Gefühle spielen bei demokratischen Entscheidungen eine viel wichtigere Rolle, als wir bisher geglaubt haben. In der politischen Theorie wird Gefühlen indes kein hoher Stellenwert zugewiesen. Die Demokratie vertraut auf die Verstandeskraft der politischen Akteure. Homo rationalis, das ideale Subjekt der neuzeitlichen Sozialwissenschaften, symbolisiert einen Menschen, der seine Gefühle und Neigungen weitgehend im Griff hat und sich von "zweckrationalen" Erwägungen leiten lässt. Dieses Bild eines rein rational denkenden und handelnden Menschen ist durch die neuen Erkenntnisse der Hirnforschung widerlegt worden. Die alte Forderung der Politik, Gefühle zu unterdrücken und den Verstand walten zu lassen, ist nach Auffassung von Neurobiologen rein physiologisch nicht möglich.
Denn in Wirklichkeit sind Verstand und Gefühl immer untrennbar miteinander verwoben. Das Gefühl ist in das Denken eingebunden. Daher ist die Frage, ob ein Verhalten rational oder emotional zu begründen sei, falsch gestellt: Es besteht kein Verdrängungs- oder Wettbewerbsverhältnis zwischen Verstand und Gefühl, sondern ein Ergänzungsverhältnis. Es geht nicht um die Dualität von Verstand und Gefühl, von ratio und emotio, sondern vielmehr darum, welches Gefühl die Bedingung der Möglichkeit der jeweiligen rationalen Entscheidung ist und diese fördert. Die Mechanismen der Rationalität vermögen ohne Gefühle nicht zu funktionieren. Emotionale Regungen leiten uns jede Sekunde, auch wenn wir politisch rational entscheiden und handeln.
Im Bereich der Emotionsforschung kam der Durchbruch etwa Mitte der 1990er Jahre mit der Entwicklung der bildgebenden Methoden der neurobiologischen Forschung. Seither können Wissenschaftler die dynamischen Prozesse im Gehirn eines gesunden, lebenden Menschen bildlich erfassen und ihm sozusagen beim Denken zusehen. Der Emotionsboom in der Neurobiologie beeinflusst auch andere Bereiche der Wissenschaft.
Im alltäglichen Sprachgebrauch sind Emotionen und Gefühle identische Begriffe. Unter dem Mikroskop der kognitiven Neurowissenschaft sind Emotionen Akte oder Bewegungen, die sich größtenteils öffentlich und sichtbar abspielen und von kurzer Dauer sind, während Gefühle als andauerndes Phänomen immer verborgen und an erster Stelle für ihren Besitzer erkennbar sind. Emotionen treten auf der Bühne des Körpers auf, Gefühle auf der Bühne des Geistes. 1
Die Ökonomie als Mutterdisziplin der Rationalitätskonzepte stand vor allen anderen Sozialwissenschaften in Wechselwirkung zur Hirnforschung. Die Tatsache, dass Ökonomen manche Verhaltensweisen des Menschen in wirtschaftlichen Entscheidungssituationen nicht erklären konnten, obwohl die Theorien in anderen Situationen stimmig waren, hat die Arbeitsgruppe um den Neurowissenschaftler Jonathan D. Cohen aus Princeton zu einer Reihe von Experimenten veranlasst, die in der Literatur als Ultimatum-Spiel bekannt ist. Ihre Untersuchungen haben die wichtige Rolle der emotionalen Prozesse bei scheinbar rein rationalen Entscheidungen deutlich gemacht. Die bildgebenden Verfahren zeigen während des Experiments, wie z.B. das Gefühl, ungerecht behandelt zu sein, die Schmerzzentren im Gehirn der Versuchspersonen aktiviert und diese zu rational nicht erklärbaren Verhaltensweisen veranlasst. Die neue Behavioral Finance kann heute das Verhalten von Menschen am Kapitalmarkt besser erklären als jede strenge Rationalitätstheorie.
