Seit die Entscheidung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) über die Ausrichtung der Sommerspiele 2008 zugunsten der Stadt Peking gefallen ist, bereitet sich China auf dieses sportliche Großereignis vor. Die Freude über die Entscheidung war in China umso größer, als eine frühere Bewerbung um die Austragung der Spiele 2000 im Jahr 1993 gescheitert war. Aus Sicht der chinesischen Führung sollen die Olympischen Spiele 2008 das Schaufenster sein, durch das China zeigen kann, wie weit es mit seinem Modernisierungskurs in den vergangenen dreißig Jahren gekommen ist: Die Rückkehr des Landes auf die Weltbühne, die Integration in die Weltwirtschaft und in die internationale Staatengemeinschaft sollen zelebriert werden.
Die Vision der Olympischen Spiele in Peking, die die chinesische Führung unter dem Motto "one world, one dream" (eine Welt, ein Traum) umsetzen will, sind ein perfekt organisiertes Spektakel für die internationale Öffentlichkeit, das harmonisch und ohne Zwischenfälle abläuft. Durch die Ereignisse im Umfeld der Unruhen in Tibet und des olympischen Fackellaufes ist bereits jetzt fraglich, ob sich diese Vision noch wird umsetzen lassen. Denn ein Schatten liegt nun schon über dem Ereignis, der sich unter Umständen noch weiter ausdehnen und verfinstern kann.
Im Folgenden geht es um die Erwartungen und Herausforderungen, mit denen China im Vorfeld der Spiele umzugehen hat und die das Land praktisch von Beginn an einem Dilemma ausgesetzt haben. Ein weiterer Teil wird sich mit der Frage befassen, in welchen Bereichen die Vorbereitung auf die Spiele bereits zu - dauerhaften oder vorübergehenden - Veränderungen in China geführt hat. Im letzten Teil werden mögliche Szenarien vorgestellt, welche Auswirkung die Olympiade auf China haben könnte.
Als Ausrichterland der Olympischen Spiele steht China verstärkt im internationalen Scheinwerferlicht von Medien, Öffentlichkeiten, Politikern und Parlamentariern, insbesondere im "Westen", also in Europa und den USA. Bereits einige Jahre vor dem sportlichen Großereignis entspann sich eine kontroverse Diskussion über die Vergabe der Spiele an China, über das Verkehrschaos in Peking, über die Qualität von Luft und Nahrungsmitteln, mit denen die Athleten vor Ort konfrontiert würden, über die Arbeitsbedingungen für ausländische und inländische Journalisten vor, während und nach den Spielen, aber auch über das Verhalten gegenüber Taiwan und die außenpolitische Rolle Chinas, beispielsweise im Sudan und der Krise in Darfur oder in Birma/Myanmar. Für jeden dieser Bereiche wurden, insbesondere von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Erwartungen formuliert und zum Teil für den Fall ihrer Nichterfüllung Boykottdrohungen in den Raum gestellt.
Auf die "handfesten" und praktischen Herausforderungen, die mit der Ausrichtung der Spiele verbunden waren, waren Peking und die chinesische Führung eingestellt: Der Bau von Sportstätten, Verkehrsinfrastruktur und neuen Hotels sowie die Begrünung der Stadt wurden in Angriff genommen, Pläne für die Milderung des Verkehrschaos erarbeitet, Schweine ohne Hormongaben (Doping!) für die Sportler gezüchtet, die Taxifahrer der Stadt zum Englischlernen angehalten und die Bewohner Pekings zu einem angemessenen Verhalten aufgerufen (nicht Spucken, ordentlich Schlangestehen). Um der mittlerweile dramatischen Wasserknappheit in Peking entgegenzuwirken, wurde seit Frühjahr 2008 Bauern in anderen Provinzen buchstäblich das Wasser abgegraben und in die Hauptstadt umgeleitet. China hatte "grüne Spiele" versprochen, nicht nur in botanischer Hinsicht, sondern auch mit Blick auf ökologische Standards bei den Bauten.
