ERSTE SITZUNG
Der wiedergewählte Bundestagspräsident betont zum Beginn der neuen Legislaturperiode die Bedeutung der Volksvertretung - und mahnt Korrekturen nicht nur im
parlamentarischen Alltagsbetrieb an
Mit 92,9 Prozent war Norbert Lammert vor vier Jahren erstmals zum Bundestagspräsidenten gewählt worden, 84,6 Prozent erzielte er bei seiner Wiederwahl am 27. Oktober in der konstituierenden Sitzung des 17. Deutschen Bundestages - ein Votum, über das sich der 60-Jährige alles andere als unzufrieden zeigte: Immerhin hatte er damit "nach dem besten Wahlergebnis der letzten 20 Jahre (nun) das zweitbeste" erzielt, wie Lammert im Anschluss an die Sitzung bilanzierte, obwohl er in der zurückliegenden Legislaturperiode "ja nicht nur für Gemütlichkeit im Deutschen Bundestag gesorgt" habe.
In diesem Sinne hatte er sich schon direkt nach der Wahl bedankt, dass er "trotz gelegentlicher Neigung zu Selbstständigkeit und Hartnäckigkeit" erneut nominiert und bestätigt wurde "in Kenntnis des Risikos, dass das so bleiben wird". Der so formulierte Anspruch an sich selbst prägte auch seine Rede zum Beginn der neuen Legislaturperiode, in der er deutliche Worte nach innen wie nach außen fand: Ob er sich nun gegen eine zunehmende Auslagerung der Gesetzesarbeit wandte, die Organisation der Parlamentsdebatten kritisierte oder Wahlrechtsregelungen ins Visier nahm - Lammert gab seinem Auditorium manch unbequeme Mahnung mit auf den Weg in die neue Wahlperiode.
Viel Aufmerksamkeit fand seine Schelte für ARD und ZDF, die an diesem Vormittag die Komödie "Schaumküsse" beziehungsweise die Serien "Alisa - Folge deinem Herzen" und "Bianca - Wege zum Glück" im Hauptprogramm zeigten statt der ersten Sitzung des neugewählten Parlaments. "Mir fehlt jedes Verständnis dafür, dass ein gebührenpflichtiges Fernsehen, das dieses üppig dotierte Privileg allein seinem besonderen Informationsauftrag verdankt, auch an einem Tag wie heute mit einer souveränen Sturheit der Unterhaltung Vorrang vor der Information einräumt", ärgerte sich Lammert.
Während ARD und ZDF die Kritik zurückwiesen mit dem Hinweis auf die Live-Übertragung der Bundestagssitzung im gemeinsamen Nachrichtenkanal Phoenix, befand Lammert dies als unzureichend. Schließlich habe es eine Vereinbarung gegeben, "dass wichtige Ereignisse in Zukunft im Hauptprogramm übertragen werden", sagte er nach der Sitzung vor Journalisten.
In seiner Rede hatte Lammert zuvor die Bedeutung des Bundestages "im Verfassungsgefüge wie in der Realität unseres politischen Lebens" hervorgehoben, die "sicher höher als sein öffentliches Ansehen" sei. Weder den Regierungen von Bund und Ländern noch dem Verfassungsgericht mangele es an Selbstbewusstsein, doch müsse und dürfe sich das Parlament nicht dahinter verstecken. Der Bundestag "ist nicht Hilfsorgan, sondern Herz der politischen Willensbildung" im Lande, argumentierte der CDU-Politiker und betonte: "Nicht die Regierung hält sich ein Parlament, sondern das Parlament bestimmt und kontrolliert die Regierung."
Mit Blick auf den Regierungswechsel machte er die "demokratische Reife eines politischen Systems" an der Volksvertretung und insbesondere an der parlamentarischen Existenz der Opposition und ihren Wirkungsmöglichkeiten fest: "Regiert wird immer und überall, mal mit und oft ohne demokratische Legitimation", gab Lammert zu bedenken: "Die Opposition macht den Unterschied."
