Wir schreiben das Jahr 2009. Digitale Medien breiten sich aus, werden flächendeckend genutzt und jeden Tag perfektioniert. Bücher sind schon heute mehr als bedrucktes Papier, sie sind E-Books, Verlagsdatenbanken oder auch inhaltlich gestaltete und unterstützte Netzwerke. Knapp ein Drittel aller Deutschen kann nach eigener Aussage auf das Internet nicht mehr verzichten; von Büchern meinen das 18 Prozent. 1 Diese Botschaft ist eindeutig. Die Lesefreudigkeit allerdings behauptet sich: 90 Prozent der Deutschen haben offenbar mindestens ein Buch im Jahr gelesen, ein Wert, der im Vergleich zu 2005 nahezu gleich geblieben ist.
Dennoch zeigt der Wandel Wirkung: Was sich ändert, sind die Motive, Bücher zu lesen. Unterhaltung und Entspannung stehen im Jahr 2009 noch deutlicher an der Spitze. Rat holt man sich mittlerweile aber anderenorts, und auch das Bedürfnis nach Allgemeinbildung oder Aus- und Weiterbildung wird nicht mehr in erster Linie durch gedruckte Bücher gestillt. Das schlägt sich im Markt nieder: Genres, die der Information dienen, wie Ratgeber, Sachbücher oder Nachschlagewerke, verlieren kontinuierlich Anteile am klassischen Buchmarkt. Informationen erhält man schnell, bequem, häufig und möglichst kostenlos im Netz.
Kulturen haben sich stets mit ihren Medien verändert und entwickelt. Sie haben ihre eigenen technischen Möglichkeiten hervorgebracht, und umgekehrt haben neue technische Möglichkeiten auf die Gestalt der Kultur zurückgewirkt. Die auch für die Gesellschaft zentrale Frage lautet deshalb: Was bedeutet dieser Wandel für die Buchkultur und das Verlagswesen der Zukunft?
Die Buchkultur in ihrer ganzen Breite - von der Überlebenshilfe bis zur Wissensvermittlung und zur Unterhaltung - ist nicht unabhängig zu denken von der Wertschätzung des Kulturgutes Buch. Es ist die kleine Spitze, von deren Valenz die Breite lebt. Wer also macht sich wen dienstbar? Wird sich das Buch- und Verlagswesen die Kulturtechnik des elektronischen Mediums dienstbar machen und sie dadurch befördern, oder werden deren eigene Regeln und Gesetze zur Auflösung der tradierten Buchkultur führen? Will man sich weder im unbegrenzten Fortschrittsglauben noch in nostalgischen Kulturwelten verirren, muss sich die Entwicklung von Buchkultur und Electronic Publishing an den beiden Elementen ausrichten, welche die tradierte Buchkultur zum unverwechselbaren Teil aller Gegenwartskulturen hat werden lassen.
Schriftlichkeit: Kultur schafft Verständigung über sinnhafte Inhalte. Doch erst wo diese Inhalte dauerhaften Ausdruck im schriftlichen Artefakt gewinnen, kann Kultur als ein Prozess entstehen, der über Generationen hinweg reicht, der Überlieferung mit Wandel verbindet und der sich anderen Kulturen öffnet.
Authentizität: In einer Kultur der Schriftlichkeit und des Buches muss sich die Freiheit zur Äußerung und zum Austausch von Meinungen in kulturellen Rechten manifestieren. Zum Menschenrecht oder zum Grundrecht auf freie Meinungsäußerung tritt das kulturelle Recht, das die Authentizität des kulturellen Produkts mit der freien Zugänglichkeit für alle verbindet. Im Medium des Buches hat dieser Prozess die für die neuzeitliche Kultur maßgebliche Gestalt gefunden. Es bewahrt das geistige Eigentum seines Urhebers dauerhaft und macht das Gut in der Form des Verlegens jedermann zugänglich.
Das elektronische Publizieren hat das Spektrum verlegerischen Handelns in kürzester Zeit um nicht gekannte Dimensionen erweitert. Was ein Verlag eigentlich tut, wird durch den digital turn und durch die Entwicklung des E-Books in den Publikumsbereich hinein deutlicher noch als vor einigen Jahren. Denn das Buch im digitalen Format wird zur Chance und zum Problem, es erweitert seine bislang begrenzte Zugänglichkeit als Körper ins Weltweite, nahezu Unbegrenzte. Es wird unbegrenzt öffentlich, droht aber zugleich gerade die Öffentlichkeit zu zerstören, die aus der Verbindung von allgemeiner Zugänglichkeit und selektiver Vermittlung erst entsteht.
