gründungsmythos
Auf den wenig ruhmreichen Spuren des »Langen Marschs«
In China kennt ihn jedes Kind, im Westen fast niemand: Maos "Langen Marsch", der mehr als 80.000 chinesischen Rotarmisten das Leben kostete und von der Kommunistischen Partei bis heute als ruhmreicher Sieg verkauft wird. Dabei war der im Oktober 1934 gestartete Aufbruch der "Roten" aus der ersten autonomen Kommunistenenklave Jiangxi eine einzige Flucht. Erzwungen von dem Führer der "Nationalregierung" Chiang Ka-sheks und seinen übermächtigen Truppen, die ihre Herrschaft auf den Süden Chinas ausdehnen wollten. Die ebenso schlecht ausgebildeten wie ausgerüsteten Rotarmisten führten zwei Jahre lang ein Rückzugsgefecht mit ungewissem Ziel und Ausgang. Dass auf dem über 10.000 Kilometer langen Marsch mehr Menschen an Hunger, Kälte und Krankheit starben als auf den "glorreichen" Schlachtfeldern oder durch Säuberungsaktionen und Fahnenflucht spurlos verschwanden, wird von der amtlichen Geschichtsschreibung gerne verschwiegen.
Seit einiger Zeit wagt sich jedoch eine jüngere Historikergeneration, den von Mao gewebten Lügenteppich zu durchlöchern und das Gründungsmythos des kommunistischen Chinas als solchen zu entlarven. Insofern wähnt sich die in Peking wie in London arbeitende Schriftstellerin Sun Shuyun mit ihrer im Stile einer dokumentarischen Reisereportage in bestens aufgeklärter Gesellschaft. Doch knackt sie Maos Mythen nicht per Aktenstudium, sondern durch Interviews mit den letzten Zeitzeugen eines Gewaltmarsches, den etwa 8.000 Menschen überlebten. Im Wechselspiel zwischen wissenschaftlich ermittelten Fakten und subjektiven Überlebensbeschreibungen scheinen bei ihr denn auch neue Wahrheiten durch.
Was sie auf dem von ihr nachgegangenen "Langen Marsch" von den einstigen Soldaten und Funktionären in vertrauensvollen Gesprächen erfährt, ist menschlich wie historisch aufschlussreich. In ihren Schicksalen wird das Leben und Leiden der freiwilligen und zwangsrekrutierten Veteranen wieder greifbar. Ihre schmerzhaften Erinnerungen an die dilettantisch geführten Schlachten und die entbehrungsreichen Fußmärsche durch lebensfeindliche Gebirge und Grassteppen lassen ein differenziertes und kritisches Geschichtsbild aufscheinen. Eines, dass nicht nur von den Gewaltorgien und Intrigen der Gegner, sondern auch von den Plünderungen, Exekutionen und Gräueltaten der Kommunisten berichtet. Aber auch den gegen Ende des Marsches zu neuem Ansehen und Einfluss gelangenden Mao und seinen menschenverachtenden Charakter durchleuchtet. Gleichwohl bewundert Shuyun als Tochter eines "glühenden Verehrers Maos" zuweilen den Machtinstinkt und das propagandistische Genie des Diktators, der es eher dem militärischem Zufall als dem eigenen taktischen Geschick zu verdanken hat, dass der "Lange Marsch" für seine Anhänger nicht im Nirwana endete.
"Zwanzig Jahre kommunistischer Erziehung hatten mich doch geprägt", gibt die 1963 in einem zentralchinesischen Dorf geborene Autorin unumwunden zu. Das wird in jeder Zeile deutlich, in der sie ihr einstiges Schulbuchwissen mit den neu gewonnenen Erkenntnissen abgleicht.
Allerdings verwundert doch, mit welcher Naivität sich die knapp 40-Jährige auf den "Langen Marsch" begeben hat. Wer wie sie, dank eines Stipendiums die einschlägige Forschungsliteratur in Oxford studieren konnte, dürfte höchstens von den Berichten der Opfer überwältigt sein. Dass der Marsch ein Mythos ist, müsste Sun Shuyun spätestens bei den Recherchen zu dieser Reise klar geworden sein. Insofern wirkt der emotional-individuelle Blick dramaturgisch sehr gewollt.
Dabei wäre es im Rahmen ihrer Darstellung durchaus interessant gewesen, welche Rolle der Mythos im Leben und Denken junger Chinesen heute noch spielt. Den "Langen Marsch" zur wahren Geschichtsmentalität im modernen China müssen wohl andere beschreiten.
Maos Langer Marsch. Mythos und Wahrheit.
Propyläen Verlag, Berlin 2008; 384 S., 22,90 ¤