Offensichtlich sind mit dem Zuschlag des IOC für die Ausrichtung der Olympischen Spiele aber auch auf einem anderen Gebiet weit reichende Hoffnungen und Erwartungen geweckt worden: China sollte sich im Laufe der Vorbereitungen auf dieses Ereignis zum Positiven (aus westlicher Sicht) verändern. Häufig stützen sich solche Hoffnungen auf die Erfahrung der Sommerspiele im Jahr 1988 in Seoul, als Südkorea einen Öffnungsschub erlebte. China selbst hat dieser optimistischen Interpretation in gewisser Weise Vorschub geleistet, indem einer der Hauptverantwortlichen für die Organisation der Spiele in Peking, Vize-Bürgermeister Liu Jingmin, nach der Entscheidung des IOC für Peking erklärte, dies werde der Entwicklung der Demokratie und den Menschenrechten in China zugute kommen. Kritiker Chinas dagegen glaubten von vornherein nicht an eine solche Veränderung, sondern sahen die Gefahr, dass die chinesische Führung durch die Olympischen Spiele zusätzliche internationale Legitimation erhält. Sie zogen Parallelen zwischen Peking 2008 und Berlin 1936.
Durch die Ereignisse in Tibet im März 2008 hat sich die Debatte mittlerweile zugespitzt und massiv emotionalisiert. Die Zeremonie in Athen und der olympische Fackellauf wurden durch anti-chinesische Demonstrationen gestört, letzterer musste sogar abgebrochen, unterbrochen, umgeleitet und verkürzt werden. Offenbar symbolisiert die Fackel aus Sicht der Demonstranten nicht mehr die olympische Idee, sondern sie steht für das Regime in Peking, das durch sein Vorgehen gegen demonstrierende Tibeter einmal mehr sein wahres Gesicht gezeigt hat. Mittlerweile scheinen die Hoffnungen auf eine Wiederholung von Seoul 1988 zerstoben; der ebenso verfehlte Vergleich mit Berlin 1936 ist zum vorherrschenden Bild geworden.
Einen ersten Höhepunkt erlebten Kundgebungen, Demonstrationen und Medienaufmerksamkeit bereits ein Jahr vor Eröffnung der Spiele am 8. August 2007, als verschiedene Gruppen in China demonstrierten: Reporter ohne Grenzen, eine internationale NGO, die sich für Meinungs- und Pressefreiheit einsetzt, entrollte ein Spruchband auf einer Brücke in Peking, eine andere Gruppierung demonstrierte an der Großen Mauer für ein freies Tibet, und eine Gruppe chinesischer Intellektueller und Aktivisten stellte in einem offenen Brief an die oberste politische Führung Chinas einen Katalog mit Forderungen im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen zusammen, wie zum Beispiel eine Amnestie für chinesische Dissidenten im Ausland, damit diese zu den Spielen nach Peking reisen können, mehr Rechte und Sicherheit für die Wanderarbeiter, die mit dem Bau der Sportstätten betraut sind, sowie die Einsetzung eines Bürgergremiums zur Aufsicht über die Finanzausgaben im Zusammenhang mit den Spielen. 1
Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss der Führung klar geworden sein, dass die Spiele eine ideale Plattform dafür bieten, die in- und ausländische Aufmerksamkeit auf Missstände in China zu richten, seien es nun Menschenrechtsverletzungen, fehlende Rechtsstaatlichkeit oder Korruption. Die Sicherheitsprobleme, die sich vor und während der Spiele stellen, wurden damit ebenfalls augenfällig: Es könnten terroristische Anschläge drohen, oder unerwünschte Personen, wie zum Beispiel Anhänger der in China verbotenen Sekte Falun Gong, könnten versuchen, einzureisen und die Spiele zu stören. Auch das Unruhepotential in China selbst ist hoch: Wanderarbeiter, deren Unterkünfte abgerissen wurden, von ihrem Boden vertriebene Bauern, die als Bittsteller in Peking Gerechtigkeit suchen, und andere Gruppen in der Bevölkerung machen ihrem Unmut zum Teil Luft - nach offiziellen Angaben des Ministeriums für öffentliche Sicherheit in China finden im ganzen Land jährlich circa 80 000 (2005: 87 000) kleinere und größere Protestaktionen statt.
