34. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf Vorschlag der Fraktion der CDU/CSU soll der Kollege Klaus-Peter Willsch für eine weitere Amtszeit zum Mitglied des Kuratoriums des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung gewählt werden. Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Damit ist der Kollege Willsch erneut zum Mitglied dieses Kuratoriums gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD:
Haltung der Bundesregierung zur Ablehnung des bayerischen Gesundheitsministers Markus Söder, eine Kopfpauschale anstelle der bisherigen solidarischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung einzuführen
(wurde abgesetzt)
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD:
zur Antwort der Bundesregierung auf die Frage 1 auf Drucksache 17/1107
(siehe 33. Sitzung)
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Ergänzung zu TOP 28
a) Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Partei-Sponsoring transparenter gestalten
- Drucksache 17/1169 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Ulrich Maurer, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Parteien-Sponsoring im Parteiengesetz regeln
- Drucksache 17/892 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
Ergänzung zu TOP 29
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvG 1/10
- Drucksache 17/1192 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Siegfried Kauder
(Villingen-Schwenningen)
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 61 zu Petitionen
- Drucksache 17/1180 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 62 zu Petitionen
- Drucksache 17/1181 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 63 zu Petitionen
- Drucksache 17/1182 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 64 zu Petitionen
- Drucksache 17/1183 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 65 zu Petitionen
- Drucksache 17/1184 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 66 zu Petitionen
- Drucksache 17/1185 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 67 zu Petitionen
- Drucksache 17/1186 -
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 68 zu Petitionen
- Drucksache 17/1187 -
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 69 zu Petitionen
- Drucksache 17/1188 -
k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 70 zu Petitionen
- Drucksache 17/1189 -
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Konsequenzen aus den zahlreichen bekannt gewordenen Fällen sexuellen Missbrauchs in kirchlichen und weltlichen Einrichtungen
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Altschuldenentlastung für Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern
- Drucksache 17/1154 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technolgie
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Undine Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Tierversuchsrichtlinie muss ethischem Tierschutz Rechnung tragen - Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 Grundgesetz
- Drucksachen 17/792, 17/1208 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Heinz Paula
Dr. Christel Happach-Kasan
Alexander Süßmair
Undine Kurth (Quedlinburg)
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 13 und 17 sollen getauscht sowie die Tagesordnungspunkte 23 c, 28 f und 28 g abgesetzt werden. Darf ich auch hierfür Ihr Einvernehmen feststellen? - Das ist offenkundig der Fall.
Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 auf:
Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
Wahl des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages
- Drucksache 17/1160 -
Bevor ich etwas zum Ablauf der Wahl sage, möchte ich mich zunächst an unseren amtierenden Wehrbeauftragten, Reinhold Robbe, wenden.
Lieber Kollege Robbe, Sie blicken auf eine bald fünfjährige Amtszeit als Wehrbeauftragter des Bundestages zurück, so wie es das Grundgesetz vorsieht. In Ihrer Amtszeit haben Sie als Wehrbeauftragter im Auftrag des Bundestages einen wesentlichen Beitrag zur parlamentarischen Kontrolle der Bundeswehr als Parlamentsheer geleistet. Sie haben sich mit vielfältigen Aspekten der Bundeswehr befasst, den besonderen Bedingungen der Auslandseinsätze die angemessene Bedeutung beigemessen und in Ihren Berichten erforderlichen Korrekturbedarf bei von Ihnen festgestellten und monierten Fehlentwicklungen verdeutlicht.
Sie waren ein wichtiger Ansprechpartner für die Mitglieder des Deutschen Bundestages, insbesondere des Verteidigungsausschusses. Ansprechpartner waren Sie aber auch und ganz besonders für die Soldatinnen und Soldaten. Diese konnten sich in den vergangenen fünf Jahren darauf verlassen, dass ihre Sorgen und Nöte ernst genommen werden und der Wehrbeauftragte sich nicht scheut, berechtigte Anliegen vorzubringen und auf Verbesserungen zu drängen. Bei einem gemeinsamen Truppenbesuch konnte ich selber einen Eindruck von dem hohen Ansehen gewinnen, das Sie sich bei den Soldatinnen und Soldaten erworben haben.
Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Robbe, im Namen der Soldatinnen und Soldaten für Ihre Arbeit als Wehrbeauftragter danken, ganz besonders aber auch im Namen des ganzen Hauses, aller Mitglieder des Deutschen Bundestages.
Wir danken Ihnen für Ihre verdienstvolle Tätigkeit und wünschen Ihnen für den weiteren Lebensweg alles Gute!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun zur Wahl. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP haben den Abgeordneten Hellmut Königshaus als Wehrbeauftragten des Bundestages vorgeschlagen.
Ich darf Sie um Ihre Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfahren bitten:
Nach § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages sind zur Wahl die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, das heißt mindestens 312 Stimmen, erforderlich. Der Wehrbeauftragte wird mit verdeckten Stimmkarten, also geheim, gewählt. Sie benötigen für die Wahl Ihren Wahlausweis, den Sie, soweit noch nicht geschehen, Ihrem Stimmkartenfach entnehmen können. Bitte kontrollieren Sie, ob der Wahlausweis Ihren Namen trägt. Die für die Wahl gültige Stimmkarte und den amtlichen Wahlumschlag erhalten Sie von den Schriftführerinnen und Schriftführern an den Ausgabetischen neben den Wahlkabinen.
