25. Sitzung
Berlin, Freitag, den 26. Februar 2010
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen liebe Kolleginnen und Kollegen! Nehmen Sie bitte Platz.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1890 (2009) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksachen 17/654, 17/816 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Rainer Stinner
Jan van Aken
Kerstin Müller (Köln)
- Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/819 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung zum Antrag der Bundesregierung werden wir später namentlich abstimmen. Die namentliche Abstimmung wird voraussichtlich gegen 10.30 Uhr oder 10.40 Uhr stattfinden. Denn die Fraktionen schlagen gemeinsam vor, für die Aussprache eine Zeit von insgesamt 90 Minuten vorzusehen. Ich nehme an, dass es dazu Einvernehmen gibt. - Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Dr. Rainer Stinner für die FDP-Fraktion.
Dr. Rainer Stinner (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ende Oktober 2001 stimmten 64 Prozent der Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland dafür, dass wir uns an dem militärischen Einsatz in Afghanistan beteiligen. Im März 2002, nach den ersten deutschen Verlusten und Verwundungen von Soldaten, stimmten 66 Prozent der deutschen Bürger dafür, dass sich die Bundeswehr weiterhin am Afghanistan-Mandat beteiligt.
Es ist also nicht so, meine Damen und Herren, dass sich die Bundesrepublik Deutschland gegen den Willen der deutschen Bevölkerung in Afghanistan engagiert und beteiligt hat. Nein, sie hat sich ausdrücklich mit Unterstützung der Bevölkerung daran beteiligt.
Wir wissen alle, dass die Unterstützung der Bevölkerung zurückgegangen ist und dass sich die Situation geändert hat. Das hängt ohne jeden Zweifel auch mit eigenen Fehlern der NATO zusammen. Aber was folgern wir daraus? Die Minderheit in diesem Haus folgert daraus, jetzt überstürzt aus Afghanistan abzuziehen, die Afghaninnen und Afghanen allein ihrem Schicksal zu überlassen, einen Flächenbrand zu riskieren und Gefahr für die Welt heraufzubeschwören. Das ist falsch. Das lehnen wir ab.
Die Mehrheit, zu der wir gehören, folgert daraus, dass wir aus eigenen Fehlern lernen und besser werden müssen. Genau dazu trägt das neue Mandat erheblich bei.
Leider ist der Öffentlichkeit zu wenig bekannt - offensichtlich ist es auch Ihnen nicht bekannt, Herr Ströbele -, welchen grundsätzlichen Neuanfang wir mit diesem Mandat machen.
Es war richtig, dass die Bundesregierung den London-Prozess selbst aktiv angestoßen und selbst aktiv betrieben hat. Es war richtig, dass wir uns die Zeit dafür genommen haben. Denn wir haben erstmals in der NATO ein gemeinsam definiertes klares Ziel für Afghanistan. Wir haben erstmals in all den acht Jahren in der NATO eine gemeinsam definierte Strategie als Weg zum Ziel. Wir haben erstmals das umgesetzt, was wir jahrelang vor uns hergetragen haben. Wir haben erstmals in Deutschland den vernetzten Ansatz umgesetzt.
Noch niemals zuvor in all den acht Jahren haben die beteiligten Ministerien unter Führung des Außenministeriums so intensiv gemeinsam an dem Afghanistan-Mandat gearbeitet, gemeinsam analysiert und gemeinsam Maßnahmen definiert. Leider wissen zu wenige in Deutschland, auch im Deutschen Bundestag, welche Fortschritte und Ergebnisse unser bisheriges Engagement gebracht hat.
Ich will nur ein Beispiel nennen. Wir haben neulich eine sehr eindrucksvolle Präsentation des Deutschen Akademischen Austauschdienstes erlebt, in der dargestellt wurde, dass in Afghanistan mit deutscher Hilfe die Technische Fakultät der Universität Herat aufgebaut wird, dass dort mittlerweise Tausende von Afghaninnen und Afghanen ausgebildet werden und dass, o Wunder, diese ausgebildeten Studenten nach Abschluss ihres Studiums in Afghanistan eine Arbeitsstelle bekommen. Von einer solchen Arbeitsplatzperspektive träumt manch deutscher Student.
Wir haben dann den Damen und Herren vom DAAD gesagt: Präsentiert das doch auch der Presse! Das ist doch so wichtig! - Sie haben geantwortet: Wenn wir es der Presse anbieten, kommt sie nicht; sie hört nicht zu. Offensichtlich gilt hier: Bad news are good news; die guten Nachrichten werden nicht gehört.
Wir müssen weiterhin den zivilen Aufbau in Afghanistan intensiv unterstützen und bestärken. Dafür brauchen wir weiterhin die Bundeswehr: Sie macht die zivile Entwicklung erst möglich.
Unsere Soldaten sollen stolz darauf sein, dass auf Grundlage ihres Einsatzes, ihres Beitrages dieser Weg der Entwicklung erst möglich wird. Ich möchte von diesem Platz aus - hoffentlich auch in Ihrem Namen - unseren Soldaten unsere ausdrückliche Anerkennung für ihren gefährlichen, schweren Einsatz in Afghanistan aussprechen.
Ich weiß, dass es eine ganz große Mehrheit der Afghanen genauso sieht - einige in diesem Hause mögen es nicht wahrhaben -: Sie unterstützt den Einsatz der Bundeswehr und will sie dahaben.
- Die große Mehrheit der Afghanen will das so.
Es geht bei diesem Mandat um vieles; aber um drei Dinge - das möchte ich deutlich herausstellen - geht es eben nicht:
Erstens. Es geht nicht um die Alternative ?Krieg oder Frieden?; diese Wahl haben wir in der Weise nicht. Es geht nur darum, auf welche Art der Konflikt in Afghanistan ausgetragen wird.
Zweitens. Wollen wir das Land durch einen sofortigen Abzug, den manche wollen - Herr Ströbele, Sie offensichtlich auch -, in unübersehbares Chaos stürzen, die Region destabilisieren und unsere Sicherheit gefährden, oder setzen wir uns, Herr Ströbele, für ein verantwortbares Abzugsszenario ein? Das ist die Frage. Es geht nicht um die Frage: Abziehen oder dableiben? Niemand von uns möchte ad infinitum in Afghanistan bleiben. Nein, es geht nur darum, dass wir einen sinnvollen, geordneten Weg finden, unser militärisches Engagement zu reduzieren.
- Frau Enkelmann, dieses Mandat sieht dafür zum ersten Mal konkrete Maßnahmen vor: Es beschreibt erstmals den Weg zu einem realistischen Abzugsszenario.
Drittens. Es geht auch nicht um die Alternative ?Unterstützung oder Kampfeinsatz?. Wir wissen und akzeptieren - das müssen wir auch öffentlich sagen -, dass es in Afghanistan um beides geht: um Unterstützung, Vermittlung und Hilfe, aber auch um Kampf. Das müssen wir der Öffentlichkeit sagen.
In Afghanistan gibt es zivile Opfer; das ist wahr. Die große Mehrheit der zivilen Opfer wird aber durch die Taliban verursacht. Auch heute Morgen wieder: Die Opfer, die wir heute Morgen in Kabul zu beklagen haben, sind Opfer der Taliban, nicht der NATO oder der Bundeswehr.
Ich weiß aber - das sage ich deutlich -: Jawohl, auch die NATO und die Bundeswehr haben zu zivilen Opfern beigetragen. Das bedauern wir außerordentlich. Wir müssen alles tun, damit die Zahl der Opfer minimiert wird.
Eines ist aber ganz sicher: Die Zahl der zivilen Opfer in Afghanistan und darüber hinaus, die Qual von Millionen Bürgerinnen und Bürgern, von Männern, Frauen und Kindern, in Afghanistan würde unendlich viel größer werden, wenn wir unverantwortlicherweise sofort abziehen würden, wenn wir das Land den Gegnern von Menschenrechten, der Menschenwürde und der Zivilisation überlassen würden. Deshalb tun wir das nicht; deshalb unterstützt die FDP-Fraktion den Ansatz der ?Übergabe der Verantwortung?. Wir stellen uns dieser Aufgabe. Die Fraktion wird heute mit sehr großer Mehrheit dem Mandat zustimmen.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das ist kein ganz gewöhnlicher Tag für das Parlament, und das ist keine ganz einfache Entscheidung auch und gerade für die SPD-Fraktion hier im Deutschen Bundestag. Wenn ich gleichwohl meiner Fraktion die Zustimmung zum Mandat empfohlen habe, dann tue ich dies in der Verantwortung für die Menschen in Afghanistan; wir stimmen zu, weil wir nach acht Jahren des Aufenthalts deutscher Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan
die Weichen für die Beendigung dieses Einsatzes stellen müssen und auch weil, meine Damen und Herren von der Linkspartei, die Beendigung eines solchen Einsatzes vorbereitet werden muss, damit - auch das ist eine Frage der Sicherheit deutscher Soldaten - kein kopfloser Wettbewerb der Streitkräfte einsetzt,
die gegenwärtig ihren Dienst in Afghanistan tun.
Es geht heute um einen Perspektivenwechsel. Es geht einerseits um die Sicherung des Erreichten, andererseits um die Ertüchtigung der afghanischen Staatlichkeit, aber auch - darauf kommt es mir an - um die Vorbereitung der Beendigung unserer militärischen Präsenz dort. Weil es darum geht, missverstehen Sie, meine Damen und Herren von der Regierung, die Haltung der SPD nicht. Das ist kein Vertrauensvorschuss für diese Regierung. Den haben Sie sich leider in den ersten 120 Tagen Ihrer Amtszeit nicht verdient.
Gerade weil wir unsere Haltung nicht von Ihren Vorschlägen abhängig machen wollten, haben wir an unseren eigenen Vorstellungen gearbeitet, fußend auf einem Zehnpunkteplan vom September des vergangenen Jahres, die im Verlaufe der ersten zwei Monate dieses Jahres mit nationalen und internationalen Experten, mit NGOs, mit Kirchen und mit vielen anderen diskutiert wurden. Der Weg, den wir danach beschrieben haben, ist klar: keine zusätzlichen Kampftruppen, Verdoppelung der finanziellen Mittel für den zivilen Wiederaufbau, deutlich mehr Anstrengung für die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte, Übergabe von beruhigten Regionen an die afghanische Staatlichkeit und parallel dazu ab 2011 Beginn des Abzugs deutscher Soldatinnen und Soldaten aus Afghanistan. Und wir haben hinzugefügt: In einem Korridor zwischen 2013 und 2015 soll der militärische Teil dieses Einsatzes, dieses Engagements zu Ende kommen.
Wir haben gesehen - das begrüßen wir -, dass viele dieser Forderungen in dem von der Bundesregierung vorgelegten Mandatsantrag enthalten sind. Entscheidend ist für uns, dass der Perspektivenwechsel vom Daueraufenthalt deutscher Streitkräfte in Afghanistan hin zur Beendigung des Militäreinsatzes im Mandatsantrag aufgenommen ist. Das sind die entscheidenden Gründe, weshalb wir nach gründlicher Prüfung diesen Antrag unterstützen können. Es bleiben - das will ich nicht verhehlen - kritische Fragen, viele kritische Fragen. Wir haben sie in der Partei und der Fraktion diskutiert, und wir haben hart gerungen, bevor wir uns abschließend entschieden haben. Wenn es kritische Stimmen gab - auch das will ich nicht verhehlen -, dann betrafen sie nicht Zweifel an denjenigen, die in Afghanistan unter schwierigen Bedingungen ihren Dienst tun: Polizisten, zivile Wiederaufbauhelfer, Soldaten und Diplomaten. An denen zweifeln wir nicht. Deshalb danken wir ihnen zunächst einmal an dieser Stelle.
Die Kritik und die Zweifel, die es gegeben hat und über die wir diskutiert haben, haben einen anderen Grund. Es sind Zweifel an der Führungsfähigkeit der Bundesregierung nach einem Dauerstreit, den wir seit 120 Tagen erleben, auch nach Vorgängen, die hier im Parlament eine Rolle gespielt haben, Herr zu Guttenberg, bei denen es um völlig unterschiedliche Bewertungen über einen Einsatz am Kunduz-Fluss ging, und nach manchem leichtfertigen Gerede, das hier über Krieg oder Nichtkrieg in Afghanistan stattgefunden hat.
Deshalb - ich wiederhole es - ist dies keine leichte Entscheidung, gerade für uns nicht. Es geht hier nicht um Leistungen oder Fehlleistungen der Bundesregierung, sondern um die Menschen in Afghanistan und um unsere Sicherheit. Weil Sie im Kern den Weg eingeschlagen haben, den wir beschrieben haben und für richtig halten, haben Sie in diesem Falle heute unsere Unterstützung. Aber gleichzeitig ist klar: Das ist kein Freibrief. Das ist ein Mandat für zwölf Monate. Wir werden sehr genau verfolgen, ob Sie die heute gemachten Zusagen einhalten und im nächsten Jahr, in den nächsten zwölf Monaten, die Weichen für einen schrittweise erfolgenden Abzug ab 2011 und dann anschließend für eine Vorbereitung auf die Beendigung des militärischen Einsatzes, wie im Mandat beschrieben, stellen. Diese Abzugsperspektive ist für uns entscheidend.
Wir sind nicht von allem überzeugt. Wir sagen: Die Abzugsperspektive ist das Zentrale; deshalb tragen wir die Erhöhung des Kontingentes mit.
- Sie sind eben nicht fähig, sich für Prioritäten zu entscheiden. - Wir tragen wegen der Abzugsperspektive die Erhöhung des Kontingentes mit. Wir sind aber nicht restlos überzeugt - das haben Sie in den Gesprächen gespürt - von der Größenordnung der flexiblen Reserve. Deshalb erwarten wir, dass in den Ausschüssen in jedem Fall eines Einsatzes aus der Reserve ausführlich dargelegt wird, dass er zeitlich begrenzt und zu vorübergehenden Zwecken stattfindet und nur unter diesen Voraussetzungen Soldaten in Richtung Afghanistan geschickt werden.
Herr zu Guttenberg, Herr Westerwelle, wir werden Sie an Ihren Taten messen,
wenn wir in zwölf Monaten über eine Verlängerung dieses Einsatzes zu entscheiden haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als Parlamentarier sollten es dabei für heute nicht bewenden lassen, sondern das, was in diesem Mandat beschrieben ist und sich mit unseren Vorstellungen von der Weiterführung und Beendigung unseres Einsatzes dort verbindet, in den nächsten zwölf Monaten und darüber hinaus gründlich und kritisch unter die Lupe nehmen.
Deshalb ist mein Vorschlag, dass wir aus der Mitte des Parlaments den Auftrag erteilen, den Afghanistan-Einsatz einer systematischen und regelmäßigen Untersuchung zu unterziehen. Wir von der SPD-Fraktion werden Ihnen allen dazu einen Vorschlag unterbreiten. Ich würde mich freuen - das darf ich Ihnen zum Abschluss sagen -, wenn wir einen solchen Vorschlag der SPD zu einer Untersuchung mit einem gemeinsamen parlamentarischen Antrag aller Fraktionen im Deutschen Bundestag unterstützen könnten.
Herzlichen Dank Ihnen allen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Dr. Andreas Schockenhoff ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Mandat, das wir heute debattieren, ist das Ergebnis einer umfassenden Überprüfung und Neuausrichtung unserer Anstrengungen in Afghanistan. Deutschland wird seine Hilfe für den zivilen Aufbau verdoppeln und die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte erheblich verstärken. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt dies nachdrücklich; denn nur so werden wir - vielleicht schon in diesem Jahr - mit dem Prozess der Übergabe in Verantwortung an die afghanische Regierung beginnen können.
Die Londoner Konferenz vom 28. Januar 2010 hat den richtigen Strategiewechsel gebracht. Dass dies erreicht wurde, hat allerdings viel damit zu tun, dass die Bundeskanzlerin im August letzten Jahres diese Konferenz initiiert und das Konzept der Übergabe in Verantwortung geprägt hat. Dafür danken wir ihr nachdrücklich.
Jetzt ist der Einstieg in eine schrittweise Übergabe der Verantwortung für Wiederaufbau und Sicherheit in afghanische Hände schon ab diesem Jahr vereinbart. Dafür wird die internationale Gemeinschaft die zivile Hilfe verstärken und den Aufbau der afghanischen Sicherheitsorgane forcieren. Gemeinsam mit der afghanischen Regierung - das ist das Entscheidende - wurden die Zielmarken gesetzt. Die Zahl der Soldaten und Polizisten soll von derzeit knapp 200 000 auf über 300 000 anwachsen, damit die afghanische Regierung ihr Ziel erreichen kann, bis 2014 selbstständig für Sicherheit in Afghanistan sorgen zu können. Wir haben in London also die Grundlage für eine Abzugsperspektive für unsere Soldatinnen und Soldaten geschaffen. Ja, der Einsatz dauert länger, und er ist schwieriger, als wir zu Beginn, vor gut acht Jahren, gedacht haben. Doch mit der Umsetzung der Londoner Strategie haben wir die Chance, in einzelnen Distrikten in unserem Verantwortungsbereich in Nordafghanistan mit der Übergabe der Verantwortung Anfang 2011 zu beginnen und dann nicht mehr benötigte Fähigkeiten zu reduzieren. Das ist die Perspektive für den Beginn des Abzugs.