Aber auch zur Erledigung der konkreten Aufgaben, die von Peking im Vorfeld der Spiele zu bewältigen waren, wurden Mittel eingesetzt, die im Ausland Kritik hervorriefen, wie beispielsweise die Zwangsräumung von Wohnungen in Peking, um unter anderem Platz für neue Straßen und den Ausbau der U-Bahn zu machen. Die Umgesiedelten, über deren Zahl die Angaben erheblich schwanken, wurden teilweise gut entschädigt, teilweise offenbar nicht oder nicht ausreichend. 2 Das Heer der Wanderarbeiter, die den Hauptteil der Bauarbeiten im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen verrichten, wird gegenüber der Stadtbevölkerung durch verschiedene Maßnahmen benachteiligt. Insbesondere sind sie üblicherweise ohne Sozial-, Arbeitslosen- oder Krankenversicherung, und ihre Kinder haben kein Anrecht auf Zulassung in den Schulen. Bittsteller, die nach Peking gekommen sind, um durch Petitionen zu ihrem Recht zu kommen, und andere "unliebsame Elemente" wie Bettler, werden aus der Stadt entfernt; die Einreise von bekannten china-kritischen bzw. -feindlichen Personen, wie Anhänger von Falun Gong, soll durch Aufstellung einer "Schwarzen Liste" und durch striktere Handhabung von Visumsvorschriften möglichst verhindert werden. In den Landesteilen, in denen Tibeter demonstriert haben, wird versucht, möglichst schnell "Ruhe und Ordnung" wiederherzustellen - unter anderem durch eine Erziehungskampagne. Die hier zum Einsatz kommenden Mittel rufen im Westen Kritik hervor und bieten weitere Anlässe für Boykottforderungen.
Die chinesische Führung befindet sich im Dilemma, denn ihre Vorstellung von perfekten Olympischen Spielen lassen solche Maßnahmen in ihren Augen notwendig und gerechtfertigt erscheinen. Die Kritik von außen (und teilweise von innen, wie im oben erwähnten offenen Brief) kann China nicht von seinem Weg abringen. Es kann aber auch nicht den Erwartungen gerecht werden, die im Zusammenhang mit den Spielen an sie herangetragen werden. Ein positiver Schritt war das Inkrafttreten von neuen Vorschriften für die Arbeit ausländischer Journalisten in China am 1. Januar 2007. Die Regeln sahen vor, dass ausländische Medienvertreter sich frei in ganz China bewegen und ohne vorherige Genehmigung durch die Behörden Interviews führen können. Ihre Geltungsdauer sollte zwar auf den Zeitraum bis zum Abschluss der Olympischen Spiele begrenzt sein, jedoch gab es Andeutungen aus offiziellen Kreisen, dass sie in Kraft bleiben könnten, wenn sie sich bewähren. Im Westen, insbesondere in Europa und den USA, wurden die verbesserten Arbeitsbedingungen zwar begrüßt, jedoch erschienen auch umgehend Artikel, die ihre zeitliche Beschränkung kritisierten sowie die Tatsache, dass die chinesischen Kollegen nicht in ihren Genuss kommen sollten. Aus chinesischer Sicht konnte dies so interpretiert werden, dass durch Zugeständnisse lediglich neue Forderungen erzeugt werden. Ähnlich war die Erfahrung mit den Konflikten um Sudan (Darfur) und Birma/Myanmar: China ernannte für Darfur im Frühjahr 2007 einen Sonderbeauftragten, der sich in Khartum für die Zulassung einer UN-Friedenstruppe einsetzte, und es erwirkte nach den Unruhen und Protesten der Mönche in Birma, dass der Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs in das Land reisen konnte. Aber die Kritik an Chinas außenpolitischem Verhalten - der Unterstützung für autoritäre Regime trotz massiver Menschenrechtsverletzungen - verstummte nicht. Das Wort von der "Genozidolympiade", mit dem China praktisch für die Situation in Darfur verantwortlich gemacht wurde, macht weiterhin die Runde.