Um einen reibungslosen Ablauf der Wahl zu gewährleisten, bitte ich Sie, von Ihren Plätzen aus über die seitlichen Zugänge und nicht durch den Mittelgang zu den Ausgabetischen zu gehen. Nachdem Sie Ihre Stimmkarte in der Wahlkabine gekennzeichnet und in den Wahlumschlag gelegt haben, gehen Sie bitte zu den Wahlurnen vor dem Rednerpult.
Ich mache noch einmal darauf aufmerksam, dass Sie Ihre Stimmkarte nur in der Wahlkabine ankreuzen dürfen und die Stimmkarte ebenfalls noch in der Wahlkabine in den Umschlag legen müssen. Die Schriftführerinnen und Schriftführer sind verpflichtet, jeden, der seine Stimmkarte außerhalb der Wahlkabine kennzeichnet oder in den Umschlag legt, zurückzuweisen. Gegebenenfalls kann die Stimmabgabe vorschriftsmäßig wiederholt werden.
Dass die Stimmkarten nur mit einem Kreuz bei ?Ja?, ?Nein? oder ?enthalte mich? gültig sind, setze ich als allgemein bekannt voraus, weise aber ausdrücklich noch einmal darauf hin. Ungültig sind Stimmen auf nicht amtlichen Stimmkarten sowie Stimmkarten, die mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten.
Bevor Sie die Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis einem der Schriftführer an der Wahlurne. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann nur durch die Abgabe des Wahlausweises erbracht werden.
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Das ist offenbar der Fall.
Ich bitte, zum Empfang der Stimmkarte zu den Ausgabetischen zu gehen. Der Wahlgang ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Wahl und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Für die Auszählung unterbreche ich die Sitzung für etwa 15 Minuten.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz zu nehmen. Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen das Ergebnis der Wahl des Wehrbeauftragten bekannt: abgegebene Stimmen 579, ungültige Stimmen keine. Mit Ja haben gestimmt 375 Mitglieder des Bundestages,
mit Nein gestimmt haben 163 Kolleginnen und Kollegen, Enthaltungen gab es 41.
Gemäß § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages ist gewählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, also 312 Stimmen auf sich vereinigt. Ich stelle fest, dass der Abgeordnete Hellmut Königshaus mit der erforderlichen Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Deutschen Bundestages zum Wehrbeauftragten gewählt worden ist.
Ich frage Sie, Herr Kollege Königshaus: Nehmen Sie die Wahl an?
Hellmut Königshaus (FDP):
Herr Präsident, ich nehme die Wahl gerne an und bedanke mich.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Abgeordneter Königshaus, ich gratuliere Ihnen persönlich und im Namen des ganzen Hauses zu dieser Wahl und wünsche Ihnen Kraft, Erfolg und eine gute Hand bei der Führung Ihres Amtes.
Darf ich vorschlagen, dass wir im Interesse der zügigen weiteren Behandlung unserer Tagesordnung zum nächsten wichtigen Punkt kommen? Herr Kollege Königshaus, könnten Sie freundlicherweise die bemerkenswerte Reihe der Gratulanten entweder vertrösten oder an den Rand des Plenums geleiten?
Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 4 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, zwei Entschließungsanträge der Fraktion Die Linke sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Diese Debatte wird im Übrigen außer im Parlamentsfernsehen und in Phoenix auch im Hauptprogramm der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten übertragen,
was ich aus vielerlei Gründen ausdrücklich begrüße und mit Respekt registriere.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die schlimmste Weltwirtschaftskrise seit den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts stellt die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten weiter vor außerordentliche Herausforderungen. Hinzu kommen für uns alle die Aufgaben, die durch die zunehmende Alterung unserer Bevölkerung, den drohenden Klimawandel und einen sich zulasten Europas verschärfenden internationalen Wettbewerb entstehen. Es kann kein Zweifel bestehen: Europa und die 27 Mitgliedstaaten müssen ihre Anstrengungen weiter verstärken, um diese außerordentlich großen Herausforderungen meistern zu können. Es besteht aber auch kein Zweifel: Deutschland ist bereit dazu. Ich bin überzeugt: Deutschland ist in der Lage, seinen Beitrag für ein erfolgreiches Europa zu leisten.
Wir alle wissen: Kein Mitgliedstaat der Europäischen Union kann diese Aufgaben unserer Zeit im Alleingang bewältigen. Wir brauchen einander. Wer das nicht erkennt, der hat die einzigartige Erfolgsgeschichte der europäischen Einigungsidee nicht verstanden. Gemeinsam sind wir stärker.
