Deutschland hat in den ersten drei PISA-Studien unterschiedlich gut abgeschnitten. 2000 und 2003 erreichte es ein Ergebnis im Mittelbereich der OECD-Staaten, 2006 schloss es in der internationalen Rangfolge zum vorderen Viertel auf und ließ sogar das hochangesehene Schweden hinter sich. Insgesamt ist durch die PISA-Studien eine lebhafte bildungspolitis c h e D e b a t t e i n Deutschland angestoßen worden. Diese Debatte ist zum Teil hilfreich, zum Teil aber auch überzogen und wird für andere Zwecke instrumentalisiert. Zuletzt wurde PISA vor allem sozialpolitisch diskutiert. "Bildung ist die soziale Frage des 21.Jahrhunderts", so heißt es. Das ist richtig. Zugleich gilt: Sozial ist, was Arbeitsplätze erhält beziehungsweise neu schafft. Bildung ist dabei ein wichtiges - wenngleich nicht das einzige - Vehikel zur Verbesserung von Chancen. Eine formal höhere Bildung kann individuelle Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern, sie verschärft aber zugleich den Konkurrenzkampf. Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch wundert sich daher nicht zu Unrecht, dass manche Politiker auf Bildung setzen, dabei aber übersehen, dass nur eine Minderheit in den Genuss des Aufstiegs kommen könne.
Gleichwohl hat Bildung eine bedeutende soziale und eine mindestens gleichberechtigte personale Dimension. Bildung ist Zweck und Mittel der Persönlichkeitsentwicklung. Nur durch Bildung können sich Menschen zu mündigen Mitgliedern eines freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Gemeinwesens entwickeln. Bildung sollte deshalb nicht zum bloßen Vehikel von Sozialpolitik werden. Höchst bedenklich wäre aber auch eine völlige Indienstnahme der Bildung durch die Wirtschaftspolitik, denn eine fortschreitende Ökonomisierung der Bildung könnte dazu führen, dass "unrentable" Bildungsangebote gerade zulasten sozial Schwächerer wegrationalisiert würden.
Im Kontext mit PISA gibt es in Deutschland einen leidenschaftlichen Streit um Gerechtigkeit. Das ist zwar gut, aber nicht unproblematisch. Denn bei der Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse gilt es zwei Prinzipien zu beachten: das Prinzip Gleichheit und das Prinzip Freiheit. In Reinform praktiziert, bedeutet Gleichheit Vereinheitlichung und Gleichmacherei; Freiheit pur bedeutet Überleben der Stärksten. Es kann also weder das eine noch das andere Paradigma einziger Maßstab sein. Denn Freiheit ohne Gleichheit wäre ein Laisser-faire-Libertarismus, und Gleichheit ohne Freiheit wäre Kollektivismus. Insofern kann es gerade in einem freiheitlich-demokratischen Rechts- und Sozialstaat immer nur um einen Ausgleich zwischen Freiheit und Gleichheit gehen. Beide sind auf der Basis von Subsidiarität und Solidarität durchaus vereinbar, erst daraus erwächst Gerechtigkeit.
Das Spannungsverhältnis von Gleichheit und Freiheit bleibt jedoch nicht aufhebbar: Sind die Menschen frei, dann wollen sie gleich sein; und sind sie gleich, so wollen sie frei sein. Deshalb gilt nach wie vor, was Goethe sagte: "Gesetzgeber oder Revolutionäre, die Gleichheit und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Scharlatane". Die Gefahr, die hinter der vermeintlichen Unvereinbarkeit von Freiheit und Gleichheit lauert, ist freilich, dass das Prinzip Freiheit schwieriger zu wahren ist. Bereits Alexis de Tocqueville hat 1835 warnend darauf hingewiesen: Freiheit erliege gern der Gleichheit, weil Freiheit mit Opfern erkauft werden müsse, während Gleichheit ihre Genüsse von selbst darbiete. Am Ende sei den Menschen die Gleichheit in Knechtschaft lieber als die Ungleichheit in der Freiheit.