Eine ganze Reihe von Veränderungen haben im Vorfeld der Olympischen Spiele bereits stattgefunden - lokal, national und außenpolitisch. Einige davon werden nachhaltig sein, andere nicht oder nur vielleicht, einige sind als ungeschränkt positiv zu werten, andere nur bedingt. Veränderungen hat es auch bereits - durch die intensive Berichterstattung - in der Perzeption Chinas im Ausland gegeben, und umgekehrt haben die Proteste und Demonstrationen während des Fackellaufes, zum Beispiel in London, Paris und San Francisco, auch Auswirkungen auf die Wahrnehmung Europas und der USA in China. Ziemlich klar dürfte sein, dass Peking seine Politik und Haltung nicht ändern wird, sofern es um Fragen geht, bei denen die Führung nationale Kerninteressen berührt sieht. Nationale Souveränität und territoriale Integrität Chinas betreffen nicht nur Tibet, sondern auch die Nordwestregion Xinjiang, die mehrheitlich von muslimischen Uighuren bewohnt wird, und natürlich die Insel Taiwan. Seine grundsätzlichen Ansprüche wird China um der Spiele willen sicher nicht wesentlich abschwächen.
Die finanziellen Aufwendungen, die im Zusammenhang mit den Spielen getätigt wurden und werden, sind enorm - allein die Kosten für das neue Sportstadion ("Vogelnest") werden mit 350 Millionen Euro angegeben. Inwieweit die getätigten Investitionen eine nachhaltige Verbesserung der Lebensqualität in Peking zur Folge haben, kann derzeit noch nicht für jeden Bereich mit Sicherheit gesagt werden. Fest steht bereits als positives Ergebnis der Spiele, dass die neu gebaute Verkehrsinfrastruktur eine Entlastung bringt. Dies gilt für das bereits in Betrieb genommene Terminal 3 des Pekinger Flughafens, vor allem aber für die neuen U-Bahn-Linien, die gebaut wurden. Diese bedeuten einen erheblichen Fortschritt angesichts der mittlerweile fast unerträglichen Verkehrssituation in Peking. Bislang waren nur wenige Stadtteile mit der U-Bahn erreichbar.
Während der Spiele sind auch Fahrbeschränkungen für Autos geplant, um das (übliche) Verkehrschaos zumindest zu vermindern. Ähnliches wurde bereits beim China-Afrika-Gipfel im November 2006 - und bei anderen Gelegenheiten auch in anderen Städten - mehr oder weniger erfolgreich getestet. Diese Maßnahme kann vielleicht einen relativ reibungslosen Verkehrsfluss gewährleisten, möglicherweise auch einen Beitrag zur Verbesserung der Luftqualität leisten. Aber nach den Spielen werden diese Beschränkungen nicht mehr gelten. Pekings Verkehrsprobleme werden sich aller Wahrscheinlichkeit nach eher noch verstärken, denn der Besitz eines Autos gilt als Statussymbol, und die Stadtregierung von Peking hat - im Unterschied beispielsweise zu Schanghai - bislang keine finanziellen Anreize geschaffen, um auf die Anschaffung eines Privat-PKWs zu verzichten (zum Beispiel über die Anmeldegebühr). Ob die Qualität der Luft in Peking nachhaltig verbessert werden kann, ist unklar - viele Beobachter bezweifeln sogar, dass für die Spiele selbst eine Verbesserung erreicht werden kann.
Was den gesamten Bereich der Menschenrechte anbelangt, so fällt die Bilanz gemischt aus. Dass China für die Olympischen Spiele sämtliche Missstände beseitigt und für den umfassenden Schutz der Menschenrechte sorgt, konnte ohnehin niemand erwarten. Die Entwicklungen in diesem Bereich verlaufen in China nicht gradlinig und schon gar nicht schnell - jedenfalls nicht so schnell, wie dies im Westen gefordert wird. In den vergangenen Jahren gab es einige Fortschritte, die aber nicht unbedingt mit den Olympischen Spielen zusammenhängen. Der wichtigste ist das neue Arbeitsgesetz, das am 1. Januar 2008 in Kraft trat und das deutlich mehr Schutz für die Arbeiter, einschließlich der Migranten, vorsieht. Hier wird es davon abhängen, wie weit die neuen Regelungen tatsächlich auch zur Anwendung kommen. Ein weiterer, gerade aus europäischer Sicht wesentlicher Punkt betrifft die Todesstrafe, die in China für zahlreiche Vergehen verhängt wird, wobei auch die Prozessführung (Rechte der Verteidigung etc.) und das mangelhafte Berufungsrecht im Zentrum westlicher Kritik stehen. Seit 2007 müssen Todesurteile wieder vom Obersten Gericht bestätigt werden, was offenbar zu einem Rückgang der Todesurteile und Hinrichtungen geführt hat. 3
Eine Reihe von Restriktionen, die im Vorfeld der Spiele eingeführt wurden, wie beispielsweise Einschränkungen bei der Visumsvergabe, wird möglicherweise wieder fallen, wenn die Spiele erst einmal vorüber sind. Dies gilt auch für die schärferen Kontrollen für Flüge nach China. Es geht den Veranstaltern hier zum Teil auch um legitime Sicherheitsanliegen und nicht in jedem Fall um repressive Maßnahmen. Das amerikanische Außenministerium hat am 25. April 2008 wegen der Gefahr terroristischer Anschläge eine Reisewarnung für die Olympischen Spiele erlassen, die bis Ende Oktober gelten soll.
