Graswurzeljournalismus
Internetportale wie »Indymedia« und das südkoreanische »OhmyNews« verbreiten Nachrichten sekundenschnell in alle Welt - jeder kann publizieren, was er will. Das eröffnet viele Möglichkeiten für alternative Berichterstattung - birgt aber auch Risiken.
Als am Morgen des 6. Juni tausende von G8-Gegnern vor dem Zaun des abgeschirmten Tagungsorts der G8-Staatschefs in Heiligendamm friedlich die Zufahrtstraßen blockierten, ließ ein Polizeisprecher per Eilmeldung verbreiten, dass die Demonstranten "mit Gewalt" schwere Ausschreitungen provoziert hätten; Steine seien auf Polizisten geflogen. Die Nachrichtenagenturen übernahmen diese Meldung. Binnen weniger Minuten hieß es auf fast allen Medienseiten: G8-Gegner randalieren.
"Indymedia" war eines der Medien, die der Polizei einen Strich durch die Rechnung machten: Mit ausführlichen Vor-Ort-Berichten, Fotos und Videoaufnahmen widerlegte das Medium die Meldung. Auf den Bildern, die das Portal bis zum Vormittag ins Netz stellte, dösten friedliche Demonstranten vor dem Eingangstor von Heiligendamm, Clowns und Samba-Gruppen unterhielten die Demonstranten. Von Steinen oder Knüppeln keine Spur. Wenige Tage später musste die Polizeiführung die Meldung revidieren, die Nachrichtenagenturen entschuldigten sich für die unhinterfragte Übernahme.
Das war nicht das erste Mal, dass es dem linksalternativen Nachrichtenportal gelungen ist, die Informationspolitik der Polizei zu konterkarieren. Häufig haben die Aktivisten bereits einen kurzen Bericht einer politischen Aktion ins Netz gestellt, bevor die Reporter großer Nachrichtenagenturen ihre Meldungen fertig gestellt haben. Das Rezept von Indymedia: Manpower. Auf Großveranstaltungen, wie bei den Protesten in Heiligendamm, waren mehrere hundert Medienaktivisten vor Ort, um das Geschehen in Worten und Bildern festzuhalten. Hunderttausende weltweit haben nach Angaben der Betreiber des Portals in diesen Tagen die Seiten aufgerufen.
Diese Art der Informationsverbreitung bezeichnet man als "Graswurzeljournalismus". Nach dem Prinzip des "Open-Publishings" kann jeder, der einen Internetzugang besitzt, Berichte und Bilder auf das Portal schicken. Minuten später ist der Beitrag veröffentlicht. Unabhängig, unzensiert und unkommerziell - das sind die Leitlinien dieser Berichterstattung von unten.
In Südkorea heißt das Pendant zu Indymedia "OhmyNews". 43.000 so genannte Bürgerreporter liefern Beiträge ab, allerdings werden sie, anders als bei Indymedia, nicht gleich online gestellt. Ihre Berichte werden von 65 Redakteuren zunächst auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft und gegebenenfalls überarbeitet. Von im Durchschnitt 150 täglich veröffentlichten Artikeln stammen zwei Drittel von Bürgerreportern, ein Drittel sind redaktionelle Beiträge.
Das Konzept bewährte sich. In einem Land, in dem 80 Prozent aller Haushalte einen DSL-Anschluss haben, wurde OhmyNews besonders für junge Leute zur Hauptinformationsquelle. 2002 verhalf das Portal dem bis dahin unbekannten Roh Moo-hyun gar ins Präsidentenamt. Während Roh von konservativen Medien weitgehend geschnitten wurde, berichtete OhmyNews sehr ausführlich über den linken Kandidaten - 20 Millionen Seitenzugriffe am Tag verzeichnete das Portal in diesen Wahlkampfzeiten.
Das Indymedia-Netzwerk geht zurück auf die Proteste gegen die WTO-Tagung in Seattle im November 1999. Sie verschafften den Globalisierungskritikern weltweite Aufmerksamkeit - und Indymedia wurde fortan ihr Sprachrohr. Dabei hatten Medienaktivisten Indymedia zunächst nur als temporäre Medienplattform während der Protesttage konzipiert. Doch innerhalb weniger Jahre bildeten sich Ableger auf allen Kontinenten. Über 200 "Independent Media Center" (IMC) gibt es inzwischen, die zusammen das größte Mediennetzwerk der Welt bilden.
