ROHSTOFFE
In Zeiten knapper Ressourcen sind Ersatzstoffe aus der Natur ein erfolgversprechendes und lukratives Geschäft
Mitunter wird ein Rohstoff einfach angespült. Man braucht nicht danach zu suchen, zu baggern oder zu bohren, er landet frei Haus am Strand. Zum Beispiel angeschwemmtes Seegras an der Ostseeküste: Massenhaft schwappt es mit jedem Seewind an die Strände, verleiht der Seeluft die typische Note - und kann ziemlich teuer werden. Stellt sich doch für viele Küstengemeinden die Frage: Wohin damit, will man für die Touristen die Strände so weiß wie im Katalog gepriesen halten? Das lange Zeit gängige Ausbringen auf Ackerflächen wurde verboten, Seegras muss regelrecht entsorgt werden. Wissenschaftler kamen nun auf die Idee, den kostspieligen Meeresabfall in einen kostbaren Naturrohstoff zu verwandeln. Ausgerechnet Forscher der küstenfernen TU Dresden zeigten jüngst in einer Pilotanlage, dass Seetang als formidabler Dämmstoff verwendet werden kann.
Der Fall ist exemplarisch. Die Industrienationen werden durch steigende Rohstoffpreise gedrängt, allerorts nach Nützlichem zu stochern. Im März 2007 beschwor Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf dem 2. Rohstoffkongress des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) eine "Nationale Rohstoffstrategie", was unter anderem meint, dass eilig Geld in allerhand Fördertöpfe für Rohstoff sparende Technologien geschüttet wurde. Ein üblicher Reflex, wenn die Preise für Rohstoffe Rekordmarken erreichte, der danach aber auch oftmals wieder verschwindet.
Es gibt allerdings einige Gründe anzunehmen, dass der gegenwärtig eingeleitete Wandel auch Zeiten niedriger Rohstoffpreise überdauern wird, denn der Materialeinsatz ist mittlerweile der Hauptkostenfaktor in der Wirtschaft. Für die Bundesrepublik summiert er sich auf jährlich circa 500 Milliarden Euro, was mehr als 40 Prozent der Gesamtkosten im produzierenden Gewerbe bedeutet und die Lohnkosten um fast das Doppelte übersteigt. Dabei hat sich zwischen 1994 und 2005 die Rohstoffproduktivität nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bereits um 33,5 Prozent erhöht, bei rückläufigem Materialeinsatz um minus 13 Prozent stieg das Bruttoinlandsprodukt um 16 Prozent. Eine in ihrem Ausmaß etwas trügerische Zahl, basieren viele Einsparungen doch auf Auslagerungen rohstoffintensiver Produktionen ins Ausland - aber sie ist doch ein Zeichen dafür, wie enorm die technologischen Möglichkeiten der Gegenwart sind. Es ist manchmal besser, nicht zu wissen, was beispielsweise alles in einer Hauswand steckt. Es lässt sich heute sprichwörtlich aus Fäkalien Gold machen - also auf jeden Fall Zement.
Vor knapp vier Jahren verbot die Bundesregierung das Ausbringen von Klärschlamm auf Ackerflächen. Eingesprungen ist die Zementindustrie, die in einigen Fabriken ihren Baustoff nun unter Verwendung von Klärschlamm herstellt. Im Fachterminus heißt das: "abfallstämmig" produziert. Was durch Toiletten gespült wurde, ersetzt in den Zementwerken beim Herstellungsprozess den Brennstoff Kohle. Eine Studie an drei Zementwerken ergab: 200.000 Tonnen Klärschlamm sparen 40.000 Tonnen Kohle, nebst entsprechender CO2-Emissionsrechte. Die Verbrennungsrückstände werden dem Zement als Zusatzstoff beigemengt.
Innovationen dieser Art boomen: In Den Haag erzeugt ein Nachtclub seine Energie allein durch seine tanzenden Gäste, die Uni Oldenburg verwandelt organischen Abfall in zwölf Stunden zu Kohle oder Dünger und die Beleuchtungsindustrie entwickelte selbstleuchtende Displays. Der Gen-Entschlüssler Craig Venter will mit gentechnisch veränderten Meeresalgen den Treibstoff der Zukunft herstellen und der Automobilhersteller Lotus baut ein Fahrzeug aus Hanf statt aus Stahl und Aluminium. "Noch nie in der Geschichte hat die Weltwirtschaft unter so einem Innovationsdruck gestanden wie in diesen Zeiten der hohen Rohstoffpreise", behauptet Axel Zweck, Zukunftsforscher beim Verein Deutscher Ingenieure (VDI) und Leiter einer Studie zu Auswegen aus der Ressourcenknappheit. "Wir sind uns kaum im Klaren darüber, was da auf uns zukommt", sagt Zweck und fügt entschieden hinzu: "An Möglichkeiten."
Zweck studiert mit seinen Mitarbeitern die Technologieprognosen der führenden Industrienationen. In allen Ländern stießen sie auf beträchtliche Förderprogramme, um Rohstoffe mittels effizienter Technologien oder durch Ersatzprodukte einzusparen. Dabei entstehen neue Wirtschaftszweige, die Namen wie "clean-tec", "green-tec" oder "eco-tec" tragen. Nach Angaben des United Nations Environment Programmes (UNEP) wurden 2007 allein in den Bereich "clean-tec", der die alternativen Energien umfasst, weltweit mehr als 148 Milliarden Dollar investiert. Innovationen gegen die Rohstoffknappheit gelten bei institutionellen Finanzinvestoren neuerdings als der kommende "Megatrend".