Was außenpolitische Aktivitäten mit Blick auf Sudan und Birma anbelangt, so wird sich China voraussichtlich weiter engagieren, allerdings von der bisherigen Vorsicht und ablehnenden Haltung gegenüber Sanktionen durch die Vereinten Nationen nicht abgehen. Auch in diesen beiden Fällen stellt sich die Frage, welche Rolle die Olympischen Spiele tatsächlich für Chinas Engagement gespielt haben. Denn Peking hat in den vergangenen zwanzig Jahren in seiner Haltung zur internationalen Ordnung und zu Friedenseinsätzen der Vereinten Nationen einen Wandel von Ablehnung über Duldung hin zu aktiver Unterstützung durchlaufen und stellt mittlerweile von den fünf Ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates die meisten Truppen, häufig Techniker und medizinisches Personal, bei UN-mandatierten Einsätzen weltweit.
Sehr viel schwieriger zu beurteilen sind die längerfristigen Wirkungen der gewandelten Wahrnehmung auf westlicher und auf chinesischer Seite. In Europa war die Medienberichterstattung zuletzt schon überwiegend negativ geprägt: Nachdem bis in die ersten Jahre dieses Jahrhunderts vor allem die wirtschaftlichen Reformerfolge gepriesen und die Menschenrechtsverletzungen kritisiert wurden, erschienen seit 2004/05 gehäuft Artikel, die den Aufstieg Chinas zur Weltmacht, die Schattenseite der chinesischen Modernisierung (Energie- und Ressourcenhunger, Umweltzerstörung) und die Herausforderung westlicher Wettbewerbsfähigkeit und westlicher Werte durch China zum Thema hatten. Insofern trafen die Berichte über die Proteste der Tibeter und Chinas Umgang damit auf einen gut vorbereiteten Boden. Können die Olympischen Spiele in Peking diesem Negativimage, das sich mittlerweile zumindest in Europa verstärkt hat, das positive Bild eines modernen, weltoffenen und toleranten Landes entgegenstellen? Die chinesische Reaktion auf die westliche Kritik an seiner Tibet-Politik und die anti-chinesischen (und pro-tibetischen) Proteste am Rande des Fackellaufes bestand von offizieller Seite in der Zurückweisung jeder Einmischung in innere Angelegenheiten und Gegendarstellungen zu den teilweise wirklich verzerrten westlichen Berichten. Bei einem Teil der Bevölkerung kam es zu einer nationalistischen Gegenreaktion, die sich insbesondere im Internet Luft machte, aber auch beispielsweise in Boykottaktionen gegen die französische Ladenkette Carrefour.
