Kambodscha
Die schwierige Aufarbeitung der Terrorherrschaft der Roten Khmer steckt noch in den Anfängen
Wer zum ersten Mal mit der jüngeren Ge-schichte Kambodschas in Berührung kommt, für den bietet das Buch "Die Kinder der Killing Fields" einen breit gefächerten Überblick. Aber auch Kenner des südostasiatischen Landes stellen zu ihrer Überraschung fest, dass sie in nahezu jedem Kapital auf neue Tatsachen stoßen und mit bislang unbekannten Zusammenhängen konfrontiert werden. Der Autor Erich Follath, seit Jahrzehnten für das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" in Asien unterwegs, bringt zwei wichtige Voraussetzungen mit, um den Leidensweg des vom Terror der Roten Khmer heimgesuchten Landes journalistisch zu begleiten: Große Sachkenntnis und vor allem tiefes Einfühlungsvermögen.
Die Sympathie, die Follath für die Men-schen dieser traumatisierten Nation emp-findet, ist auch dann spürbar, wenn er sich um nüchterne Analyse bemüht. Analysen, die immer neue Fragen aufwerfen. Viele kann der Journalist beantworten, aber auch er muss kapitulieren, wenn es um die Frage aller Fragen in Kambodscha geht: Wie konnte ein ganzes Land unter die Knute der einen "Steinzeitkommunismus" predigenden Roten Khmer geraten, die zwischen 1975 und 1979 auf den "Killing Fields" fast ein Viertel der eigenen Bevölkerung, zwischen 1,7 bis zwei Millionen Menschen, umgebracht haben? Und wie pervertiert müssen Vertreter der Völkergemeinschaft gewesen sein, dass sie noch bis in die 90er Jahre hinein die Rebellen der Roten Khmer als legitime Vertreter des kambodschanischen Volkes anerkannt und ihnen bereitwillig die Tür zum UN-Glaspalast am East River geöffnet haben?
Dem Autor wird niemand widersprechen, wenn er schreibt: "Es ist nicht schwer, sich in dieses Land zu verlieben. Es ist vielmehr schwer, ja fast unmöglich, es nicht zu mögen". Und doch gibt es eine düstere, jahrhundertealte Prophezeiung der Götter - "tiefe Dunkelheit wird sich über die Menschen dieses Volkes legen. Das Land wird regiert werden von Barbaren, die keine Religion kennen. Und überleben werden nur die Stummen und die Tauben..."
Trifft schon der erste Teil der Prophezeiung zu, nämlich als Kambodscha Opfer von Ko-lonialismus, Fremdbestimmung und Viet-nam-Krieg wurde, so erfüllt sie sich am schrecklichsten während der Herrschaft der Roten Khmer. Es ist Follaths Ziel, diesen Albtraum nicht nur so akribisch wie möglich anhand der vorhandenen Quellen nachzuzeichnen. Er suchte darüber hinaus den persönlichen Kontakt zu den Protagonisten, oft unter schwierigsten Bedingungen. So traf er in Peking mit König Norodom Sihanouk, der schillerndsten Figur in der wechselvollen Geschichte Kambodschas, zusammen. Er interviewte einen der Brüder des Massenmörders Saloth Sar, der sich später Pol Pot nannte. Und er sprach mit Jacques Verges, dem "Advokat des Teufels", zu dessen Klienten schon Klaus Barbie, der Gestapo-Chef von Lyon, und der Topterrorist Ramirez Sanchez, besser bekannt als Carlos, gehörten. Derzeit verteidigt er das von den Roten Khmer eingesetzte Staatsoberhaupt Khieu Samphan, der sich vor dem internationalen Tribunal in Kambodscha wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten muss.
Follath hat die journalistische Gabe, kurze, sehr prägnante Reportagen, aber auch Rück-blicke auf die Geschichte des Landes an den Interviews entlang zu schreiben. So bleibt es nicht bei einem Frage- und Antwortspiel mit dem Ex-König. Der Journalist ordnet die Berichte und Bekenntnisse des exaltierten Sihanouk vielmehr in die schrecklichen Geschehnisse ein. Und er erfuhr im Interview mit Sihanouk, dass dieser den Aufstieg der Roten Khmer sogar gefördert hat, obwohl er ahnte, dass diese "den Menschen in eine Maschine verwandeln, aus der dann nach und nach alle menschlichen Werte herausgesaugt sind". Lebendiger kann Geschichte nicht vermittelt werden.