Emotionale Regungen besitzen vor allem Erklärungskraft bei Kursschwankungen und ökonomischen Krisen. Die Verleihung des Nobelpreises für Ökonomie im Jahre 2002 an zwei Pioniere der verhaltensorientierten Wirtschaftswissenschaft, Daniel Kahneman von der Universität Princeton und Vernon Smith von der George-Mason Universität in Virginia, ist ein Beweis dafür. Die Preisträger haben experimentell erklärt, warum Wirtschaftssubjekte ständig vom Gebot der Rationalität abweichen, wie sich der Mensch seine komplizierte Umwelt handhabbar macht und wie er dabei die Gesetze der Ökonomie in den Wind schlägt. Seither bezweifeln viele Wirtschaftswissenschaftler den Sinn ihres eigenen rationalistischen Wirtschaftssubjekts, welches seit Adam Smith ihre Theorien geprägt hat. Der homo oeconomicus, das Menschenbild der Rational-Choice-Theorien, zeigt sich nur noch als eine Momentaufnahme im Leben eines Menschen. Nur manche Menschen in manchen Situationen entscheiden nach Rationalitätskriterien.
Mit dem Menschenbild verändern die Ökonomen allmählich ihre Weltsicht. Auf diesem Gebiet hat die Revolution bereits begonnen. Welche Konsequenzen würde dieser Perspektivenwechsel für die politische Theorie und Praxis haben - unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass die politische Theorie sich seit dem 17. Jahrhundert am rationalen Menschenbild der Wirtschaftswissenschaft orientiert?
Eine rationale Entscheidung (rational choice) läuft nach folgendem Schema ab: Das Gehirn eines "normalen", intelligenten und gebildeten Erwachsenen stellt sich rasch Szenarien denkbarer Reaktionsmöglichkeiten mit entsprechenden Ergebnissen vor. Er untersucht dann die Szenarien und unterzieht jede einzelne einer Kosten-Nutzen-Analyse, um seine Vorteile zu maximieren. In der Regel steht mehr als eine Alternative zur Verfügung. Selbst wenn es nur zwei Wahlmöglichkeiten gäbe, wäre die Abschätzung der Vor- und Nachteile nicht leicht, weil das genaue Ausmaß der unmittelbaren und zukünftigen Gewinne oder Verluste kaum erkennbar ist. Dafür müssen die Größenordnung und der zeitliche Rahmen abgeschätzt werden können. Diese Überlegungen münden in eine komplizierte Berechnung, die verschiedene imaginäre Zeiträume erfasst und zu Verästelungen führt. Es ist schwierig, die vielen Gegenüberstellungen von Verlusten und Gewinnen, die man vergleichen möchte, im Gedächtnis zu behalten. Das Gehirn verliert die Spuren, sobald sie sich verzweigen. Selbst wenn wir Papier und Bleistift bereitstellen, können schlussfolgernde Strategien fehlschlagen. Eine Kosten-Nutzen-Rechnung bei komplexen Entscheidungen wird logischerweise viel Zeit in Anspruch nehmen, weit mehr, als etwa einem Manager meist zur Verfügung steht.
In der Realität folgen die Wirtschaftssubjekte kaum den oben genannten Schritten und entscheiden selten nach dem Modell der rationalen Erwartungen. Trotzdem trifft das menschliche Gehirn in der Wirtschaft und im Alltag ständig komplexe Entscheidungen - und zwar in kurzer Zeit, manchmal sekundenschnell. Die Tatsache, dass solche raschen Beschlüsse nicht unbedingt fehlschlugen und ab und zu von Erfolg gekrönt waren, führte die Verhaltensforscher zu der Überlegung, es könnte eine andere Erklärung geben.
Die Ergebnisse neuer Experimente in der Hirnforschung deuten auf folgende Abläufe bei einem Entscheidungsprozess hin: Die Schlüsselelemente einer Entscheidung entfalten sich in unserer Vorstellung gleichzeitig und so schnell, dass Einzelheiten nur schwer herauszuarbeiten sind. Bevor ein erwachsener Mensch mit rationalen Überlegungen beginnt und die Prämissen einer Kosten-Nutzen-Analyse unterzieht, geschieht ein wichtiger Vorgang in seinem Gehirn. Anhand einer Reihe von Experimenten beschreibt Antonio Damasio, einer der bedeutendsten Hirnforscher der Gegenwart, das Geschehen wie folgt: 2 Sobald die unerwünschten Ergebnisse, die mit einer gegebenen Reaktionsmöglichkeit verknüpft sind, in unserer Vorstellung auftauchen, bekommen wir, wenn auch ganz kurz, eine unangenehme Empfindung, ein Gefühl im Bauch. Dieses Gefühl lenkt die Aufmerksamkeit auf die negativen Folgen, die eine bestimmte Handlung nach sich ziehen würde. Die Empfindung im Bauch wirkt wie ein automatisches Warnsignal und bewegt den Handelnden zu Vorsicht und Unterlassen der gedachten Alternative. Das negative automatische Signal wirkt wie eine Bremse und schützt uns vor Verlusten. Zugleich schalten wir zu anderen Alternativen, die uns vorteilhaft erscheinen.