Auch in Deutschland hielt das Portal schnell Einzug: Als im März 2001 Atomkraftgegnern auf dem Weg ins niedersächsische Wendland die erste deutschsprachige Indymedia-Ausgabe - im Printformat - in die Hand gedrückt wurde, kam es zu spontanen Jubelbekundungen. Das Prinzip von Indymedia hatte sich längst herum gesprochen. War es bei den Castorgegnern bis dahin üblich, die stündlichen Nachrichten vom regionalen Privatdudelsender abzuhören, um zu erfahren, wo der Zug aktuell zum Stehen gebracht wurde, genügte den Aktivisten von nun an ein kurzer Anruf in der WG, wo der Mitbewohner den Protest auf dem Bildschirm mitverfolgte. In wenigen Stunden war das Internetportal auch in Deutschland zum festen Bestandteil der linken Protestkultur geworden.
2002 bekam Indymedia sogar einen Preis: Die Jury des Poldi-Awards, unter Schirmherrschaft des damaligen Kulturstaatsministers Julian Nida-Rümelin, kürte Indymedia 2002 zur "besten Online-Initiative im Bereich Wissenschaft, Bildung und Kultur". Das Grimme-Institut nominierte das Portal im gleichen Jahr für den Grimme Online Award.
Die Nachteile von Indymedia liegen dennoch auf der Hand. Wenn jeder publizieren kann, was er will, ist es um den Wahrheitsgehalt oft schlecht bestellt. Prominentes Beispiel: Nach der Terrorattacke vom 11. September 2001 behauptete ein brasilianischer Student auf Indymedia, die CNN-Bilder von jubelnden Palästinensern stammten aus dem Jahr 1991. Tatsächlich handelte es sich sehr wohl um aktuelle Aufnahmen.
Für noch mehr Kopfzerbrechen sorgten zu Beginn Kommentare mit rassistischen und antisemitischen Inhalten - das Portal geriet in zunehmend Verruf. Daraufhin beschlossen die Betreiber, der Flut von Störbeiträgen mit Zensur eine Grenze zu setzen. Die Lösung ist seitdem eine dreigeteilte Website: Zunächst stehen Beiträge, die für politisch korrekt befunden werden, in blasser Schrift folgen Beiträge, "die keine inhaltliche Ergänzung darstellen". Im "Müllarchiv" finden sich die Beiträge, die dem linken Weltbild nicht entsprechen.
Es gibt jedoch noch einen weiteren Kontrollmechanismus: die Nutzer selbst. Sie können nicht nur eigene Beiträge einstellen, sondern auch andere Beiträge kommentieren. Spätestens nach dem fünften Kommentar ergibt sich dann meist ein objektiveres Bild vom Geschehen.
Die deutschen Sicherheitsbehörden beobachten das Geschehen auf Indymedia Deutschland trotzdem sehr genau. Zwar stuft das Bundesamt für Verfassungsschutz das Portal an sich nicht als extremistisch ein. Aus seiner Sicht wird es jedoch "verstärkt von Linksextremisten als Informationsquelle und Medienplattform" genutzt. Und auch in anderen Ländern geraten die Seiten immer wieder ins Visier des Staates: In Italien wird gegen Indymedia wegen des Verdachts auf Unterstützung von Terroristen ermittelt. Im Oktober 2004 ließ das FBI von Texas aus eine Woche von lang zwei Server-Festplatten in London beschlagnahmen, woraufhin in mehr als 20 Ländern die Internetseiten abgeschaltet waren. Der Grund für die Durchsuchung: Auf Indymedia waren Bilder von Zivilfahndern abgebildet.
Tatsächlich können die Sicherheitsbehörden gegen Indymedia aber nur wenig tun: Trotz Serverausfalls waren die Indymedia-Seiten 2004 schon wenige Tage später wieder abrufbar - von einem Server irgendwo in der globalen Netzwelt.