Dies gilt ebenso für das Gespräch, das Follath mit dem geheimnisvollen Staranwalt Verges führte, extravagant auch er. Verges, der die Führungsspitze der Roten Khmer seit Pariser Studientagen kennt, huldigt einer zynischen Weltanschauung ("Das Verbrechen ist das eigentliche Kennzeichen unserer Freiheit") und verteidigt mit Khieu Samphan einen der Hauptverantwortlichen des blutigen Regimes. Dass der mysteriöse Anwalt ausgerechnet während der Schreckensperiode der Roten Khmer Mitte der 70er Jahre wie vom Erdboden verschwunden war, lässt bis heute Raum für vielfältige Spekulationen. Follath bereichert die Variante, Verges habe sich im Dschungel bei den Rebellen aufgehalten, mit überzeugenden Hinweisen. Zurzeit ist Verges dabei, das Tribunal in Phnom Penh mit immer neuen juristischen Tricks aufzumischen, obwohl es um Verbrechen geht, die zu den schlimmsten des vergangenen Jahrhunderts zählen.
Der Autor geht auch der Frage nach, ob der erst vor einigen Wochen begonnene Prozess gegen die erste Riege der Roten Khmer nach so langer Zeit erfolgreich sein kann oder an den "Proporzregeln der Weltgemeinschaft" scheitern wird. Bereits 2006 wurden in Phnom Penh die Richter am Tribunal vereidigt, aber ein Urteil gibt es bis heute nicht. Erst nach jahrelanger Verzögerungstaktik war das Tribunal überhaupt zustande gekommen, wobei Ministerpräsident Hun Sen die Spielregeln diktierte: Das Tribunal müsse zwar international unterstützt, aber "im Rahmen des nationalen Rechts angesiedelt" sein. Mächtige Vertreter im Sicherheitsrat wie die USA und China hatten kein Interesse an dem Gerichtshof.
Abgesehen von korrupten Praktiken am Gerichtshof bleiben für Follath große Zweifel, ob die Verfahren auch positiv auf die kambodschanische Zivilgesellschaft ausstrahlen können. Seit das Tribunal installiert worden ist, reißt die Diskussion im Land über seinen Sinn und seine Erfolgsaussichten nicht ab, wie Follath beobachtet. Steht der hohe finanzielle Aufwand - bisher wurde eine Summe verbraucht, die fast einem Zehntel des kambodschanischen Staatshaushalts entspricht - überhaupt in Relation zum Ergebnis, das wahrscheinlich in der Verurteilung einiger alter Männer bestehen wird?
Der Ausgang des Prozesses werde nichts an der Tatsache ändern, dass vor allem in den abgelegenen Gegenden Kambodschas die Menschen nach wie vor mit ihren Peinigern werden leben müssen. Dies widerspricht den Zielen der Strafverfolger, der Periode der Gesetzlosigkeit in dem Land ein Ende zu bereiten. Eine vorläufige, gleichwohl deprimierende Bilanz.
Nicht nur die Kritik am Tribunal und seiner selbstformulierten Verfahrensordnung be-schäftigt den Autor, sondern auch die erst sehr spät begonnene Betreuung der traumatisierten Opfer, ihrer Angehörigen sowie der Zeugen. Er beleuchtet außerdem bisher noch nicht erfasste Verbrechen wie Zwangsverheiratungen und die noch völlig offene Frage der Entschädigung. Waren dies zunächst Tabuthemen für den internationalen Gerichtshof, so sind sie inzwischen wie der Geist aus der Flasche entwichen und könnten dem Tribunal eine völlig neue Richtung geben, was dem autokratisch regierenden Premier Hun Sen gar nicht gefallen würde. Die juristische Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit des Landes, daran lässt Follath keinen Zweifel, hat gerade erst begonnen.
Die Kinder der Killing Fields. Kambodschas Weg vom Terrorland zum Touristenparadies.
DVA, München 2009; 368 S., 19,95 ¤