Tötet uns, nicht das Leistungsprinzip!" In diesem pathetischen Slogan gipfelten im Frühjahr Demonstrationen junger Medizinstudenten auf Indiens Straßen. Mit Streiks an den Krankenhäusern unterstrichen sie ihren Protest gegen die Zentralregierung in Delhi. Bald reihten sich andere Fakultäten ein.
Stein des Anstoßes war der Plan des Bildungsminis-ters Arjun Singh, eine Quote von 27 Prozent der Studienplätze an staatlichen Hochschulen und Universitäten für niedere Kasten zu reservieren - zusätzlich zu den jetzt schon 22,5 Prozent, die Kastenlosen und Ureinwohnern vorbehalten sind. Damit bliebe nur mehr die Hälfte der Ausbildungsmöglichkeiten frei zugänglich für die urbanen Mittelschichten. Und das, obwohl Studienplätze ohnehin schon viel zu knapp sind.
Kaum jemand in Indien bezweifelt zwar, dass mehr für die Bildungsgerechtigkeit getan werden muss. Doch am oberen Ende zu beginnen, erscheint vielen ein populistischer Schnellschuss zu sein, ein Zugeständnis, das die Regierungskoalition um die Kongresspartei der Linken macht, von deren Toleranz ihre Mehrheit abhängt. Vor allem, sagen die Kritiker, sei das System der Bevorzugung kaum zielführend. Denn schon die bestehenden Quoten werden in der Praxis kaum ausgeschöpft, weil es für die benachteiligten Gruppen der indischen Gesellschaft, meist Landbewohner, zunächst einmal an der angemessen Primärbildung fehlt. Die öffentlichen Schulen sind meist schlecht ausgestattet, noch immer kommt nur etwa jedes fünfte Kind an der Grundschule zum Abschluss - doch die breite Bildungsoffensive von unten ist bisher ausgeblieben. Wer es sich irgendwie leisten kann, legt sich krumm und schickt seine Kinder auf eine private Schule. Die Quote, so ein weiterer Kritikpunkt, schreibe zudem das alte Prinzip der sozialen Ordnung nur weiter fort.
Die erbittert geführte Debatte zeigt, dass es Indien noch immer nicht gelungen ist, die Kastengesellschaft zu überwinden. Der erbitterte Streit um die höhere Bildung nagt aber auch am Ruf des Landes als "kommende Supermacht des Wissens", den nicht nur das Magazin "New Scientist" Indien attestiert und der einen Teil des indischen Anspruchs auf die Rolle als neue globale Großmacht begründet.
Dass der Subkontinent, obgleich nach wie vor ein weitgehend agrarisch geprägtes Entwicklungsland, erstklassige Experten für Computer- und IT-Wissenschaften hervorbringt, hat sich weltweit herumgesprochen. Doch dass es darüber hinaus von Delhi bis Bombay, von Haiderabad bis Bangalore auch eine sehr viel breitere, ehrgeizige Forschungslandschaft gibt, erkannten Bildungs- und Wirtschaftsfachleute der westlichen Industrienationen erst allmählich. Jene aus Deutschland mit noch größerer Verspätung: Erst seit, noch unter Rot-Grün, Bundeskanzler Gerhard Schröder und Bildungsministerin Edelgard Bulmahn durch Indien tourten, folgten Delegationen der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft und der großen Universitäten mit dem Ergebnis immer neuer Kooperationen.
Rund 20 indischen Universitäten wird ein internationales Niveau bescheinigt; zudem einzelnen Fakultäten an manchen der rund 300 übrigen Institute höherer Bildung. Insgesamt gibt es in Indien fast 17.000 staatliche Hochschulen, Fachhochschulen und Colleges unterschiedlicher Qualität, die von der zentralstaatlichen Regulierungsbehörde University Grants Commission (UCG) in Delhi bewertet und bezuschusst werden. Besonders renommiert sind die sieben Indian Institutes of Technology (IIT). Deren Exzellenz fiel weltweit auf, als ihre Abgänger den Computer-Boom im Silicon Valley mitbegründeten. Noch immer zieht es ein Viertel der "heißesten Exportartikel Indiens", so die Zeitschrift "Frontline", nach ihrem Studium nach England und in die USA; in manchen Disziplinen gehen fast ganze Abschlussjahrgänge ins Ausland, um beruflich weiterzukommen. Doch bei Diskussionen in Indien über diesen "brain drain" wird als Gegentrend zugleich der "brain gain" ins Feld geführt: Die Rate flüchtiger Akademiker sinkt, ja viele kehren in ihr Heimatland zurück, weil zumindest in dessen Megastädten mit der Liberalisierung der Wirtschaft seit den 90er-Jahren eine Gründerzeit begann.