Beendet werden kann der ISAF-Einsatz, wenn in Afghanistan eine selbsttragende Stabilität und eine selbsttragende Sicherheit geschaffen sind, das heißt, wenn von Afghanistan keine Gefährdung mehr für die internationale Gemeinschaft ausgeht. Wir würden unseren eigenen Anstrengungen, unserer eigenen Sicherheit schaden, wenn wir vorzeitig abziehen würden. Afghanistan darf nicht wieder zu einem gescheiterten Staat werden, von dem aus Terroristen gegen uns agieren können.
Doch unser verstärktes Engagement in Afghanistan kann nur dann erfolgreich sein, wenn auch die afghanische Regierung ihre Hausaufgaben macht. Sie muss die in London eingegangenen Verpflichtungen zügig und mit Nachdruck umsetzen. Wir erwarten, dass sie konsequenter und nachhaltiger als bisher Defizite hinsichtlich verantwortungsvoller Regierungsführung, Bekämpfung von Drogen und Korruption sowie Schutz der Menschenrechte angeht. Nur so kann sie das Vertrauen der afghanischen Bevölkerung in ihre eigene Regierung stärken. Die Einrichtung von Antikorruptionsbehörden in der Regierung sowie einer Antikorruptionseinheit beim afghanischen Staatsanwalt sind richtige Maßnahmen. Doch nun ist auch konkretes Handeln gefragt. Die afghanische Regierung muss ihrer Bevölkerung jetzt beweisen, dass ihre eigene Regierung für spürbare Verbesserungen in ihrem Leben sorgt. In diesem Kontext ist es nicht hinnehmbar, dass der afghanische Präsident den Vereinten Nationen das Vorschlagsrecht für die Leitung der Wahlbeschwerdekommission entzogen hat. Die Überparteilichkeit der Wahlbeschwerdekommission muss sichergestellt werden.
Ein wichtiger, ebenfalls in London vereinbarter Ansatz ist das von der afghanischen Regierung eigenverantwortlich durchgeführte Wiedereingliederungsprogramm, das bereits in der Kritik steht, bevor es überhaupt erste Ergebnisse zeigen kann. Die Terroristen von al-Qaida und Taliban sind zweifellos keine irregeleiteten Idealisten, die durch Dialog von ihrem Weg abgebracht werden könnten. Sie sind entschlossene Fanatiker, die ihre Gewaltherrschaft wiederherstellen wollen. Es wäre naiv, zu glauben, dass die Extremisten die Verfassung, die sie heute bekämpfen, jemals anerkennen werden.
Doch darum geht es in diesem Programm nicht. Wir wollen die Mitläufer unter den Aufständischen erreichen, die aus rein finanziellen und wirtschaftlichen Gründen auf der falschen Seite stehen. Ihnen soll die Chance eröffnet werden, die Waffen niederzulegen, die Gesetze zu respektieren und am Wiederaufbau mitzuwirken. Es muss aber sichergestellt sein, dass der Mitteleinsatz wirksam, transparent und nachhaltig ist. Es dürfen keine finanziellen Vorleistungen erfolgen, sondern es dürfen mit diesen Geldern nur bezahlte Arbeit und Ausbildungen ermöglicht werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für unseren Verantwortungsbereich im Norden haben wir uns klare Ziele gesetzt, um eine selbsttragende Sicherheit zu erreichen. In den nächsten vier Jahren sollen die Voraussetzungen geschaffen werden, dass unsere militärische Präsenz schrittweise zurückgeführt werden kann. Die Aufstockung auf 1 400 statt bisher 280 deutsche Kräfte für die Ausbildung afghanischer Soldaten verdeutlicht unsere Entschlossenheit dazu. Das gilt auch für die Forcierung unserer Ausbildung von afghanischen Polizisten, von denen wir bis 2012 15 000 einsatzfähig machen wollen. Je intensiver wir uns diesen Aufgaben jetzt widmen, desto früher können wir mit dem Abzug unserer eigenen Soldaten beginnen. Deshalb stocken wir die Zahl unserer Soldaten in Afghanistan vorübergehend um 500 Soldaten auf.
Lieber Herr Kollege Steinmeier, um es noch einmal deutlich zu sagen: Entscheidender Maßstab für die Reduzierung unseres Engagements kann jedoch kein konkretes Abzugsdatum sein, sondern es geht um Wegmarken für die Übergabe der Verantwortung, bei deren Erreichen ein Reduzierungsschritt erfolgen kann. Eine schrittweise Reduzierung der militärischen Präsenz ist zwingend an Fortschritte beim zivilen Aufbau und beim Aufwuchs der afghanischen Sicherheitskräfte gekoppelt. Deshalb investieren wir nicht nur in unsere Ausbildungsbemühungen, sondern verdoppeln auch unsere jährlichen Mittel für den zivilen Aufbau in Afghanistan auf 430 Millionen Euro. Zögen wir vorzeitig oder gar überstürzt ab, würden wir das bisher Erreichte verspielen. Unsere Soldaten und Entwicklungshelfer haben in den letzten Jahren Großes geleistet und viel erreicht. Ihnen gebührt unser Dank und unsere Anerkennung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Afghanistan herrscht ein bewaffneter Konflikt, auch im deutschen Verantwortungsbereich im Norden. Verteidigungsminister zu Guttenberg hat dies frühzeitig benannt, und Außenminister Westerwelle hat dies bekräftigt und zur Position der Bundesregierung gemacht. Unsere Soldatinnen und Soldaten brauchen Rechtssicherheit und Klarheit für ihren Einsatz. Die Neubewertung durch die Bundesregierung hat dafür ein eindeutiges politisches Signal gesetzt.
Für die Bundesregierung sind für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan die Regeln des humanitären Völkerrechts maßgebend und nicht das deutsche Strafrecht. Die einschlägigen Rechtsnormen aus den Genfer Abkommen und Zusatzprotokollen, etwa zum Waffeneinsatz gegen gegnerische Kämpfer, zum Schutz der Zivilbevölkerung und zur Vermeidung ziviler Opfer, sind im Einsatz zu beachten. Diesen Anforderungen müssen auch die nationalen militärischen Einsatzregeln, Operationspläne und Taschenkarten Rechnung tragen. Damit findet die Realität in Afghanistan Eingang in die politische Bewertung. Das ist konsequent und stärkt die Glaubwürdigkeit der Politik bei den Soldaten im Einsatz.
Aus der Neubewertung der Lage in Afghanistan ergibt sich keine Veränderung der Einsatzgrundlagen der deutschen Polizisten von Bund und Ländern. Die Beschlüsse der Innenministerkonferenz vom Juni und Dezember 2009, wonach der Einsatz von Polizeibeamten in Afghanistan nur in einem militärisch gesicherten Umfeld möglich ist, haben unverändert Bestand.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion wird dem Antrag der Bundesregierung zustimmen, weil er die Übergabe der Verantwortung in afghanische Hände befördert und eine Abzugsperspektive für unsere Soldatinnen und Soldaten eröffnet.
Wir begrüßen es ausdrücklich, dass die überwiegende Mehrheit der SPD-Fraktion dem Antrag der Bundesregierung ebenfalls zustimmen wird.
Wir fordern auch die Fraktion der Grünen auf, ihrer politischen Verantwortung nachzukommen und diesem zukunftsfähigen Mandat zuzustimmen, um dem Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten die breite parlamentarische Legitimation zu geben, die er verdient.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort der Kollegin Christine Buchholz für die Fraktion Die Linke.
Christine Buchholz (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung will heute noch mehr Soldaten nach Afghanistan senden, angeblich, um die Sicherheit dort aufrechtzuerhalten. Sie meint damit aber die militärische Absicherung der Regierung Karzai. Ich war mit meinem Fraktionskollegen Jan van Aken vor vier Wochen in Afghanistan. In jedem Gespräch, das wir mit Afghaninnen und Afghanen führten, spürten wir die Verachtung für diese Regierung. Das liegt daran, dass sie korrupt ist, dass in ihr die Warlords der vergangenen Kriege sitzen und dass es nach acht Jahren keine nennenswerten Verbesserungen der Lage der Bevölkerung gegeben hat.
Ohne die Unterstützung der NATO-Staaten wäre diese Regierung nichts.
Die Bundesregierung sagt, sie wolle die Bevölkerung schützen. ISAF-Kommandeur Stanley McChrystal fordert, zivile Opfer zu vermeiden. Aber der Aufstand gegen die Regierung Karzai und die ausländischen Truppen hat eine breite Unterstützung in der afghanischen Bevölkerung. Die Aufständischen, die Sie bekämpfen, sind Teil der Bevölkerung. Die Aufständischen sind auch Zivilisten. Ein Zivilist erscheint den Soldaten als potenzieller Aufständischer.
Das heißt, militärische Aufstandsbekämpfung und Schutz der Bevölkerung sind unvereinbar.
Der Leiter der Stability Division im ISAF-Hauptquartier erklärte uns, dass das Ziel der Aufstandsbekämpfung eine starke zivile Komponente brauche. Er berief sich dabei auf die Forderung von McChrystal, dass 40 Prozent der Arbeit von ISAF der Wiederaufbau sein muss. Aber ob die zivile Komponente nun 20, 40 oder 60 Prozent beträgt: Solange die zivile Hilfe dem Ziel der militärischen Aufstandsbekämpfung untergeordnet ist, wird sie niemals in der Lage sein, die Lebensbedingungen der Afghanen zu verbessern.
Der Krieg wird weitergehen. Weitere Menschen werden getötet werden. Für das vergangene Jahr zählte die UNO 2 140 unbewaffnete Todesopfer, darunter 346 Kinder, Tendenz steigend. Die Bombardierung der Tanklaster bei Kunduz am 4. September wird leider nicht die letzte dieser Art bleiben, wenn Sie heute das neue Mandat beschließen. Es ist ein Armutszeugnis, dass Sie nicht bereit sind, diese Realität zur Kenntnis zu nehmen.
Wir haben uns in Afghanistan mit Opfern des Bombenangriffs vom 4. September getroffen. Das war für uns eine Selbstverständlichkeit; denn wir wollten wissen, was die Bombardierung für sie und ihr Leben bedeutet.
Da ist Noor Djan, 26 Jahre alt. Er hat drei Kinder, seine Frau ist hochschwanger, und sie haben kein Geld. Er hat bis wenige Tage vor der Bombardierung in einer Plastikfabrik im Iran gearbeitet, weil er in Afghanistan nicht genug Geld verdienen kann. Die Explosion hat seinen rechten Arm abgerissen. Im Krankenhaus wurde er wieder angenäht, aber die Hand ist verloren und der Arm nicht mehr zu gebrauchen. Er hat ständig Schmerzen, kann nicht mehr schlafen, und er kann nicht mehr für seine Familie sorgen. Er sagte uns: Jeden Tag wünsche ich mir, ich wäre getötet worden. - Was glauben Sie, was Noor Djan denkt, wenn Sie sagen, Sie wollen seine Sicherheitssituation verbessern?
91 Frauen sind durch den Angriff zu Witwen geworden. Die meisten von ihnen sind nun von Almosen abhängig. Von Almosen lebt auch Leila. Ihre beiden jugendlichen Söhne wurden getötet. Der eine hat sich um das Feld gekümmert, der andere um die Kuh. Nun muss sie sehen, wie sie ihre kleinen Töchter über die Runden bekommt. Was glauben Sie, was diese Frauen davon halten, wenn hier argumentiert wird, dass man den Frauen in Afghanistan helfen möchte?
Bulbul konnte ihre drei kleinen Enkel nicht davon abhalten, mit den anderen zum Fluss zu laufen. Sie saß mir mit Tränen in den Augen gegenüber und meinte, dass sie im Gegensatz zu vielen anderen wenigstens die Überreste ihrer Enkel gebracht bekommen hat, um sie beerdigen zu können.
Die Begegnung mit den Hinterbliebenen hat mir deutlich gemacht - ob Sie es wahrhaben wollen oder nicht -: Deutschland ist an einem Krieg gegen die einfache Bevölkerung in Afghanistan beteiligt.
Ich spreche jetzt besonders die Kolleginnen und Kollegen der SPD und der Grünen an: Wenn Sie die Entscheidung über das neue Mandat treffen, denken Sie daran: Wie auch immer Sie den Krieg rechtfertigen, Sie entscheiden heute über Leben und Tod.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich bitte Sie, unverzüglich die Spruchbänder herunterzunehmen.
Ich schließe alle Kollegen der Fraktion, die dieser Aufforderung nicht gefolgt sind, hiermit vom weiteren Verlauf der Sitzung aus.
Ich bitte Sie nunmehr, den Plenarsaal zu verlassen.
Ich fordere Sie jetzt noch einmal auf, den Saal zu verlassen, weil Sie vom weiteren Verlauf dieser Sitzung ausgeschlossen sind. Ich vermute, dass mindestens die Parlamentarischen Geschäftsführer eine hinreichende Kenntnis der Regelungen unserer Geschäftsordnung haben, zumal das bei vergleichbaren Situationen im Ältestenrat immer als hoffentlich ernstgemeinte Positionierung vorgetragen worden ist.
Ansonsten muss ich auf die weiteren Konsequenzen aufmerksam machen, die sich ergeben, wenn Sie dieser Aufforderung nicht folgen.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will als Erstes sagen: Es hätte mir bedeutend besser gefallen - und dies ist keine Kritik am Präsidenten -, wenn wir nicht in dieser Situation gelandet wären, den weiteren Teil der Debatte ohne eine Fraktion führen zu müssen. Ich glaube, dass es dem Thema angemessen gewesen wäre, in dieser Situation nicht zu landen,
weil ich eben auch der Fraktion der Linken am Ende doch zutraue, bei dem Thema mit ihrer Entscheidung zu ringen.
- Solange ich hier bin, werde ich von allen über 600 MdBs immer denken, dass sich jeder seiner Verantwortung bewusst ist.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht um die zivile Aufbau- und Abzugsperspektive für die nächsten Jahre für Afghanistan. Ich sage Ihnen hier: Meine Fraktion wird dem Mandat mehrheitlich nicht zustimmen.
Ich will Ihnen erklären, warum: auf alle Fälle aufgrund eines Mangels an Führung, aufgrund eines Mangels an Systematik. Wir haben als grüne Fraktion hier wiederholt den Antrag gestellt, den bisherigen Einsatz zu evaluieren. Ich freue mich, dass der Fraktionsvorsitzende der SPD, Frank Steinmeier, diesen Vorschlag hier jetzt auch gemacht hat. Ich glaube, dass man nach solchen Einsätzen eine Evaluierung, eine von Dritten gemachte Analyse braucht, die folgende Fragen beantwortet: Was hat funktioniert? Wo sind eigentlich Mängel? Vielleicht kommen wir jetzt dahin.
Zu dem Inhalt der Vorlage, über die wir heute abzustimmen haben, will ich einige Worte sagen: Wir alle haben darauf gewartet, dass es endlich eine Aufbau- und Abzugsperspektive gibt. Wir haben durchaus sehnsüchtig auf die Londoner Konferenz gewartet, wo es lange Zeit eine, ich sage es einmal so, schlechte Vorbereitung gab. Wir haben darauf gehofft, dass das, was es an neuer Strategie seitens der USA mit dem neuen US-Präsidenten und an neuer Prioritätensetzung, zumindest verbal, in der Regierungserklärung von Hamid Karzai gab, auch eine europäische und deutsche Handschrift bekommt.
Ich muss Ihnen allerdings sagen: Die Bewertung des Kurses, den Sie uns hier vorlegen, ist bei uns mindestens ambivalent. Ja, es gibt einige positive Entwicklungen vor Ort. Die positive Entwicklung mag auch sein, dass die Haushaltsmittel für die zivile Hilfe aufgestockt werden sollen. Aber ich sehe es noch nicht. Ich sehe das Wie noch nicht. Wir freuen uns, dass es bei vielem Schatten auch an manchen Stellen Licht gibt, dass es verstärkte Bemühungen um regionale Lösungen geben soll und dass es diese Verständigung auf eine Aufbau- und Abzugsperspektive gibt. Aber die bloßen verbalen Aussagen und Zusagen haben faktisch noch nichts verändert. Allein das Rezept ?mehr Geld? reicht nicht.