Das Gehirn hat gewiss die Möglichkeit, im Nachhinein eine Kosten-Nutzen-Analyse durchzuführen. Diese erfolgt aber erst, nachdem die Gefühle - die auf Erfahrungen und Lernprozessen beruhen - bereits aufgetreten sind und die Zahl der Wahlmöglichkeiten erheblich reduziert haben. Diese Gefühle nehmen uns nicht das Denken ab, sondern helfen dem Denkprozess, indem sie die negativen Wahlmöglichkeiten sofort ins rechte Licht rücken und diese aus allen weiteren Überlegungen ausklammern.
Die Einsicht, dass Politik als lebendiges soziales Geschehen mit all jenen Gefühlen konfrontiert ist, die wir als Menschen tagtäglich erleben, ist so alt wie die Politik selbst. Neu ist: Die Gefühle sind in rationale Entscheidungen eingebunden und als Antrieb für diese unerlässlich. Diese revolutionäre Erkenntnis stellt nicht nur unser neuzeitliches Verständnis von Rationalität in Frage. Die gesamte politische Geschichte könnte mit Blick auf die Erkenntnisse der Emotionsforschung in ein neues Licht gerückt werden. Wie wir mit Gefühlen in der Politik umgehen, ist bislang eine eher verschwiegene Sache, obwohl kein Zweifel daran besteht, dass Gefühle "kulturelle Stile" bis hin zum kulturellen Selbstverständnis ganzer Gesellschaften prägen.
Das Einbeziehen der Emotionen in die Forschung stellt die Politikwissenschaft vor eine Reihe offener Fragen: Was waren die treibenden Gefühle bei der Begründung der Staatsformen in der Antike, im Mittelalter und in der Neuzeit? Welchen Einfluss haben Angst, Hass, Machtgier, verletztes Ehrgefühl, Zorn usw. auf den Ausbruch von Kriegen und Konflikten? In welche Gefühle sind die Theorien des Konservatismus, des Liberalismus und des Sozialismus eingebettet? Welche Gefühle stehen im Einklang mit demokratischer Rationalität?
Die Geschichte der freiheitlichen Ordnung begann nicht nur mit revolutionären Ideen, sondern auch mit Leidenschaften und spezifischen Gefühlen. Während der Renaissance entstand der Gedanke, Religion und Philosophie seien nicht mehr in der Lage, die destruktiven Leidenschaften des Menschen zu zähmen. Dem absolutistischen Staat der Frühen Neuzeit kam die Aufgabe zu, Affekte, Laster, Gemeinheiten und Egoismen seiner Bürger unter Kontrolle zu bringen und law and order herzustellen. Für Thomas Hobbes, den Theoretiker des Absolutismus, standen "Angst" und "Selbsterhaltungstrieb" im Mittelpunkt seiner Überlegungen. Die liberalen Theoretiker gingen hingegen nicht mehr von der pessimistischen Anthropologie der Epoche der Bürgerkriege aus, sondern von einem optimistischen Fortschrittsglauben. Ihr leitendes Motiv war es, das "Wohlergehen" und die "Zufriedenheit" des Individuums zu sichern. Affekte und Leidenschaften des Menschen sollten nicht unterdrückt, sondern eingespannt und für das Gemeinwohl nutzbar gemacht werden.