Allein in den vergangenen fünf Jahren bauten über 100 ausländische wie einheimische Unternehmen Forschungs- und Entwicklungsabteilungen auf. "Indien wird attraktiv", bestätigt nicht nur der polyglotte Forschungspreisträger der Alexander von Humboldt-Stiftung, der Metallingenieur Anantha Padmanabhan von der Universität Haiderabad. Investoren wissen beispielsweise zu schätzen, dass gut ausgebildete indische Forscher als Angestellte oft ein Zehntel dessen verdienen, was ihre Kollegen in den Industrienationen erhalten. Das Land biete den Geschäftsleuten eine "riesige Talentfabrik", meint Jayaraman Killugudi, Korrespondent des Fachblattes "Nature" in Haiderabad.
So kann man die scharfe Konkurrenzsituation für die Millionen von Schulabgängern auch sehen, die sich um die Plätze an den besten Unis bewerben. In den Familien der Mittelschicht herrscht eine hoch disziplinierte, knallharte Kultur des Lernens. Jede Woche veröffentlichen Zeitungen dicke Beilagen über "education"; das Thema "Prüfungsangst" behandeln sie ganz vorn mit Leitartikeln. 250.000 junge Leute bewarben sich im vergangenen Jahr um 1.600 Plätze an medizinischen Fakultäten, 300.000 Kandidaten stürmten 4.000 Informatik-Studienplätze, die IITs pflücken sich jedes Jahr in knallharten Prüfungen aus 180.000 Bewerbern die besten 3.500 heraus.
Rund zehn Millionen Inder studieren, das sind etwa acht Prozent der 18- bis 24-Jährigen. Der Anteil soll auf zehn Prozent steigen, wenn es nach der Zentralregierung in Delhi geht. Zugleich wächst die Bevölkerung und wird immer jünger, während die Hochschulfakultäten mancherorts überaltern. Der Bedarf nach höherer Bildung ist also gigantisch - auch deshalb wird der Streit um die Quoten so leidenschaftlich geführt. Die Regelung würde noch mehr Inder zum Studium ins Ausland treiben, befürchten viele. Schon jetzt besuchen rund 80.000 junge Menschen Colleges und Universitäten allein in den USA. Vor allem Vertreter der Wirtschaft, die den Quotenvorschlag ebenfalls heftig kritisieren, sehen die Lösung in der Zulassung von mehr privaten Hochschulen. Sie bemängeln, dass die Zentralregierung solchen Instituten den Start noch zu schwer mache. Bisweilen ist das jedoch berechtigt: Auf dem lukrativen Markt hatten neben sehr guten Anbietern allzu oft auch dubiose Geschäftemacher versucht, mit Luftnummer-Fakultäten von der Lernbegierigkeit der Mittelschicht zu profitieren.
Delhi konzentriert seine Anstrengungen vor allem auf die Spitzenforschung, in der Hoffnung, der daraus resultierende Wohlstand möge auch das Entwicklungsniveau steigern und Mittel für eine verbesserte Infrastruktur freimachen. Wie im föderalen Deutschland ist die Bildungs- und Hochschulpolitik in Indien Ländersache, doch für die Wissenschaft gibt die Zentralregierung fast zehn Mal mehr als die Bundesstaaten aus. Der Forschungshaushalt von rund 4 Milliarden US-Dollar wächst seit Jahren kontinuierlich; bis 2007 soll der Anteil der Forschung am Bruttoinlandsprodukt von 1,2 auf zwei Prozent steigen.
Kaum überschaubar ist die Vielfalt der Fördertöpfe. Eigene Atom-, Raumfahrt- und Rüstungsministerien unterhalten diverse Institute; diese drei Bereiche verschlingen mehr als die Hälfte der Forschungsaufwendungen. Auch die Ministerien für Landwirtschaft, Meeresforschung oder Erneuerbare Energien finanzieren Projekte. Schwerpunkte sind neben der Infotechnologie die Biotechnologie, die pharmazeutische und die medizinische Forschung, einschließlich jener an Stammzelltherapien, die im Westen politisch heiß umstritten ist. Über 200 Forschungseinrichtungen unterstehen der Regierung.