Bezogen auf Schulbildung lautet die Frage also: Soll ein Schulwesen am Prinzip Freiheit oder am Prinzip Gleichheit orientiert sein? Hier ist der Freiheit eindeutig der Vorrang zu geben, denn Gleichheit total wäre der Tod der Individualität. Und haben wir uns erst einmal der Gleichheit verschrieben, so fangen wir auch über Erziehung und Bildung an, Unterschiede abzuhobeln. Dem aber steht entgegen, was der Berliner Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth kürzlich in einem Interview zum Ausdruck brachte: "Die Beseitigung der Ungleichheit durch Bildung ist ein kollektives Missverständnis (...) Schule ist ein System der Erzeugung von Differenz und nicht von Gleichheit." 1
Die "conditio humana" kennt keine Gleichheit. Menschen kommen unterschiedlich auf die Welt. Wer völlige Chancengleichheit will, müsste sie entmündigen. Beim Start in die Bildungslaufbahn sollten -abgesehen von den Genen - alle die gleichen Chancen haben, gleiche Zielchancen kann es aber nicht geben. So äußert sich auch der Begabungsforscher Christopher Jencks, dessen Klassiker von 1972 "Inequality" betitelt ist (und der in Deutschland bezeichnenderweise unter dem Titel "Chancengleichheit" auf den Markt kam). Bereits bei Jencks findet sich auch die Feststellung: Chancengleichheit durch Bildung sei eine Illusion, denn selbst wenn Bildung am Ende gleichmäßig verteilt wäre, würden doch andere Unterschiede durchschlagen: familiäre Förderung, Begabung usw. Was den Faktor Begabung betrifft, so mag es heute politisch nicht mehr korrekt sein, davon zu sprechen. In manchen Diskussionen ist aus Begabung eine "vermeintliche Begabung" geworden. Wissenschaftlich haltbar ist eine solche Diktion nicht. Denn die Forschung hat seit mehreren Jahrzehnten eindeutig nachgewiesen, dass 70 Prozent des kognitiven Potentials durch Erbfaktoren bestimmt sind.
Gerade in Wahlkampfzeiten haben Bindestrich-Gerechtigkeiten Konjunktur: etwa Generationen-, Geschlechter-, Umwelt-, Leistungs-, Renten-, Einkommens- oder Verteilungs-Gerechtigkeit. In diesem Katalog nimmt die so genannte Bildungsgerechtigkeit seit etwa 2001 eine prominente Stellung ein. Obgleich der Zusammenhang zwischen Schulleistung und sozialer Herkunft keine neue Einsicht ist, erheben in der Folge manche Bildungspolitiker und Bildungsforscher - da es angeblich gerechter ist - die Forderung nach einem egalisierenden Bildungswesen. Was dabei unter dem Titel "Gerechtigkeit" implizit und explizit mit aufgelegt wird, mutet wie eine Verschwörungstheorie an: Akademiker würden Kinder von Nicht-Akademikern von höherer Bildung ausschließen und von höheren Bildungsabschlüssen abhalten wollen. Vertreter der oberen Dienstklassen hätten Angst vor einer nivellierenden Masse und legten deshalb Wert auf Exklusivität, auf Privilegienhierarchien, auf Status- und Kultur-Reproduktion, auf einen ausgrenzenden bürgerlichen Bildungskanon sowie auf die Monopolisierung spezieller materieller und kultureller Güter. Es wird zudem behauptet, PISA habe bewiesen, dass Bildung vom Geldbeutel der Eltern abhänge. Dabei hat PISA das Einkommen der Eltern gar nicht erfassen können, sondern nur das Vorhandensein "kultureller Besitztümer" (gemeint sind vor allem Bücher).
In solcher Rhetorik schwingt ein gewisser antibürgerlicher Affekt mit, der sich aus der Tatsache speist, dass Heranwachsende nun einmal einen Vorsprung haben, wenn sie über Distinktion, Lebensstil, Habitus und Bildungsehrgeiz verfügen. Hier wird gelegentlich sogar das Evangelium bemüht - konkret der so genannte Matthäus-Effekt: "Wer hat, dem wird gegeben. Wer aber nicht hat, vom dem wird genommen." Dass in der Bildung niemandem etwas genommen wird und - so er es denn hat - genommen werden kann, scheint dabei keine Rolle zu spielen.
