Blick in die GESCHICHTE
Von der Bill of Rights über die UN-Charta der Menschenrechte bis zur EU-Charta
Vielleicht begann alles vor genau 2631 Jahren. Vielleicht. Denn so genau weiß niemand, wann der Gedanke der Menschenrechte anfing zu keimen. Im Jahr 624 vor Christus jedenfalls, so viel steht fest, schränkte das antike Athen die willkürliche Rechtsprechung ein. Dieses Datum kann deshalb als Beginn der Menschenrechte angesehen werden.
Seit dieser Zeit erhielten alle Bürger Athens politische Mitsprache - mit vielen Ausnahmen freilich. Sklaven und Frauen hatten nichts zu melden, und damit kam mehr als die Hälfte der Bevölkerung nicht in den Genuss der Grundrechte. Aber reicht die Idee der Menschenrechte nicht noch weiter zurück? Nach der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments stellt jeder Menschen, übrigens unabhängig vom Geschlecht, ein Ebenbild Gottes dar, und ein stärkeres Bekenntnis zu den Menschenrechten lässt sich kaum abgeben. Doch letztlich ist der Streit um den Beginn der Menschenrechte eher theoretischer Natur.
Festzuhalten gilt: Diese Idee geisterte schon lange durch die Köpfe der Menschen. Doch richtig zum Durchbruch kam sie erst mit der Aufklärung und zur vollen Blüte nach dem Zweiten Weltkrieg. Seitdem bilden die Menschenrechte eine wichtige Kategorie des Völkerrechts. Damals wurde aus einem Keim, der in der Antike erste Triebe hatte, ein prächtiger Baum mit vielen Früchten. Der Heidelberger Völkerrechtler Jochen Frowein sprach deshalb von einer "Wiederentdeckung des Menschen im Völkerrecht" seit 1945. Zuvor regelte das Völkerrecht in erster Linie die Beziehungen zwischen den Staaten, zwischen den Völkern. Das Kollektiv stand im Vordergrund, nicht der Einzelne. Das änderte sich. Jetzt geht es im Völkerrecht auch um das Individuum. Der Mensch spielt im Recht der Völker keine Nebenrolle mehr.
Wie genau sah diese Entwicklung aus? Das lässt sich gut anhand der Texte zeigen, die die Menschenrechte festhalten und definieren. Um diese Chartas soll es hier gehen. Sie machen und machten für jedermann schwarz auf weiß sichtbar, welche unveräußerlichen Rechte der Einzelne hat -und zwar nicht durch den Gnadenerweis eines anderen, sondern aus eigenem Recht.
Wenn anfangs gesagt wurde, dass die Aufklärung ein wichtiger Schritt war, so ist dies zutreffend, aber doch ein wenig verfälschend. Denn vereinzelt lassen sich auch schon früher Dokumente finden, die ebenfalls Grundrechte fixieren. Eine frühe Form ist zum Beispiel die englische Magna Charta aus dem Jahr 1215. In ihr ließen sich die Barone vom König bestimmte Rechte, so das Eigentumsrecht, zubilligen. Streng genommen ging es nicht um Grundrechte, nicht um Rechte für jedermann, sondern um Privilegien des Adels, auch gegenüber deren Untertanen. So ließen sich die Barone vom König zusichern, dass sie weiter Abgaben von ihren Untertanen erheben dürfen. Die Macht des Königs schränkte auch die Bill of Rights aus dem Jahr 1689 ein. Sie definierte vor allem die Rechte des Parlaments gegenüber dem Monarchen.
Ein weiteres Dokument sind die Zwölf Artikel von Memmingen aus dem Jahr 1215. Sie gelten als erste Menschenrechtserklärung in Europa. Während der Bauernkriege sicherten sich Bauern zum Beispiel das Recht, Holz aus dem Wald zu nehmen.
Diese Quellen sind freilich nur ein Vorgeplänkel gegenüber der Urmutter aller Menschenrechtserklärungen, der "Virginia Declaration of Rights" aus dem Jahr der amerikanischen Unabhängigkeit 1776. Sie enthielt erstmals eine Auflistung der Grundrechte und diente anderen Dokumenten als Vorbild, so der im selben Jahr verabschiedeten Bill of Rights, die für alle 13 US-amerikanischen Gründerstaaten Gültigkeit beanspruchte.
16 Artikel enthält die Erklärung aus Virginia, mit der die Bürger dieses Staats Grundrechte kodifizierten. "Alle Menschen sind von Natur aus in gleicher Weise frei und unabhängig", so beginnt der erste Artikel. Die Freiheit der Presse wird geschützt, ebenso die der Religionsausübung. Zugleich umfasst die Charta freilich eine Reihe von Vorschriften, die eher die Staatsorganisation betreffen, die Gewaltenteilung und Vorschriften darüber, wie Wahlen abzuhalten sind.