Andreas Fink, Direktor des Bundesverbandes für Investment und Asset Management, spricht lieber von einer "markanten Entwicklung", meint dies aber ebenfalls begeistert. "Schauen Sie sich den Tec-Dax an: Vor sechs Jahren gab es dort kein einziges Unternehmen im Bereich alternative Energien. Heute konzentrieren sich 50 Prozent der Marktkapitalisierung im Bereich Wind- und Solarenergie", sagt Fink. Sein Verband zählte 2008 mehr als 160 Fonds, die in Deutschland zusammen über zehn Milliarden Euro in den Bereichen Nachhaltigkeit, Klimawandel, Ressourcen, Rohstoffe und Energie verwalteten. Nicht weil "Ressourcen sparen" gut klingt, sondern weil sich damit Geld verdienen lässt.
Die Deutsche Bank Research schätzt allein das wirtschaftliche Potenzial bei Gebäudesanierungen auf bis zu 340 Milliarden Euro bis zum Jahr 2030. Drei von vier Wohngebäuden bedürfen in Deutschland einer energetischen Sanierung. Dazu kommen rund 1,5 Millionen Gebäude wie zum Beispiel 40.000 Schulen. Nach einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey könnten durch energetische Gebäudesanierungen bis 2020 in Deutschland 50 Milliarden Euro an Heizkosten und 63 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden. Die Kosten des Rohstoffeinsatzes spiegeln heute nicht mehr nur die Weltmarktpreise wider, sondern auch die für den Verbrauch auferlegten Abgaben und Zusatzkosten, beispielsweise zu erwerbende Emissionsrechte. Viele Regierungen haben massive Senkungsziele für den CO2-Ausstoß ausgerufen, alles Gründe, die Unternehmen zu effizienten Technologien oder Ersatzmaterialien drängen. Zusätzlicher Druck kommt von institutionellen Investoren.
Für die Analysten der Finanzmärkte sind Kennzahlen zur Rohstoffabhängigkeit und Emissionsmenge mittlerweile mehr als relevant, offenbaren sie doch beträchtliche Risiken für die Bilanzen von Unternehmen. "Wenn RWE im Jahr 2008 für circa 1,6 Milliarden Euro Emissionsrechte zukaufen musste, ist das auch für so einen großen Konzern eine Hausnummer", sagt Alexander Bassen. Seit vier Jahren untersucht der Wirtschaftswissenschaftler die 200 größten deutschen Konzerne hinsichtlich ihrer zukünftigen Emissionsmengen sowie geplanter Investitionen in Rohstoff- und Energieeffizienz. Mehr als 30 Prozent der befragten Unternehmen werden in den kommenden Jahren in diesen Bereich investieren.
Ein Erfolgsschlager ist auch das Vitamin B12, das von Sportlern, Studenten, aber auch Hochleistungskühen oder Mastschweinen geschluckt wird. Einer der größten Vitamin B12-Hersteller ist BASF. Statt über bislang sieben petrochemische Stoffumwandlungen wird das Vitamin jetzt durch einen Pilz in großen Kesseln wie beim Bierbrauen fermentiert. Durch die "weiße Biotechnologie" konnten die Produktionskosten um 40 Prozent gesenkt werden. Die Ausgangsstoffe werden dabei durch eine einzige Biotransformation in das gewünschte Produkt verwandelt. Die Energiekosten verringern sich um 25 Prozent, der Abfall um 95 Prozent, der Ressourcenverbrauch um 60 Prozent und der CO2-Ausstoß um mehr als 30 Prozent.
McKinsey schätzt, dass die weiße Biotechnologie bis zum Jahr 2010 an 60 Prozent aller chemischen Produkte beteiligt sein wird. Damit es künftig Spielraum für Technologien dieser Art gibt, mahnt der VDI-Zukunftsforscher Alfred Zweck auch, die Vielfalt der Natur zu schützen und sich dieser noch besser zu bedienen. 90 Prozent der Welternährung basieren heute auf nur 20 Nutzpflanzen, dabei sind über 75.000 essbare Pflanzen bekannt. Für deren Anbau schlummert großes Potenzial in winzigen Lebewesen. So produziert die Bitterfelder Firma Amykor Mykorrhiza-Bodenpilze. Durch Symbiose mit Bodenpilzen wachsen Pflanzen besser, Wasser- und Nährstoffaufnahme werden optimiert. Landwirte können mit Bodenpilzen den Ertrag um bis zu 30 Prozent steigern und ein Drittel der Düngemittel einsparen. Düngerpreise haben sich im Bereich der Kali-Salze seit dem Jahr 2000 verdoppelt.
Der US-Wissenschaftler Craig Venter sagte kürzlich: "Ein Kind kann heute in einer Tasse Meerwasser mithilfe moderner Instrumente mehr Arten und Gene entdecken als der Rest der Welt in den vergangenen Jahrzehnten." Seine Suche nach Meeresalgen zur Biotreibstoffproduktion unterstützt der Ölkonzern Exxon mit 600 Millionen Dollar. Das Potenzial ist da, um sich von der Abhängigkeit von endlichen Rohstoffen zu lösen. Man muss nur aufmerksam suchen -manchmal lauern Kostbarkeiten eben auch in scheinbaren Problemfällen am Strand.
Der Autor ist Wirtschaftsjournalist in Rostock.