Absolute Gerechtigkeit bleibt auch in Fragen von Erziehung und Bildung ein irrationales (metaphysisches) Ideal. In der Bildung kann es keine egalisierende Gerechtigkeit im Sinne eines "Jedem das Gleiche" geben, weil Individualität damit blockiert würde. Überhaupt geht es in der Bildung nicht um Verteilungsgerechtigkeit im Sinne von Chancenverteilung, sondern um Chancennutzung. Aber Chancen sind keine Garantien. Zu konkreten Optionen werden sie erst durch eigene Anstrengung. Die Menschen müssen Agenten ihrer eigenen Interessen sein können. Die Motivation dazu ist freilich zum Teil wiederum eine Frage der Schichtzugehörigkeit und der Bildung. Der Soziologe Pierre Bourdieu hat dazu festgestellt: Selbst bei einer Inflation an höheren Bildungsabschlüssen bleiben traditionelle Privilegien bessergestellter Familien erhalten ("Bildungsparadoxon"). Auch eine Studie von 2007 zeigt, dass sogar eine Korrelation zwischen den Bildungsabschlüssen der Großeltern- und der Kindergeneration besteht. Das heißt: Viele Bildungsaufstiege sind über die Generationen hinweg nicht nachhaltig. 2 Da Bildung per se kein knappes Gut ist, kann sie nicht den einen genommen und den anderen gegeben werden. Es ist zudem nicht vertretbar, die Chancen bestimmter Gruppen zu verbessern, indem man andere Gruppen bremst. Aus diesem Grund verbieten sich übrigens auch Quotierungen.
Zugleich gilt: Vermeintliche Gleichheit könnte allenfalls durch Absenkung des Anspruchsniveaus erzielt werden. Wer aber die Ansprüche senkt, der bindet gerade junge Menschen aus schwierigen Milieus in ihren "eingeschränkten Codes" fest. Derartige Gleichmacherei würde nur zu einer gefühlten Gerechtigkeit führen, nach dem Motto: Was nicht alle können, darf keiner können.
Der Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich August von Hayek hat dazu Bedenkenswertes festgestellt: Die Politik der Chancengleichheit erhöhe massiv den bürokratischen Aufwand, und sie sei zugleich illusionär, weil kein Bildungssystem imstande sei, Chancen nach Begabung und Leistung gerecht zu verteilen. Der Staat müsste, falls Chancengleichheit hergestellt werden solle, Chancen zuweisen und so Freiheiten beschneiden. Das Ergebnis wäre nicht mehr Gerechtigkeit für alle, sondern nur eine andere Verteilung mit neuen Benachteiligungen. Es gebe überhaupt nie gleiche Chancen, weil die Talente verschieden seien und die Ressourcen der Bildung sowohl genutzt als auch verpasst werden könnten. 3
Zur Frage sozialer Ungleichheiten im Bereich Bildung ist in PISA 2000 im internationalen Vergleich nachzulesen: "Es gelingt keinem Teilnehmerland, Schülerleistungen von der sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler zu entkoppeln (...) Die disparitätserzeugenden Effekte von familiären Strukturmerkmalen werden überwiegend durch die kulturelle Praxis von Familien vermittelt." Auch 2006 erreichten Schüler aus Familien mit höherem sozioökonomischem Status tendenziell bessere PISA-Kompetenzwerte. Dieser Zusammenhang sei besonders eng in Tschechien, Luxemburg, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und Belgien, besonders gering in Kanada, Mexiko, Island, Finnland, Korea und Japan. Deutschland liegt hier im OECD-Mittelfeld. Am ausgeprägtesten ist die soziale Selektivität des Bildungswesens in Ländern mit flächendeckendem öffentlichem Einheitsschulsystem und kostspieligen Privatschulen. In Japan schicken zwei Drittel der Eltern ihre Kinder auf eine private Nachhilfeschule, oder sie heuern einen Privatlehrer an. In England, Frankreich und in den USA geben Eltern ihre Kinder auf eine Privatschule, sofern sie sich die zehn- bis dreißigtausend Euro Schulgeld pro Kind und Jahr leisten können.
Allein vor diesem Hintergrund trifft die Behauptung nicht zu, ein gegliedertes Schulwesen wie in Deutschland sei ein sozial besonders selektives Schulwesen. Soziale Selektivität gibt es eben in allen nationalen Schulsystemen. Dort, wo es sie auf dem Papier nicht gibt, werden Studienberechtigungen nahezu flächendeckend vergeben. Viele internationale Vergleiche der "Abitur- und Akademikerquoten" sind statistische Artefakte, denen - nach dem Prinzip "upgrading of certificates and downgrading of skills" - eine Gleichsetzung von Quote mit Qualität zugrunde liegt. Statistische Artefakte sind auch die Angaben über die so genannte "soziale Durchlässigkeit". Wenn zum Beispiel die Tochter eines finnischen Hafenarbeiters Krankenschwester wird, gilt sie - da mit Hochschulstempel ausgestattet - als Beleg für die ausgeprägte soziale Durchlässigkeit des dortigen Schulwesens; wenn in Deutschland die Tochter eines Fließbandarbeiters Krankenschwester wird, gilt sie - da ohne Hochschulstempel - als Beleg für die mangelnde soziale Durchlässigkeit des deutschen Bildungswesens.
