Orte des Wissens
Archive, Rechenzentren - und ein Stollen für die Ewigkeit
Mit einem leisen Klicken kippt der Schalter um. Stille - zwei, vielleicht drei Sekunden. Dann schnarrt es, als führe in einiger Entfernung ein Moped los. Das Schnarren entwickelt sich zu einem leiseren Flirren, aus dem eine Art Zirpen wird - wie bei Heuschrecken. Wieder Stille. "Pling." Kurz nach einander zünden zwei Neonröhren und tauchen den weiß getünchten Raum mit den metallenen Schränken und Regalen im Untergeschoss der Stadtbibliothek Trier in fahles Licht. Es riecht nicht gerade frisch, die Luft ist schwer und kühl.
In großen Kisten, zwischen Pappdeckeln und Registraturen liegt hier im Archiv der Stadt Wissen aus 1.200 Jahren. Urkunden und Chroniken geistlicher und weltlicher Herrscher, Akten, Amtsbücher, besonders wertvolle, weil alte Überlieferungen werden separat in einem "Allerheiligsten" verwahrt. Die älteste Originalurkunde des Archivs hat König Zwetibold für die Stadt Echternach im Jahr 895 ausgestellt. Die älteste städtische Urkunde stammt aus dem Jahr 1149.
Kostbarstes Stück ist der 165 Pergamentseiten dicke, zum Unesco-Welterbe gehörende Codex Egberti; ein reichlich verziertes Evangelistar. Insgesamt lagern hier im Archiv der ältesten Stadt Deutschlands rund drei Kilometer Wissen. Handfestes Wissen. Es ist ein klassischer, haptischer Ort zur Wissensaufbewahrung. Die Jahrhunderte sind greifbar, lesbar, riechbar. Archive sind die einzigen Orte, wo Wissen einen Geruch hat.
Ein völlig anderes Bild gut 200 Kilometer weiter. Dort, in Karlsruhe, hat der westerwälder Konzern United Internet, zu dem die Plattformen GMX.de und Web.de und der Dienstanbieter 1&1 gehören, einen hoch modernen Ort des Wissens geschaffen. Eines der - nach Aussagen des Konzers - leistungsfähigsten Rechenzentren in Europa. Auf 25.000 Servern können in diesem gigantischen digitalen Gedächtnis bis zu 160 Terabyte gespeichert werden. Ein Terabyte ist eine eins mit zwölf Nullen, also eine Billion. Zerlegt in gigantische Kolonnen von Einsen und Nullen liegen auf den Servern in den Rechenzentren des Konzerns 10 Millionen Internetdomains, 70 Millionen E-Mail-Postfächer, auf jeder dieser Internetseiten und in jedem der Fächer Daten über Daten, Wissen über Wissen.
Mit dem klassischen Trierer Archiv gemein hat das Karlsruher Rechenzentrum lediglich die Lage: Beide Wissensdepots liegen im Untergeschoss. Wissen liegt oft im Untergeschoss. Ansonsten liegen buchstäblich Jahrhunderte zwischen beiden Orten. Hinein in eines der unzähligen in Form von hochgesicherten gigantischen Rechenzentren über die Welt verstreuten Herzen der modernen Wissens-, Informations- und Multimediagesellschaft geht es durch eine Zeitschleusen ähnliche Personenvereinzelungsanlage. Mitarbeiter müssen sich in der Kapsel mit Chipkarte und Codenummer identifizieren, ein Computer überprüft das Gewicht und macht einen Bildabgleich. Ein bisschen wie im Raumschiff Enterprise. Drinnen ist es taghell, in verglasten, sehr hohen Schränken, sind die Server montiert. Jeweils drei Reihen in 11 Räumen. Nur blinkende rote und grüne Dioden an den Vorderseiten zeugen von munterer digitaler Aktivität auf den Platinen und Festplatten. Permanent ist ein Großteil des digitalen Wissens unterwegs um die Welt. Ein ausgeklügeltes Belüftungssystem sorgt für permanente Kühlung von Rechnern und Räumen. Riechbar ist hier höchstens das Putzmittel. Das Wissen ist an diesem Ort der normalen menschlichen Wahrnehmung nach nicht da - man muss daran glauben. Erst am Bildschirm wird es seh- und benutzbar.
Wie in Trier liegt hier und an vielen anderen Orten der Welt, wie viele das sind, weiß niemand, eine kleine Welt - verpackt mit den Mitteln der Zeit. Ob die digitale Wissenswelt die Jahrhunderte überdauern wird, ist unklar. Klar ist nur, dass Speicherformen niemals so schnell veraltet und damit unlesbar werden wie heute. Weil das so ist, liegt der wichtigste Ort des deutschen "National"-wissens in der Nähe von Freiburg. Dort im Barbarastollen in Oberried, einem alten Versorgungsstollen des Bergwerks Schauinsland, ist der "Zentrale Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland". In 1.400 Edelstahlfässern lagert auf knapp 17 Millionen Metern Mikrofilm gebannt die Essenz des deutschen Kulturguts. Das konserviert das Wissen zwar auch nicht ewig, aber mindestens für die kommenden 500 Jahre.