Der Staatssekretär für Wissenschaft und Technologie im Forschungsministerium in Delhi, V. S. Ramamurty, residiert symbolhaft in einem Gebäude, in dem vor 40 Jahren die amerikanische Nahrungsmittelhilfe Weizen und Milchpulver lagerte. Nicht zuletzt die Kränkung, selbst nach der errungenen Unabhängigkeit abhängig zu bleiben, hat wohl die "hohe Priorität für Forschung im Dienst der Entwicklung" beflügelt, wie der weißhaarige Nuklearphysiker bekundet. Diese politische Interpretation der "Swadeshi"-Philosophie ("Aus eigener Kraft leben") brachte Indien seit den 70er-Jahren nicht nur die Grüne Revolution und Lebensmittelüberschüsse, sondern auch eigene Automarken, Pharmafirmen, Atomkraftwerke und Satelliten.
Seit die Märkte offen sind, betont Ramamurty, setze die Regierung bei der Forschung eine neue Priorität: "Jetzt ist die Politik dazu da, der Industrie den Rücken zu stärken." Denn deren Beitrag zu den Forschungsausgaben ist bisher mit 27 Prozent noch gering. Um Wissenschaft und Industrie zu verkuppeln und "die Wohlstandsgöttin Lakshmi mit der Göttin der Weisheit Saraswathi zu vereinen", wie indische Journalisten gern formulieren, sollen nicht mehr nur staatliche Universitäten modernisiert, sondern mit Steueranreizen oder wirtschaftsfreundlicheren Patentgesetzen auch Firmen zu Forschungsausgaben angestachelt werden. Besonders gefördert werden Public Private Partnerships zwischen Hochschulen und Unternehmen.
"Wer heute auf meinem Gebiet Finanzierungsprobleme hat, dem sind die Ideen ausgegangen", schwärmt auch Lalji Singh, Leiter des hoch renommierten Center for Cellular and Molecular Biology (CCMB) in Haiderabad, vom politischen Rückenwind. Aber unter der Bürokratie litten die Universitäten und Forschungsinstitute nach wie vor. Und er vermisst Prioritäten: "Die Regierung fördert alles, was auch andere Länder machen", sagt Singh. "Doch sie konzentriert sich noch nicht ausreichend auf die besonderen Stärken unseres Landes." Zudem achte sie zu wenig darauf, dass auch die Ärmeren von den Ergebnissen der Forschung profitierten.
Das Spannungsverhältnis zwischen Arm und Reich bildet sich also nicht nur beim Zugang zur Bildung ab, sondern auch bei der Frage, wem das Wissen nützt. Nachdem die Koalition der Bharatiya-Janata-Partei (BJP) 2004 wegen ihres einseitigen, allein auf die Mittelschichten zielenden Wachstumskurses mit unerwarteter Deutlichkeit abgestraft worden war, versucht nun die von der Kongress-Partei angeführte Koalition in Delhi unter Premierminister Manmohan Singh, die Armut auch mit Hilfe der Wissenschaft zu bekämpfen. So sollen etwa die Agrarforschung - bei Bio wie bei Bio-Tech - ausgebaut und moderne Informationszentren in den Dörfern eingerichtet werden. Wissenschaftler sollen ihre Erkenntnisse für die Entwicklung nutzen, indem sie Dorfbewohner mit Satellitenprogrammen alphabetisieren oder die Produktion traditioneller Textilien mit Computerdesign unterstützen.
Kritiker allerdings halten solche Ansätze oft für allzu weit entfernt von der Realität in den Dörfern. Was beispielsweise nutzen die schönsten virtuellen Konzepte für Fernalphabetisierung, wenn es nicht einmal Elektrizität gibt? Auch Sunita Narain vom Center for Science and Environment in Delhi meint, das Wissenschaftssys-tem spreche zu wenig die wichtigsten Probleme der Menschen an: Grundbildung, Wasserknappheit, Bodenerosion und Müllentsorgung, um nur einige zu nennen. "Es ist gut, wenn wir in den Weltraum fliegen können", sagt Narain. "Aber wichtiger wäre eine überzeugende technologische Alternative zur Toilettenspülung."
Christiane Grefe ist Reporterin im Berliner Büro der "Zeit".