Jetzt wäre entscheidend, zu einer besseren Verwendung der Mittel und einer ordentlichen Koordinierung zu kommen. Aber das, was Sie bisher vorlegen, ist anspruchslos. Es stellt sich die Frage, wie eine Ausbildung mit dem Ziel, auf 134 000 afghanische Polizisten aufzustocken, überhaupt vonstatten gehen soll. Da ist ein großes Loch. Es gibt auch Fragen zur Selbstverpflichtung der afghanischen Partner: Wie soll eigentlich der Versöhnungskurs gestaltet werden? Niemand will behaupten, dass jemand freiwillig aus der Situation der Schwäche verhandelt, aber wo sind eigentlich die roten Linien in dieser Verhandlungssituation aufgezeigt? Ich sehe sie nicht. Wo wurde durch die internationalen Staaten gegenüber der afghanischen Regierung ausreichend klar festgelegt, dass die Geltung der universellen Menschenrechte, insbesondere der Rechte der Frauen, absolute Priorität hat? Das ist nirgendwo festgelegt.
Wo ist das Konzept für die Aufstockung der finanziellen Mittel auf 430 Millionen Euro? Wo ist eigentlich der Inhalt dazu? Solche Mittelsteigerungen verlangen doch, dass es strukturelle und personelle Vorsorge gibt, damit die Mittel zielgerichtet bei den Menschen ankommen und es nicht nur mehr Korruption gibt. Wo ist eigentlich die Sicherstellung, dass es in Zukunft bei der öffentlichen Auftragsvergabe korrekt zugeht, dass die Soldaten und Polizisten Afghanistans tatsächlich ihren Lohn bekommen und dass die Mittel nicht durch Korruption versickern? Wo ist auch nur der Hauch eines Ansatzes, dies systematisch zu bearbeiten? Ich sehe ihn nicht.
Wenn ich auf das Auswärtige Amt und das BMZ schaue, dann sehe ich, dass von Herrn Niebel viel von vernetzter Sicherheit geredet wird; ich bezeichne es einmal so, um nett zu sein. Aber wo ist eigentlich das vernetzte Konzept des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und des Auswärtigen Amtes? Nicht einmal das haben Sie hingekriegt. Sie reden über regionale Entwicklung, über landwirtschaftliche Entwicklung. Auf alle Fragen, die wir gestellt haben, wie eine solche Art landwirtschaftlicher Entwicklung eigentlich funktionieren soll, haben wir null Antwort bekommen. Mit welchen internationalen Fachleuten und Organisationen haben Sie sich zusammengesetzt, um über den Zugang zu Land, Wasser, Saatgut, landwirtschaftlicher Ausbildung, Verarbeitung, Lagerung und Hygiene auch nur ansatzweise zu sprechen? Nichts, meine Damen und Herren.
Ich komme zur Polizeiausbildung. Sie rühmen sich einer größeren Ausbildungstätigkeit, und am Ende sind es faktisch nur 80 zusätzliche Soldaten.
- Entschuldigung, danke. Der Innenminister hört zu.
80 zusätzliche Polizisten.
Herr Westerwelle hat der Kanzlerin versprochen, hier vom bewaffneten Konflikt zu reden, aber wo ist jetzt eigentlich die Antwort auf die Frage, die die Deutsche Polizeigewerkschaft stellt? Sie fragt: Wenn es ein bewaffneter Konflikt ist, was ist an der Stelle eigentlich die Rechtsgrundlage für die Tätigkeit von Polizeibeamten? Auch dort ist ein großes Loch. Wo ist Ihre Antwort? Sie wollen von uns, dass wir 850 Soldaten mehr, 500 für die Ausbildung und 350 in Reserve, nach Afghanistan schicken, dass wir Ihnen dafür ein Mandat geben. Unsere Frage lautet immer noch: Könnte man nicht mehr umschichten, zum Beispiel bei den Tornados? Das könnte einiges an Personal bringen. Unsere Frage ist auch: Warum sollen wir Ihnen eigentlich eine Reserve von 350 Soldaten zugestehen und für was? Hatten wir diese Reserve nicht schon einmal im Mandat für die Durchführung von Wahlen, und stecken sie da nicht immer noch drin? Meine Damen und Herren, Sie schweigen bei der Frage: Kommen noch AWACS-Einsätze und damit 300 weitere Soldaten hinzu? Ich kann Ihnen sagen: Damit wäre ich mit meinen Fragen noch nicht am Ende.
Das Partnering-Konzept zwischen den internationalen Soldaten, also auch den deutschen, und den afghanischen Soldaten erhöht die Gefahr für die deutschen Soldaten, die vor Ort im Einsatz sind. Sie haben angesichts der gestiegenen Gefahr weder hier noch irgendwo anders bisher gesagt, wie dieses Partnering-Konzept eigentlich konkret aussehen soll. Sie erwarten von uns, dass wir Vertrauen in die Arbeit des Bundeskanzleramtes, des Auswärtigen Amtes und des Verteidigungsministeriums haben. Aber nach diesen Vorlagen und den Vorfällen am Kunduz-Fluss können wir dieses Vertrauen nicht aufbringen.
Die Aufstockung des Bundeswehrkontingents wird von uns mehrheitlich als nicht akzeptabel bezeichnet.
Ich sage Ihnen in aller Ruhe: Dieses Mandat zeigt, dass der verantwortliche Außenminister seine Zeit in den letzten Wochen falsch verbracht hat.
Herr Westerwelle, ich sage Ihnen: Statt für innenpolitische Kracher zu sorgen, wäre hier Ihr diplomatisches Aufgabenfeld gewesen.
Wenn wir alle überzeugt sind, dass es hier um internationale Sicherheit geht, dass wir verhindern müssen, dass dieser große Raum wieder zum Ausbildungsfeld für den Terrorismus wird, und wenn es uns darum geht, den Afghaninnen und Afghanen dabei zu helfen, einen demokratischen Staat aufzubauen, dann sage ich Ihnen: Die letzten Wochen hätten für Sie Zeiten sein müssen, in denen Sie 80 Stunden in der Woche an diesem Thema arbeiten und nicht an anderen Themen.
Ich will Ihnen sagen, was noch fehlt: Es wäre zum Beispiel Ihre Aufgabe und die Aufgabe der Diplomaten gewesen, eine regionale Sicherheitsstrategie für den gesamten großen Raum zu entwickeln. Da ist eine Konferenz in Istanbul, von anderen initiiert. Wo sind Ihre Aktivitäten? Wir bräuchten jetzt einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates, der von Deutschland mit initiiert werden und die deutsche Handschrift tragen müsste, in dem eine quasi-öffentliche, offizielle Aufforderung an die afghanische Regierung formuliert würde, in Afghanistan mit zu verhandeln, damit klar ist, dass auch die USA, Russland und andere diese Verhandlungen tragen.
Wir bräuchten einen Beschluss des Sicherheitsrates, der erlaubt, Personen von der Terrorliste herunterzunehmen; das ist Voraussetzung für solche Verhandlungen und Gespräche. Wir bräuchten die Erklärung der NATO, Afghanistans und Pakistans, dass man tatsächlich die Sicherheit der Demobilisierten, derer, die überlaufen, garantiert, während der Verhandlungen und nach möglicherweise erfolgreichen Verhandlungen. Wir bräuchten eine Debatte über eine legale Partei für die Taliban - das heißt ja ?Schüler?, nicht ?gewalttätig? -, damit sie am politischen Prozess teilnehmen können. Wir bräuchten die Definition eines neutralen Ortes für die Verhandlungen. Wir bräuchten den Entwurf eines Rückkehrerprogramms. Nichts von alledem haben Sie, Herr Außenminister, und Sie, Frau Merkel, vorgelegt.
Ich sage an dieser Stelle - mein letzter Satz -: In diesem Mandat finden sich einige schöne Worte. Der zivile Teil ist darin aber überhaupt nicht erwähnt. Herr Westerwelle hat uns hier einmal erzählt, nach London würde er nicht fahren, wenn dies faktisch nur eine Truppenstellerkonferenz ist. Was legen Sie uns heute vor? Ich komme mir hier und heute faktisch wie auf einer Truppenstellerkonferenz vor,
weil Sie uns heute nur das vorlegen; alles andere, meine Damen und Herren, sind Worte. Taten sehen wir noch nicht, weder was die konkrete Umsetzung und die Vorlage des zivilen Teils angeht noch auf der Ebene der Diplomatie. Mit Ihrer Vorlage machen Sie es den Mitgliedern dieses Hauses extrem schwer, mit Ja zu stimmen.
Wir schätzen und respektieren die Arbeit der Entwicklungshelfer, der internationalen Organisationen, der Polizisten und der Soldaten; denn die setzen dort ihr Leben ein. Wir haben die Bereitschaft - ich will sie hier erklären -, ernsthaft an Konzepten zu arbeiten, mit denen man das umsetzen kann. Aber diesem Mandat werden wir mehrheitlich nicht zustimmen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der Kollege Ströbele hat um eine Kurzintervention gebeten.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Ich fühle mich in dieser Situation hier und heute und jetzt mehr und mehr unwohl. Wir diskutieren hier ein ernstes Thema, nämlich die Kriegführung Deutschlands in Afghanistan. Wir wissen, dass der Deutsche Bundestag eine Entscheidung gegen die riesengroße Mehrheit der Bevölkerung fällen wird. Gegen die ganz große Mehrheit der Bevölkerung werden wieder Bundeswehrsoldaten für ein Jahr in den Krieg nach Afghanistan geschickt.
Eine Fraktion im Deutschen Bundestag stellt sich hierhin und hält Schilder hoch, auf denen die Namen der Opfer der Bombardierung vom 4. September vergangenen Jahres stehen. Sie hat nicht randaliert, sie war auch nicht laut, sondern sie hat Schilder hochgehalten, auf denen die Namen der Personen, die dort Opfer gewesen sind, zu lesen sind.
Ich selber war mit den Kollegen in Afghanistan. Auch ich habe mit den Überlebenden und den Angehörigen der Opfer geredet. Ich stelle mir vor, in Afghanistan wird sich herumsprechen - das steht dann vielleicht in der Zeitung -, dass im Deutschen Bundestag Abgeordnete, die Schilder mit Namen der Personen, die auf deutschen Befehl hin getötet worden sind, hochgehalten haben, aus dem Saal geworfen worden sind.
Ich möchte das nicht.
Ich finde, es wäre ein völlig falsches Signal nach Afghanistan und in die Welt, wie wir mit den Opfern von Krieg, für den wir, die Abgeordneten und Deutschland, verantwortlich sind, umgehen.
Deshalb, Herr Präsident, bitte ich Sie, Ihre Entscheidung zu überprüfen. Ich möchte anregen, dass sich die Fraktionen überlegen, ob wir weiter ohne die Fraktion der Linken diskutieren, ob wir diesen Punkt der Diskussion aus unserer Debatte heraushalten wollen, wobei wir davon ausgehen, dass das, was sie getan hat, keinerlei nachhaltige Störung der Parlamentssitzung gewesen ist und wahrscheinlich dem Willen und dem Wunsch einer großen Mehrheit in dieser Bevölkerung sehr nahekommt.
Herr Präsident, so weiter zu verhandeln, halte ich für unwürdig.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Ströbele, ich hätte diese Wortmeldung nach den Usancen des Hauses nicht zulassen müssen. Ich habe sie zugelassen, weil ich die Ernsthaftigkeit Ihres Motivs anerkenne und ich die Situation natürlich auch alles andere als routinehaft empfinde. Aber ich mache Sie auf drei Dinge aufmerksam.
Erstens. Wir haben unter allen Fraktionen des Hauses - unter allen Fraktionen - völliges Einvernehmen in der Einschätzung der Frage, dass Demonstrationen im Plenarsaal mit der Ordnung des Hauses unvereinbar sind.
Zweitens. Wir haben bei mehreren vergleichbaren Vorgängen wiederholt die Erklärung der Fraktionsführung der Linken im Ältestenrat zu Protokoll genommen, dass diese Aktionen von der Fraktionsführung weder geplant noch in Kenntnis der Fraktionsführung durchgeführt worden seien.
Drittens. Ich habe mit Zustimmung aller Mitglieder des Ältestenrates bei einem dieser letzten Vorgänge angekündigt, dass ich im Wiederholungsfall die entsprechenden Kollegen von der Sitzung ausschließen werde. Das Vorgehen ist unter Berücksichtigung unserer Geschäftsordnung und der Übereinkunft aller Fraktionen des Hauses alternativlos.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Hoff für die FDP-Fraktion.
Elke Hoff (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Ströbele, ich glaube, dass niemand angesichts der Ereignisse ein besonders gutes Gefühl hat.
Ich hätte mir an dieser Stelle von den Kollegen der Fraktion Die Linke dann aber auch gewünscht, dass sie auch auf die zahlreichen Todesopfer hingewiesen hätten, die Selbstmordanschläge der Taliban auf belebten Basaren, auf Marktplätzen, in Schulen, in Hotels und auf den Straßen gefordert haben.
Ich empfinde es als einen unsäglichen Vorgang, wenn, obwohl alle rechtsstaatlichen Instrumente - inklusive der parlamentarischen Instrumente - zur Aufklärung der Vorgänge am Kunduz-Fluss in Angriff genommen worden sind, hier versucht wird, den Eindruck zu erwecken, als würden deutsche Soldatinnen und Soldaten vor Ort mal eben Zivilisten umbringen, weil sie nichts anderes zu tun hätten.
Ich muss sagen: Die verantwortungsvolle Arbeit der Soldatinnen und Soldaten in den Einsätzen, in die wir sie hineinschicken, kann ich an dieser Stelle nur mit Bewunderung, mit Respekt und mit Hochachtung zur Kenntnis nehmen. Ich würde mir wünschen, dass dies durch solche Aktionen nicht ständig konterkariert wird.
Frau Kollegin Künast, eigentlich sollte man nach acht Jahren Debatte über die Mandatierung von Auslandseinsätzen voraussetzen können, dass klar ist, dass im Deutschen Bundestag keine Truppenstellerkonferenz stattfindet, sondern dass der Deutsche Bundestag, wenn er über ein Mandat zur Entsendung von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in einen Auslandseinsatz diskutiert und dieses Mandat verabschiedet, eine Aufgabe wahrnimmt, die ihm das Parlamentsbeteiligungsgesetz zugewiesen hat. Wir tun zurzeit mit der Umsteuerung in diesem Mandat nichts anderes, als die falschen Weichenstellungen seinerzeit auf der Petersberg-Konferenz - auch von Außenminister Fischer unterstützt - zu korrigieren.
Wenn Sie den Text des Mandates genau lesen, insbesondere die Erläuterung, müssten Sie doch froh darüber sein, dass wesentliche Dinge, die in der Vergangenheit anders waren, heute in die richtige Richtung laufen: Verdoppelung der Anstrengungen für den zivilen Wiederaufbau, Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte, eine Perspektive für den Abzug der Bundeswehr.
Herr Kollege Steinmeier, ich möchte Ihnen und Ihrer Fraktion an dieser Stelle dafür danken, dass Sie dieses Mandat mittragen und damit zeigen, dass innerhalb dieses Parlamentes ein breiter Konsens besteht. Vieles, was Sie zu dieser Debatte beigetragen haben, findet sich in dem Mandat. Sie beweisen dadurch - auch für Ihre Partei -, dass Sie dabei sind, wenn es darum geht, dass der Deutsche Bundestag unseren Soldatinnen und Soldaten für ihren gefährlichen Einsatz breite Rückendeckung gibt.
Diese Rückendeckung ist genau das, was die Soldatinnen und Soldaten, aber auch ihre Familien erwarten können.
Wir schicken unsere Soldatinnen und Soldaten in einen sehr gefährlichen Einsatz. Der Bundesverteidigungsminister hat zu Recht in der Öffentlichkeit darauf hingewiesen, dass die Situation für unsere Soldatinnen und Soldaten gefährlich wird. Deswegen kommt es darauf an, wie die Führung der Bundeswehr, wie der Generalinspekteur die Feinplanung für den Einsatz vornimmt.
Auch bin ich froh, meine Damen und Herren, dass wir hier keinen über ein gesundes Maß hinausgehenden Aufwuchs der deutschen Truppen auf den Weg bringen. Wir haben versucht, innerhalb des bestehenden Kontingentes durch vernünftige Umschichtungen dazu beizutragen, dass die Bundeswehr ihren Auftrag bei der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte erfüllen kann. Sie wird ihn erfüllen, wenn wir ihr die Rückendeckung nicht verweigern. Dazu gehört, dass die Bundeswehr das richtige Material, die richtige Ausrüstung bekommt. Unsere Soldatinnen und Soldaten brauchen Aufklärung vor Ort. Eines ist besonders wichtig - das ist der Appell meiner Fraktion an die Bundesregierung -: dass wir hier im Parlament über die Fortschritte beim Aufbau der Strukturen in den Ministerien und in der Regierung unterrichtet werden.
Die afghanische Armee wird ein Wehrpflichtmodell einführen. Sie wird entsprechende Ausrüstung brauchen. Die Soldaten müssen entsprechend untergebracht werden. All das sind Punkte, die wir abarbeiten müssen. XXXXX
Insofern ist es richtig, auch hier im Parlament die Frage zu stellen: Was haben wir erreicht? Ich bin dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung dankbar dafür, dass er die von uns in der Vergangenheit immer geforderte signifikante Erhöhung der Entwicklungsmittel umgesetzt hat, damit in Afghanistan erfolgreiche Projekte fortgesetzt werden können.
Tun wir doch nicht so, als wäre vor Ort nichts passiert. Frau Künast, Sie haben die Frage nach landwirtschaftlichen Projekten gestellt. Wenn Sie nach Jalalabad fahren, werden Sie hören, wie begeistert die Afghaninnen und Afghanen von dem Projekt sind, das die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit im Forstbereich auf den Weg gebracht hat. Wir haben diese Fähigkeiten und die entsprechenden Kapazitäten. Es ist unsere Aufgabe, die notwendigen Mittel bereitzustellen. Das haben wir getan. Insofern bin ich sehr froh, dass mit der Vorlage dieses Antrags ein Richtungswechsel bei dem Mandat stattgefunden hat, dass wir eine Abzugsperspektive haben und dass die afghanische Regierung sehr wohl weiß, dass sie auch ihren Beitrag leisten muss.
Ich wünsche den Soldatinnen und Soldaten, den Polizisten und den Entwicklungshelfern viel Glück sowie eine gesunde und vor allen Dingen glückliche Heimkehr.
Ganz herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Christoph Strässer für die SPD-Fraktion.
Christoph Strässer (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich ist man in dieser Situation etwas ratlos, wie es jetzt weitergehen soll. Ich hatte mich ein Stück weit darauf vorbereitet, auch mit den Kolleginnen und Kollegen darüber zu diskutieren, die aus Gründen dieser Debatte fernbleiben, die für mich falsch sind. Ich war und bin sehr froh darüber, dass diese Debatte nun mit der Gesellschaft geführt wird und sich nicht immer nur von den Themen der Mandatierung des Bundeswehreinsatzes ableitet. Meines Erachtens waren wir dort auf einem guten Weg, auch in unserer Partei.
Frau Kollegin Hoff, dass wir uns mehrheitlich dazu entschieden haben, diesem Mandat zuzustimmen, hat natürlich etwas damit zu tun, dass vieles von dem, was der frühere Außenminister und der jetzige Fraktionsvorsitzende der SPD in den letzten Monaten entwickelt hat, aufgenommen worden ist. Das macht es uns leichter. Deshalb können wir diesem Mandat letztendlich guten Gewissens zustimmen.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Mir ist es nahegegangen, in diesem Raum die Schilder mit den Opfernamen zu sehen. Eines ist doch ganz klar: Niemand von uns will solche Bilder wie nach dem Kunduz-Vorfall sehen. Es ist gut und richtig, dass wir darüber in diesem Hohen Hause in einer Aktuellen Stunde vernünftig und sachlich diskutiert haben; daran kann es keinen Zweifel geben. Wenn dort Fehler gemacht worden sind und unschuldige Zivilisten getötet worden sind, ist das nicht hinnehmbar. Das ist völlig klar.
Lassen Sie mich noch einen anderen Punkt erwähnen. Wir wollen nicht nur diese Bilder nicht mehr sehen. Entschuldigung, Herr Kollege Ströbele; mir ist es von meinem Menschenbild her letztendlich egal, wer die Opfer getötet hat. Für mich ist jedes Opfer einer solchen Auseinandersetzung eines zu viel. Ich persönlich - das gilt sicherlich für uns alle - möchte auch keine Bilder mehr von vollgepropften Stadien mit vergewaltigten und gesteinigten Frauen sehen. Wir wollen auch keine Bilder mehr von Taliban sehen, die auf den Straßen ihre politischen Gegner aufhängen. Das wollen wir auch nicht mehr sehen!
Deshalb plädiere ich dafür - wir haben es uns an dieser Stelle nicht leicht gemacht -, genau hinzuschauen, was in dem Antrag steht, und zu prüfen, wie wir letztendlich damit umgehen.
Wir haben in der Tat Fortschritte zu verzeichnen. Deshalb finde ich die Debatte etwas müßig, die in der Gesellschaft geführt wird, nach dem Motto: Warum beschließt ihr eigentlich schon wieder ein neues Mandat? - Wir haben im Dezember 2009 mit großer Mehrheit ein Mandat beschlossen. Kaum drei Monate später wollen wir schon wieder ein neues Mandat beschließen. Ich glaube, dass der Grund, warum wir das tun, auf zwei Ebenen gut, richtig und nachvollziehbar ist. Man kann nicht so tun, als hätte es die Afghanistan-Konferenz in London nicht gegeben. Sie hat stattgefunden. Deutschland ist nach wie vor Bestandteil der internationalen Staatengemeinschaft, die sich dort massiv engagiert. Deshalb ist es vernünftig, aufgrund der Ergebnisse der Londoner Konferenz hier erneut über dieses Mandat zu diskutieren.
Etwas anderes finde ich genauso wichtig; auch darüber sollten wir uns im Klaren sein. Ich finde es auch wichtig, dass es in unserer Gesellschaft eine neue und intensive Diskussion über Sinn und Zweck unseres Engagements in Afghanistan gibt. Ich will hier ganz ausdrücklich - ich tue das, obwohl ich weiß, dass das jetzt vielleicht nicht mehr ganz angemessen ist - den Beitrag der ehemaligen Ratsvorsitzenden der EKD, Frau Käßmann, erwähnen, weil ich finde, dass sie damit die Diskussion über unser Engagement in Afghanistan und darüber hinaus in die richtige Richtung gelenkt hat. Ich sage Danke dafür, dass das so geschehen ist.
Es wird aber auch der Versuch unternommen, bestimmte Gruppen dieser Gesellschaft - seien es die Kirchen, seien es Gruppen aus der Nichtregierungsszene und der Entwicklungshilfeszene - als Kronzeugen zu missbrauchen. Das war eigentlich das, was ich den Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei auf den Weg geben wollte. Man muss genau lesen und sich die Grundlagen anschauen, beispielsweise die Denkschrift der Evangelischen Kirche ?Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen?. Wenn man sich das genau anschaut, dann erkennt man, dass die Evangelische Kirche - Frau Käßmann und andere - den Einsatz militärischer Mittel nicht grundsätzlich ablehnt, wenn es darum geht, Freiheitsrechte, Grundrechte und andere Dinge durchzusetzen.
Ich sage ganz klar und deutlich: Der von Ihnen beschriebene Ansatz ist nicht der derjenigen, die hier permanent als Kronzeugen für einen sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan missbraucht werden.
Ich möchte noch eine andere Entwicklung darstellen. Sie wurde noch nicht angesprochen, aber das wäre wahrscheinlich noch geschehen. Die Organisationen, die vor Ort in Afghanistan aktiv sind und in Deutschland unter dem Dach von VENRO zusammengefasst werden, haben sich Ende letzten Jahres zusammengesetzt - der stellvertretende Vorsitzende, Herr Lieser, war auch auf unserer Parteikonferenz - und haben sich dazu geäußert, was in Afghanistan nötig ist. Sie haben eben nicht den sofortigen Abzug der Bundeswehr gefordert, sondern sie haben gesagt: Wir brauchen eine Exit-Strategie und einen Strategiewechsel hin zu mehr zivilem Wiederaufbau und zu einem stärkeren Aufbau staatlicher Institutionen. - Genau das versuchen wir mit der Unterstützung dieses Antrages auf den Weg zu bringen.
An dieser Stelle zitiere ich Theo Riedke. Ich weiß nicht, ob Sie ihn kennen. Er ist ein Mitarbeiter der Welthungerhilfe, der seit Mitte der 90er-Jahre in Afghanistan arbeitet. Er sagt - Sie können das auf seiner Website nachlesen: Wir wissen, dass der internationale Einsatz, auch der militärische, im Moment notwendig ist. Er sagt auch - damit möchte ich auch Minister Niebel ansprechen -: Wir als Nichtregierungsorganisation, die wir an dieser Stelle Erfahrungen haben, verzichten auf militärische Begleitung; wir wollen sie nicht. Herr Niebel, was mir auch Probleme bereitet, ist Ihre Festlegung - das habe ich wörtlich gehört -, dass vom BMZ in Zukunft nur noch solche Nichtregierungsorganisationen bedacht werden, die sich zu einer Kooperation mit der Bundeswehr bereit erklären. Das ist aus meiner Sicht eine Verkennung der Aufgabe dieser Organisationen. Das wird mit uns nicht zu machen sein.
Ich komme zum Schluss. Herr Riedke, den ich zitiert habe, sagt - das können Sie nachlesen; mir liegt das Zitat vor -:
Ein sofortiger Abzug aller internationalen Militärs hätte aber ein absolutes Chaos und das Zurückfallen in den Bürgerkrieg zur Folge.
Das wollen wir nicht. Wir unterstützen dieses Mandat, weil damit eine Ausstiegsperspektive verbunden ist.
Herr Außenminister, ich wünschte mir, dass Sie sich dieser Verantwortung stellten - wir werden das überprüfen - und sich mehr um Ihr Amt kümmerten, damit wir diese Perspektive Wirklichkeit werden lassen, statt viele und, wie ich finde, unzutreffende Äußerungen zur Innenpolitik zu machen.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Jürgen Hardt ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
Jürgen Hardt (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte vorab kurz auf das eingehen, was eben passiert ist. Ich fand es persönlich sehr schmerzhaft, in welcher Art und Weise hier die zivilen Opfer des Afghanistan-Einsatzes, die wir alle beklagen, von der Kollegin Buchholz und der Linken in der innenpolitischen Debatte instrumentalisiert worden sind.
Ich finde es sehr gut, dass wir einen Bundestagspräsidenten haben, der sich konsequent an die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages hält, auch wenn es ihm sichtlich unangenehm gewesen ist. Dafür herzlichen Dank.
In der Regierungserklärung vom 27. Januar hat die Bundeskanzlerin für die Afghanistan-Konferenz in London die Entwicklung einer Strategie zur Übergabe in Verantwortung als deutsches Ziel benannt. Die Konferenz hat dies als Leitidee übernommen, und der heute zur Abstimmung stehende Antrag der Bundesregierung auf Fortführung des deutschen ISAF-Mandats in veränderter Form folgt genau dem Konzept ?Übergabe in Verantwortung?.
Ziel ist, dass die afghanische Regierung innerhalb der nächsten fünf Jahre mit ihren nationalen Sicherheitskräften in der Lage ist, schrittweise Verantwortung im gesamten Land zu übernehmen. Damit bieten die Beschlüsse von London eine große Chance für Afghanistan. Sie nehmen auch die Regierung Karzai voll in die Pflicht, ihre eigenen Anstrengungen zu erhöhen und zu selbsttragenden Strukturen zu kommen. Der Aufbau von loyalen Streitkräften und Polizeikräften, aber auch einer verlässlichen Verwaltung und von durchgängig rechtsstaatlichen Strukturen ist eine große Herausforderung.
Die Bekämpfung von Korruption und Drogenhandel ist eine Herkulesaufgabe. Das alles geht nur mit massiver, intensiver internationaler Hilfe. Die Londoner Konferenz hat genau diese Hilfe auf den Weg gebracht. Deutschland wird dazu seinen unverzichtbaren Beitrag leisten.
Am Erfolg in Afghanistan haben wir alle größtes Interesse. Von der Befriedung des Landes hängt viel ab, auch der Frieden in der gesamten Region und darüber hinaus ebenso der Frieden in der gesamten Welt. Meines Erachtens muss man dies auch klipp und klar so sagen, damit die Menschen in Deutschland vielleicht wieder einen besseren Zugang zur Unterstützung dieses Einsatzes finden; denn es geht hier wirklich um die Zukunft des Weltfriedens.
Die Neufassung des Mandats wird den deutschen Beitrag zielorientierter, ziviler und effizienter machen. ?Übergabe in Verantwortung? bedeutet, dass die afghanische Regierung mit ihren Kräften in fünf Jahren die volle Verantwortung tragen kann. Ich merke aber auch an: Das bedeutet nicht automatisch, dass zivile oder militärische Unterstützung in jedweder Form zu diesem Zeitpunkt endet. Aber das muss man dann entscheiden, wenn es so weit ist.
Zur Zielorientierung des Mandats: In London ist festgelegt worden, dass die afghanische Regierung 306 000 Polizei- und militärische Sicherheitskräfte braucht. Ich hielte es für gut, wenn die deutsche Regierung in naher Zukunft Meilensteine festlegte, an denen wir überprüfen können, ob das, was wir zukünftig bei der Ausbildung leisten, trägt. Ich fände es schön, wenn der Afghanistan-Einsatz im Blick auf das Ziel 306 000 ausgebildeter afghanischer Sicherheitskräfte ein Stück weit überprüfbar wäre und wir prüfen könnten, ob wir möglicherweise auf dem Weg dorthin Korrekturen vornehmen müssen, und wenn wir die Qualität unserer Arbeit mit der anderer Nationen vergleichen könnten.
Der deutsche Beitrag wird ziviler, nicht nur durch die Verdopplung der Mittel für die Entwicklungshilfe, sondern auch durch den neuen, klaren Schwerpunkt auf Ausbildung und Schutz.
1 400 deutsche Soldatinnen und Soldaten, 1 100 mehr als bisher, werden vornehmlich mit Ausbildungs- und Schutzaufgaben betraut. Die vorgesehene Anpassung der Mandatsobergrenze um 850 auf 5 350 deutsche Soldaten bedeutet also, dass sich das Gewicht stark in Richtung Ausbildung verlagert. Von einer weiteren ?Martialisierung? unseres Einsatzes in Afghanistan kann also keine Rede sein.
Der deutsche Beitrag im Norden des Landes wird außerdem noch effizienter. Das ist nur möglich, weil die Vereinigten Staaten von Amerika bereit sind, uns entsprechend stark zu unterstützen. Durch die Bereitstellung von Lufttransportkapazitäten wird die Mobilität in der Fläche entscheidend verbessert. Die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten wird durch die Bereitstellung von MedEvac-Hubschraubern nochmals deutlich erhöht. Es ist zukünftig besser möglich, gemeinsam mit der Afghan National Army in Gebieten, in denen man vorübergehend eine Befriedung erreicht hat, dauerhaft Frieden herzustellen, weil man in der Fläche besser operieren kann. Bei den militärischen Operationen muss der Schutz der Zivilbevölkerung an oberster Stelle stehen; denn wir können die Herzen der afghanischen Menschen nur gewinnen, wenn wir zivile Opfer vermeiden.
Der Afghanistan-Einsatz zeigt, dass die Amerikaner auch im 21. Jahrhundert den größten und verlässlichsten Beitrag zur Sicherung von Frieden und Freiheit leisten. Das Kommando in der Nordregion bleibt aber bei einem deutschen General. Ich sehe das auch als Zeichen der Anerkennung bisher erbrachter guter deutscher Leistungen im Rahmen des ISAF-Mandats in Afghanistan.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich, dass das Mandat heute eine Zustimmung erfahren wird, die weit über die Grenzen der Regierungskoalition hinausgeht. Das ist für die Soldatinnen und Soldaten, die einen schweren Job machen - vielleicht den schwierigsten, den wir Staatsdienern in Deutschland zumuten -, und für die zivilen Bediensteten im Einsatz eine gute Rückendeckung.
Es gibt breiten Konsens über die Unvermeidbarkeit des deutschen Engagements in Afghanistan. Ein sofortiger Abzug der deutschen und alliierten Truppen aus Afghanistan würde das Land mit einem Schlag in Terror und Anarchie zurückwerfen. Es wäre eine gewissen- und verantwortungslose Haltung, jetzt aus Afghanistan herauszugehen.
Der Entschließungsantrag der Grünen kann, obwohl er sich sehr differenziert und verantwortungsvoll mit der in Rede stehenden Frage auseinandersetzt, die Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion leider nicht finden. Ich nenne nur wenige Punkte. Zum einen sind wir der Meinung, dass es ohne eine maßvolle Erhöhung der Mandatsobergrenze nicht geht. Zum anderen vertreten wir die Auffassung, dass insbesondere die Aufklärungstornados, die wir bereitstellen, einen wichtigen Beitrag der Deutschen für andere alliierte Partner zur Erstellung eines gemeinsamen Lagebildes darstellen. Es wäre genau der falsche Weg, an dieser Stelle zurückzugehen. Deswegen werden wir dem Antrag der Grünen nicht zustimmen.
Das hier präsentierte neu gefasste Afghanistan-Mandat ist ein konsistenter Beitrag Deutschlands im Rahmen der Neuorientierung in der internationalen Afghanistan-Politik. Militärische und zivile Komponenten greifen klug ineinander. Es gibt eine bessere Möglichkeit der Erfolgsmessung und eine größere Chance auf Erfolg.
Wir wünschen allen Beteiligten in der Bundeswehr und den zivilen Unterstützern in Afghanistan alles Gute, eine glückliche Hand und eine glückliche Heimkehr.
Danke schön.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion.
Florian Hahn (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Dezember letzten Jahres haben wir zum letzten Mal über die Verlängerung des ISAF-Mandats in Afghanistan abgestimmt. Wir waren uns damals über die Regierungsfraktionen hinweg mehrheitlich einig, dass die Schaffung selbsttragender Sicherheit und funktionstüchtiger Strukturen in Afghanistan nur durch einen vernetzten Ansatz von sicherheitspolitischen, diplomatischen und - das ist ganz entscheidend - auch entwicklungspolitischen Maßnahmen zu erzielen ist. Von daher begrüße ich es außerordentlich, dass es der christlich-liberalen Bundesregierung gelungen ist, dieses Konzept maßgeblich bei der Konferenz in London einfließen zu lassen. Dem werden wir heute mit dieser Debatte und dem zu fassenden Beschluss gerecht.
Acht Jahre nach dem Sturz der Taliban ist der afghanische Staat derzeit noch nicht in der Lage, selbst für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen. Der Prozess der Staatswerdung geht nicht von heute auf morgen. Gerade angesichts der afghanischen Geschichte wird hierfür ein langer Atem benötigt. Der Beginn des Engagements am Hindukusch war im Jahre 2001. Die Londoner Afghanistan-Konferenz am 28. Januar dieses Jahres stellt eine Fortführung und zugleich einen neuen Ansatz unter dem Leitgedanken ?Übergabe in Verantwortung? dar. Die Neuausrichtung des militärischen Beitrags, aber vor allem die Erhöhung der Zahl der zivilen Einsatzkräfte sind hierfür die Basis.
Die militärische Neuausrichtung steht zwar häufig im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, ist jedoch nur ein unterstützendes Element. Vielmehr liegt der neuen Strategie die Erkenntnis zugrunde - hier zitiere ich den neuen Generalinspekteur Wieker -,
dass dauerhafte, selbsttragende Stabilität nur mit einem ?vernetzten Ansatz? ziviler und - wo nötig - militärischer Mittel erreicht werden kann.
Von daher ist es absolut unabdingbar, dass für den zivilen Aufbau im Etat des BMZ mit nun 430 Millionen Euro pro Jahr fast doppelt so viele Mittel eingesetzt werden wie bisher.
Im Gegensatz zur gelegentlichen öffentlichen Wahrnehmung hat die Aufbauhilfe bisher durchaus gute Früchte getragen. Diese Fortschritte sind für viele Afghanen spürbar. So hat die Bundesregierung über das nationale Bildungsprogramm zum Bau von rund 2 000 Schulen beigetragen. Dadurch sind circa 11 000 neue Unterrichtsräume für rund 25 000 Lehrkräfte und etwa 500 000 Schüler entstanden. Landesweit gehen aktuell 6,5 Millionen Kinder zur Schule. Davon sind 35 Prozent Mädchen, fünfmal mehr als zu Zeiten der Taliban.
Seit 2006 konnten über 750 000 Patienten, darunter besonders viele Mütter und Säuglinge, behandelt werden. Allein mit deutscher Hilfe wurden im Norden Afghanistans über 600 Kilometer Straße und zahlreiche Brücken gebaut.
Über 70 Prozent der Bevölkerung in Afghanistan ist daher aktuell der Meinung, dass sich ihre Lebensverhältnisse in den letzten zwölf Monaten enorm verbessert haben. Ein großer Teil ihrer Hoffnung richtet sich weiterhin auf die Unterstützung aus Deutschland. Dennoch müssen wir uns bewusst machen, dass die erzielten Fortschritte für eine Übergabe in Verantwortung noch lange nicht ausreichen. Wir haben uns daher zum Ziel gesetzt, dass im Norden Afghanistans bis 2014 60 Prozent aller Kinder eine Schule besuchen sollen und 50 Prozent der Menschen Zugang zu Trinkwasser haben. Außerdem wollen wir weitere 700 Kilometer Straßen bauen.
Durch den ambitionierten Aufwuchs von afghanischen Sicherheitskräften und eine dauerhaft erhöhte Präsenz in der Fläche kann die Rückkehr der Aufständischen langfristig verhindert werden, und der Bevölkerung wird spürbar das Gefühl von Sicherheit vermittelt. Durch die Aufstockung der Zahl der polizeilichen Ausbilder um mehr als 60 Prozent bis Mitte 2010 wird dies flankiert. Jährlich sollen nun 5 000 Polizisten sowie 500 afghanische Polizeilehrer bis 2012 ausgebildet werden.
Bei dieser neuen Ausrichtung dürfen wir die bevorstehenden Parlamentswahlen nicht aus den Augen verlieren, die voraussichtlich im September dieses Jahres stattfinden werden. Es ist wichtig, dass diese Wahlen einen Mindeststandard an Demokratie erfüllen. Wir erinnern uns: Bei den Parlamentswahlen 2005 wurden gravierende Fehler gemacht. Damals haben sich ganze Stammesgruppen um das tatsächliche Wahlergebnis betrogen gefühlt, zum Beispiel in der Region Wardak. Das führte letztlich dazu, dass bestimmte Gruppen für die Taliban wieder empfänglich wurden. Die nächsten Wahlen stellen deshalb ein Risiko, aber auch eine große Chance für uns dar, unserem Ziel der Übergabe in Verantwortung merklich näherzukommen. Dass Afghanistan zum Zeitpunkt der Übergabe keine Westminsterdemokratie sein wird, ist uns allen klar. Jedoch wollen wir zumindest ein Mindestmaß an Demokratie erreichen. Unser Ziel muss insgesamt sein, den Menschen in Afghanistan etwas zu hinterlassen, das so wertvoll ist, dass sie es erhalten und darauf aufbauen wollen. Dabei wollen wir auch in unserem Interesse helfen. ?Wer abzieht, holt die Taliban heran?, wie Joschka Fischer im Dezember letzten Jahres in der Süddeutschen Zeitung zu Recht geschrieben hat.
Auch ich fühle mich aufgrund der Ereignisse am Beginn dieser Debatte nicht wohl. Was die Linke heute hier aufgeführt hat, ist erstens ein unerträglicher parteipolitischer Missbrauch der Opfer vom 4. September
und verhöhnt zweitens die Opfer von Terrorismus und Unterdrückung sowie die Opfer derer, die sich wie unsere Bundeswehr für die Freiheit und Menschenrechte der Menschen in Afghanistan einsetzen.
Der Einsatz unserer Bundeswehr, der Polizei, Diplomaten und Entwicklungshelfer ist weiterhin notwendig. Ich möchte all denen danken und wünsche ihnen und den Völkern in Afghanistan alles Gute, Gesundheit und Gottes Segen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich habe vorhin versäumt, dem Kollegen Jürgen Hardt zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag zu gratulieren. Ich hole das besonders gerne nach, zumal ihm das nicht häufig zu erlebende Kunststück gelungen ist, bei seiner ersten Rede mit der knapp bemessenen Zeit nicht nur auszukommen, sondern sie zu unterbieten. Daraus leite ich ohne Rechtsanspruch eine virtuelle Gutschrift für eine spätere Debatte her.
Jetzt hat das Wort der Kollege Lars Klingbeil für die SPD-Fraktion.
Lars Klingbeil (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In der vergangenen Woche habe ich in Munster, meiner Heimatstadt, einem der größten Bundeswehrstandorte in Deutschland, ein bewegendes Gespräch mit einer jungen Mutter geführt. Wir Abgeordnete waren es, die ihren Mann Anfang des Jahres in den Einsatz nach Afghanistan geschickt haben. Ich habe natürlich gespürt, dass es ihr am liebsten wäre, wenn ihr Mann zu Hause bei der Familie wäre; aber diesen Anspruch hat sie gar nicht formuliert. Sie hat mir etwas anderes mit auf den Weg gegeben. Sie sagte deutlich, dass sie von uns Politikern erwartet, dass wir keine parteipolitischen Spiele auf dem Rücken der Soldaten austragen. Sie hat mir deutlich gemacht, dass sie von uns mehr Offenheit und Klarheit erwartet. Vor allem hat sie mir auf den Weg mitgegeben, dass sie sich von uns endlich den Mut wünscht, in der Öffentlichkeit für eine breite Zustimmung zum Afghanistan-Mandat zu sorgen. Genau das ist unsere Aufgabe, der wir hier im Parlament nachzugehen haben.
Ich werde dem Mandat heute zustimmen. Ich tue das in der Überzeugung, dass wir in Afghanistan Verantwortung tragen. Ich tue das aber auch in dem Wissen, dass wir in unserem bisherigen Engagement Fehler gemacht haben. Vor allem tue ich das verbunden mit der Aufforderung an alle Fraktionen hier im Bundestag: Lassen Sie uns endlich anfangen, eine breite, öffentliche Debatte über unser Engagement in Afghanistan zu führen! Das ist unsere Aufgabe als Abgeordnete.
Es gibt Gründe, die dafür sprechen, diesem Mandat zuzustimmen. Gleichwohl weiß ich aber auch: Es gibt Gründe, die gegen dieses Mandat sprechen. Ich glaube, niemand macht sich hier die Entscheidung leicht. Es ist aber am schlimmsten, wenn wir eine Entscheidung treffen, ohne dass wir eine gesellschaftliche Diskussion geführt haben. Wenn wir uns wegducken, taktieren, andere Meinungen ausschließen und nicht den Mut haben, endlich den Menschen die Gründe für den Einsatz zu erklären, dann werden wir dieses Mandat auf eine parlamentarische Mehrheit stellen können, aber niemals auf eine gesellschaftliche. Genau darum muss es uns aber gehen: eine gesellschaftliche Mehrheit. Es ist vor allem Aufgabe der Regierung, den Menschen zu erklären, warum wir in Afghanistan sind und welches der künftige Weg ist. Bei allem Respekt: In dieser Hinsicht hat die Regierung ihre Verantwortung nicht wahrgenommen. Wenn es notwendig war, klare und ehrliche Worte zu sprechen, haben Sie sich weggeduckt. Als es darum ging, den Menschen zu erklären, wie die neue Afghanistan-Strategie aussieht, waren Sie von der Regierung nicht bemerkbar. Da hätte ich mir etwas anderes gewünscht.
Die Erfolge in Afghanistan, egal ob in der Bildung, in der medizinischen Versorgung, beim Aufbau von Infrastruktur oder in der wirtschaftlichen Entwicklung, sind heute schon vielfach angesprochen worden. In vielen Bereichen ist das Land vorangekommen. Wir sollten diese Entwicklung nicht kleinreden. Zugleich warne ich aber davor, Fehlentwicklungen auszublenden. Zur Wahrheit gehört auch: Wir müssen zugeben, dass wir in den letzten Jahren so manche Gegebenheit in Afghanistan unterschätzt haben. Die verschlechterte Sicherheitslage stellt uns vor neue Herausforderungen. Die Heterogenität des Landes muss uns dazu bringen, differenzierte Ansätze für die Region zu finden. Auch müssen wir die Afghanen viel stärker in unser Engagement einbeziehen und ihre Anliegen auf Augenhöhe ernst nehmen. Wenn wir das machen, dann kommen wir in Afghanistan auf einen vernünftigen Weg.
Ja, es gibt Probleme und Fehlentwicklungen. Deswegen gab es und gibt es in meiner Fraktion Bedenken. Genau deswegen haben wir in den vergangenen Wochen und Monaten nach Lösungen für diese Probleme gesucht und höchst ernsthaft über die richtigen Antworten diskutiert. Dann lese ich in einer offiziellen Pressemitteilung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 22. Januar dieses Jahres unter der Überschrift ?Afghanistan - SPD schlägt sich in die Büsche?:
Mit Überschallgeschwindigkeit wirft die SPD ihre staatspolitische Verantwortung über Bord. Gestern noch hat die SPD Deutschland am Hindukusch verteidigt - heute kann es mit dem Abzug gar nicht schnell genug gehen.
Liebe Kollegen von der CDU, einmal davon abgesehen, dass ich solche Pressemitteilungen höchst peinlich finde,
frage ich mich: Was für einen Verantwortungsbegriff haben Sie eigentlich? Verantwortung heißt doch nicht, einer überforderten Regierung hinterherzulaufen. Verantwortung heißt, die richtigen Fragen zu stellen und die richtigen Lösungen zu suchen. Das ist die Verantwortung, die wir Sozialdemokraten in den letzten Monaten wahrgenommen haben.
Ich frage: Herr Westerwelle, Frau Merkel, wo waren Sie eigentlich in den letzten Monaten, als in diesem Land über Afghanistan diskutiert wurde? Wo sind Sie eigentlich jetzt, da dieses Hohe Haus über Afghanistan diskutiert? Es war die SPD, die in den letzten Monaten Verantwortung übernommen hat, während Sie versucht haben, Ihre innenpolitischen Probleme zu lösen.
Die Regierung hat versucht, die Mandatsverlängerung in Hinterzimmern durchzudrücken. Unmittelbar vor der Afghanistan-Konferenz wird uns ein Papier vorgelegt. Unmittelbar nach der Afghanistan-Konferenz wird im Eiltempo ein neues Mandat hier durch das Parlament gejagt. Öffentliche Debatte? Fehlanzeige. Überzeugungsarbeit in der Gesellschaft? Fehlanzeige. So sieht verantwortungsvolles Handeln einer Regierung nicht aus.
Ich bin stolz darauf, dass sich meine Partei in den letzten Wochen dieser Debatte gestellt hat. Wir haben unsere Mitglieder befragt, wir haben Experten angehört und auf Veranstaltungen mit Bürgern diskutiert. Wir haben viel Zuspruch dafür bekommen, dass wir die Diskussion angestoßen haben. Ich weiß von vielen meiner Kolleginnen und Kollegen aus der Fraktion, dass sie es sich heute nicht leicht machen. Wir hätten das Mandat einfach ablehnen können. Stattdessen ducken wir uns nicht weg. Wir stellen uns den kritischen Fragen, und wir nehmen die Sorgen und Ängste der Menschen ernst.
Sie, die Regierung, setzen, statt eine ehrliche Bilanz zu ziehen und statt neue Strategien für Afghanistan zu diskutieren, auf Copy und Paste. Wir Sozialdemokraten waren es, die gesagt haben: Wir wollen den Charakter des Einsatzes nicht verändern, und wir wollen keine zusätzlichen Offensivkräfte im Mandat. - Sie als Regierung sind gefolgt. Wir waren es, die gesagt haben: Wir wollen die Mittel für zivile Aufgaben verdoppeln. - Sie als Regierung sind gefolgt. Wir waren es, die gesagt haben: Wir wollen eine Verstärkung bei der Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte. - Sie sind gefolgt. Wir waren es, die gesagt haben: Wir wollen den Beginn des Abzugs. - Sie sind gefolgt. Dieses Mandat trägt nicht die Handschrift der Regierung. Wenn es eine Handschrift trägt, dann die der SPD.
Weil maßgebliche Forderungen meiner Regierung - Entschuldigung -, meiner Partei
- ich bin immer schon ein paar Jahre weiter -
aufgegriffen wurden, werde ich zustimmen, werden große Teile meiner Fraktion zustimmen. Wir Sozialdemokraten wollen den Weg weiter prägen. Wir werden zustimmen, aber ich sage Ihnen deutlich: Nicht wegen Westerwelle und Merkel, sondern trotz Westerwelle und Merkel werden wir zustimmen.
Einer Sache können Sie sich sicher sein: Die Debatte über Afghanistan ist heute nicht zu Ende. Sie fängt heute erst richtig an.
Vielen Dank für das Zuhören.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Roderich Kiesewetter für die CDU/CSU-Fraktion.
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Damen und Herren! Herr Kollege Klingbeil, aller Abschied ist schwer. Die Presseerklärung vom 22. Januar hat bestimmt dazu beigetragen, dass Sie von der Überschallgeschwindigkeit, mit der Sie sich von der bisherigen Politik verabschieden wollten, die Kurve zur Rückkehr zu einer vernünftigen Afghanistan-Politik gefunden haben.
Heute haben wir intensiv über den ISAF-Einsatz debattiert. Heute jährt sich aber auch der erste islamistische Terroranschlag auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Sechs Menschen starben, über 1 000 Menschen wurden verletzt. Das war der Bombenanschlag auf das World Trade Center vom 26. Februar 1993. Weitere Anschläge haben in London, in Madrid und in New York stattgefunden. Der 11. September 2001 ist die Zäsur, die auch uns nach Afghanistan gebracht hat. Deshalb verlangt die heutige Entscheidung erhebliche Ernsthaftigkeit. Ziel ist doch, dass wir einen dauerhaften Frieden in Afghanistan und Sicherheit für das afghanische Volk erreichen. ?Friede ist niemals durch Koexistenz, sondern nur in Kooperation?, sagte Karl Jaspers, unser deutscher Philosoph. Diese Kooperation brauchen wir zwischen Soldaten, Polizisten, zivilen Wiederaufbauhelfern und der afghanischen Bevölkerung. Diese Kooperation brauchen wir im Bündnis mit den über 40 Mitgliedstaaten und Nationen, die sich am Afghanistan-Einsatz beteiligen. Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Insbesondere die Vereinigten Staaten von Amerika befähigen uns im Norden von Afghanistan zu unserem Strategiewechsel. Ich erinnere nur an die Unterstützung in der Polizeiausbildung und - das ist ganz wichtig - bei den Hubschraubern.
Kooperation ist genauso wichtig innerhalb Afghanistans. Es geht um die Volksstämme, um die Gruppierungen, um die ehemaligen Warlords und um kooperationsbereite Taliban. Die Kernfrage ist doch: Wo sehen wir als Parlament in den nächsten fünf Jahren Afghanistan? Wie sehen wir die Entwicklung der weiteren Region? Wir müssen den Blick auch auf Zentralasien, auf Pakistan und Indien und deren schwieriges Verhältnis, auf Iran, China und Russland richten. Dies ist die größte sicherheitspolitische Herausforderung unserer Zeit. Dazu brauchen wir ein verantwortungsbewusstes Krisenmanagement; denn wir werden nicht nur aus Afghanistan, sondern auch aus anderen Krisenregionen unserer Welt sehr genau beobachtet. Es wird betrachtet, wie wir diese Verantwortung wahrnehmen. Mit unserer heutigen Entscheidung stellen wir in Afghanistan die Weichen für die Glaubwürdigkeit unserer westlichen Wertegemeinschaft.
Ich teile einen Ansatz der Grünen: All das, was wir in Afghanistan anbieten - auch mein Vorredner, Herr Klingbeil, hat das angesprochen; das ist auch die Position der Union -, muss dem landestypischen afghanischen Charakter entsprechen. Wir müssen die Eigenständigkeit stärken; auch Frau Hoff hat dies vorhin angesprochen.
Unser heutiges Mandat stellt damit die Weichen in die richtige Richtung. Wir stehen mit unserer Verantwortung an der Seite der gewählten afghanischen Regierung. Wir wollen die Übergabe in Verantwortung. Aber dazu müssen wir als Parlament auch die Region betrachten. Wir müssen Brisanz durch Kooperation ersetzen, ganz im Jasper?schen Sinne.
Dazu brauchen wir eine klare Perspektive. Nur so bleiben wir glaubwürdig. Das darf sich nicht auf den detaillierten Einsatz - Tornado hier, OMLT, das Operational Mentoring and Liaison Team, da - beschränken. Wir müssen deutlich machen, dass wir vor einer strategischen Herausforderung stehen. Von uns als Parlament wird eine strategische Leistung erwartet. Nur so setzen wir unseren Anspruch ?Bundeswehr gleich Parlamentsarmee? glaubwürdig um. Das sind wir auch unseren Soldaten schuldig.
Wie können wir - das ist die Kernfrage - die Nachbarn Afghanistans nachhaltig in eine solche Strategie einbeziehen? Hier geht es besonders um unsere außen- und sicherheitspolitische Verantwortung. Das sind die wahren strategischen Fragen, Frau Künast. Was würde denn passieren, wenn wir unseren Einsatz, unseren Schwung abschwächen würden?
Wir alle sind heute in diesem Haus Zeugen eines bedauerlichen Erlebens. Wir tragen die Last und nicht die Lust der Verantwortung. Schon gar nicht leisten wir uns den Luxus, wie dies eine Fraktion tut, uns aus der Verantwortung zu ziehen. Das möchte ich hier ganz besonders betonen.
Zur strategischen Perspektive. Es ist wichtig, dass wir in Afghanistan und darum herum strategische Partner aufbauen. Wir müssen Übergabe in Verantwortung auch in der Region leisten. Wer sind - das müssen wir klären - mögliche verantwortungsbewusste Partner? Wie können diese Partner wirksam unterstützt werden? Es geht um die politische, wirtschaftliche, soziale, aber auch militärische Stabilität in dieser Region. Der afghanische Islam zeichnete sich früher durch sprichwörtliche Toleranz aus. Wir brauchen den verstärkten Dialog der Religionsgemeinschaften. Wir müssen auch die verständlichen afghanischen Befindlichkeiten in Sachen russischer Beteiligung ernst nehmen, gleichwohl wir wissen und schätzen, wie sehr die Russen unseren Einsatz im Hintergrund unterstützen.
Über die heutige Entscheidung hinaus treffen wir in voller Absicht und bewusst eine Weichenstellung für unsere westliche Gemeinschaft. Denn es geht um die Frage: Wie gehen wir künftig mit Konflikten und Krisenregionen um? Unsere Entscheidung wird daran gemessen werden.
Es heißt jetzt also Partner suchen, Afghanistan selbstständig machen und so rasch wie möglich Verantwortung übertragen. Das mag Kosten, Aufwendungen verursachen; aber die Stabilisierung der Region muss uns teuer sein. Der Nutzen wird auf lange Sicht größer, und der Preis wird es wert sein.
Die Herausforderungen werden wir mit strategischem Weitblick bewältigen. Dazu brauchen wir als Parlament auch regelmäßige Informationen. Wir sind uns sicher, dass die Bundesregierung sie uns regelmäßig gibt.
Lassen Sie uns mit unserer Zustimmung zum Afghanistan-Mandat über die Parteigrenzen hinweg ein deutliches Zeichen der Verbundenheit mit unseren Soldatinnen und Soldaten, den Polizisten und den zivilen Wiederaufbauhelferinnen und -helfern setzen. Lassen Sie uns aber auch Gedanken machen über ein deutlich sichtbares Zeichen dieser Verbundenheit. Darüber könnten wir in der nächsten Zeit diskutieren. Lassen Sie uns heute ein klares Zeichen für entschiedenes Handeln und ein Zeichen der Geschlossenheit unseres hohen und verantwortungsbewussten Hauses geben.
Ich danke Ihnen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, möchte ich noch einige Hinweise zur Abstimmungslage machen und Sie um Zustimmung zu einem Vorschlag zur Abweichung von der Geschäftsordnung bitten. Vielleicht können Sie dafür noch einen Augenblick Platz nehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will, vor allem zur Verdeutlichung der geschäftsordnungsrechtlichen Zusammenhänge für die interessierte Öffentlichkeit, noch einmal auf die einschlägigen Bestimmungen unserer Geschäftsordnung hinweisen: Nach § 38 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages kann der Präsident wegen gröblicher Verletzung der Ordnung ein Mitglied des Bundestages, auch ohne dass ein Ordnungsruf ergangen ist, für die Dauer der Sitzung aus dem Saal verweisen. Ein Mitglied des Bundestages kann bis zu 30 Sitzungstage ausgeschlossen werden. Davon habe ich vorhin Gebrauch gemacht.
Ich weise noch einmal auf das Protokoll der von mir vorhin ohne Datum zitierten Sitzung des Ältestenrates vom 26. März 2009 hin, in der es um einen sehr vergleichbaren Vorgang ging und wir uns über die gemeinsame Handhabung solcher Situationen verständigt haben. Ich habe da ausdrücklich auf die Geschäftsordnungslage verwiesen und mich vergewissern wollen, ob es eine gemeinsame Auffassung im Ältestenrat über die Interpretation dieser Bestimmungen gebe. Nach dem Protokoll - ich zitiere -
? vergewissert sich der Präsident abschließend, ob der Ältestenrat seine Auffassung teile, dass Vorgänge wie der heutige einen groben Verstoß gegen die parlamentarischen Sitten darstellen. Im Ältestenrat besteht diesbezüglich Einvernehmen. Dem stimmt auf Nachfrage des Präsidenten auch die Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion Die Linke zu.
Ich entnehme einer Agenturmeldung vor wenigen Minuten mit Blick auf die Situation, die hier gerade im Plenum stattgefunden hat: Mit der Aktion habe die Linke dagegen protestieren wollen, dass es bislang vonseiten der Bundesregierung keine offizielle Entschuldigung bei den Angehörigen der Opfer des Luftschlages gebe, sagte Dagmar Enkelmann, Parlamentarische Geschäftsführerin der Linksfraktion. ?Den Genossen sei bewusst gewesen, dass sie mit der Aktion gegen die Geschäftsordnung des Bundestages verstoßen würden. ?Aber manchmal muss man auch solche Wege gehen?, sagte Enkelmann. Den Verweis durch Lammert halte sie für ?überzogen?.?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Deutschen Bundestag hat es in allen Legislaturperioden - völlig unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen - immer einen Konsens darüber gegeben, dass die Regeln dieses Hauses ausnahmslos für alle gelten.
Wir haben die Unverzichtbarkeit der strikten Einhaltung dieser Regeln auch im Bewusstsein der historischen Erfahrung für unabdingbar gehalten,
dass ein deutsches Parlament an dem leichtfertigen Umgang mit den selbstgesetzten Regeln bereits einmal gescheitert ist.
Nun muss ich Sie auf Folgendes aufmerksam machen: Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages lässt keine Differenzierung zwischen dem Ausschluss von der Sitzung und dem Ausschluss von Abstimmungen zu. Gleichwohl möchte ich Ihnen das aus, wie Sie hoffentlich nachvollziehen können, naheliegenden Gründen empfehlen, was nach § 126 der gleichen Geschäftsordnung möglich ist, wenn es der Deutsche Bundestag mit Zweidrittelmehrheit beschließt. Nach § 126 unserer Geschäftsordnung sind
Abweichungen von den Vorschriften dieser Geschäftsordnung ... im einzelnen Fall mit Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder des Bundestages [möglich], wenn die Bestimmungen des Grundgesetzes dem nicht entgegenstehen.
Ich empfehle Ihnen auch nach Rücksprache mit den Fraktionsführungen aller im Bundestag jetzt anwesenden Fraktionen, dass wir von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, die Sitzung für zehn Minuten unterbrechen und anschließend eine Abstimmung zu diesem Tagesordnungspunkt durchführen, an der auch die von der heutigen Sitzung ausgeschlossenen Mitglieder teilnehmen können.
Ich darf Sie fragen, ob Sie mit diesem Vorschlag einverstanden sind. Wer dem zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist das mit überwältigender Mehrheit beschlossen.
Ich unterbreche die Sitzung für zehn Minuten und rufe dann die Abstimmung auf.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 17/816 zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der NATO. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 17/654 anzunehmen.
Mir liegt zu diesem Antrag eine ganze Reihe von namentlichen Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor, die wir wie üblich dem Protokoll beifügen.
Bevor ich die namentliche Abstimmung, die dazu beantragt ist, eröffne, weise ich darauf hin, dass im Anschluss an die namentliche Abstimmung noch über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/818 abzustimmen ist und nach der vorhin vom Plenum getroffenen Geschäftsordnungsentscheidung an diesen beiden Abstimmungen alle Kolleginnen und Kollegen des Hauses teilnehmen können. Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen, weise ich noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass für die dann folgenden Tagesordnungspunkte die an der Aktion beteiligten Mitglieder ausgeschlossen sind. Es gibt nicht einen Ausschluss einer Fraktion, sondern beteiligter Kolleginnen und Kollegen.
Ich darf die Schriftführerinnen und Schriftführer bitten, die vorgesehenen Plätze an den Abstimmungsurnen einzunehmen und mir ein Signal zu geben, wann wir mit der Abstimmung beginnen können. -
Hier vorne links vor dem Präsidium fehlt noch ein Schriftführer. - Sind die Plätze an den Urnen jetzt alle besetzt? - Es fehlt immer noch ein Schriftführer aus den Reihen der Opposition vorne links vom Präsidium.
Alle Urnen sind jetzt ordnungsgemäß mit Schriftführerinnen und Schriftführern von Mehrheit und Minderheit des Hauses besetzt.
Ich eröffne damit die Abstimmung.
Ist noch ein Kollege im Saal anwesend, der seine Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Wir geben das Ergebnis der Auszählung später, während des nächsten Tagesordnungspunktes, bekannt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/818. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Entschließungsantrag mit der Mehrheit des Hauses abgelehnt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich bitte um Entschuldigung für die kurze Unterbrechung und setze die Sitzung fort.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
10 Jahre EEG - Auf dem besten Weg zu einer ökologischen und sozialen Energiewende
- Drucksache 17/778 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
(f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erneuerbare Energie ausbauen statt Atomkraft verlängern
- Drucksache 17/799 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
(f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort als erster Redner hat der Kollege Hermann Scheer von der SPD-Fraktion. - Bitte schön, Herr Scheer.
Dr. Hermann Scheer (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor zehn Jahren hat der Deutsche Bundestag mit den Stimmen der SPD, der Fraktion der Grünen und der PDS sowie mit einigen Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion das Erneuerbare-Energien-Gesetz verabschiedet. Dieses Gesetz ist in der Tat das erfolgreichste Gesetz zur Mobilisierung erneuerbarer Energien in der ganzen Welt geworden. Über 45 Länder haben dieses Gesetz inzwischen übernommen, weil sie sehen: Es ist der schnellste Weg zur Mobilisierung erneuerbarer Energien, der denkbar ist, und allen anderen Politikansätzen überlegen; daran kommt niemand mehr vorbei. Das hat uns in eine federführende Position gebracht, nicht nur bei der Einführung, sondern auch bei der Entwicklung und der industriellen Produktion erneuerbarer Energietechniken.
Dieses Gesetz muss weitergeführt werden. Es muss nahtlos weitergeführt werden können. Es hat eine unselige Entwicklung überwunden, die hier und andernorts lange Zeit vorherrschte. Es gab pausenlos Stop-and-go-Programme, die es unmöglich gemacht haben, dass auf diesem Gebiet eine industrielle Entwicklung stattfinden konnten.
Dieses Gesetz wurde aber immer infrage gestellt - es wird auch heute noch infrage gestellt -, weil es den herkömmlichen energiewirtschaftlichen Strukturen und den dahinterstehenden Interessen widerspricht. Es ist die Einleitung eines Strukturwandels, der unabdingbar ist und der selbstverständlich kein Win-Win-Konzept darstellen kann. Wir machen uns etwas vor, wenn das behauptet wird; denn der Strukturwandel in der Energieversorgung, der historisch ansteht, ist zwangsläufig ein Strukturwandel von einer überwiegend zentralisierten Energieversorgung, vor allem im Strombereich, um den es hier geht, hin zu einer dezentralen Energiebereitstellung. Das hängt mit der Natur der Energiequellen zusammen. Es ist ein Strukturwandel weg von einem Brennstoffmarkt hin zu einem Technologiemarkt; denn bei erneuerbaren Energien, außer bei der Bioenergie, werden alle Brennstoffe kostenlos von der Natur bereitgestellt.
Es ist klar, dass das Ziel, den Ausbau der erneuerbaren Energien bis hin zur Vollversorgung zu ermöglichen, bedeutet, dass der Brennstoffmarkt allmählich verschwinden und irgendwann nicht mehr vorhanden sein wird. Ansonsten brauchte man mit der Förderung der erneuerbaren Energien gar nicht erst anzufangen, wenn es gleichzeitig darum ginge, das Öl-, Gas-, Kohle- oder Urangeschäft in der Weltwirtschaft aufrechtzuerhalten. Das ist das Prinzip.
Woher kommen die Infragestellungen? Worüber wird heute und wahrscheinlich auch in den nächsten Wochen debattiert? Die Frage ist: Entspricht dieses Vorgehen Marktprinzipien oder nicht? Es gibt bestimmte, sehr oberflächliche Marktvorstellungen die dem Erneuerbare-Energien-Gesetz immer wieder entgegengestellt werden, die aber einer näheren Betrachtung nicht standhalten. Marktprinzip heißt, an allererster Stelle Marktgleichheit zu ermöglichen. Marktgleichheit kann nicht bestehen, wenn es über viele Jahrzehnte hinweg durch gesetzliche Privilegien wie durch viele Milliarden an Subventionen zu einer hochkonzentrierten, herkömmlichen Energiewirtschaft gekommen ist und wenn dann im Zuge der Liberalisierung gesagt wird: Jetzt können die hochgepäppelten Energieunternehmen in ihrer erworbenen und über Jahrzehnte hinweg politisch gestützten Stellung so weitermachen wie bisher; gleichzeitig sollen neue Energietechnologien dagegen antreten. Das heißt, es gab und gibt noch immer nicht die Situation von Marktgleichheit.
Wenn es aber aus zwingenden ökologischen und weiteren gesellschaftlichen Überlegungen politisches Ziel ist, auf die erneuerbaren Energien umzusteigen, dann muss ein Ausgleich gegenüber der hochkonzentrierten und hochprivilegierten Situation herkömmlicher Energieversorgung geschaffen werden. Dann bedarf es zur Herstellung von Marktgleichheit einer gesonderten Privilegierung erneuerbarer Energien. Das drückt das Gesetz aus.
Das Gesetz heißt nicht zufällig ?Gesetz für den Vorrang Erneuerbarer Energien?. Das ist der eigentliche Sinn des Gesetzes. Es ist nicht marktwidrig, sondern es schafft überhaupt erst die Voraussetzungen, dass künftig tatsächlich von einem Energiemarkt geredet werden kann. Es wird auch dazu führen, dass es statt weniger Anbieter sehr viele Produzenten und Anbieter geben wird. Markt heißt nicht wenige Anbieter oder gar nur einen Monopolisten mit Millionen Kunden, sondern Markt heißt möglichst viele Anbieter. Deswegen ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz mit all dem, was es bewirkt hat, ein Weg zur tatsächlichen Schaffung von Energiemarktbedingungen in der Gesellschaft. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt, der in der Debatte nicht vergessen werden darf.
Deswegen ist es falsch, im Zusammenhang mit der Einspeisevergütung das Wort ?Subvention? in den Mund zu nehmen. Dieses Wort kommt manchem allzu schnell über die Lippen. In einigen Fällen wird es leichtfertig verwendet; in der Regel ist es vorwurfsvoll gedacht.
Die Einspeisevergütungen, die das Erneuerbare-Energien-Gesetz garantiert, sind aber keine Subvention. Wenn Sie das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom März 2001 zum deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetz lesen, erkennen Sie, dass der Europäische Gerichtshof den Faden aufgenommen hat, der bei der Begründung, Erstellung und Abfassung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im Vordergrund stand. Zunächst trifft der Subventionsbegriff der EU auf das Erneuerbare-Energien-Gesetz nicht zu. Unter einer Subvention im EU-Sinne wird nämlich direkte oder indirekte staatliche Hilfe verstanden. Die gibt es bei der Einspeisevergütung des EEG nicht; denn die öffentlichen Kassen sind gar nicht involviert.
Es gibt aber noch einen anderen Grund, der viel tiefer geht: Bei der garantierten Einspeisevergütung handelt es sich um eine Kaufpflicht, die - mit gewissen Ausnahmen bei Großverbrauchern - alle Stromkunden betrifft. Eine Kaufpflicht kann nur begründet werden, wenn ein zwingendes öffentliches Interesse erkennbar ist. Keiner bestreitet mehr, dass es ein öffentliches Interesse an einer Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Energien gibt. Das öffentliche Interesse ist also eindeutig gegeben. Dieses öffentliche Interesse wird durch die Kaufpflicht umgesetzt. Wenn in Deutschland heute 16 Prozent des Strombedarfs aus erneuerbaren Energien gedeckt werden, heißt das, dass schon heute praktisch jeder einzelne Stromkunde in Deutschland zu 16 Prozent Ökostrom bezieht; das ist eine automatische Folge der Kaufpflicht.
Kaufpflichten im öffentlichen Interesse gibt es zuhauf: Denken Sie nur an die Haftpflichtversicherung, die abschließen muss, wer Auto fahren will. Niemand darf ohne Haftpflichtversicherung Auto fahren. Niemand käme auf die Idee, das eine Subventionierung der Haftpflichtversicherer zu nennen. Es gibt ein öffentliches Interesse daran, dass jeder eine Haftpflichtversicherung hat: dass sich niemand seiner Verantwortung für Schäden, die er verursacht hat, entzieht. Dasselbe gilt für Hausversicherungen und viele andere Sachen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit!
Dr. Hermann Scheer (SPD):
Vor dem Hintergrund der Philosophie dieses Gesetzes und seiner Wirkungen, die historisch genannt werden dürfen, bitte ich darum, diese Debatte mit den richtigen Begriffen und mit den richtigen Inhalten zu führen, vor allem wenn es darum geht, dieses lernende Gesetz, das ständig weiterentwickelt wird und werden muss, so zu gestalten, dass der Erfolg dieses Gesetzes nicht gefährdet wird. Letztlich geht es darum, dass Deutschland seinen Energiebedarf so schnell wie möglich vollständig aus erneuerbaren Energien deckt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, darf ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt geben: abgegebene Stimmen 586. Mit Ja haben gestimmt 429, mit Nein haben gestimmt 111, Enthaltungen 46. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Als nächster Redner hat nun der Kollege Dr. Michael Fuchs von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Scheer, es ist schon sehr mutig, eine Stromeinspeisevergütung mit einer Haftpflichtversicherung zu vergleichen. Das ist eigenartig und passt nicht zusammen.
Sie wissen genau, dass jeder Arbeitsplatz in der Solarwirtschaft mittlerweile mit rund 153 000 Euro gefördert wird; diese Förderung ist ungefähr doppelt so hoch, wie die Förderung bei den Arbeitsplätzen in der Kohlenförderung war. Die Förderung der Solarwirtschaft mag von einigen befürwortet werden. Richtig ist sie aber nicht. Wenn die Unternehmen in Deutschland dafür aufkommen müssen, kommt das auch beim Verbraucher, bei den Bürgerinnen und Bürgern, an.
Als Präsident von EUROSOLAR sind Sie, Herr Scheer, der größte Lobbyist der Solarwirtschaft. Wenn man Herrn Kelbers Website betrachtet, erfährt man, dass er in den letzten drei Jahren 90 000 Euro aus der Solarwirtschaft für die SPD in Bonn eingeworben hat. Das ist in Ordnung, und man kann es verstehen. Darauf muss man in diesem Hohen Haus aber gelegentlich hinweisen dürfen.
Ich bin froh, dass wir mittlerweile in erneuerbare Energien eingestiegen sind. Diese Aussage wird Sie bei mir verwundern. Ich halte es aber für richtig.
Ich bin auch froh, dass wir beim Stromverbrauch mittlerweile einen Anteil erneuerbarer Energien von 16,1 Prozent erreicht haben. Die einzelnen Anteile für das Jahr 2008 sehen so aus: Windenergie 6,6 Prozent, Wasserkraft 3,5 Prozent, Fotovoltaik - darin liegt meiner Meinung nach der Knick, weil die Subventionen, die wir dafür aufwenden, zu hoch sind - 0,7 Prozent, Biogas 1,3 Prozent, Klärgas 0,2 Prozent und Deponiegas ebenfalls 0,2 Prozent.
Es ist aber nun einmal leider so, dass der Wind nicht immer bläst und die Sonne nicht immer scheint.
Die Grünen können so viel Wind machen, wie sie wollen - sie bewegen damit keine einzige Windmühle.
Wir haben den 26. Dezember letzten Jahres und den 6. Januar dieses Jahres erlebt. Diese zwei Tage will ich Ihnen einmal schildern. Am 6. Januar dieses Jahres hatten wir eine sogenannte inversive Wetterlage. Daher sind von den 25 000 Megawatt, die zur Verfügung stehen, nur ganze 300 Megawatt aus den Windanlagen herausgekommen, also nur 1,2 Prozent. Wir hatten an diesem Tage aber einen Strombedarf von über 70 000 Megawatt. Herr Solarpräsident, an diesem Tag kam so gut wie keine Sonne auf der Erde an. Es hat nämlich fast den gesamten Tag über geschneit. Auch mit geringen Physikkenntnissen weiß man, dass die Solarzellen dann nicht allzu viel Strom liefern.
Das zeigt, dass wir neben der erneuerbaren Energie zusätzlich weitere Energien brauchen, um die Ausfälle an solchen Tagen zu kompensieren. Das Ganze nennt man Grundlast. Die Sicherung der Grundlast erfolgt zum Großteil aus zwei Energiebereichen: erstens aus der Kernenergie, die zu 46 Prozent zur Grundlast beiträgt, und zweitens aus fossilen Energien, also Steinkohle, Braunkohle etc., mit 44 Prozent. Eine geringe Rolle spielt mit 10 Prozent noch das Laufwasser, dessen Nutzung in Deutschland aufgrund der geografischen Situation aber leider nicht wesentlich ausbaubar ist, auch wenn wir das gern machen würden.
- Es wäre sehr sinnvoll, wenn Sie zuhörten. Sie könnten sogar noch etwas lernen. Das ist bei Grünen allerdings schwierig.
Wir wissen, dass wir diese Grundlast nach wie vor benötigen. Daher müssen wir uns darüber Gedanken machen, wie wir denn vorangehen wollen. Grundlast bedeutet: Wir brauchen sichere Energie für den Fall, dass die Erneuerbaren aufgrund der physikalischen Bedingungen nicht zur Verfügung stehen können. Für diese Fälle gibt es nur die gerade erwähnten Alternativen.
Deswegen bin ich der Meinung, dass wir es uns nicht leisten können, gute, sichere, funktionsfähige Kernkraftwerke abzuschalten,
weil wir nämlich nur daraus CO2-neutral Energie gewinnen können. Frau Höhn, CO2-neutral; das ist mir wichtig. Wir wollen nämlich unsere ehrgeizigen Klimaziele erreichen. Auch darüber sollten Sie einmal nachdenken.
Wenn wir Kernkraftwerke voreilig abschalten würden, bedeutete das doch nichts anderes, als dass wir dann Steinkohle, Braunkohle oder andere fossile Energieträger verwenden müssten, um die Grundlast abzusichern. Das muss doch eigentlich sehr einleuchtend sein.
- Gut; wir wollen das gerne im Parlament weiter diskutieren.
Deswegen brauchen wir einen vernünftigen und dynamischen Energiemix, der sich aus diesen gesamten Energieträgern zusammensetzt. In dem Moment, in dem uns andere CO2-freie Energieträger zur Verfügung stehen, die die Grundlast sichern, kann man mit mir selbstverständlich auch über das Abschalten von Kernkraftwerken sprechen. Bis dahin hat die Kernenergie aber eine Brückenfunktion; denn in dem Moment, in dem sie länger läuft, generiert sie Geld. Dieses Geld können wir in Speichertechnologien stecken, die wir dringend benötigen.
Daneben brauchen wir auch Übertragungsleitungen. Beispielsweise sind für die Gewinnung von Strom in Offshorewindparks in der Nordsee vernünftige Übertragungsleitungen erforderlich. Es darf nicht sein, dass jedes Planfeststellungsverfahren für eine Hochspannungsleitung von Nord nach Süd zehn Jahre dauert; denn wenn wir es so handhaben, nutzen wir die Chance, die uns Offshorewindparks bieten, nicht oder zumindest nicht in genügender Weise.
Eines kann jedenfalls nicht funktionieren: Wir dürfen in Deutschland die Energie nicht so verteuern, dass wir am Ende des Tages Industrien vertreiben. Ich möchte nach wie vor, dass Deutschland ein Industrieland bleibt.
Ich möchte hier weiterhin die Aluminiumindustrie haben, ich möchte hier die Zinkfabrikation haben, und ich möchte hier die Papierindustrie, die Stahlproduktion etc. haben. Das alles gehört zum Industriestandort Deutschland. Diejenigen, die mir sagen: ?Das alles ist egal, und wenn die Preise steigen, dann ist das gut so?, haben dabei völlig übersehen, dass das zu einer Deindustrialisierung unseres Standortes führt. Das ist nicht mein Deutschland, und das ist auch nicht mein Deutschlandbild.
Es kann nicht funktionieren, dass dieselben Demonstranten, die gegen die Kernkraft auftreten, natürlich auch gegen die Endlagerung demonstrieren. Nebenbei: Das ist auch ein Bereich, den ich mit den Windfall Profits finanzieren möchte, den die Energiebetreiber durch die Kernkraft erzielen.
- Liebe Frau Höhn, in diesem Fall hat gerade Ihre Fraktion, die den Umweltminister bzw. die Umweltministerin viele Jahre lang gestellt hat, völlig versagt. Sie - rote und grüne Minister - haben sich elf Jahre lang nicht ein einziges Mal darum gekümmert, eine vernünftige Endlagerung sicherzustellen. Es ist doch Ihre Schuld, dass wir bis heute noch keine Lösung gefunden haben.
Was haben Sie denn in den elf Jahren gemacht, in denen Sie dieses Ministeramt innehatten?
Es kann nicht sein, dass Sie gegen die Kernkraft demonstrieren, gleichzeitig aber auch gegen die Endlagerung sind. Auch sagen die Grünen: Wir sind selbstverständlich gegen neue, moderne Kohlekraftwerke - Stichwort Ensdorf, Stichwort Mainz -, und wir sind natürlich auch gegen CCS. Carbon Capture and Storage darf es schon gar nicht geben, weil das niemand in seinem Land unter seinen Füßen liegen haben will. Wir wollen das nicht in den Boden verpressen. Wir sind auch gegen Übertragungsleitungen von Nord nach Süd. Eine Hochspannungsgleichstromübertragungsleitung darf also nicht gebaut werden - Stichwort: Elektrosmog usw.
Ihre Grünen stehen da und sagen: Das kommt überhaupt nicht infrage. Ja, was wollen Sie denn? Wenn Sie das alles nicht wollen, dann muss mir irgendwann einmal jemand erzählen, was Sie wollen.
- Ja, aber ich sage Ihnen doch gerade: Sie können die erneuerbare Energie nicht ins Land bringen.
Es nützt uns doch nichts, wenn sie nicht im Land ist.
Ich möchte Folgendes erreichen:
Erstens möchte ich, dass Sie sich aufregen; das ist mir gelungen.
Zweitens möchte ich, dass Sie erkennen, dass wir ohne eine vernünftige Brückentechnologie keine Chance haben, in die Situation zu kommen, in die wir kommen müssen, damit wir in Deutschland verlässlich preisgünstigen Strom für die Verbraucher, für die Bürgerinnen und Bürger, zur Verfügung haben und damit die Unternehmen bezahlbaren Strom erhalten, um ihre Produktion aufrechtzuerhalten und den Industriestand Deutschland insgesamt erhalten zu können.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Josef Fell vom Bündnis 90/Die Grünen.
- Entschuldigung, Herr Fell, ich habe übersehen, dass das Wort zu einer Kurzintervention gewünscht wird. Sie sprechen dann danach.
Ich gebe Ulrich Kelber von der SPD-Fraktion das Wort zu einer Kurzintervention.
Ulrich Kelber (SPD):
Herr Kollege Fuchs, für diese Mischung in Ihrem Redebeitrag aus Uninformiertheit und Vorurteilen hätten Sie viele Antworten verdient. Ich beschränke mich im Sinne der Geschäftsordnung aber natürlich auf den Punkt, mit dem Sie mich angesprochen haben.
Ich möchte mich ausdrücklich dafür bedanken, dass Sie hier erneut bestätigt haben, dass ich im Gegensatz zu allen 239 anwesenden oder nicht anwesenden Abgeordneten der CDU/CSU meinen SPD-Kreisverband dazu verpflichtet habe, weit über jedes gesetzliche Maß hinaus jegliche Wahlkampfspende an die Partei sofort, ohne Höhenbeschränkung, mit voller Namensnennung und mit Zweckbindung zu veröffentlichen. Das tut kein Einziger Ihrer Abgeordneten.
- Herr Kollege Fuchs, passen Sie jetzt auf. - Das tut vor allem auch Ihr wirtschaftspolitischer Sprecher und früherer Koordinator für Energiepolitik nicht, der ein Energieberatungsunternehmen hat und bis heute nicht veröffentlichen will, mit wem er Beratungsverträge zu welchen Konditionen abgeschlossen hat. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen Ihnen und mir.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zur Erwiderung Kollege Fuchs.
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):
Herr Kollege Kelber, ich kann jetzt nicht beurteilen, welches Energieberatungsunternehmen der Kollege Pfeiffer hat.
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Es ist für mich selbstverständlich, dass ich das, was ich tue, auch klar und deutlich mache, und ich erwarte das von Ihnen genauso. Wenn das bei Ihnen vorbildlich geschieht, dann gratuliere ich Ihnen dazu. Damit liegen wir auf der gleichen Wellenlänge.
Auf der anderen Seite sollten Sie aber auch wissen: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. - Sie singen das Lied der Solarindustrie.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Jetzt hat der Kollege Hans-Josef Fell vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Fuchs, lassen Sie mich ganz kurz auf Ihre Einlassungen eingehen. Wenn Sie die Argumente von Herrn Scheer nicht verstehen, so ist mir das klar: Wer nur in den Denkstrukturen der großen alten Atom- und Energiekonzerne denkt, kann das nicht verstehen. Sie vertreten deren Interessen.
Wenn Sie deren Plattitüden noch weiter treiben, in einem zukünftigen Energiesystem mit erneuerbaren Energien brauche man Grundlast, so müssen Sie endlich einmal lernen, zum Beispiel von Herrn Rohrig, an den der hier in Deutschland höchstdotierte Umweltpreis vergeben wurde und der den Nachweis erbracht hat, dass vollständige, hundertprozentige Vollversorgung mit erneuerbaren Energien und Speichertechnologien möglich ist - ohne Grundlast.
Wenn Sie das immer noch nicht hören wollen, dann stelle ich nur noch fest: Sie beleidigen die deutschen Ingenieure, die die Lösungen längst auf den Weg gebracht und realisiert haben. Diese Kraftwerke, die Vollversorgung rund um die Uhr gewährleisten, gibt es bereits.
Aber ich will gar nicht so sehr auf Ihre Falschbehauptungen eingehen; das raubt mir die Zeit, denn es gibt viel Wichtigeres zu sagen.
Ein neues Kapitel der industriellen Weltgeschichte ist vor zehn Jahren in diesem Hohen Hause aufgeschlagen worden. Damals, weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit und auch von den Medien, wurde das Solarzeitalter hier eingeläutet. Mit einem mutigen Beschluss hat die rot-grüne Bundestagsmehrheit das Erneuerbare-Energien-Gesetz auf den Weg gebracht, übrigens ohne Regierungsentwurf. Auch dies war ein Höhepunkt in der deutschen Parlamentsgeschichte; denn nach dem Grundgesetz ist das Parlament für die Gesetze verantwortlich, nicht die Regierung.
Diese Geburtsurkunde der erneuerbaren Energien wurde gegen massive Widerstände aus den Energiekonzernen und gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP in diesem Hause ausgestellt.
Das EEG hat trotz massiver Anfeindungen ein grünes Wirtschaftswunder entfacht, welches weder Wirtschaftsanalysten und Energiekonzerne noch Union oder Liberale je für möglich gehalten hatten. 30 000 Jobs gab es 1998 in dieser Branche; bis heute ist ihre Zahl auf 300 000 gestiegen. Keine andere Wirtschaftsbranche hat eine solche Erfolgsgeschichte in den letzten zehn Jahren zu verzeichnen.
Unser Ziel, den Anteil erneuerbarer Energien bis 2010 auf 12,5 Prozent verdoppeln zu wollen, wurde damals auch von Ihnen als völlig unrealistisch abgetan. Ende 2009 wurden aber schon über 16 Prozent erreicht. Damit, Herr Röttgen, ist klar der Beweis erbracht: Erneuerbare Energien können viel schneller wachsen, als von Ihnen selbst und von der Allgemeinheit angenommen wird.
Für Klimaschutz und Energiesicherheit bringen die erneuerbaren Energien ebenfalls die entscheidende Lösung: Mit über 50 Millionen Tonnen jährlicher CO2-Einsparung hat das EEG wie keine andere politische Maßnahme den Klimaschutz befördert. Die Vermeidung von Kosten in Höhe von über 5 Milliarden Euro - Herr Fuchs, hören Sie sich das genau an - für den Zukauf von fossilen und atomaren Brennstoffen überwiegt bei weitem die Mehrkosten der erneuerbaren Energien, die den Stromkunden mit weniger als 5 Prozent der Strompreise belasten. Wo ist da das ökonomische Problem?
Gerade die Fotovoltaik zeigt doch die Effektivität des Gesetzes auf: Von 14 Megawatt im Jahre 1999 stieg die neu installierte Leistung auf 3 000 Megawatt im letzten Jahr, und das bei halbierten Kosten. Welche andere Industriegeschichte dieser Art können Sie vorzeigen?
Aber das EEG ist auch eine internationale Erfolgsgeschichte. Etwa 50 Länder haben ähnliche Gesetze verabschiedet. Fast alle europäischen Länder gehören dazu; Indien, Südafrika, Brasilien, mit Ontario die stärkste kanadische Wirtschaftsregion und auch Vermont in den USA haben ein EEG eingeführt. Sie alle haben die Chancen erkannt, die das EEG für Klimaschutz, für wirtschaftliche und technologische Entwicklung, für die Sicherung der Energieversorgung, für lokalen Umweltschutz, für Beschäftigung und für Armutsbekämpfung bietet.
Erfreulich ist, dass nach dieser internationalen Erfolgsgeschichte dann endlich auch Union und FDP nicht mehr an den grandiosen Erfolgen und Chancen des EEG vorbeikommen. Neun Jahre nach dessen Verabschiedung hat die FDP endlich die Kurve zur Unterstützung geschafft, die Union immerhin drei Jahre früher.
Herr Umweltminister Röttgen - er ist leider nicht da -, die erneuerbaren Energien und das EEG in den Mittelpunkt der Agenda zu rücken, wie Sie dies tun, ist völlig richtig und okay. Aber vor zehn Jahren haben Sie persönlich im Bundestag das EEG abgelehnt. Von Weitblick zeugt das nicht; Ihr damaliges Abstimmungsverhalten ist eher eine grandiose Fehleinschätzung, und dieser unterliegen Sie heute weiterhin.
Noch immer haben Sie nicht verstanden, wie schnell erneuerbare Energien wachsen können. Sie sind mit Ihrer Fraktion, wie Herr Fuchs gerade aufgezeigt hat, Lichtjahre von der Weitsicht der damaligen Koalition entfernt.
- Ich komme zur Bezahlbarkeit.
Sie kritisieren Millionengewinne der Solarbranche. Das ist für Sie die Begründung, die Erfolgsgeschichte der deutschen Solarbranche jetzt zu beenden. Aber Milliardengewinne der Atom- und Kohlekonzerne interessieren Sie nicht.
Der Bund der Energieverbraucher hat gerade aufgezeigt, dass die großen Stromkonzerne in den letzten drei Jahren durch unentwegte Strompreiserhöhungen jährlich 6 Milliarden Euro Zusatzgewinne gescheffelt haben. Das ist wesentlich mehr als die Umlage auf den Strompreis durch den Einsatz erneuerbarer Energien. Aber Sie von Union und FDP kümmern sich nicht um diese Milliardengewinne der Konzerne,
die mit Atommüll und Klimazerstörung die Gesellschaft in immer größere Probleme stürzen, und regen sich nur über Millionengewinne von Solarunternehmen auf.
Es wäre an der Zeit, dass Sie endlich eine Energieversorgung zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien bis 2030 in den Mittelpunkt Ihrer Politik stellen.
Diese Denkweise und dieses Vorgehen entsprächen der damaligen mutigen Aktion der rot-grünen Bundestagsabgeordneten in diesem Parlament.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Michael Kauch von der FDP-Fraktion.
Michael Kauch (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben jetzt eine gute Viertelstunde Debatte zu diesem Thema hinter uns, und ich habe gedacht, ich bin im falschen Film; denn wir führen hier die Debatten der 90er-Jahre.
Die deutsche Bevölkerung will aber keine historische Betrachtung, sondern sie will eindeutig die Frage geklärt wissen, wie es mit den erneuerbaren Energien weitergeht. Darüber will ich reden. Die Frage ist nicht, ob wir erneuerbare Energien fördern, sondern sie lautet, wie wir sie fördern. Darüber müssen wir diskutieren.
Ich möchte auf das verweisen, was diese Koalition im Koalitionsvertrag vereinbart hat. Wir haben vereinbart, dass wir den Weg in das regenerative Zeitalter beschreiten wollen. Wir haben vereinbart, dass die fossilen Energien Schritt für Schritt durch alternative Energien ersetzt werden sollen, bis wir irgendwann tatsächlich zu einer vollständig CO2-neutralen Energieversorgung kommen. Das ist die Leitlinie unserer Politik. In diesem Sinne haben wir vereinbart - das ist wichtig für die künftige Energieversorgung, für das Energiekonzept -, den Einspeisevorrang erneuerbarer Energien unbegrenzt und ungedeckelt fortzuführen. Deshalb entbehrt das Gezetere über die Politik dieser Koalition, beispielsweise darüber, dass Laufzeiten von Kernkraftwerken verlängert und Kohlekraftwerke nicht verboten, sondern in einem intelligenten Energiemix gehalten werden, jeder Grundlage.
Wenn die erneuerbaren Energien den vollständigen Einspeisevorrang haben, dann können die anderen Energien das Netz nicht verstopfen. Wenn die erneuerbaren Energien in das Netz hineindrängen, dann werden die anderen Stück für Stück hinausgedrängt. Das ist auch für die Energieversorger klar. Daran werden wir auch dann nicht rütteln, wenn aus wirtschaftlichen Gründen möglicherweise einmal ein Kohlekraftwerk abgeschaltet werden muss, weil die Erneuerbaren in das Netz hineinkommen. Das ist die klare Leitlinie unserer Politik.
Wir glauben, dass es wichtig ist, das Vertrauen in das Erneuerbare-Energien-Gesetz zu stärken. Deshalb haben wir als erste Maßnahme im Umweltbereich des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes die rückwirkenden Eingriffe, die die alte Regierung unter Minister Gabriel bei den Biogasanlagen vorgenommen hat, zurückgenommen. Denn das war nicht nur eine Maßnahme für die entsprechenden Anlagen. Vielmehr hat Ihre Politik der rückwirkenden Eingriffe dazu geführt, dass die erneuerbaren Energien schlechtere Finanzierungsbedingungen hatten, weil die Banken nicht mehr geglaubt haben, dass das EEG Vertrauensschutz gewährt. Die FDP und diese Koalition werden dafür sorgen, dass Vertrauensschutz im EEG Vorrang vor allen weiteren Überlegungen hat.
Zudem haben wir bei der Reform der Solarförderung sichergestellt, dass nicht rückwirkend in Investitionen eingegriffen wird. Deshalb haben wir in der Koalition Übergangsbestimmungen vereinbart. Diese Verlässlichkeit war unser Kernanliegen in der weiteren Beratung.
Wir als FDP und als Koalition sagen aber auch: Es kann nicht sein, dass wir mit dem EEG Traumrenditen für Anleger garantieren.
Deshalb ist es richtig, Frau Höhn, dass wir, wenn die Preise für Solaranlagen fallen, die Rendite an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergeben. Denn die Stromkunden - das sind auch die Familien mit vielen Kindern - zahlen die Renditen für die Anleger. Deshalb ist es richtig, dass die Solarförderung zurückgeführt wird.
Wir glauben, dass dieser Schritt die Solarförderung langfristig gesellschaftlich akzeptabel hält und deshalb ein Beitrag dazu ist, dass die Fotovoltaik in Deutschland langfristig noch größere Chancen hat als heute. Deshalb haben wir vereinbart, den Ausbaukorridor zu erweitern, und wir werden beispielsweise auch den Eigenverbrauch von dezentral verbrauchtem Strom durch Solaranlagen besser fördern als bisher.
Insofern sage ich Ihnen ganz klar: Wir wollen die Verbraucherinnen und Verbraucher entlasten. Wir wollen Überförderungen zurückführen. Aber wir wollen auch die Solarbranche und die anderen erneuerbaren Energien in Deutschland dynamisch ausbauen. Das ist die Leitlinie dieser Reform, und es wird die Leitlinie der Reform sein, die wir mit einer großen Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im Jahr 2012 weiterverfolgen werden.
Ich sage Ihnen auch ganz deutlich: Wir werden das EEG an manchen Stellen ökologischer machen.
Denn es gibt auch in der Subventionierung der erneuerbaren Energien ökologische Fehlsteuerungen. Beispielsweise macht es keinen Sinn, wenn wir die Nutzung nachwachsender Rohstoffe bei der Biomasseverstromung besserstellen als die Nutzung von Abfällen. Wir wollen, dass vorrangig Abfälle und erst dann nachwachsende Rohstoffe genutzt werden; denn diese brauchen wir auch für andere Verwendungen als für die Verstromung.
Diese Koalition hat darüber hinaus auch klargemacht: Wenn wir Blockheizkraftwerke beispielsweise mit Palmöl betreiben, wie es viele Stadtwerke tun, dann wollen wir, dass dieses Palmöl nachhaltig angebaut worden ist. Deshalb werden wir die Zertifizierungen des Anbaus dieser Biomasse stärker und klarer reglementieren, damit für unseren Ökostrom nicht die Regenwälder abgeholzt werden.
Meine Damen und Herren, wir werden das Erneuerbare-Energien-Gesetz weiterentwickeln. Wir wollen damit die Förderung erneuerbarer Energien im Inland voranbringen, aber wir werden auch über die Grenze hinausschauen. Denn Solarstrom beispielsweise kann nicht nur durch Fotovoltaik auf deutschen Dächern produziert werden, sondern auch auf dem Weg, dass wir in Kooperation beispielsweise mit den nordafrikanischen Staaten große solarthermische Kraftwerke bauen. Diese Kraftwerke werden notwendig sein, um Solarkraft in großen Mengen in unseren Energiemix einzubringen.
Wir als FDP wollen das voranbringen. Ich freue mich, dass wir in der Koalition genau diesen Weg gehen werden.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Hermann Scheer das Wort.
Dr. Hermann Scheer (SPD):
Herr Kollege Kauch, Sie haben eben wieder den Begriff ?Subventionierung? benutzt. Ich muss nicht von Ihnen erwarten, dass Sie alles sofort verstehen, was ich gesagt habe. Aber wie kommen Sie eigentlich dazu, diesen Begriff permanent in diesem Zusammenhang zu verwenden, und das auch noch im Namen der Verbraucher? Wenn die Verbraucher - also alle Bürger; es gibt keinen Unterschied zwischen Bürgern und Verbrauchern - etwas subventionieren, dann ist es die herkömmliche Energieversorgung, die ihre tatsächlichen Umwelt- bzw. Sozialschäden nicht bezahlen muss. Das muss dann die Gesellschaft auf ihre Schultern nehmen. Das ist Subventionierung, nichts anderes.
Wenn wir schon Subventionen abschaffen wollen und Sie das Thema so oft in den Mund nehmen, dann müssen wir doch erwarten, dass Sie es jetzt auch angehen, die immer noch laufende Subventionierung der Atomenergie in Form der Steuerbefreiung und steuerfreien Rückstellungen, die über 30 Milliarden Euro ausmachen, zu beenden.
Die werden dort angesammelt; damit wird systematisch monopolisiert. Damit werden andere Unternehmen aufgekauft, und dann soll die öffentliche Hand 4 Milliarden Euro zahlen, um den ganzen Atomdreck wieder aus Asse herauszuholen. Das ist Subventionierung.
Wir müssen in dieser Debatte einmal die Stühle zurechtrücken, damit wir endlich klar durch den Nebel sehen, worauf es wirklich ankommt und wer hier zulasten der Gesellschaft welche Energieform betreibt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zur Erwiderung Kollege Kauch.
Michael Kauch (FDP):
Lieber Kollege Scheer, Sie sind oft im Ausland unterwegs und haben deshalb vielleicht nicht so ganz mitbekommen, was diese Koalition in ihrem Koalitionsvertrag beschlossen hat.
Diese Koalition hat nämlich beispielsweise beschlossen, die Energieversorger an den Kosten im Zusammenhang mit der Asse zu beteiligen. Das ist im Koalitionsvertrag längst festgehalten; dafür brauchen wir überhaupt nicht Ihren Antrieb.
Ansonsten habe ich den Eindruck - das muss ich deutlich sagen -, dass Sie penetrant versuchen, die Debatten von vor zehn Jahren zu wiederholen.
Dieses Haus ist geschlossen für das EEG; das ist klar. Diese Koalition hat sich im Koalitionsvertrag dazu bekannt. Sie müssen nicht ständig erklären, warum das so wichtig ist. Wir müssen vielmehr Folgendes tun:
Erstens. Wir wollen die erneuerbaren Energien zur Regelversorgung in diesem Land machen. Die erneuerbaren Energien sollen unsere Energieversorgung dauerhaft absichern.
Zweitens. Wir brauchen Übergangsszenarien, die dazu beitragen, dass wir unsere Klimaschutzziele - Reduzierung der CO2-Emissionen bis 2020 um 40 Prozent - erreichen.
Drittens. Es kann uns nicht egal sein, was die Bürgerinnen und Bürger dafür bezahlen.
Wir stehen dafür ein, dass sie nur so viel bezahlen, wie es notwendig ist, um diese Ziele zu erreichen. Wenn Ihnen das Geld der Bürgerinnen und Bürger egal ist,
dann ist das nicht unsere Politik.
Es kommt für die Leute nicht darauf an, ob das Geld über den Bundeshaushalt oder über die Stromrechnung hereinkommt; denn am Schluss müssen sie - das sind die Verbraucherinnen und Verbraucher - es aus ihrer Tasche bezahlen. Ob Sie das nun ?Subvention? nennen oder nicht: Wir stehen zu dieser Subvention; wir stehen dazu, dass diese Energien gefördert werden. Das kann aber nicht um jeden Preis geschehen. Auch hier müssen Maß und Effizienz die Regel für die weitere Förderung sein.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 25. Sitzung - wird am
Montag, den 1. März 2010,
auf der Website des Bundestages unter ?Dokumente & Recherche?, ?Protokolle?, ?Endgültige Plenarprotokolle? veröffentlicht.]