Frankreich mag mit einer 80-prozentigen "Abitur"-Quote als besonders sozial durchlässig wahrgenommen werden. Staatspräsident Nikolas Sarkozy sieht das jedoch anders: Aus dem "collège unique" sei ein "collège inique" geworden. (Aus dem einheitlichen Collège sei ein ungerechtes Collège geworden.) Hintergrund für seine Klage ist die Tatsache, dass in Frankreich 65 Prozent der Studierenden ihr Studium abbrechen. Eine Quotenpolitik kann also nicht die Lösung sein. Denn dann müssten Frankreich mit 80 Prozent baccalauréat général und Italien mit 80 Prozent maturità viel reicher sein als Deutschland, das laut Statistischem Bundesamt eine Studienberechtigtenquote von 43Prozent hat (Stand: 2006). Zugleich müsste die Schweiz mit einer gymnasialen Maturitätsquote von knapp 20 Prozent und einer Berufsmaturitätsquote von 12 Prozent (vergleichbar mit FH-Reife) ein ärmeres Land als Deutschland sein. Ein wichtiges sozialpolitisches Kriterium wird ebenfalls häufig übersehen, nämlich das Ausmaß an Jugendarbeitslosigkeit. Hier haben oft sogar PISA-Vorzeigeländer mit Gesamtschulsystemen eine Quote von um die 20 Prozent - Finnland und Schweden etwa. In Ländern mit gegliederten Schulsystemen und dualer Berufsbildung dagegen sind es um oder unter zehn Prozent: in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz.
Chancengleichheit ist über das Bildungswesen nicht herstellbar. Daran ändert kein PISA-Schock etwas. Auch der so genannte Sputnik-Schock von 1957 hat in den USA trotz größter Anstrengungen nicht zu einer weitreichenden und nachhaltigen Mobilisierung von "Begabungsreserven" geführt. Falsch ist auch die Behauptung, durch die Integrierte Gesamtschule könne ein sozialer Ausgleich stattfinden. In einer Langzeitstudie von 2008 wurde nachgewiesen, dass der Besuch einer Gesamtschule keineswegs verbesserte soziale Aufstiegsmöglichkeiten schafft. Unabhängig von der besuchten Schulform zeigte sich zugleich, dass 25 Prozent der damaligen Neuntklässler zu höheren Abschlüssen gekommen sind, als es das Abschlussziel der zunächst besuchten Schulform war. 4 Es gibt also keinen Abschluss ohne Anschluss. Zugleich bleibt für die vergangenen drei Jahrzehnte für Deutschland festzuhalten: Durch die Verlängerung der Pflichtschulzeit, durch mehr Beteiligung in höheren Bildungsgängen sowie durch sehr viele Schulgründungen gab es vielerlei positive Effekte, die den so genannten bildungsfernen Schichten zugute kamen. Wenn das deutsche Gymnasium immer nur die eigene Klientel reproduziert hätte, wie es manche Kritiker behaupten, dann hätte sich die Zahl der Gymnasiasten im gegliederten Schulwesen binnen 20 Jahren (von 1960 bis 1980) nicht um 150 Prozent erhöhen können. All dies sind Leistungen des herkömmlichen, gegliederten Schulwesens. Insgesamt gibt es in der Bundesrepublik heute rund 60 verschiedene Wege zu einer Hochschulreife. Die Anzahl der Hochschulen hat sich in 30 Jahren (von 1960 bis 1990) fast verdoppelt, die der Studentinnen und Studenten sogar versechsfacht. 5
Jedenfalls haben wir in Deutschland in den vergangenen Jahren eine eindeutige Entkoppelung von besuchter Schulform einerseits und dem höchsten formal erreichten Bildungsabschluss andererseits. Das heißt: Der Anteil der Studienanfänger, die nicht über den herkömmlichen Weg des Gymnasiums an die Hochschule kommen, ist immer größer geworden. In manchen Bundesländern hat er 50 Prozent überschritten und selbst in Bayern liegt er bei 44 Prozent. Nutznießer dieser Entwicklung sind vor allem Kinder aus bildungsfernen Schichten (kaum jedoch von Migranten). Gerade das berufsbildende Schulwesen in Deutschland bietet hier im Sinne vertikaler Durchlässigkeit nicht nur qualifizierte Ausbildung, sondern in erheblichem Maße Aufstiegsbildung. Allerdings findet trotz dieser Optionen oft immer noch eine Selbstselektion statt. Arbeiterkinder studieren, selbst wenn sie Abitur haben, zu einem geringeren Anteil als Kinder aus anderen Familien.
