Kinderarmut
Ulrike Meyer-Timpe fordert eine neue Sozial- und Bildungspolitik
Armut kann jeden treffen - diesen Satz wird man mit Fortschreiten der Finanzkrise wohl noch häufiger hören. Daran mag etwas Wahres sein. Noch wahrer allerdings ist ein Skandal, dessen Ausmaß der Öffentlichkeit erst in den vergangenen Jahren bewusst wurde: Armut in Deutschland ist erblich. Kinder, die in einem Haushalt, der von Hartz IV lebt, groß werden, haben auf ganzer Linie schlechtere Aussichten als ihre Altersgenossen: Ihre Chancen auf gesundes Essen sind ebenso begrenzt wie jene auf Freunde und häusliche Zuwendung. Sie bekommen weniger Bildung zuhause wie im Kindergarten, den sie seltener besuchen. Vor allem aber bekommen sie eine schlechtere Schulbildung. Kinder aus armen Familien besuchen wesentlich häufiger Förder- oder Hauptschulen und stehen am Ende mit einem Abschluss da, der in der Arbeitswelt kaum oder gar nicht verwertbar ist.
Man kann es auch so sagen: "Wenn es Babys sich aussuchen könnten, in was für eine Familie sie geboren werden, dann müsste man sie (...) warnen: Nehmt keine allein lebende Mutter und keine, die bereits mehr als ein Kind hat. (...) Vor allem aber: Sucht euch in Deutschland keine Familie aus, die zugewandert ist." Diese drei Konstellationen sind es nämlich, die Kinderarmut am wahrscheinlichsten machen. In einem lesenswerten Buch auf den Punkt gebracht hat sie die "Zeit"-Autorin Ulrike Meyer-Timpe. Unter dem Titel "Unsere armen Kinder - wie Deutschland seine Zukunft verspielt" zeichnet die langjährige Beobachterin von Armutskarrieren ein düsteres Bild des Ist-Zustandes. Ihr Buch ist allerdings anders als so manch anderes Werk zum Thema deswegen erhellend, weil es nicht nur diesen Ist-Zustand beschreibt, sondern auch Ansatzpunkte zur Veränderung benennt.
Wer den Teufelskreis der Armut durchbrechen wolle, so fordert Meyer-Timpe, müsse an mehreren Stellen zugleich ansetzen: Arme Kinder bräuchten mehr Geld, also einen neu berechneten Hartz-IV-Satz sowie ein höheres Kindergeld, wenn sie mehrere Geschwister haben. Ihre Kita-Plätze müssten kostenlos und zudem qualitativ erste Klasse sein. In der Schule benötigten sie die besten Lehrer, die meiste Zuwendung und gemeinsames längeres Lernen. Wer Kinder nach der vierten Klasse in verschiedene Schulformen sortiere, verschlechtere ihre Lebenschancen durch frühe und unnötige Selektion. Zu guter Letzt bräuchten die Kinder kompetente und zuverlässige Ansprechpartner, die auch von selbst ins Haus kommen: Dass jede Familie nach der Geburt von einer Familienhelferin besucht wird, hält die Autorin für ebenso sinnvoll wie den Ausbau von Schuldnerberatungsstellen und sozialen Diensten.
Ebenso absurd wie erhellend liest sich, was Meyer-Timpe als Realität in der sozialpädagogischen Familienhilfe beschreibt: Ausgerechnet jene Kräfte, nach denen nach jeder Kindesmisshandlung oder Fällen von Verwahrlosung von allen Seiten gerufen wird, machen ihren Job häufig eher nebenbei. Mehr als jeder achte Familienhelfer arbeitet aufgrund des Sparzwanges der Jugendämter nach Feierabend auf 400-Euro-Basis: in einem Nebenjob, der mangels Kontinuität ein Vertrauensverhältnis zwischen den Familien und ihren Helfern beinahe unmöglich macht.
All das zu ändern würde sicherlich sehr viel Geld kosten. Dafür, es dennoch zu tun, spricht ein handfestes Argument, dass die Wirtschaftsjournalistin sich nicht zu nennen scheut: Auch der demografische Wandel wird teuer, wenn es Deutschland nicht gelingt, seinen wenigen Nachwuchs besser zu fördern. Deutschland, schreibt Ulrike Meyer-Timpe, werde "jeden einzelnen seiner jungen Menschen brauchen, egal, aus welchem Elternhaus er stammt". Wem es nicht passt, das Thema Kinderarmut mit ökonomischen Zwängen zu verknüpfen, dem hält Meyer-Timpe die Einsicht entgegen: "Appelle an das Mitgefühl und die soziale Gerechtigkeit haben schon bislang wenig bewirkt. Daran wird sich auch künftig wenig ändern."
Unsere armen Kinder. Wie Deutschland seine Zukunft verspielt.
Pantheon Verlag, München 2008, 203 S., 12,95 ¤