perspektive
Die Jugend fühlt sich nicht beachtet, schreibt Antonie Rietzschel. Die Sicht einer 22-Jährigen
Blassrosa Flecken breiten sich im Gesicht der Lehrerin aus, ihre Hände umklammern die Tischkante, als könnte sie jeden Moment umfallen. Stumm starrt sie in das wütende Gesicht meiner Mutter. "Wollen Sie, eine Jugend ohne Rückgrat?", ruft meine Mutter empört über die Stuhlreihen hinweg. "Nein", antwortet die Lehrerin leise. Damit hatte sie nicht gerechnet. Schließlich war ja nur Elternabend und sie wollte die Eltern lediglich darüber informieren, dass die Schüler nachsitzen mussten, weil sie den Unterricht geschwänzt hatten. Auch ich war an diesem Abend dabei, um den Eltern zu erzählen, warum uns die Schule bestraft hatte.
Es war kurz nach dem 11. September 2001: Die USA drohten mit dem Einmarsch in Afghanistan. In ganz Deutschland gingen Menschen auf die Straße, um gegen den drohenden Krieg zu demonstrieren. Auch meine Freunde und ich wollten zu einer großen Demonstration fahren. Sogar Anne kam mit, die sich sonst eigentlich nur für ihre Noten interessierte. Während andere Schulen extra frei bekamen, drohte unser Direktor jedem Schüler mit Nachsitzen, der sich nicht im Unterricht blicken ließ. Wir gingen trotzdem. Am nächsten Tag erwartete uns eine hochexplosive Klassenlehrerin. Sie erklärte, dass unser Fernbleiben Konsequenzen haben würde: "Es ist mir egal, wo ihr wart. Ihr habt geschwänzt." Ein paar Wochen später traf sie auf meine hochexplosive Mutter. Damals war ich 14.
Sieben Jahre später stehen Amerikas Truppen nicht nur in Afghanistan, sondern auch im Irak. Ich wohne mittlerweile in Bremen und studiere im dritten Semester Politikwissenschaft. Jeden morgen lese ich die Zeitung: Zwischen den Zeilen ziehen sich lange Flüchtlingsströme durch den Kongo, die Weltwirtschaft hängt am seidenen Faden und das BKA darf meinen Computer heimlich durchsuchen.
Jeden Morgen finde ich neue Gründe, für die es sich nicht nur für junge Menschen lohnen würde, sich politisch zu engagieren. Doch nichts passiert. Und ich frage mich: warum? Ist die Mehrheit der Jugend so unpolitisch und hat ihr Rückgrat verloren? Ich war selber schon lange nicht mehr auf einer Demo, bin nicht in einer Partei. Der Grund ist einfach: Ich habe das Gefühl, dass man eh nichts verändern kann.
"Der große Knall wird bald kommen", sagt Klaus Hurrelmann, Jugendforscher und Autor der Shell Jugendstudie. Die Forschung habe beobachtet, dass sich die Bevölkerung alle sieben Jahre gegen herrschende Zustände aufbäume. Doch was das langfristige politische Engagement angeht, macht er kaum Hoffnung: "Politik war und wird niemals ein Massenthema sein", sagt Hurrelmann - erst Recht nicht für junge Menschen.
So ist die Zahl der Jugendlichen, die sich als politisch interessiert einstufen, seit Anfang der 1980er Jahre von 55 auf 39 Prozent gesunken. Ganz weit oben steht bei den 15- bis 25-Jährigen hingegen das Thema Arbeit. In Zeiten von Hartz IV nagt an ihnen die Vorstellung, nach der Schule oder dem Studium keinen Platz in der Arbeitswelt zu finden. "Wir haben es mit einer höchst leistungsorientierten Jugend zu tun, allerdings schafft es die Gesellschaft nicht, ihnen passende Perspektiven zu eröffnen", sagt der Jugendforscher.
Klaus Hurrelmann meint vor allem die Politiker, die sich an einem maroden Bildungssystem fest krallen, in dem es keine Chancengleichheit gibt. Als ich einmal eine Porträt-Reihe über Hauptschüler machen wollte, war kein Fünftklässler bereit, mit mir zu reden. "Die wissen schon jetzt, dass sie später keiner will", sagte damals die Klassenlehrerin. "Die fühlen sich wie der letzte Dreck." Wie kann man von diesen Jugendlichen erwarten, dass sie Vertrauen in die Politik gewinnen, wenn sie gleichzeitig von ihr zurückgelassen werden? Um politisches Interesse zu wecken, müssen wir junge Menschen das Gefühl haben, dass unsere Probleme berücksichtigt werden. Stattdessen sehen sich die Jugendlichen Volksvertretern gegenüber, die die Interessen der Jugend höchstens verbal vertreten. Um dagegen zu protestieren, wählen viele Jugendlichen eine gefährliche Art des Widerstands: Sie gehen nicht mehr wählen. Nicht weil sie die Demokratie als Staatsform ablehnen, wie die Shell Studie beweist. Sie wissen nur nicht, wem sie ihre Stimme geben sollen.
