei. Inzwischen hat es sich bei eins zu fünf eingependelt", erklärt Mitautor N. J. Kurian.