Die europäische Aufklärung weist dem Verstand eine besondere Stellung zu. Die Realisierung der natürlichen Triebe, Affekte und Leidenschaften gewinnen dabei eine grundsätzlich positive Qualität. In der Literatur dieser Epoche taucht der neue und positive Begriff "Interesse" auf. Er wird den "Leidenschaften" der Menschen, die oft als negativ und unberechenbar galten, gegenübergestellt. Ein gründliches Studium der Schriften von politischen Denkern des 17. und 18. Jahrhunderts - etwa John Locke, Montesquieu und Immanuel Kant - macht die starke Leitung ihrer Ideen durch freiheitliche Gefühle deutlich. Die zentralen Begriffe der liberalen Demokratie, die das Repertoire der politischen Sprache bilden, "Wohlfahrt", "Freiheit", "Gleichheit", "Gerechtigkeit", "Brüderlichkeit", "Solidarität" und "Würde des Menschen", haben starke emotionale Komponenten. Schon lange bevor diese Ideen ihren rechtlichen Ausdruck in den demokratischen Verfassungen fanden, waren sie bei den Wegbereitern der demokratischen Verfassungen leidenschaftlich wirksam. Der Wunsch nach Freiheit setzte die Idee der Gleichwertigkeit aller Menschen voraus, und dies war ohne bindende Gefühle der Brüderlichkeit und der Solidarität nicht denkbar. Erst durch die rechtliche Konkretisierung dieser Wünsche war der abstrakte Begriff der "Würde des Menschen" realisierbar. Die emotionale Bindung an diese Prinzipien veranlasste die Vorkämpfer der freiheitlichen Ordnung, die Risiken einer repressiven und absolutistischen Herrschaft auf sich zu nehmen.
Die politischen Theoretiker der nachfolgenden Generationen haben Emotionen aus ihren Theorien ausgeklammert, obwohl ihre Wirksamkeit an verschiedenen Stellen der politischen Schriften nachweisbar ist. Der Grund liegt in der Tradition des abendländischen Denkens, welche Emotionen hauptsächlich als Störfaktoren im Denken und Handeln des Menschen betrachtet. Selbst Psychologen haben sich lange kaum um die Emotionen gekümmert. Fühlen und Denken, Emotion und Kognition, Affekt und Logik sind in der Psychologie als Gegensatzpaare isoliert untersucht worden und nicht in ihrem regelhaften Zusammenwirken.
Die Dualität von Verstand und Gefühl und die geringe Wertschätzung von Emotionen in der abendländischen Kultur beruht wahrscheinlich auf der Tatsache, dass der triebhafte und zerstörerische Anteil der Gefühle einen Störfaktor für den Verstand und den Fortschritt bilden. Erst die Überwindung der Affekte als Antagonisten der Vernunft könne den Menschen zu einer höheren Form des Daseins als ein Kulturwesen aufwerten. Nur die ratio sei in der Lage, den Menschen aus dem drohenden Meer der Ungewissheit zu retten und zur Insel der Sicherheit zu führen.
Seit einigen Jahren sind wir in den westlichen Demokratien Zeugen einer Verschiebung des politischen Systems: von der Parteien- zur Mediendemokratie. Dieses Phänomen wird von manchen als Mediokratie bezeichnet. Die Politik wird in einer Mediendemokratie zunehmend von den Medien inszeniert. Inhalte lösen sich immer mehr in der Form der Darstellung und im theatralischen Auftritt auf. Die Medienwelt, die unsere Wirklichkeit konstruiert, folgt anderen Gesetzen als Rationalitätskriterien. Ihr Erfolgsrezept lautet: Maximierung von Emotionen und Erregungen, damit die Show ein Höchstmaß an Spannung gewinnt. Da die Politik sich zunehmend an den Funktionsmechanismen des Medienbetriebs orientiert, ist die Auseinandersetzung mit der Rolle von Emotionen in der Demokratie dringender denn je.
Die grundlegende Stilmittel der Medienberichterstattung lauten: Personalisierung, Emotionalisierung und Dramatisierung. Eine bestimmte Politik wird mit einer bestimmten Person verbunden. Die Wähler nehmen schließlich die Person an Stelle des politischen Programms wahr. Politische Auseinandersetzungen und Wahlkämpfe werden durch Emotionen bestimmt. Gefühle wie Hass, Neid, Eifersucht, ebenso Mitleid werden ins Spiel gebracht, um das Interesse der Wählerinnen und Wähler zu erwecken. Wirkungsvoll erscheint eine Inszenierung dann, wenn das Element der Dramatisierung ins Spiel kommt. Die Emotionen steigern sich beim Kampf starker Kontrahenten. In einer Ereignisdemokratie sucht die Medienöffentlichkeit nach dramatischem Stoff.