Das Jahr 2008, in dem China mit den Olympischen Spielen die Erfolge von dreißig Jahren Reform- und Öffnungspolitik feiern wollte, erwies sich von Beginn an als ein sehr schwieriges: Schneekatastrophen zum chinesischen Neujahr, die höchste Inflation seit Jahren, gewaltsame Demonstrationen in Tibet, der Ausbruch einer bei Kindern tödlich verlaufenden Viruserkrankung und ein schweres Erdbeben im Südwesten des Landes. Die Vorzeichen deuten nicht unbedingt auf Spiele, die der Vision von "eine Welt, ein Traum" entsprechen. David Shambaugh hat in einem Artikel in der "International Herald Tribune" zwischen zwei Arten von Nationalismus in China unterschieden und die Frage gestellt, welche dieser beiden Varianten während der Spiele zum Vorschein kommen wird: ein engstirniger, xenophober, defensiver Nationalismus, der sich aus Chinas historischer Erfahrung der Erniedrigung durch die westlichen Kolonialmächte ("Jahrhundert der Erniedrigung") speist, oder ein selbstbewusster und kosmopolitischer, der stolz auf die in den vergangenen dreißig Jahren erreichten Fortschritte ist. 4 Die Antwort wird davon abhängen, wie es im Vorfeld der Spiele weitergeht, und vor allem natürlich davon, wie die Spiele selbst ablaufen werden. Es ist beispielsweise durchaus vorstellbar, dass die Kombination von einigen Demonstranten, etwa Anhängern der in China verbotenen Sekte Falun Gong, Ordnungskräften und internationalen Fernsehkameras zu einem Desaster eskaliert. Gelegenheiten und mögliche Auslöser für Zwischenfälle gibt es mehr als genug.
Neben der Variante einigermaßen erfolgreicher Spiele mit "normalen" Pannen sind im Wesentlichen zwei extremere Szenarien denkbar: erstens, die Olympischen Spiele werden tatsächlich noch zu dem von Peking erhofften großartigen Erfolg. Dies könnte entweder dazu führen, dass die Führung an Selbstsicherheit gewinnt und zum Beispiel weitere Lockerungen bezüglich Medienfreiheit einräumt bzw. solche weiter gelten lässt. Es ist aber auch denkbar, dass der dadurch ausgelöste Schub an Selbstbewusstsein China zu einem noch schwierigeren Partner macht, der sich Kritik von außen verbittet und international weniger zur Kooperation bereit ist. Zweitens, sollten die Spiele von einzelnen westlichen Staaten boykottiert werden oder zu einem PR-Desaster für China werden, dann wäre dies für die chinesische Führung (und einen Teil der Bevölkerung) nicht nur eine gewaltige Enttäuschung, sondern könnte zur Folge haben, dass man sich in dem Verdacht bestätigt sieht, die westlichen Industrienationen (im Bunde mit ihren Medien) wollten China an seinem Aufstieg und Modernisierungserfolg hindern. Eine solche Interpretation klang im Zusammenhang mit der Störung des Fackellaufes und den Boykottdrohungen schon an. Wie die chinesische Führung damit dann umgeht, wird wesentlich davon abhängen, wie zum einen die eigene Bevölkerung - insbesondere in den urbanen Zentren - auf einen solchen Misserfolg reagiert und welche Signale zum anderen von außen (und nicht nur vom Westen!) kommen. Es ist nicht auszuschließen, dass die chinesische Führung dann durch eine harte Haltung oder gar einen riskanteren Kurs nach außen versucht, Legitimität nach innen wiederzugewinnen.
1 Vgl. die
deutsche Fassung des Briefes auf der Webseite der Chinese Human
Rights Defenders, "Eine Welt, ein Traum" und allgemeine
Menschenrechte, in:
http://crd-net.org/Article/Class9/class97/200710/2007
1023031940_6077.html (7. 5. 2008).
2 Nach Angaben der chinesischen Seite
sind 40 000 Menschen in Peking insgesamt umgesiedelt worden, davon
2000 für Olympiabauten (so der Direktor der Pekinger
Baukommission) - Kompensation sei ausreichend gewährt worden,
neue Wohnungen zur Verfügung gestellt. Dagegen gibt das Center
on Housing Rights and Evictions (COHRE) in Genf die Zahl wesentlich
höher an: 13 000 monatlich, bis zu 1,5 Millionen insgesamt im
Zusammenhang mit den Spielen. Vgl. Associated Press, 5. 12.
2007.
3 Es gibt allerdings nach wie vor nur
Schätzungen über die Zahl der Todesurteile, da die
chinesische Seite keine Angaben dazu veröffentlicht.
4 Vgl. David Shambaugh, China's
competing nationalisms, in: International Herald Tribune vom 5. 5.
2008.