Teilhabe
Menschen mit Behinderungen gehören in die Mitte der Gesellschaft
Erwin Lotter, der behindertenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, konnte sich nur schriftlich ärgern: "Erneut wird heute nicht über die Belange behinderter Menschen parlamentarisch debattiert, sondern die Abgeordneten geben ihre Redebeiträge zu Protokoll", schreibt Lotter in seinem Beitrag zur Bundestagsdebatte über die berufliche Teilhabe behinderter Menschen am 18. Dezember. "Leider", so ergänzt er, "hat sich dieses Verfahren mittlerweile etabliert, selbst die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention wurde in diesem Hause nicht debattiert, sondern von den Regierungsfraktionen nur noch abgenickt."
Immerhin. Wenn auch zu später Stunde, so wurde der entsprechende Gesetzentwurf der Bundesregierung zur UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ( 16/10808) am 4. Dezember beschlossen. In seiner Sitzung am 19. Dezember, der letzten in diesem Jahr, stimmte auch der Bundesrat dem Dokument zu und macht damit den Weg frei, ja wofür eigentlich?
Fragt man die behindertenpolitischen Sprecher der Fraktionen, so müssen die Ziele, die die Vereinten Nationen dort formuliert haben, keineswegs in einer Sackkasse gut gemeinter Absichtserklärungen enden. An Klarheit nichts vermissen lässt die Konvention zum Beispiel in Bezug auf die Rechte behinderter Menschen in der Arbeitswelt. In Artikel 27 heißt es: "Die Vertragsstaaten erkennen das gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit an. Dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird."
"Der inklusive Gedanke wird mit der UN-Konvention klar vorangebracht. Das bedeutet, dass man Menschen erst gar nicht in die Gesellschaft zurückholen muss, weil man sie vorher gar nicht ausgeschlossen hat", stellt Hubert Hüppe, behindertenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion, fest.
Die Konvention sieht vor, einen sogenannten Vertragsausschuss einzurichten, der die Umsetzung des Übereinkommens in den Vertragsstaaten beobachtet. Zu den Kompetenzen des Ausschusses gehören auch das Individualbeschwerdeverfahren und das Untersuchungsverfahren. Und davon erhoffen sich die Experten der Fraktionen einiges. "Dadurch ist eine Klagemöglichkeit vorhanden, und wenn es, zum Beispiel beim Recht auf inklusive Beschulung, dort zu Musterprozessen kommt, hat das natürlich konkrete Folgen", hofft der Grüne Markus Kurth. Für seine Kollegin von der SPD, Silvia Schmidt, ist klar: "Wir müssen unser Schulsystem ändern. Kinder mit Behinderungen gehören in die Regelschule und damit in die Mitte der Gesellschaft."
Bisher gilt das deutschlandweit nur für 12 Prozent der behinderten Kinder. Die sogenannte "Mitte der Gesellschaft" hat momentan also kaum Kontakt zu Menschen mit Behinderungen, zu denen immerhin 8,6 Millionen Menschen in Deutschland gehören. Doch während barrierefreie Arbeitsplätze weiter die Ausnahme bleiben, boomen die Zahlen in den Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM): Die Zahl der Plätze stieg von 2001 bis 2006 um rund 16 Prozent, die Zahl der dort Beschäftigten stieg im gleichen Zeitraum um 23 Prozent. Das hat eine vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in Auftrag gegebene Studie erst im Oktober 2008 ermittelt. Heute arbeiten in diesen Werkstätten ungefähr 270.000 Menschen. "Diese besonders geschützten Einrichtungen bieten den Menschen natürlich eine gewisse Garantie, eine Sicherheit, die sie auch brauchen", so Markus Kurth über die Vorteile. Und dennoch: "Wir brauchen ein größeres Spektrum an Möglichkeiten. Wir müssen die Grenzen zwischen dem geschützten Bereich einer Werkstatt, den Modellen unterstützter Beschäftigung und dem allgemeinen Arbeitsmarkt durchlässiger machen." Ein erster Schritt sei mit dem "Gesetz zur Unterstützten Beschäftigung" schon getan, sagt Ilja Seifert von der Linksfraktion. Dieses Gesetz ( 16/10487), das der Bundestag im November beschlossen hatte, sieht die Förderung einer zweijährigen betrieblichen Qualifizierungsphase insbesondere für Schulabgänger aus Förderschulen vor. Worauf es nun aber ankomme, sei ein Umdenken auf breiter gesellschaftlicher Ebene, so Seifert: "Es ist ein Unterschied, ob der Staat sagt, die Menschen gehören in Sondereinrichtungen oder ob er den inklusiven Gedanken verfolgt, nämlich dass die Menschen in die Mitte der Gesellschaft gehören." Hier könne die UN-Konvention eines bewirken. "Wenn man sie nutzt, sagt Seifert, kann sie unglaublich viel Kraft entfalten."
Doch die Öffnung des Arbeitsmarktes für Menschen mit Behinderungen stößt nicht nur an Grenzen des guten Willens. Aus der Studie des BMAS geht hervor, dass zunehmend auch lernbehinderte Jugendliche in eine WfbM aufgenommen werden. Als ein Grund wird genannt, dass es zwar nach wie vor noch einfache Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt gebe, diese aber nicht mehr so häufig seien wie früher. "Einfache Arbeit ist zunehmend weniger reine 'Muskelarbeit', sondern wurde vom allgemeinen Trend der Bildungsexpansion und Höherqualifizierung erfasst", heißt es dort. Als Hindernis dafür, dass zahlenmäßig nicht mehr Übergänge von den WfbM auf den allgemeinen Arbeitsmarkt gelingen, nannten die für die Studie befragten Werkstätten, Sonderschulen und Arbeitsagenturen die Schere zwischen den Leistungsgrenzen der behinderten Menschen und der geringen Zahl an Einfach-Arbeitsplätzen. Diesen Trend bestätigt auch Angela Rauch vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg (IAB): "Es gibt immer weniger Arbeitsplätze im Bereich der Hilfs- und der einfachen Fachtätigkeiten. Damit entsteht ein Bedarf an Menschen mit hoher Qualifikation."
Dass das nicht automatisch ein Widerspruch zu einem Behindertenstatus sein muss, darauf verweist Hubert Hüppe: "In den WfbM wächst gerade der Anteil der psychisch Kranken enorm. Das sind aber zum Teil hochqualifizierte Leute, denen man zum Beispiel über die Finanzierung einer Arbeitsassistenz helfen könnte, Krisensituationen auch in einem regulären Arbeitsverhältnis zu bewältigen." Und sein Kollege von der FDP, Erwin Lotter, stellt fest: "Wir brauchen vor allem mehr Möglichkeiten, die Menschen entsprechend zu beraten. Da herrscht ein erheblicher Mangel."
Der Antrag der Grünen ( 16/11207) für ein Gesamtkonzept zur beruflichen Teilhabe behinderter Menschen beklagt, dass eine personenbezogene Förderung im Sinne einer Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts insbesondere bei Menschen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf noch zu selten realisiert wird. Statt dessen überwiege immer noch die Institutionenförderung. Im kommenden Jahr geht die Debatte darüber in den Ausschüssen weiter.