BARBARA LOCHBIHLER
Die Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International über Menschenrechtsverletzungen
Frau Lochbihler, in vielen Ländern dieser Welt werden täglich Menschenrechte mit Füßen getreten. Gibt es auch in Deutschland Menschenrechtsverletzungen?
Ja, die gibt es. Wir gehen immer wieder Fällen nach, bei denen die Polizei massiv Gewalt anwendet. Das war nicht nur beim G8-Gipfel Thema. Auch bei ganz normalen Verhaftungen ohne politischen Hintergrund kommt es immer wieder zu exzessiven Übergriffen. Über Anzahl und Schwere der Vorfälle gibt aber keine Transparenz, weil Deutschland keine Statistiken veröffentlicht. Deshalb kann man auch keine gezielte Politik dagegen machen. Selbst die Vereinten Nationen haben Deutschland in diesem Punkt bereits angemahnt. Ohne Erfolg.
Sind da auch die Parlamentarier gefragt?
Auf jeden Fall. Parlamentarier können viel freier reden, kontrollieren und anklagen als Regierungen. Sie können Öffentlichkeit mobilisieren. Grundsätzlich ist im Juni mit der Gründung eines parlamentarischen Netzwerkes für Menschenrechte auf EU-Ebene ein sehr wichtiger Schritt getan worden. Die Parlamentarier werden nun viel enger zusammenarbeiten können. Es ist zudem wichtig, dass die Abgeordneten immer wieder Anfragen in ihrem Heimatparlament stellen und Menschrechtsfragen bei ihren Auslandsreisen ansprechen. Wie man am Beispiel des BND-Untersuchungsausschusses in Deutschland sieht, kommen auf diese Weise Informationen ans Tageslicht, die sonst niemand erfahren hätte. Jeder weiß jetzt etwa, wie mangelhaft im Fall Murat Kurnaz die Koordinierung der Arbeit des Bundesnachrichtendienstes war. Nichtregierungsorganisationen allein können diese Aufklärung nicht leisten.
Die Europäische Union verfolgt vor allem an ihren südlichen Grenzen eine immer stärkere Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen. Stimmt die Politik mit den Standards der Union noch überein?
Nein. Das tut sie nicht. Die Europäische Union setzt auf militärische Maßnahmen, um die Flüchtlinge abzuwehren. Gelangen Schutzsuchende trotz dieser Bemühungen in die EU, können sie oft keinen Asylantrag stellen. Außerdem setzt die Europäische Union Staaten wie Marokko oder Libyen unter Druck, Flüchtlinge unbürokratisch zurückzunehmen. Dort aber werden die Menschenrechte der abgeschobenen Flüchtlinge und Migranten in eklatanter Weise verletzt. Marokko beispielsweise hat Hunderte Menschen ohne Trinkwasser und Nahrung an der Wüste zu Algerien ausgesetzt. Dennoch setzt sich Deutschland auf EU-Ebene für eine weitergehende Abschottung ein - und schiebt zudem weiter ab. Sogar in den Irak. Dort tobt aber Bürgerkrieg - die abgeschobenen Flüchtlinge müssen um ihr Leben fürchten.
"Menschenrechte sind universell." Das ist ein schöner Satz, den sich jeder gerne auf die Fahnen schreibt. Die Menschenrechte werden jedoch weltweit - und selbst in Demokratien - sehr unterschiedlich ausgelegt. Gilt gleiches Recht für jeden?
Menschenrechte sind universell und das ist auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen 1948 so verabschiedet worden. Wie die einzelnen Gesellschaften diese dann interpretieren und umsetzen ist allerdings eine ganz andere Frage. Das absolute Folterverbot gilt zwar überall. Dennoch wird in Demokratien wie den USA und Japan gefoltert. Und nicht nur das: In beiden Ländern wird regelmäßig die Todesstrafe angewandt. Dadurch setzen sich beide Länder über geltende Normen hinweg. Der Antiterrorkampf ist weltweit ein großer Rückschritt für die Menschenrechte. Die USA haben dadurch den moralischen Anspruch eingebüßt, Menschenrechte von anderen Staaten einzufordern. Auch deshalb ist es wichtig, dass die USA ihre Politik ändern. Mittlerweile gibt es viele Länder, die als Trittbrettfahrer agieren und Menschen in Haft nehmen, ohne sie einem Rechtsanwalt vorzuführen. Als Begründung sagen sie: Das ist Antiterrorkampf. Insgesamt ist das ist ein verheerende Politik des Rollback, der Angst. Und die ist falsch. Denn nur durch mehr Menschenrechtsschutz erhält man Sicherheit.