Zum Leistungsprinzip in der Schule gibt es keine gerechte Alternative. Wer es untergräbt, setzt zugleich eines der revolutionärsten demokratischen Prinzipien außer Kraft. In unfreien Gesellschaften sind Geldbeutel, Geburtsadel, Gesinnung, Geschlecht oder dergleichen die maßgeblichen Kriterien zur Positionierung eines Menschen im Gemeinwesen. Freie Gesellschaften haben an deren Stelle das Kriterium Leistung vor Erfolg und Aufstieg gesetzt: ein revolutionärer Fortschritt und die große Chance zur Emanzipation für jeden Einzelnen und jede Einzelne!
Auch Sozialstaatlichkeit ist nur mit dem Leistungsprinzip möglich. Ein simpler Beweis hierfür ist die Tatsache, dass 20 Prozent der besonders Leistungsfähigen für 70 Prozent des Steueraufkommens sorgen. Deshalb kann das Sozialprinzip auch nicht über das Leistungsprinzip gestellt werden, da es kein Leistungssubstitut ist. Das Sozialstaatsprinzip ist allerdings ein ethisch gebotenes, dem Leistungsprinzip immanentes Korrektiv. Verschiedenheit ist keine Ungerechtigkeit. Vielmehr ist nichts so ungerecht wie die gleiche Behandlung Ungleicher. Nur in totalitären Organisationen gibt es die eine, zeitlose Gerechtigkeit als Ausdruck einer - totalitären - Glückverheißung. Kinder und Jugendliche brauchen ein möglichst individuelles Anspruchs- und Herausforderungsniveau. Ein Einheitsanspruch aber würde individuelle Anstrengungsbereitschaft und Eigeninitiative bremsen.
Eine freiheitliche Gesellschaft muss mit Unterschieden leben. Soziale Unterschiede werden durch das Prinzip Solidarität abgepuffert. Es kann aber kein einklagbares Recht auf einen bestimmten Bildungsabschluss geben. Natürlich gibt es ein moralisches Recht auf Bildung. Damit muss freilich eine moralische Pflicht zur Bildung korrespondieren. Bildung und Wissen sind heute frei verfügbare Güter; Wissen hat zuletzt durch die neuen Medien (bei aller Problematik ihres Angebotsspektrums) eine Demokratisierung ohnegleichen erfahren. Bildung ist insofern kein Privileg mehr von wenigen. Man kann Bildungsabschlüsse jedoch nicht planwirtschaftlich-inflationär vergeben, und man kann niemanden zu echter Bildung zwingen. Bildungsbereitschaft staatlich anzuordnen wäre totalitär. Es kann also nur um Hilfe zur Selbsthilfe gehen und um eine Rückbesinnung darauf, dass die erste Bildungsverantwortung in der Familie liegt. Der Staat hat hinsichtlich des Bildungsangebots eine Bringschuld, die Eltern und ihre Kinder aber haben eine Holschuld. Wichtig ist es auch anzuerkennen, dass Fördern und Auslese zusammengehören. Leistung und Auslese sind zwei Seiten derselben Medaille. Auslese ist eine notwendige Voraussetzung für individuelle Förderung. Die antithetische Formel "Fördern statt Auslese" ist falsch. Es muss heißen: Fördern durch Differenzierung!
