Es gibt Fotos, die wirken wie Gemälde von Caspar David Friedrich. Von Angela Merkel gibt es so ein Bild. Aufgenommen in einer Fischerhütte auf Rügen im November 1990. Die Pfarrerstochter sitzt in einem weiten langen Rock inmitten rauer, wortkarger Männer. Fast scheint es so, als würden die Fischer den Gast kaum zur Kenntnis nehmen. Sie lächelt verhalten, fast unsicher, bescheiden. Damals war Wahlkampf. Einen Monat später, am 2. Dezember 1990, wurde das erste gesamtdeutsche Parlament gewählt, in das sie als Direktkandidatin des heutigen Wahlkreises Nordvorpommern-Stralsund-Rügen einzog. Für die Fischer war die beste Zeit da schon vorbei. Für Angela Merkel begann die Zukunft.
"Wir mochten sie gleich von Anfang an. Sie war eine von uns", erinnert sich Wolfhard Molkentin an die erste Begegnung in der Kreisverwaltung Grimmen in Vorpommern. Molkentin ist seit 1990 Landrat in Nordvorpommern und suchte jemanden, "hinter dem wir uns versammeln konnten". Angela Merkel, die im uckermärkischen Templin aufgewachsen ist, wurde dann "einem relativ strengem Verhör unterzogen", wie sie sich später einmal an die Situation erinnerte. Das "gipfelte darin, dass ich sagen sollte, bei welcher Bodenwertzahl man Zuckerrüben anbauen kann oder nicht". Seit der Begegnung von damals ist Molkentin einer von Merkels engen Weggefährten in der Politik. "Die Macht hat sie nicht negativ beeinflusst", urteilt der Landrat. "Die Pommern sind bodenständige Menschen. Angela Merkel ist das auch", sagt er entschieden.
Und die Wahlkreisarbeit? Als Angela Merkel in der Regierung von Helmut Kohl Frauen- und Umweltministerin, Generalsekretärin und nach Kohls Abwahl CDU-Partei- und Unions-Fraktionsvorsitzende war, besuchte sie ihren Wahlkreis regelmäßig, hielt ihre Bürgersprechstunden in Stralsund ab. "Der Flur stand immer voller Leute, die mit ihr reden wollten", erzählt Jürgen Borbe, seit 17 Jahren Bürgermeister von Ribnitz-Damgarten. Einem direkten politischen Schlagabtausch stellte sie sich zum Verdruss des SPD-Herausforderers Peter van Slooten im Wahlkampf 2005 jedoch nicht. "Da war nichts zu machen", sagt der Rechtsanwalt. "Ich bin ihr nie persönlich begegnet."
Jetzt, als Bundeskanzlerin, hält sie im Schnitt drei Mal im Jahr eine Bürgersprechstunde ab, erzählt eine Mitarbeiterin in ihrem Wahlkreisbüro: "Aber die macht sie gerne. Nicht nur für die Bürger, auch für die Kanzlerin sind die Gespräche wichtig. Sie will die Sorgen der Menschen kennen." Und dann schaut die Mitarbeiterin in die Liste mit den Anfragen. Ein Thema dominiert in allen Varianten: Die Arbeitslosigkeit. In der Region beträgt sie durchschnittlich 17 Prozent. "Die Kanzlerin versucht zu helfen. Aber sie verspricht nichts, was sie nicht halten kann. Das ist nicht ihre Art", sagt eine andere enge Vertraute. Zehn Minuten hat jeder Bürger im Schnitt Zeit, um sein Anliegen vorzutragen.
Angela Merkel ist viel beschrieben worden. Je nach politischem Politbarometer fielen die Urteile unterschiedlich aus. Angesichts ihrer außenpolitischen Erfolge etwa beim G8- und EU-Gipfel fällt die Kritik derzeit verhaltener aus. Für viele Christdemokraten in ihrem Wahlkreis gilt ohnehin: Immer wenn es brenzlig wurde, hat sie sich "in die Bresche" geworfen, "hat sich massiv gegen die Schließung der ehemaligen Volkswerft in Stralsund eingesetzt und durchgesetzt", erzählt der CDU-Landtagsabgeordnete Harry Glawe.
Neben ihrer Zähigkeit sind es vor allem zwei andere Eigenschaften, die die Menschen in der Weite der flachen Landschaft an ihr schätzen. "Sie kann schweigen und sie kann sehr gut zuhören", heißt es aus ihrem Umfeld. Das hat auch schon den Fischern gefallen. Später, lange nach ihrem Besuch in der Hütte auf Rügen, beschrieb es einer der Fischer so: "Sie hat ja nicht viel geredet, mehr gefragt", und fügte dann an: "Man merkt ja sofort, ob ein Mensch eigen ist oder nicht, aber die Merkel war in Ordnung." Auch im lauten Berlin muss man im richtigen Moment schweigen können. Denn, für die Kanzlerin - das hat sie kürzlich in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" gesagt - kann auch "Schweigen ein Machtwort sein".