Die tatsächlichen Probleme der Politik, Transnationalisierungsprozesse, die nationale Regierungen zunehmend vor Handlungsprobleme stellen und die Grundlagen jedweder Politik verändern, die exponentielle Zunahme der kommunikativen, wirtschaftlichen, ökologischen und politischen Verflechtungen, die Delegation von Souveränität und Kompetenzen an supranationale Organisationen, die den Handlungsspielraum der nationalen Regierungen minimiert, sind offenkundig keine interessanten Themen für die Mediengesellschaft.
Die Medien als die mit Abstand wichtigste Informationsquelle gestalten Stimmungen und Einstellungen der Bürger. Der Einfluss von Medienberichten auf Politik(er)verdrossenheit ist mittlerweile unbestritten. Dieser unscharfe Begriff steht für die Zusammenfassung verschiedener negativer Haltungen gegenüber der Politik: Uninteressiertheit, Distanz, Ablehnung. Empirische Studien sind zu vielsagenden Ergebnissen gelangt: Menschen, die aus Massenmedien viele negative Informationen über Politik erhalten, ändern ihre Urteile über Politik zum Negativen - unabhängig von der tatsächlichen Ereignislage. Dagegen ändern Menschen, die im gleichen Zeitraum viele positive Informationen erhalten, ihre Meinung nicht zum Positiven. 3
Die Mediatisierung von Politik und der damit verbundene Systemwandel werden von der Mehrheit der Experten mit Skepsis beobachtet und als Gefährdung der Demokratie dargestellt. Hochmütig weisen viele Wissenschaftler auf die Gefahren der Entsachlichung und Vereinfachung der Politik durch Medien hin. Volksverdummung, Ausverkauf der Politik an den Markt und eine Showmaschinerie,die zur Verblendung der Wähler führe, seien Verfallszeichen der Mediendemokratie. 4
In der Demokratietheorie spielen die Medien nur eine periphere Rolle. Zur Legitimationsbasis des demokratischen Systems gehört der rationale Prozess der Willensbildung mit Hilfe der politischen Parteien, die eine faire Auseinandersetzung mit der Sache in den Mittelpunkt stellen, obwohl sie von Interessenstandpunkten geprägt sind. Dem gegenüber steht das Bild der rational denkenden und handelnden Bürger, die sich im Diskurs an Themen des öffentlichen Interesses beteiligen und sich weitgehend unabhängig ihre Meinung bilden. Gerade dieses Menschenbild verliert durch die empirischen Befunde der Hirnforschung seine Relevanz.
Eine der tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen der Gegenwart ist nach Auffassung kritischer Beobachter der Rationalitätsverlust des öffentlichen Diskurses. In diesem Zusammenhang ist das Einbeziehen der Emotionsforschung in die politischen und politikwissenschaftlichen Diskussionen unerlässlich. Sie öffnet neue Untersuchungsfelder und bietet Möglichkeiten zur Erweiterung und Stabilisierung der Demokratie in der Mediengesellschaft.
Der Bewertungsmaßstab zur politischen Emotionsforschung darf jedoch nicht der Neurowissenschaft entnommen werden. Ein disziplinär eigenständiger Maßstab scheint im Rahmen der politischen Theorie sinnvoller und für die politische Praxis gewinnbringender zu sein. Die Neurobiologie liefert bedeutende Impulse, um eine vernachlässigte Dimension des menschlichen Verhaltens, Emotionen und Gefühle, in die Theorie und Praxis aufzunehmen und dadurch die Aussagekraft der Theorien zu steigern. Für die Politik ist das Phänomen der Emotionen nicht als solche interessant, sondern jeweils in Verbindung mit politischer oder politikwissenschaftlicher Diskussion unter Berücksichtigung des Grundsatzes, dass alle rationalen oder scheinbar rationalen politischen Phänomene in Emotionen und Gefühle eingebunden sind. Die Aufgabe der Forschung könnte darin bestehen, die begleitenden Emotionen oder Gefühle ausfindig zu machen und über ihre Verträglichkeit mit rationalen Prozessen Aussagen zu treffen. Die Forschungsfragen werden wahrscheinlich in theoretischen und empirischen Feldern unterschiedlich ausfallen. Für eine Reihe von politikwissenschaftlichen Teilbereichen ist die Auseinandersetzung mit der Rolle von Emotionen und Gefühlen dringend notwendig.