Bei der Bundestagswahl 2005 waren die 21- bis 24-Jährigen die Gruppe mit der geringsten Wahlbeteiligung. 66 Prozent setzten ihr Kreuzchen. Sie haben ihr Vertrauen in die Parteien verloren. Sie haben mitbekommen, dass die Grenzen zwischen rot, grün, schwarz und gelb sich langsam vermischen und alle Farben seit Neuestem wunderbar zusammen passen. Um regieren zu können, sind die Parteien mittlerweile offenbar bereit - vielleicht auch gezwungen -, frühere Ziele aufzugeben.
Die Parteien haben an Profil verloren: In Hamburg koalieren die Grünen, entstanden aus der Anti-Atomkraftwerkbewegung, mit der CDU, die die Atomkraft befürwortet und den Bau eines neuen Kohlekraftwerkes durchgesetzt hat
Mutige Entscheidungen der Politik scheinen aus Jugendperspektive eher selten - auch oder gerade wegen der Medien. Wird doch jede Handlung, jedes Wort eines Politikers von den Medien genaustens beobachtet und durch den redaktionellen Fleischwolf gedreht und so den potenziellen Wählern vorgesetzt.
Auch wenn es naiv klingt, aber ich wünsche mir mehr Ehrlichkeit in der Politik. Ich wünsche mir Männer und Frauen, die eine klare und eigene Meinung haben und den Mut, sie auch zu äußern - auch abseits von Mikrofonen und Diktiergeräten. Dass mein Wunsch in Erfüllung geht, glaube ich ehrlich gesagt nicht mehr, seitdem ich den Nachwuchs einiger Parteien kennen gelernt habe. Darunter war auch Thomas. Wir waren beide Teilnehmer an einem deutsch-russischen Jugendparlament in St. Petersburg. Das erste Mal fiel er mir auf, als er sich während der Veranstaltung um das Amt des Präsidenten bewarb. In einem Anzug, in dem sein jugendhafter Körper irgendwie quadratisch aussah, stand er vor uns und hielt seine Rede. Schließlich klärte er die Frage, warum gerade er am besten für diesen Posten geeignet wäre: "Nun, da möchte ich den Kanzlerkandidaten der SPD, Frank-Walter Steinmeier, zitieren: Ich spiele nicht auf Platz, sondern auf Sieg", posaunte er. Ich verdrehte genervt die Augen. Die Wahl gewann er nicht. Zum Glück. Denn in den nächsten Tagen erkannte ich, dass Thomas in seinem Sprachschatz ausschließlich Politikerfloskeln angehäuft hatte. Vorrangig die von Gerhard Schröder.
Thomas ist eine politische Rampensau: 20 Jahre alt, engagiert gegen Rechts, Gründer eines lokalen Jugendparlaments, bei dem er selbst in fast allen Ausschüssen sitzt. Einer, wie ihn sich eine Partei wünschen kann. Aber: "Ich mache das alles für die Karriere", sagt der 20-Jährige. Es ist einer der wenigen Sätze, die mal nicht klingen wie aus dem Baukasten der politischen Rhetorik. Er offenbart damit für einen flüchtigen Moment sein wahres Gesicht.
Thomas wird es wohl nach oben schaffen. Dass er dort der Jugend seine Stimme leihen wird, glaube ich nicht - zu vergänglich scheint dieser Lebensabschnitt. Schon heute redet er lieber über die großen Themen, wie die Agenda 2010, als über fehlende Freizeitangebote für Jugendliche oder eine Veränderung des Bildungssystems.
Was hat der Jugendforscher noch gleich gesagt? Ungefähr alle sieben Jahre kommt der große Knall. Sieben Jahre ist es her, dass damals tausende Menschen in Deutschland gegen den Krieg in Afghanistan und für Frieden demonstrierten. Die Zeit ist reif, um mal wieder auf die Straße zu gehen. Geht jemand vor?
Die Autorin ist 22 Jahre alt. Sie ist Stipendiatin der Journalisten Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung.