anlässlich der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zum 56. Jahrestag des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953
Meine Damen und Herren! Der 17. Juni war in der Bundesrepublik Staatsfeiertag. Es ist mir allerdings bis heute noch kein Westdeutscher begegnet, der mir genauer erklären konnte, wie es dazu kam und was daraus folgte. Ich bezweifle zwar nicht, dass es sie gibt, aber sie können nicht sehr zahlreich sein.
In der DDR war der 17. Juni ein Tabu. Mein Vater, dem ich in diesem Falle einen Hang zum schwarzen Humor zuschreiben muss, ging am 16. Juni zum Friseur und erklärte: Morgen ist der 17. Juni, da wird bei uns gefeiert. - Erstarrte Gesichter: Ist der Apotheker lebensmüde? Dann die Entwarnung: Da habe ich nämlich Geburtstag.
(Heiterkeit)
Wenn der 17. Juni in der DDR überhaupt erwähnt wurde, wurde er als faschistischer Putsch bezeichnet, angezettelt vom Westen, namentlich, wie es hieß, vom RIAS, dem Rundfunk im Amerikanischen Sektor von Berlin. Zwei Briefmarken, die im Herbst 1953 in Westberlin zur Erinnerung an den 17. Juni erschienen, wurden auf Briefen in die DDR mit schwarzem Lack unkenntlich gemacht. Im Sammlerkatalog stand zu diesen Marken nur: "Nr. 110 und 111 fallen aus".
(Heiterkeit)
Tatsächlich ist die Erinnerung an den 17. Juni in der DDR fast völlig erloschen. Deshalb versuche ich mich hier als erinnernder Chronist auch mit ziemlich vielen Zahlen.
Am 17. Juni 1953 kam es in 700 Orten der DDR zu Streiks und Demonstrationen. Ausgelöst waren sie durch die 10-prozentige Normerhöhung, die die SED-Regierung Ende Mai zu Ehren von Ulbrichts 50. Geburtstag verfügt hatte.
(Heiterkeit)
Bei den Lohnzahlungen am Sonnabend, dem 13. Juni 1953, wurden sie zum ersten Mal wirksam; da wurde noch wochenweise gezahlt. Daraufhin verfassten am Montag, dem 15. Juni, die Bauarbeiter des Krankenhauses Berlin-Friedrichshain eine Resolution an den Ministerpräsidenten Grotewohl und forderten, "dass von dieser Normerhöhung auf unserer Baustelle Abstand genommen wird. Wir erwarten Ihre Stellungnahme bis morgen Mittag." Jetzt sind wir beim 16. Juni. Der Vorsitzende der Betriebsgewerkschaftsleitung und drei Arbeiter brachten die Resolution in das Haus der Ministerien.
Als am 16. Juni keine Antwort vorlag, zogen etwa 10 000 Demonstranten zum Haus der Ministerien. Inzwischen hatte das Politbüro die Normerhöhung zurückgenommen. Als Minister Selbmann das aber vor dem Haus der Ministerien den Demonstranten mitteilte, wurde er niedergeschrieen. Ein Arbeiter rief: "Was du uns da erklärst, interessiert uns überhaupt nicht. Wir wollen frei sein. Wir fordern freie und geheime Wahlen." Ein anderer rief: "Für morgen rufen wir den Generalstreik aus".
Eine Abordnung der Demonstranten suchte den RIAS in Westberlin auf, der in der ganzen DDR gehört werden konnte. Der RIAS informierte über die Berliner Ereignisse des 16. Juni und verbreitete vier Forderungen der Demonstranten: Rücknahme der Normerhöhung, Senkung der Lebenshaltungskosten, freie und geheime Wahlen, keine Maßregelungen der Streikenden. Den Aufruf zum Generalstreik hat der RIAS nicht verbreitet, aber korrekt die Rücknahme der Normerhöhungen durch das Politbüro. Kurz darauf verbot ein amerikanischer Offizier dem RIAS die weitere Verbreitung dieser Nachricht, weil er fürchtete, Westberlin könnte tangiert und ein Krieg ausgelöst werden.
Am 16. Juni, 23 Uhr wandte sich der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, über den RIAS an die Ostberliner und Ostdeutschen mit der Bitte, "sich weder durch Not noch durch Provokationen zu unbedachten Handlungen hinreißen zu lassen. Niemand soll sich selbst und seine Umgebung in Gefahr bringen." Am 17. Juni, 5.15 Uhr meldete sich der Westberliner DGB-Vorsitzende Scharnowski über den RIAS zu Wort:
Tretet darum der Bewegung der Ostberliner Bauarbeiter, BVGer und Eisenbahner bei … Je größer die Beteiligung ist, desto machtvoller und disziplinierter wird die Bewegung für Euch mit gutem Erfolg verlaufen.
Am 17. Juni begannen landesweit früh Demonstrationen. Allein in Berlin waren schließlich 150 000, im ganzen Land etwa 1 Million auf der Straße unterwegs, zuallermeist friedlich, es kam aber auch zu Gewaltakten. Gebäude sind erstürmt, Kioske und das Columbushaus in Berlin in Brand gesteckt worden. Es gab auch Fälle von Lynchjustiz. Zwischen 10 und 15 Personen sind durch Aufständische ums Leben gekommen. Die Sicherheitskräfte der SED waren völlig kopflos. Nicht wenige Polizisten gingen zu den Demonstranten über.
Um 10 Uhr ließ der sowjetische Botschafter Semjonow die handlungsunfähige SED-Führung in geschlossener Wagenkolonne in die sowjetische Kaserne nach Karlshorst abtransportieren. Um 13 Uhr verhängte die Besatzungsmacht den Ausnahmezustand über alle großen Städte und über 167 der 217 Landkreise. Allein in Ostberlin fuhren 600 sowjetische Panzer auf. Es wurde auf Demonstranten geschossen: erst über die Köpfe hinweg, dann, wo das nicht wirkte, auch auf Personen. Auf Moskauer Anordnung wurden sofort willkürlich 18 standrechtliche Erschießungen vorgenommen und dieselben zur Abschreckung mit Plakaten veröffentlicht. Die Zahl der Toten wird insgesamt auf 60 bis 150 geschätzt, die der Verwundeten ist unbekannt. 13 000 wurden anschließend verhaftet, 2 000 zu harten Zuchthausstrafen verurteilt, 2 zum Tode. Besonders hart wurden die Organisatoren der Streiks bestraft, obwohl die DDR-Verfassung das Streikrecht garantierte.
Was als Streik der Arbeiter gegen Lohnkürzungen begann, wurde in wenigen Stunden zu einem landesweiten Aufstand mit politischen Forderungen: freie Wahlen, Freilassung der politischen Gefangenen, Rücktritt der Regierung, Pressefreiheit, Wiedervereinigung. Beteiligt waren schließlich alle Schichten der Bevölkerung, auch Mitglieder der Parteien, auch Mitglieder der SED, und der Gewerkschaften. Auf dem Lande gab es Bauerndemonstrationen. Viele Demonstrationen führten vor die Gefängnisse mit der Forderung nach Freilassung der politischen Häftlinge, oft mit Erfolg. Aber nach 36 Stunden endete alles in einer blutigen Tragödie.
Wie kam es zu diesem Aufstand? Die Normerhöhung war bloß der Auslöser. Die Ursachen lagen tiefer; sie lagen ein Jahr zurück. Auf der Zweiten Parteikonferenz der SED vom 9. bis 12. Juni 1952 wurde der Aufbau des Sozialismus in der DDR proklamiert: Das hieß: Die DDR sollte nach dem Muster der Sowjetunion umgestaltet werden. Es folgte das schlimmste Jahr der DDR.
1947 waren auch in der Sowjetischen Besatzungszone Länderverfassungen in Kraft gesetzt worden, die der deutschen Verfassungstradition durchaus noch verpflichtet waren mit Gewaltenteilung und unabhängiger Justiz, wenn auch nicht uneingeschränkt. Mit Gesetz vom 23. Juli 1952 wurden die Länder abgeschafft und in 14 Bezirke aufgeteilt. Mit den Ländern verschwanden auch die Verwaltungsgerichte und die Finanzgerichte. 200 Richter wurden damals entlassen, nicht weil sie Nazis waren - die hatte die sowjetische Besatzungsmacht längst entlassen -, sondern weil ihre Unparteilichkeit störte. Sie wurden durch unausgebildete SED-treue "Neurichter" ersetzt, die, wenn mir die freche Bemerkung erlaubt ist, besonders gut kurzen Prozess machen konnten.
Die Erklärung der Zweiten Parteikonferenz beginnt mit einem Aufruf zum "nationalen Befreiungskampf gegen die amerikanischen, englischen und französischen Okkupanten in Westdeutschland" und zum "Sturz ihrer Vasallenregierung in Bonn". Die "Festigung und Verteidigung der Grenze" und die "Organisierung bewaffneter Streitkräfte, die mit der neuesten Technik ausgerüstet" sind, werden angekündigt. Einen Monat zuvor, am 26. Mai 1952, war die Westgrenze abgeriegelt worden. Die Aufrüstung der DDR begann. Der Ausbau der Schwerindustrie wurde auf Kosten der Konsumgüterindustrie forciert: Milliardenprojekte für Schiffsbau und Flugzeugbau; denn nach dem Willen der Sowjetunion sollte die DDR auf beiden Gebieten ihre eigenen Rüstungsgüter produzieren. Das alles brachte die DDR-Wirtschaft in eine schwere Krise.
Die neue Losung "Aufbau des Sozialismus" hieß zugleich: "Verschärfung des Klassenkampfes", den "feindlichen Widerstand brechen". Im Klartext: Die Staatsmacht wurde zur Waffe der Partei gegen die Bürger. Das war mit Klassenkampf gemeint. Der Klassenkampf richtete sich gegen die wirtschaftlich Selbstständigen - wer Angestellte hatte, war jetzt ein Kapitalist -, gegen Bauern und Bürgertum. Ihnen, nämlich 2 Millionen Personen, wurden die Lebensmittelkarten entzogen, und die Justiz wurde regelrecht als Terrorinstrument eingesetzt, getreu dem Satz von Lenin:
Das Gericht soll den Terror nicht beseitigen …, sondern ihn prinzipiell, klar, ohne Falsch und ohne Schminke begründen und gesetzlich verankern.
Wer es nachlesen möchte, findet es in Lenins Werken, in der DDR erschienen, Band 33, Seite 344.
Von August 1952 bis Januar 1953 kam es zu 1 250 Gerichtsverfahren gegen Bauern, die das erhöhte Ablieferungssoll nicht erreichten oder daraus resultierende Steuerschulden nicht begleichen konnten. Ich nenne ein Beispiel: In Prenzlau wurde ein Bauer zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt und enteignet, weil er aus Krankheitsgründen das Soll nicht erfüllt hatte. Mehr als 15 000 Bauern flüchteten damals in den Westen. Die sowjetische Botschaft meldete nach Moskau, dass deswegen 500 000 Hektar Land brachliegen.
Aufgrund des Gesetzes zum Schutze des Volkseigentums wurden bis Ende 1953 circa 10 000 Personen verurteilt, meistens Arbeiter. Auch dafür ein Beispiel: Ein Lagerarbeiter aus Luckenwalde wurde zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er den Diebstahl von einem Paar Hausschuhe nicht etwa begangen, sondern durch einen Dritten nicht verhindert hatte. Der private Handel und Großhandel wurde mittels verweigerter Kredite, Zulieferungsverboten und systematisch eingesetzter schikanöser Steuerprüfverfahren zerschlagen. Bei der Zerschlagung des Großhandels wurden in 3 000 Betriebsprüfungen 2 100 Strafverfahren eingeleitet, 2 300 Personen verhaftet und ein Vermögen von 335 Millionen Mark eingezogen.
März/April 1953 kam es zu einem regelrechten Kirchenkampf. Die Junge Gemeinde wurde als Tarnorganisation des US-Imperialismus denunziert. 3 000 Jugendliche wurden von den Oberschulen verwiesen, weil sie nicht bereit waren, sich vor versammelter Schülerschaft von der Jungen Gemeinde loszusagen. Lehrer wurden strafversetzt oder entlassen. Etwa 70 Pfarrer und Jugendleiter waren damals inhaftiert, 600 Studenten wegen Teilnahme an der Studentengemeinde exmatrikuliert.
In diesem einen Jahr des Aufbaus des Sozialismus hat sich die Zahl der Häftlinge auf 64 400 verdoppelt. Mehrere Hunderttausend sind damals aus Angst um ihre Freiheit nach Westberlin geflohen.
Der Klassenkampf richtete sich auch gegen SED-Mitglieder. Eine "Säuberung" von "feindlichen Elementen" mit Schauprozessen wurde vorbereitet. Im Januar 1953 wurden Juden als "zionistische Agenten" aus der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes, VVN, ausgeschlossen. Seit dem 11. September 1952 wurden an die SED-Funktionäre bis auf die Kreisebene hinab persönliche Waffen ausgegeben, die erst im November 1989 wieder eingesammelt wurden. In der letzten Sitzung des ZK der SED 1989 beklagte ein Altkommunist unter Tränen die Demütigung, diese Waffe abgeben zu müssen, mit der er doch den Sozialismus zu verteidigen beabsichtigte.
Nach Stalins Tod am 7. März 1953 beobachtete die neue sowjetische Führung die repressive Politik der SED mit wachsender Sorge, weil sie um die Stabilität ihres westlichen Vorpostens fürchtete. Deshalb wurde die SED-Führung ziemlich harsch vom 2. bis 4. Juni nach Moskau einbestellt. Ihr wurde ein umfangreiches Schriftstück zur Stellungnahme vorgelegt, in dem als Hauptursache für die Massenflucht der DDR-Bürger und die Wirtschaftskrise "der Kurs auf einen beschleunigten Aufbau des Sozialismus" verantwortlich gemacht wurde, der nun "für nichtig zu halten" sei. Kritisiert werden namentlich die Repressionen gegen Bauern, gegen das "Privatkapital", die Forcierung der Schwerindustrie zulasten der Versorgung der Bevölkerung und die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Kirche. Der SED werden "Maßnahmen zur Stärkung der Gesetzlichkeit und Gewährung der Bürgerrechte" auferlegt. Nicht erwähnt wird die Normerhöhung, möglicherweise deshalb, weil sie erst nach Fertigstellung des Papiers verkündet wurde. Sie wurde wohl einfach übersehen. Das sollte schwerwiegende Folgen haben. Diese Kurskorrektur, so wird in dem Papier von der sowjetischen Seite erklärt, sollte der "Stärkung unserer Position sowohl in Deutschland selbst als auch in der Deutschlandfrage auf der internationalen Ebene" dienen.
Die SED-Führung gehorchte umgehend. Noch von Moskau aus ließ sie die Verbreitung ihres Propagandamaterials sperren und die pompösen Vorbereitungen zu Ulbrichts Geburtstag stoppen, die die Sowjetführung als Personenkult kritisiert hatte. Am 9. Juni beschloss das Politbüro der SED ein Kommuniqué, in dem es seine Fehler eingestand, das ganze Inventar der Repressionen noch einmal aufzählte und deren Rücknahme ankündigte - mit zwei Ausnahmen: Das Wort "Bürgerrechte" fehlte und die Normerhöhung. Die Arbeiter- und Bauernregierung hatte die Arbeiter vergessen, weil Moskau nichts ausdrücklich angeordnet hatte. Weil sie sich zu Recht übergangen sahen, traten die Arbeiter in den Streik. So kam es zum 17. Juni.
Welche Folgen hatte der 17. Juni? Eine paradoxe Folge, die weder die Demonstranten noch die Sowjetunion gewollt haben: Der 17. Juni rettete Ulbrichts Position. Er triumphierte gegen seine innerparteilichen Widersacher und säuberte die Partei. Kriterium war der 17. Juni. Wer zurückgewichen war oder gar mit den Forderungen der Demonstranten sympathisiert hatte, verlor seinen Posten. Bis 1954, in diesem einen Jahr, wurde ungefähr die Hälfte aller SED-Funktionäre ausgetauscht. Dagegen war es nun nicht mehr so wichtig, ob jemand früher Nazi war. Im Februar 1954 ermittelten parteiinterne Statistiker sehr penibel, dass der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder in der SED zunimmt. Waren es bisher 8,6 Prozent, sind es nun bei den Aufnahmeanträgen 9,3 Prozent. Bei Mitgliedern der SA und SS stieg die Zahl gar von 6 Prozent auf 10 Prozent. Als die SED-Kreisleitung Pasewalk am 27. Januar 1954 eine Kommission bilden wollte, um den steigenden Anteil von Altnazis in der SED des Kreises zu untersuchen, wurde ihr das strikt verboten.
Unmittelbar nach dem 17. Juni begann erneut der Justizterror. Ab 1954 wurde die Jugendweihe zum neuen Kirchenkampfinstrument. Ab 1958 wurde die Kollektivierung der Landwirtschaft wieder forciert. Die Reste der privaten Wirtschaft, meistens zu "halbstaatlichen Betrieben" umgewandelt, zerschlug Honecker Anfang 1970, obwohl sie überproportional am Export beteiligt waren. Aber die SED begann nun auch, die Lebensverhältnisse zu verbessern, um die Arbeiter für sich zu gewinnen. Später hieß das: Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Nichts gegen Sozialpolitik! Die SED betrieb sie aber als Gnadengabe für Wohlverhalten. Das Ziel war: zufriedene Knechte, nicht Bürgerrechte.
Der 17. Juni blieb das Trauma der SED. Als dem Stasiminister Mielke am 31. August 1989 über die brisante Lage berichtet wurde, fragte er: "Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?". Aber auch für die Bevölkerung der DDR blieb der 17. Juni ein Trauma. Alle Losungen von damals waren seitdem tabu, namentlich freie Wahlen und Pressefreiheit. Wir mussten lernen: Gegen Panzer ist Zivilcourage machtlos. Das haben wir 1956 in Ungarn und 1968 in der CSSR wieder erlebt. Wo sich der Ruf nach Freiheit meldet, erscheinen die sowjetischen Panzer. Budapest ist 1956 stärker zerstört worden als im Zweiten Weltkrieg. Daraus ergab sich zwingend: Der Schlüssel für große Veränderungen liegt nicht in der DDR, er liegt in Moskau. Wenn allerdings dort ein Nagy oder Dubcek auftreten sollte, dann werden die Panzer wohl in den Kasernen bleiben. Er kam schließlich und hieß Gorbatschow.
Was genau war nun dieser 17. Juni? Die SED hat bis zuletzt behauptet: Das war ein von außen gelenkter faschistischer Putsch. Erfreulicherweise hat sich der Vorstand der PDS 1993 davon distanziert. Trotzdem gibt es auch in ihren Reihen immer noch Vertreter der These vom faschistischen Putsch; aber das muss uns nicht sehr aufregen. Peinlich ist, dass alle DDR-Schriftsteller, die sich vor 1989 zum 17. Juni geäußert haben, Stephan Hermlin, Anna Seghers, Heiner Müller, die These vom faschistischen Putsch oder, so Stefan Heym, vom halbfaschistischen Putsch, gefolgt sind. Kurt Barthel, der sich KuBa nannte und furchtbare Hymnen auf Stalin verfasst hat, schrieb in einem Flugblatt gegen die Ostberliner Bauarbeiter, dass er sich für sie schäme. "Da werdet ihr sehr viel und sehr gut mauern … müssen, ehe euch diese Schmach vergessen wird." Dergleichen mag Bertolt Brecht veranlasst haben, nach dem 17. Juni zwar öffentlich seine Solidarität mit der SED zu bekunden, zu Hause aber für sich aufs Papier den Text Die Lösung niederzuschreiben: Die Regierung möge das Volk auflösen und ein anderes wählen, wenn das Volk das Vertrauen der Regierung verspielt hat.
Zum 50. Jahrestag des 17. Juni haben sich Westdeutsche zu Wort gemeldet, die erklärten, der 17. Juni sei kein Ruhmesblatt für die Deutschen. Hubertus Knabe warf dem Westen vor, nicht eingegriffen zu haben. Gerhard Besier warf den ostdeutschen Kirchen Versagen vor. Solche Besserwisserei hinterher und vom Schreibtisch aus nervt. Hätte der Westen am 17. Juni eingegriffen, hätte tatsächlich ein Weltkrieg gedroht. Die Sowjetunion hatte nach 1945 nicht, wie die Westmächte, abgerüstet. Hätten die Kirchen vor oder nach dem 17. Juni zu Demonstrationen aufgerufen, hätten sie bloß die Zahl der Opfer erhöht. Es ist zweierlei: Märtyrer werden, nämlich Nachteile für seinen Glauben hinnehmen müssen - das haben auch damals viele in der DDR erfahren -, und Märtyrer machen. Das ist den christlichen Kirchen verwehrt, und dabei soll es bleiben.
Nochmals: Gegen Panzer ist Zivilcourage machtlos. Zuletzt ist uns das 1989 in China auf dem Platz des Himmlischen Friedens verdeutlicht worden. Aber wenn der 17. Juni gar keinen Erfolg hatte, war er dann nicht eine Torheit? Immanuel Kant hat zur Französischen Revolution bemerkt: Bedenkt man, mit wie viel Elend und Greuel sie verbunden war, könnte niemand verantworten, sie auf diese Kosten noch einmal zu unternehmen. Trotzdem finde diese Revolution "in den Gemüthern der Zuschauer eine Theilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt", weil sich da gegen den Despotismus der Gedanke des Rechts Geltung verschafft hat. So ähnlich sollten wir den 17. Juni auch sehen. Ihn noch einmal zu initiieren, wenn wir das fingieren, könnte der hohen Opfer wegen niemand verantworten. Aber trotzdem nötigt es uns Bewunderung ab, dass der Wunsch nach Einigkeit und Recht und Freiheit damals so unerwartet mächtig wurde.
(Beifall)
Widerlegt wurde, dass den Deutschen der Untertanengeist angeboren sei.
Das wurde im Herbst 1989 noch einmal widerlegt. War er die Fortsetzung des 17. Juni? Erst einmal: Nein. Die oppositionellen Gruppen in der DDR und die Demonstranten des Herbstes haben sich nicht auf dieses Datum bezogen. Eher könnte man sagen: Weil eine neue Generation junger Nonkonformisten nicht durch die Erinnerung an den 17. Juni gelähmt war, erlaubte sie sich unbekümmert Kritik, zunächst bei den Themen Umwelt, Frieden, Abrüstung und Dritte Welt. Das brachte die SED deshalb in Verlegenheit, weil das nicht die Themen waren, die als staatsfeindlich perhorresziert waren. Sie forderten auch nicht freie Wahlen, sondern zählten, was das DDR-Wahlrecht zuließ, bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 nach und erstatteten dann Anzeige nach DDR-Recht. Diese Gruppen unter dem Dach der Kirche entdeckten die Vernetzung als Schutz.
Nicht von Baustellen und Betrieben nahmen die Demonstrationen ihren Ausgang, sondern von Friedensgottesdiensten. Es wurden Verhaltensmaßregeln gelernt: Wer verhaftet wird, ruft seinen Namen, damit er nicht namenlos verschwindet, und "Keine Gewalt!". Als die Montagsdemonstration zur Massenbewegung anschwoll und an der "Runden Ecke", dem Stasiquartier in Leipzig, vorbeiführte, stellten sich Demonstranten mit Kerzen zum Schutz vor das Gebäude, damit auch nicht eine Fensterscheibe kaputtging und Anlass zur Gewalt gab. Der Volkskammerpräsident Sindermann hat später dazu resigniert festgestellt: "Auf alles waren wir vorbereitet. Nur nicht auf Kerzen".
(Heiterkeit)
Nach dem 17. Juni 1953 waren die Arbeiterkampfgruppen zum Kampf gegen die Konterrevolution gegründet worden. Als sie 36 Jahre später, im Herbst 1989, zum ersten Mal gegen Konterrevolutionäre, sprich: die Demonstranten, eingesetzt werden sollten, haben 346 Kampfgruppenangehörige den Befehl verweigert. Vergeblich habe ich mich bis zum heutigen Tage bemüht, darauf hinzuweisen, dass es auch hier Leute gibt, die unseren Respekt verdienen.
(Beifall)
Diese 346 Kampfgruppenangehörige haben gesagt: Die Demonstranten sind keine Konterrevolutionäre. Wir wissen das; da sind auch Kollegen von uns dabei.
Die deutsche Einheit gehörte nicht zu den Forderungen der oppositionellen Gruppen in der DDR. Erst als die Mauer fiel und die Ohnmacht des Regimes offenbar war, begannen Demonstranten aus der Nationalhymne der DDR zu skandieren: "Deutschland einig Vaterland". Da waren sie alle drei wieder beieinander: Einigkeit und Recht und Freiheit.
Ich danke Ihnen.
(Anhaltender Beifall)
(Nationalhymne - Beifall)