GRIECHENLAND
Die Bevölkerung hat das Vertrauen in die Regierung endgültig verloren. Der Ruf nach Neuwahlen wird immer lauter. Doch auch nach den letzten heftigen Unruhen sitzt die Führung die Krise aus
Irgendwann müssen endlich auch mal die ganz oben bestraft werden!" schreit Jannis Basdekas gegen die lärmenden Demonstranten an. "Der Schaden, den die Kinder angerichtet haben, ist doch nichts gegen die Milliarden, die sich Politiker, Staatsbeamte und Kleriker in prallen Koffern gegenseitig zuschieben!" Der Gymnasiallehrer läuft mit seinen Schülern mit, die seit der Erschießung des 15-jährigen Alexis Grigoropoulos am 6. Dezember durch einen Polizisten den "Widerstand" auf Griechenlands Straßen entdeckt haben. Basdekas distanziert sich zwar von der Gewalt der meist jugendlichen Extremen, die am Rande der friedlich angesetzten Demonstrationen Geschäfte, Wohnhäuser, Hotels, Ministerien und Straßenanlagen verwüstet haben. Aber verstehen kann der 39-Jährige die Wut schon. "Die Ermordung von Alexis war nur der Funken, der ein explosives Gemisch in Brand gesteckt hat. Wir sind ja in Griechenland an Skandale und Perspektivlosigkeit gewöhnt, aber was wir unter der Regierung Karamanlis erleben müssen, ist noch nie da gewesen".
Kostas Karamanlis ist nach Meinung vieler Griechen ohnehin nur an der Macht, weil es keine Alternative gibt. Als er 2004 mit seiner konservativen Nea Dimokratia die sozialistische PASOK nach fast 20 Jahren Regierungszeit ablöste, war die Hoffnung weit verbreitet, dass mit dem bis in die untersten Chargen der öffentlichen Verwaltung etablierten Parteifilz aufgeräumt werde. Doch auch Karamanlis machte das, was alle griechischen Regierungen vor ihm gemacht haben: Er tauschte "die Kinder der PASOK" in den Amtsstuben durch die eigenen aus, gebot der traditionellen Erwartung seiner Gefolgsleute von einem Staat als Selbstbedienungsladen keinerlei Einhalt in Richtung auf einen Bürgerstaat.
Schon kurz nach seiner Amtsübernahme platzte ein Schwindel um Staatsanleihen, die mit Millionen aus den Rentenkassen aufgelegt worden waren. Dass der Arbeitsminister unversicherte ausländische Hausangestellte beschäftigte, der Bauminister für seine Villa eine viel billigere Baugenehmigung als Würstchenbude beantragt hatte nahmen die Griechen noch hin - wie auch andere Peinlichkeiten. Dass aber der engste Vertraute von Karamanlis, der inzwischen zurückgetretene Regierungssprecher Theodoros Roussopoulos, in den Verdacht geriet, Immobilienspekulationen begünstigt zu haben, die den Steuerzahler Milliarden Euro gekostet haben sollen, ließ die Volksseele hoch kochen. Vor allem auch deswegen, weil die dubiosen Geschäfte ausgerechnet mit dem Abt eines Klosters der abgeschiedenen Mönchsrepublik Athos, eines jahrhundertealten Symbols griechisch-orthodoxer Tradition, abgewickelt worden waren. "Ich übernehme den Teil der politischen Verantwortung, der mir zukommt", räumte Karamanlis nach Vorlage des Berichts des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum Skandal ein, "werde aber keinesfalls die Kriminalisierung des öffentlichen Lebens zulassen." Im Klartext: Die Regierungspartei wird alles tun, um wieder einmal eine Untersuchung auf strafrechtliche Verantwortungen von Politikern zu verhindern.
Daher wird der Ruf nach Neuwahlen immer lauter. Die Regierung kann sich ohnehin nur auf eine Stimme Mehrheit im Parlament stützen, doch der Wille zum Aussitzen scheint beim Premier ungebrochen: "Hier bin ich und auch in Zukunft werde ich hier stehen", erklärte er seiner Fraktion. Karamanlis sei bewusst, dass er nach wie vor die beste Karte seiner Partei sei, so der angesehene Kommentator Pavlos Tsimas.
Nun aber könnten die Unruhen um die Erschießung des 15-jährigen Alexis tatsächlich das Ende der Regierung bedeuten. Denn in jüngsten Umfragen liegt ein neuer Kandidat vor Karamanlis und PASOK Führer Georgios Papandreou auf Platz 1: "Keiner". Dieser völlige Vertrauensschwund in einen Staat und seine Institutionen, der von den Mächtigen meist straffrei geplündert wird, ist die Erklärung dafür, dass die Mehrheit der griechischen Bürger auch angesichts der zerstörerischen Wut der Jugend nicht nach hartem Durchgreifen der Polizei ruft. Im Gegenteil, Eltern, Lehrer und sogar viele der geschädigten Geschäftsleute können nachvollziehen, dass sich die Jugendlichen um ihre Zukunft betrogen fühlen. Im Umfeld der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise treffen die Strukturschwächen der griechischen Politik gerade die Generation in der Ausbildung. Kaum ein Schüler kann darauf hoffen, die Aufnahmeprüfungen für die Universität zu bestehen, ohne dass seine Eltern teure Nachhilfeschulen bezahlen; ein System, in dem sich aber auch die Lehrer durchaus eingerichtet haben, sind sie doch an den schlechten staatlichen Schulen unterbezahlt und können so nachmittags an den privaten "Frontistiria" ein zweites Gehalt beziehen. Selbst ein Hochschulabschluss garantiert kein gesichertes Auskommen, schon gar nicht ohne die entsprechenden Beziehungen.
Jannis Basdekas verdient als noch junger Lehrer gerade einmal 1.100 Euro im Monat. Davon muss er seine arbeitlose Frau Agathi mitversorgen, die als technische Zeichnerin, wenn überhaupt, nur einen Job finden könnte, der ihr unter 1.000 Euro einbringt.
Die "Generation der 700 Euro-Empfänger" hat sich bereits in einer Bewegung formiert. Verbindet sie Hoffnungen mit einem möglichen Regierungswechsel? "Nein", sagt Agathi. "Was soll sich denn ändern, wenn dann einfach wieder die PASOK dran kommt? Wir hatten noch nie eine Koalitionsregierung, vielleicht wäre das ein Anfang. Jedenfalls brauchen wir hier etwas ganz Neues, etwas, was die Gesellschaft von ganz unten, an der Wurzel verändert. Und bei uns selbst müssen wir anfangen."