An die amerikanischen Dokumente knüpfte 1789 die "Déclaration des droits de l'homme et du citoyen" an. Sie bildete das Kerndokument der französischen Revolution. Nur über den Umweg über Amerika kamen also die Grundrechte nach Europa und prägen seitdem den Kontinent. Die französische "Kopie" besteht aus einer Präambel und 17 Artikeln, die "natürliche und unveräußerliche Rechte" auf Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung enthalten. Die Präambel der heute gültigen Verfassung Frankreichs aus dem Jahr 1958 verweist auf die Erklärung und inkorporiert sie so in das geltende Recht. Die Charta von 1789 galt übrigens nur für Männer. Erst zwei Jahre später, 1791, formulierte Olympe de Gouges eine "Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin", aber es sollte noch bis 1906 dauern, bis Frauen das erste Mal, nämlich in Finnland, an Wahlen teilnehmen durften.
Doch immer noch bildeten die Menschenrechte keinen Grundpfeiler der Völkerrechtsordnung. Auch wenn es zynisch klingen mag: erst mussten Millionen Menschen sterben. Ohne Auschwitz hätten die Staaten nach 1945 nicht den Quantensprung gewagt, den die Kodifizierung der Menschenrechte bedeutet. Die Verbrechen der Nationalsozialisten öffneten vielen die Augen. Schlagartig wurde klar, was Menschen Menschen antun können - und weshalb die Rechte des Menschen eines Schutzes bedürfen. Auch die Gräueltaten Stalins wirkten.
Genau hier lag allerdings ein Problem: Die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs sahen den Menschenrechtsschutz aus verschiedenen Blickwinkeln. Stalins Sowjetunion war eine totalitäre Diktatur, die an einem umfassenden Schutz keinerlei Interesse hatte. Für die westlichen Siegermächte wurde der Menschenrechtsschutz immer mehr zu einem primären Ziel ihrer Politik. Doch selbst diese Staaten hatten Flecken auf ihren ansonsten weißen Westen: In den USA galt noch die Rassentrennung; Frankreich und Großbritannien herrschten über Kolonien und behandelten die Einwohner dieser Gebiete sehr unterschiedlich. Deshalb verankerten die Vereinten Nationen, die 1945 gegründet wurden, kein menschenrechtliches Schutzsystem, das wirklich wirksam ist. Zwar verspricht Artikel 1 der UN-Charta, dass es Ziel der Vereinten Nationen sei, "die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen". Doch bleibt es ohne Sanktionen, wenn sich die Mitgliedstaaten nicht daran halten.
Drei Jahre später nahm die Generalversammlung der UNO freilich die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" an, die erstmals weltweit eine umfassende Aufstellung der Menschenrechte enthält. 48 von damals 56 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen nahmen die Charta an, die einen umfassenden Katalog von Freiheitsrechten sowie Gleichheitsrechten im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich enthält. Zwar ist diese Konvention nicht bindend. Dennoch hat sie politisch und moralisch erhebliches Gewicht. Etliche nationale Verfassungen nehmen auf die Erklärung Bezug und halten sich an die dort festgelegten Definitionen. Zudem dient die Charta als Interpretationshilfe - etwa, wenn jene Artikel der UN-Charta, die sich auf Menschenrechte beziehen, ausgelegt werden.
Darüber hinaus bildet die Erklärung den Grundstock für zwei Verträge aus dem Jahr 1966: den "Pakt über bürgerliche und soziale Rechte" sowie den "Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte". Beide Abkommen traten 1976 in Kraft. Damit hat die völkerrechtliche Gewährleistung der Menschenrechte auf universeller Ebene ihren Durchbruch erreicht. Denn die Pakte sind bindende Rechtsakte für immerhin rund drei Viertel aller Staaten.
Die Pakte garantieren unter anderem das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit und auf ein faires Verfahren. Hinzu kommt der Schutz der materiellen Rahmenbedingungen. Das alles sind freilich wieder nur Vorgaben für die Staaten. Eine andere Frage ist, wer die Einhaltung dieser Pflichten überwacht und es sanktioniert, wenn die Staaten gegen die Pakte verstoßen. "Wo kein Kläger, da kein Richter", das gilt auch im Völkerrecht.
Wichtigstes Organ zur Überwachung ist der UN-Menschenrechtsausschuss mit Sitz in Genf. Er verabschiedet Beobachtungen ("concluding observations") und Empfehlungen ("recommondations"). Grundlage sind Berichte der Staaten selbst, aber auch von Nichtregierungsorganisationen. Immer wieder wurde der Ausschuss scharf kritisiert. Ihm gehörten als Mitglieder Staaten an, die selbst die Menschenrechte massiv verletzen, so zum Beispiel Kuba. In Genf wird also der Bock zum Gärtner gemacht.