Das sehen Apologeten des Netzes anders. Im Internet-Manifest, das sich mit "Journalismus heute" auseinandersetzt und nach dem Wikipedia-Prinzip bearbeitet wird, formulieren sie die These "Mehr ist mehr - es gibt kein Zuviel an Information". 2 In der Begründung stellen sie die individuelle, weite Informiertheit durch das Netz der eingeschränkten Informationen durch die Institutionen der Macht gegenüber: "Es waren einst Institutionen wie die Kirche, die der Macht den Vorrang vor individueller Informiertheit gaben und bei der Erfindung des Buchdrucks vor einer Flut unüberprüfter Information warnten. Auf der anderen Seite standen Pamphletisten, Enzyklopädisten und Journalisten, die bewiesen, dass mehr Informationen zu mehr Freiheit führen - sowohl für den Einzelnen wie auch für die Gesellschaft. Daran hat sich bis heute nichts geändert." Informationsfreiheit versus Informationskontrolle. Doch führt ungesteuerte Informationsflut wirklich zu Freiheit und Öffentlichkeit? Und bedeutet Selektion, die je nach Institution sehr unterschiedlich aussehen kann, Unfreiheit und Informationsverlust?
Je mehr das Netz jeden mit jedem verbindet, desto mehr digitales Gemeingut gibt es, zugleich aber droht die Öffentlichkeit verloren zu gehen. Wenn sich jeder sein Fernsehprogramm zusammenstellen kann, sieht zwar jeder, was er mag, und holt sich seine Information, wo er mag, doch jeder sieht und erfährt etwas anderes. Demokratie aber braucht die Ausbildung öffentlicher Meinung, Kultur das öffentlich geführte Gespräch. Ein Gemeinwesen ist deshalb bislang nicht ohne Zeitung möglich und Kultur nicht ohne gedruckte Literatur und öffentliches Theater.
Was dem digitalen Format erst in Ansätzen zur Verfügung steht, ist die Selektion, die vom Druck- und Verlagswesen durch Jahrhunderte hindurch übernommen wurde. Auch im Netz bedarf es deshalb künftig Verlage und Bibliotheken, um diese Auswahl-, Sicherungs- und Vermittlungsleistung hin zur Öffentlichkeit zu gewährleisten. Denn ohne literarischen Kanon bildet sich kein Geschmack. Wird alles in gleicher Form festgehalten, wird es letztlich gleichgültig und lässt den Inhalt beliebig werden.
Die digitalen Formen der Schriftlichkeit haben Züge angenommen, die bislang charakteristisch für die unmittelbare Kommunikation waren: Gleichzeitigkeit, Interaktivität, Intimität und Offenheit für alles. Schwer tut sich das digitale Medium darin, das wiederzugewinnen, was der alten Schriftlichkeit seit den Tontafeln eigen war: Permanenz, Öffentlichkeit und Auswahl unter vielen.
Auf den ersten Blick scheint für den Verleger nichts näher zu liegen, als die beiden Informations- und Vermittlungswege komplementär miteinander zu verbinden. In weiten Bereichen ist unser Verlagswesen durch ein solches komplementäres Miteinander gekennzeichnet, und ohne Zweifel spricht vieles dafür, dass es das auf die Conditio humana adaptierte Buch noch lange geben wird. Doch so viel Wahres und Richtiges diese These enthält, zur Regelung der anstehenden Probleme reicht sie nicht aus. Schon jetzt ist deutlich, dass die digitalen Möglichkeiten das Verlagswesen selbst verändern und prägen. Das aber bedeutet, dass die neuartigen Seiten des elektronischen Mediums zugleich die Felder markieren, auf denen Regelungen notwendig erscheinen. Damit rücken drei grundsätzliche Funktionen des Verlagswesens in den Fokus, die für den digitalen Markt geschärft werden müssen: Dauerhaftigkeit, Filtersysteme und der Weg über den Markt. 1. Der Sicherung bedarf das, was man die Dauerhaftigkeit des Gedruckten, seinen Werkcharakter oder seine Authentizität nennen könnte. Wie kann die elektronisch übermittelte Gestaltung eines Textes vor ihrer permanenten Veränderbarkeit und Manipulierbarkeit bewahrt werden? 2. Mit besonderen Schwierigkeiten ist die Etablierung von Filtersystemen verbunden, ohne die eine für den modernen Kulturstaat konstitutive Öffentlichkeit nicht zu gewinnen ist. Wie ist elektronische Filterung erreichbar, ohne gleichzeitig die individuelle Meinungsfreiheit einzuschränken und die regionale Vielfalt zu vernachlässigen? Was sich im Buch- und Verlagswesen über einen langen Erfahrungs- und Lernprozess eingespielt hat, ist für das Publizieren in digitalen Medien erst noch zu gewinnen. 3. Wenn die Verbindung von Druck, Verlag und Markt erhalten werden soll, darf die allgemeine Zugänglichkeit nicht mit einer auch nur teilweisen Zerstörung des Markts und damit der ökonomischen Basis des Verlagswesens bezahlt werden. Dies gilt nicht deshalb, weil die Interessen der Verleger zu schützen wären. Vielmehr geht es darum, dasjenige Distributionsinstrument zu bewahren, das nach allen Erfahrungen am effizientesten die Verbindung der Merkmale von Permanenz, Selektivität und Öffentlichkeit zu sichern vermag.