Eine Optimierung des Bildungsangebots im Interesse der sozial schwächeren Klientel ist gleichwohl möglich und ein Gebot der Fairness. Die Erziehungs- und Bildungsberatung muss in den Risiko-Populationen intensiviert werden. Damit kann ein Beitrag gegen die Selbstselektion dieser Familien geleistet werden. Vor allem muss es mehr als bisher gelingen, Angehörige bildungsferner Schichten im Falle eines entsprechenden Leistungsvermögens ihrer Kinder zum Besuch weiterführender Bildungseinrichtungen zu motivieren. Des Weiteren müssen dem Kindergarten und der Vorschule mehr Bedeutung beigemessen werden. Ohne die institutionalisierte frühkindliche Förderung überschätzen zu wollen - es ist notwendig, dass der (kostenfreie) Besuch des Kindergartens stärker auf Bildung als auf Betreuung ausgerichtet wird. Gerade für Kinder aus sozial schwächeren Elternhäusern ist ferner eine rechtzeitige Einschulung notwendig. Würden diese Kinder zu lange von der Schule zurückgestellt, blieben ihnen in prägenden Phasen wichtige Anregungen vorenthalten. Darüber hinaus sollten Schulen mit besonderen sozialen Problemlagen bevorzugt für die Jugendsozialarbeit geöffnet und als Ganztagsschulen betrieben werden. Für Risikoschüler, die im ersten "Anlauf" zu keinem Schulabschluss gekommen sind, sollte es außerdem die Chance eines zweiten "Anlaufs" geben.
Da Bildungsarmut vor allem männlich und multiethnisch geprägt ist, bedarf es schließlich speziell für diese Klientel zusätzlicher schulischer, vor allem sprachlicher Fördermaßnahmen. Notwendig ist aber auch eine Ordnungspolitik, die sanften Druck auf Eltern ausübt, damit ihre Kinder das vorhandene Bildungsangebot tatsächlich wahrnehmen. Der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) lag in dieser Hinsicht wohl nicht ganz falsch (und das gilt auch für so manches deutsche Elternhaus), als er im Sommer 2007 mit Blick auf Schulschwänzer mit Migrationshintergrund das Streichen von Kindergeld vorschlug: "Wenn ein Vater merkt, dass ihm 300 Euro fehlen, wenn Ayse und Murat nicht zur Schule gehen, haben die das letzte Mal geschwänzt."
Zum Schluss: Auch in der Bildungs- und Sozialpolitik sollte wieder vermehrt das Subsidiaritätsprinzip gelten. Die Bürger müssen die ihnen gebotenen Chancen eigenverantwortlich nutzen, bevor der Staat eingreift. Darüber hinaus sind - so ein Postulat von John Rawls - soziale Ungleichheiten so zu gestalten, dass sie jedermanns Vorteil dienen. 6 Insofern kann Ungleichheit gerecht sein - nämlich dann, wenn das Handeln von Eliten zu einem Mehrwert führt. Auch aus diesem Grund dürfen die Stärkeren nicht gebremst werden, denn man macht die Schwächeren nicht stärker, indem man die Stärkeren schwächt. Den Mitgliedern einer Gesellschaft, auch den gutsituierten, ist eine Kultur des Respekts gegenüber jedermann abzuverlangen - auch gegenüber den Klienten des Sozialstaates. 7 Der Mensch beginnt schließlich nicht erst mit Abitur ein Mensch zu sein.
1 In: Frankfurter
Allgemeine Zeitung (FAZ), vom 16.9. 2008.
2 Vgl. Pierre Bourdieu/Jean-Claude
Passeron, Die Illusion der Chancengleichheit, Stuttgart 1971;
diess., Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg 1997; Marek
Fuchs/Michaela Sixt, Zur Nachhaltigkeit von Bildungsaufstiegen, in:
Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,
59 (2007) 1, S. 1-29.
3 Vgl. Friedrich A. von Hayek, Die
Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971; ders., Illusion der
sozialen Gerechtigkeit, Landsberg 1981.
4 Vgl. Helmut Fend u.a., LifE -
Lebensläufe ins frühe Erwachsenenalter, Wiesbaden
2008.
5 1960: 131 Hochschulen/0,29 Millionen
Studierende; 1990: 248/1,58 Millionen; heute: 360/2,26 Millionen.
Vgl. Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (Hrsg.),
Grund- und Strukturdaten 1974; Bundesministerium für Bildung
und Forschung (Hrsg.), Grund- und Strukturdaten 2003/2004; dies.
(Hrsg.), Grund- und Strukturdaten 2007/2008, in:
http://gus.his.de/gus/download.html (10.11. 2008).
6 Vgl. John Rawls, Eine Theorie der
Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1975.
7 Vgl. Richard Sennett, Respekt im
Zeitalter der Ungleichheit, Berlin 2002; ders., Handwerk, Berlin
2007.