Immerhin: Ein Mindestmaß an Transparenz in Menschenrechtsfragen schafft das Gremium. Staaten können an den Pranger gestellt werden. Dieser globale öffentliche Druck kann dann die Menschenrechtslage in dem betroffenen Staat beeinflussen. Durchgriffsrechte gegenüber einem Staat, der die Menschenrechte verletzt, hat die UNO freilich nicht. Die Weltorganisation verfügt über keine Polizisten, die nach Syrien oder Nordkorea reisen, um dort Bürgerrechtler aus dem Gefängnis zu holen. Der UNO bleibt nur der öffentliche Appell - ein stumpfes Schwert.
Auf der Ebene der UNO kann man also allenfalls von einem ernsthaften Versuch sprechen, die Menschenrechte wirksam zu schützen. Doch gelingt vielleicht auf regionaler Ebene, woran die Weltorganisation scheitert? Ja, jedenfalls in Europa. Dort hat die "Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten" (EMRK) aus dem Jahr 1950 Maßstäbe auch für andere Kontinente gesetzt. Der Rechtswissenschaftler Karl Josef Partsch sprach sogar vom "ersten Stück einer gemeinsamen Verfassung". Das freilich ist stark übertrieben. Doch die Konvention hat sich als sehr wirksamer Schutzrahmen erwiesen.
Sie wurde nicht, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, von der Europäischen Gemeinschaft verabschiedet, sondern vom Europarat, einem Staatenzusammenschluss, der mehr Länder verbindet als die heutige EU. Mittlerweile sind 46 Länder an die EMRK gebunden, auch Russland. In Deutschland wirkt die EMRK wie ein Gesetz. Die Konvention gewährt die klassischen Freiheitsrechte wie das Recht auf Leben, die Meinungs- und Religionsfreiheit. Zudem verbietet sie die Todesstrafe.
Was die EMRK von anderen Chartas unterscheidet, ist der sehr wirksame Rechtsschutzmechanismus. Hier gibt es Kläger und Richter, hier werden Urteile gefällt, die die Mitgliedstaaten befolgen müssen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Sitz in Straßburg überwacht die Einhaltung der Konvention. Staaten können dort Beschwerde einlegen, aber auch Individuen. Immer wieder sorgt der Gerichtshof für Schlagzeilen, so im Januar 2004. Damals wiesen die Richter eine Klage von so genannten Neubauern aus den neuen Bundesländern ab. Sie hatten nach der "Bodenreform" zu DDR-Zeiten Grundstücke erhalten, die ihnen nach der Wiedervereinigung wieder weggenommen wurden. Diese Enteignung durch die Bundesrepublik billigte der Gerichtshof.
Komplizierter ist die Lage bei der Grundrechtscharta der Europäischen Union. Sie wird, so das Ergebnis des letzten EU-Gipfels im Juni 2007, nicht wie ursprünglich vorgesehen Bestandteil eines EU-Verfassungsvertrags. Gleichwohl wird die Charta verbindliches Recht. Doch hat sich Großbritannien hier eine Ausnahmeklausel erstritten.
Auch die Organisation Amerikanischer Staaten hat ein System zum Schutz der Menschenrechte eingerichtet. Eine entsprechende Konvention trat 1978 in Kraft. Freilich sind ihr die USA nicht beigetreten. Ein Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte mit Sitz in Costa Rica überwacht die Einhaltung der Konvention. Hier gibt es zahlreiche Parallelen zum Straßburger Gericht. Die Afrikanische Union hat ebenfalls eine Konvention, die so genannte Charta von Banjul, verabschiedet. Ein effektiv arbeitendes Gericht gibt es aber nicht. Interessant an diesem Dokument ist, dass hier nicht nur die klassischen Freiheitsrechte enthalten sind, sondern auch einige Kollektivrechte, zum Beispiel Rechte für Gruppen wie Kinder und Alte.
Zwar ist die Idee der Menschenrechte universell, ihre Um- und Durchsetzung jedoch regional unterschiedlich. Im Gegensatz zur westlichen, individualistischen Sichtweise betonen zum Beispiel afrikanische Länder die Gemeinschaftsbindung des Einzelnen stärker. Islamische Staaten wiederum stellen Freiheitsrechte unter den Vorbehalt der Scharia. Auch deshalb hat sich ein globaler Menschenrechtsschutz auf UN-Ebene nie durchgesetzt. Lange hatte es den Anschein, als würden die Kulturen der Welt enger zusammenwachsen und so auch ein einheitliches Verständnis der Menschenrechte entstehen. Doch der Globus scheint weiterhin gespalten: Versuche, die Menschenrechte mit Gewalt durchzusetzen sind kläglich gescheitert, wie etwa im Irak-Krieg, der die Freiheit bringen sollte. Panzer sind eben ein schlechtes Vehikel für die Menschenrechte.
Der Autor ist als freier Journalist in Berlin.