Wie also könnte sich der Buchmarkt, das Verlagswesen der Zukunft darstellen? Welche Szenarien existieren? Die Digitalisierung hat eine Vielzahl neuer Medien hervorgebracht, die Globalisierung schafft neue Zwänge, die Sozialstruktur ändert sich. Wie sich die Welt der Bücher verändern wird, entscheiden letztlich die Käufer und Leser - noch ist deren Reaktion diffus. Zusammen mit dem Heidelberger Marktforschungsunternehmen Sinus Sociovision hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels mögliche Szenarien für den Buchmarkt entwickelt. Eines davon trägt den Namen "Metamorphosis" - es würde zu den tiefgreifendsten Veränderungen führen.
Das "globale Dorf" würde durch die digitale Vernetzung reale Bedeutung erhalten, herkömmliche Diskussionen und Konfliktlinien der Gegenwart wären unwichtig, die Bürgerinnen und Bürger nähmen ihre Probleme selbst in die Hand und nutzten alle Möglichkeiten, die eine global vernetzte Welt ihnen bietet: Sie verbänden Eigenverantwortung mit Gemeinschaftssinn, integrierten technischen Fortschritt mit Nachhaltigkeit und organisierten sich und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in großen Teilen selbst. Es scheint dem Szenario zu ähneln, das den Verfechtern des Internets vorschwebt.
Und was hieße dies für das Verlagswesen? In einem solchen gesellschaftlichen Szenario sind die Menschen medienaktiv und gut informiert, nutzen unterschiedliche Medien und Informationskanäle, haben eine hohe Medienkompetenz. Hier zählt der Inhalt, nicht das Medium. Trennlinien zwischen Büchern, Zeitschriften und audiovisuellen oder digitalen Medien verschwinden. Print on demand dominiert. Inhalte werden permanent verändert, Sachinformationen auf dem neuesten Stand gehalten - das Wikipedia-Prinzip ist Standard, traditionelle Lexika, Lehrbücher, Reiseführer und Ratgeber sind vom Markt verschwunden. An ihre Stelle treten Datenbanken, Lernsoftware und Wissensforen, also sehr unterschiedliche Formate. Immer noch stehen dabei aber verlegerisch aufbereitete Inhalte im Zentrum, denn Verlage stehen für Verlässlichkeit der Information und Sorgfalt bei ihrer Zusammenstellung. Das Buch wird dabei zum Ernstfall von Inhalt - sein Spezifikum ist der Gehalt der Information, nicht das Papier als Medium. In diesem Szenario definiert sich das Buch neu und behält seine Stellung als Leitmedium. Der verlagsgenerierte Inhalt bleibt. Metamorphosis.
Das digitale Medium ist zu einer kulturellen Herausforderung geworden. Das lässt sich aus dem Blickwinkel des Verlegers mit besonderer Schärfe sehen. Die Versetzung des Buchs in den veränderten kulturellen und medialen Kontext lässt das Buch neu entdecken. Doch diese Herausforderung kann nur dann bestanden werden, wenn es gelingt, die Stärken des neuen Mediums an die Standards zu binden, die das Buch- und Verlagswesen zum unverzichtbaren Element neuzeitlicher Kultur hat werden lassen.
1 Vgl.
Börsenverein des Deutschen Buchhandels/Hauptverband des
Österreichischen Buchhandels/Schweizer Verlegerverband
(Hrsg.), Das Buch im Medienportfolio, Frankfurt/M., Juni
2009.
2 Vgl. www.internet-manifest.de (Stand:
8.9. 2009).