Wahlforschung. Offensichtlich sind Umfragen der Forschungsinstitute unter den neuen Rahmenbedingungen kaum mehr geeignet, gültige Voraussagen über das Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger zu treffen. Die Wahlforschung geht in der Regel von rationalen Überlegungen der Befragten aus. Da die Parteien sich aber immer weniger voneinander unterscheiden, wird es für die Bevölkerung schwieriger, die komplexen Zusammenhänge der Politik sachlich zu beurteilen. Deshalb werden Wahlentscheidungen immer stärker nach emotionalen Kriterien getroffen. Die klassische Demoskopie ist immer weniger in der Lage, die tatsächlich handlungsrelevanten Kriterien zu erfassen. Wähler ändern immer schneller ihre Meinungen. Welche Emotionen sollen in der Wahlforschung berücksichtigt werden? Wie verhalten sich die Rationalität und Emotionalität der Wahlbürger zueinander? Wie kann eine Dissonanz der beiden Faktoren Rationalität und Emotionalität vermieden werden, damit das Wahlvolk nicht irrational handelt? Wo liegen die Grenzen der Emotionalisierung von Wahlkämpfen? Wie kann die Plausibilität der Demoskopie gesteigert werden, ohne dabei die Grundsätze demokratischer Wahlen zu verletzen?
Extremismusforschung. Rechtsextremist ist nach verfassungsrechtlicher Lesart, wer zu Nationalismus und Rassismus neigt und ein autoritäres politisches System mit der Ideologie der "Volksgemeinschaft" anstrebt. Ein Linksextremist sieht das Grundübel in der kapitalistischen Liberalgesellschaft. Der demokratische Staat und seine Institutionen seien Ausdruck eines von Rassismus und Faschismus geprägten Kapitalismus, den man stürzen könne, ja müsse. Eine nähere Auseinandersetzung mit Verhaltensweisen von Extremisten zeigt deutlich, wie intensiv und radikal die Emotionen in dieser Bevölkerungsgruppen wirksam sind. Die Extremismusforschung könnte theoretischen und praktischen Gewinn aus der Rezeption der Emotionsforschung ziehen.
Demokratieforschung und politische Bildung. Wenn ein Ergänzungsverhältnis zwischen Verstand und Gefühl besteht, stellt sich die Frage: Welche Gefühle sind für das rationale Handeln in der Demokratie förderlich? Die Auseinandersetzung mit den Gefühlen, die demokratiefördernd sind, und diejenigen, die sie schwächen werden, könnte eine Aufgabe der politischen Emotionsforschung sein. Besteht eine Assoziation und ein Ergänzungsverhältnis zwischen pro-demokratischem Gefühl und rationaler Entscheidung - so lautet die schlussfolgernde These dieses Beitrages -, dann ist das politische Handeln demokratisch. Wenn diese Assoziation fehlt, werden die Handlungen in letzter Konsequenz demokratiefeindlich sein. Hinter vielen politischen Konflikten und Skandalen wie Korruption, welche auch in demokratischen Gesellschaften keine Seltenheit sind, steckt oft eine Dissonanz von Gefühl und Verstand. Eine bewusste Schulung der Gefühle könnte zur Stabilität der Demokratie beitragen, besonders in einer Zeit des Umbruchs und der Mediatisierung der Politik.
Bildungsprozesse sind der Rationalität verpflichtet. Eine Aufgabe der politischen Bildung ist die Befähigung der Bürger zu rationaler Urteilsbildung. Politische Bildung heißt nicht nur, politische Vorgänge und Prozesse zu verstehen und den Sinn verfassungsrechtlicher Regelungen zu erkennen. Zu demokratischer Kompetenz gehören Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, die Fähigkeit zur Übernahme anderer Perspektiven, Konfliktfähigkeit, Empathie, die Fähigkeit, Toleranz zu üben und mit Regeln umzugehen.
Die primäre Sprache, die ein Mensch lernt, ist die Sprache der Gefühle, eine globale Sprache im Vergleich mit der logischen Sprache, die er später erlernt. Gefühle helfen uns in der Kommunikation mit anderen Menschen, um mit ihnen adäquat umzugehen. Das menschliche Denksystem hat sich im Laufe der Evolution als Erweiterung des automatischen Gefühlssystems entwickelt, schreibt Damasio. Gefühle übernehmen dabei verschiedene Funktionen im Denkprozess. Sie können zum Beispiel die Auffälligkeit einer Prämisse verstärken und dadurch die Schlussfolgerung zugunsten dieser Prämisse verschieben. Gefühle helfen, so Damasio, diejenigen Tatsachen im Bewusstsein präsent zu halten, die es bei einer rationalen Entscheidung zu berücksichtigen gilt. 5
Wie die Emotionsforschung zeigt, bilden Gefühle das Substrat vorangegangener Erfahrungen, früherer Auseinandersetzungen und überdauernder Wertvorstellungen. Sie liefern daher eine plausible Grundlage für das Handeln. Unser Organismus und unsere Psyche lernen schnell und nachhaltig durch starke emotionale Erfahrungen. Diese Mechanismen können schon in frühkindlicher Erziehung und im Schulalter eingesetzt werden, um demokratische Verhaltensweisen spielerisch-emotional zu lernen und zu verinnerlichen.