Zugleich warnte er vor dem Eindruck, die Gesetzgebungsarbeit werde immer häufiger an Anwaltskanzleien, Beratungsunternehmen und Gutachter abgetreten. Dies stärke die Autorität der Verfassungsorgane weder nach innen noch nach außen. Die Regierung, mahnte der Parlamentspräsident, sei nicht "Gesetzgeber" noch der Bundestag "Gesetznehmer".
Auch so manche parlamentarische Alltagspraxis scheint Lammert korrekturbedürftig, etwa das "immer größere und immer ärgerlichere Missverhältnis zwischen aufgesetzten und tatsächlich öffentlich behandelten Tagesordnungspunkten". So seien in der zurückliegenden Wahlperiode 464 Tagesordnungs- punkte ohne Debatte behandelt und mehr als jede vierte Rede zu Protokoll gegeben worden, bemängelte er und fand dies "schwer vereinbar" mit der Festlegung des Grundgesetzes, wonach der Bundestag öffentlich verhandelt.
"Verbesserungspotenzial" sah der Parlamentspräsident auch bei der Fragestunde des Bundestages: Manche Abgeordnetenfrage "mag unnötig sein, aber manche Antwort der Bundesregierung ist unbefriedigend, gelegentlich ärgerlich", konstatierte er. Darüber hinaus monierte Lammert, es müssten "nicht in jeder Legislaturperiode neue Rekorde bei parlamentarischen Drucksachen erzielt werden" - mit gut 14.150 solcher Vorlagen waren es in den vergangenen vier Jahren weit mehr als je zuvor in einer Wahlperiode.
Erneut machte sich der CDU-Politiker für eine Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre stark und verwies darauf, dass fast alle Landtage sowie viele Parlamente der Nachbarstaaten und das Europäische Parlament bereits fünfjährige Wahlperioden haben. Für Änderungen warb er auch hinsichtlich der Zulassung nicht im Parlament vertretener Parteien zur Bundestagswahl. Dass im dafür zuständigen Wahlausschuss Vertreter der etablierten Parteien über die Zulassung der Konkurrenz entscheiden, sei "nicht über jeden demokratischen Zweifel erhaben", kritisierte er und wertete es als "Rechtsschutzlücke", dass das Wahlgesetz eine Überprüfung abgelehnter Bewerbungen erst nach der Wahl zulasse, wenn es für eine Korrektur zu spät sei.
Daneben forderte der Bundestagspräsident, sich auch mit der geringen Beteiligung an der Wahl vom 27. September auseinanderzusetzen, bei der etwa 18 Millionen Wahlberechtige ihre Stimme nicht abgaben - so viele, wie Nordrhein-Westfalen als bevölkerungsreichstes Bundesland Einwohner zählt. Lammert wollte dies "weder verharmlost noch dramatisiert" sehen, hielt aber auch fest: "Belanglos ist das nicht." Und mit Blick auf die friedliche Revolution in der DDR 1989 erinnerte er daran, dass für das "demokratische Kerngrundrecht freier Wahlen" vor 20 Jahren auch in Deutschland viele Tausende Menschen auf die Straßen gegangen seien.
Eröffnet wurde die Sitzung vom Alterspräsidenten des neuen Bundestages, dem 73-jährigen CDU-Abgeordneten Heinz Riesenhuber. In seiner Ansprache verwies er darauf, dass der Bundestag "nur einen Teil dessen, was in Deutschland entschieden werden muss, gestalten" könne. "Den anderen Möglichkeiten zu geben für Freiheit, für Mut und Unternehmungsgeist, dass sie mit Gestaltungskraft in die Zukunft schreiten, dass sie ihre Verantwortung für eine verletzliche Welt verstehen, dass sie nicht alles vom Staat erwarten, sondern sehr viel auch von sich selbst", nannte Riesenhuber die Aufgabe für die Wahlperiode.
Zugleich rief er die Abgeordneten zu einem fairen Umgang auf. "Eines war uns immer gemeinsam", betonte Riesenhuber: "Die Achtung vor jedem Kollegen und seiner Meinung, die Bereitschaft zum sachlichen Argument, die Fähigkeit, Kompromisse zu prüfen, und die Entschlossenheit zu entscheiden."