Wie positioniert sich die deutsche Regierung?
Zum einen thematisiert sie die Menschenrechte in auswärtigen Beziehungen und zum anderen innerhalb der UNO - und das ist sehr gut so. Aber im Rahmen des sogenannten Antiterrorkampfes läuft einiges schief. Die deutsche Regierung hat gesagt, dass es beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus keinen Menschenrechtsrabatt geben darf. Schaut man aber genau hin, dann wird der Menschenrechtsschutz nicht vor Sicherheitsinteressen gestellt sondern umgekehrt. Grundsätzlich müssen für Geheimdienstmitarbeiter eindeutige Kriterien und Handlungsanweisungen verfasst werden, damit sie nicht in Grauzonen operieren.
Die Welt verändert sich durch die Globalisierung rasant. Werden in den prosperierenden Regionen der Welt die Menschenrechte durch die Zunahme der Wirtschaftskraft gestärkt?
Es gibt keinen Automatismus. Man kann nicht sagen, mit Wachstum an Wohlstand und Bruttosozialprodukt sind Menschenrechte automatisch geschützter. So haben wir in China, übrigens einem "Gewinner" der Globalisierung, erschreckende Verletzungen des Rechts auf Gesundheit und der Arbeitsrechte von Wanderarbeitnehmern dokumentiert. Gerade transnationale Unternehmen spielen hier eine zunehmend wichtige Rolle, weil sie teilweise mächtiger sind als einzelne Staaten.
Sehen die transnationalen Konzerne ihre Verantwortung oder nehmen sie Menschenrechtsverletzungen billigend in Kauf, wenn für sie am Ende der Profit stimmt?
Das Bewusstsein für die menschenrechtliche Verantwortung hat in den letzten zehn Jahren zugenommen, aber es reicht bei weitem nicht aus. Zwar haben sich viele transnationale Unternehmen freiwilligen Verhaltenskodizes unterworfen, in denen sie sich zu ihrer "Corporate Social Responsibility" bekennen. Zu ihrer Verantwortung für die Menschenrechte bekennt sich aber nur ein Bruchteil der Unternehmen. Von den rund 75.000 transnationalen Unternehmen weltweit haben sich bis heute rund 2.900 dem so genannten Global Compact angeschlossen. Mit diesem Kodex, den der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan im Jahr 2000 ins Leben gerufen hat, verpflichten sich Unternehmen, unter anderem die Menschenrechte zu achten. Einige Unternehmen profitieren auch von Menschenrechtsverletzungen. Die UN hat etwa dokumentiert, dass europäische Konzerne Tantal, ein Metall, das für Herstellung von Mobiltelefonen benötigt wird, von den Kriegsparteien in der Demokratischen Republik Kongo bezogen haben.
Neben der Globalisierung wird auch die Klimaerwärmung zu großen Veränderungen in der Welt führen.
Die Klimaveränderung wird den Schutz der Menschenrechte vor neue Herausforderungen stellen. Die arme Bevölkerung dieser Welt wird von der Klimaerwärmung viel stärker betroffen sein als wohlhabende Regionen. Das gilt vor allem für Afrika. Der Kontinent wird austrocknen. Die Menschen werden noch weiter bis zur nächsten Wasserstelle laufen müssen. Die Bedeutung des Rechts auf Wasser als Menschenrecht wird zunehmen. Außerdem wird Europa sich fragen müssen, wie es mit Menschen, die vor Umweltkatastrophen flüchten, umgehen will. Aber auch in anderen Regionen wie dem Nahen Osten werden die Konflikte dadurch angeheizt. In den palästinensischen Gebieten ist die Brunnentiefe genau festgelegt, sodass die Leute nicht an das Grundwasser kommen. Gleichzeitig werden in Israel aber die Swimmingpools gefüllt. Um Wasser wird es mit Sicherheit in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in Krisengebieten der Erde große Verteilungskämpfe geben. Dabei wird es vor allem um den Zugang zu sauberem Wasser gehen. Denn durch die Privatisierung von Wasserversorgung und Wasserentsorgung ist Wasser kein Gut mehr, das für jeden zugänglich ist. Gerade in Slums können sich viele Menschen die Anschlussgebühren nicht leisten.
Das Interview führte Annette Rollmann.