Welche Gefühle sollen in Verbindung mit demokratischen Tugenden erlernt werden? Dazu einige Anregungen.
Partizipation. Ganz oben auf der Skala der demokratischen Werte steht die aktive Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Sie setzt jedoch Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen voraus: Mut haben, Wirkung entfalten und Verantwortung übernehmen. Alle diese Gefühle sollten ganz früh in der Familie und später in der Schule entwickelt und gefördert werden.
Solidarität. Das Zusammengehörigkeitsgefühl von Individuen oder Gruppen in einem Sozialgefüge äußert sich in gegenseitiger Hilfe und Unterstützung. Wer Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft nicht in der Kindheit erlebt und praktiziert hat, wird im Erwachsenenalter kaum in der Lage sein, solidarisch zu handeln.
Gerechtigkeit und Fairness. Gerechtes Handeln setzt eine Reihe von Gefühlen voraus, z.B. sich in andere hineinversetzen zu können, die Bereitschaft zu teilen, Gleichwertigkeit zu empfinden, Verschiedenheit oder Pluralität zu akzeptieren. Gerecht zu urteilen ist eine Tugend, die sorgsam erlernt werden muss.
Fähigkeit zur Teamarbeit. Menschen handeln in der Regel nach Schemata, die sie im Laufe ihrer Sozialisation entwickelt haben. Wie sie andere sehen, einschätzen und mit ihnen umgehen, verläuft nach einem bestimmten Muster. Wer in seiner Entwicklung ein Freund-Feind-Schema erworben hat, teilt die Menschen in gute oder schlechte ein. Mit "Feinden" ist Kooperation und selbst Kommunikation problematisch. Konkurrenzkampf nimmt nach diesem Schema oft undemokratische Züge an.
Demokratiefeindliche Gefühle. Die Palette der emotional-undemokratisch gesteuerten Dynamiken ist groß: Neid, Wut, Hass, autoritäre Machtausübung, beleidigter Rückzug, Geltungssucht, Rivalität, Kooperationsweigerung, Seilschaften. Die Demokratietheorie setzt sich konzeptionell stillschweigend gegen solche Gefühle ein, die dem Menschen den Verstand rauben, ohne aber eigens auf diese einzugehen.
Der Hirnforschung kommt das Verdienst zu, unser Verständnis von der Rationalität und der Gestaltungskraft der Gefühle erweitert zu haben. Die Tatsache, dass Gefühl und Kalkül eng miteinander verknüpft sind und daher gemeinsam zu berücksichtigen seien, wenn politisches Handeln verständlich werden soll, findet zunehmend Zugang in die politische Literatur.
Strategien zu entwickeln, um demokratienützliche Gefühle zu fördern und demokratiefeindliche Emotionen zu dämpfen, ist nicht nur eine individuelle Pflicht, sondern auch eine epistemologische Aufgabe.
1 Vgl. Eva Maria
Engelen, Gefühle, Stuttgart 2007, S. 8 ff.; Antonio R.
Damasio, Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben
bestimmen, Berlin 2006, S. 38.
2 Vgl. Antonio R. Damasio, Descartes'
Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, Neuauflage,
Berlin 2006, S. 237f.
3 Vgl. Marcus Maurer,
Politikverdrossenheit durch Medienberichte: Eine Paneluntersuchung,
Konstanz 2003.
4 Vgl. Thomas Meyer, Mediokratie. Die
Kolonisierung der Politik durch die Medien, Frankfurt/M. 2001;
Andreas Dörner, Politainment. Politik in der medialen
Erlebnisgesellschaft, Frankfurt/M. 2001.
5 Vgl. A. R. Damasio (Anm. 2), S.
IV.