Deshalb begrüße ich die Bemühungen der Europäischen Präsidentschaft und der Europäischen Kommission für eine neue europäische Wachstumsstrategie, die sogenannte Strategie EU 2020. Auf Eckpunkte dieser EU-2020-Strategie wollen wir uns heute und morgen in Brüssel einigen. Eine solche Strategie ist von großer Bedeutung, weil im Binnenmarkt die europäischen Volkswirtschaften in einer unauflöslichen gegenseitigen Abhängigkeitsbeziehung stehen. Wir erleben gerade in diesen Tagen schmerzlich, dass Fehler in der Wirtschaftspolitik einzelner Staaten zu beträchtlichen ökonomischen Verwerfungen insgesamt führen können. Umgekehrt haben wir in der Geschichte der Europäischen Union auch immer wieder erlebt, dass Strukturreformen in einzelnen Mitgliedstaaten sich gegenseitig bereichern können. Damit wirkt die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zum Wohle aller in der ganzen Europäischen Union.
Ich kenne die Einwände, die gegen die neue EU-2020-Strategie vorgebracht werden. Ich sage ausdrücklich: Ich nehme diese Einwände ernst, und ich weiß auch um die Defizite, die schon die sogenannte Lissabon-Strategie hatte. Vorneweg war eines dieser Defizite die fehlende Prioritätensetzung und damit verbunden eine mangelnde politische Verbindlichkeit. Wir haben in der Lissabon-Strategie zum Schluss sage und schreibe 25 quantitative Ziele gezählt. Hinzu kommt eine noch wesentlich größere Zahl an qualitativen Zielen. Am Ende sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Genau das wollen wir ändern.
Deutschland hat deshalb gefordert, für die neue EU-2020-Strategie den Zielkatalog deutlich zu reduzieren. Ich freue mich, dass Präsident von Rompuy jetzt ein Konzept zur Reform der Lissabon-Strategie auf den Tisch gelegt hat, das genau diesen Gedanken aufgreift.
Dennoch: Wir dürfen trotz aller Unzulänglichkeiten eines nicht vergessen: Viele der Reformen, die die Mitgliedstaaten in den Jahren vor der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise zur Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit durchgeführt haben, waren auch das Ergebnis eines Voneinander-Lernens, das Ergebnis genau dieser Lissabon-Strategie, die das Benchmarking eingeführt hatte und die uns immer wieder hat schauen lassen: Wie machen es andere?
Mit der neuen EU-2020-Strategie gehen wir zweierlei an: Einerseits übernehmen wir die Stärken der Lissabon-Strategie, und wir versuchen gleichzeitig, ihre Defizite zu beseitigen:
Erstens. Es werden nur noch einige wenige prioritäre Ziele gesetzt.
Zweitens - das ist vielleicht noch wichtiger -: Diese wenigen EU-Ziele sollen mit der Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Europas und der Förderung eines nachhaltigen Wachstums in direktem Zusammenhang stehen. Die Ziele sind also ausgerichtet auf die Zielstellung der Strategie.
Drittens. Für die Umsetzung dieser Ziele müssen die Staats- und Regierungschefs konkret die Verantwortung übernehmen.
Meine Damen und Herren, mit der EU-2020-Strategie wollen und werden wir die Innovationsfähigkeit Europas stärken. Man muss ganz nüchtern sagen: Der Anspruch der Lissabon-Strategie, dass wir der wettbewerbsfähigste und innovativste Kontinent schon bis 2010 sind, hat sich nicht erfüllt. Trotzdem bleibt das Thema Innovationsfähigkeit natürlich auf der Tagesordnung.
Deshalb unterstütze ich ausdrücklich den Vorschlag von Präsident Barroso, 3 Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben. In aller Bescheidenheit können wir hinzufügen: Deutschland ist wie schon in anderen Bereichen auch hier einer der Vorreiter in Europa. Wir werden auf der Bundesseite das 3-Prozent-Ziel sehr schnell erfüllen. Wir werden auch gesamtstaatlich daran arbeiten und haben uns vorgenommen, bis 2015 die Ausgaben für Bildung und Forschung auf 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern.
Es reicht nicht aus, wenn sich die Europäische Union das Ziel einer Beschäftigungsquote von 75 Prozent setzt, wie das jetzt geplant ist. Es müssen dazu natürlich auch die richtigen Maßnahmen getroffen werden. Das heißt, das 75-Prozent-Ziel können wir teilen. Aber wir müssen das Erreichte - Deutschland hat dieses Ziel im Wesentlichen erreicht - auch festigen und zukunftsfest machen. Deshalb geht es neben Forschung und Entwicklung auch darum, bestehende Beschäftigungshemmnisse zu beseitigen, indem wir zum Beispiel die Aufnahme einer regulären Arbeit für die Bezieher von Arbeitslosengeld II attraktiver ausgestalten wollen. Wir werden das innenpolitisch anpacken und auch damit einen Beitrag zur Stärkung Europas leisten.
Damit verbunden ist aber natürlich auch, dass diese Zielsetzungen - das zeigt sich an einem weiteren Ziel - auf die innere und spezifische Situation der Mitgliedstaaten ausgerichtet sein müssen. Jeder weiß: Gute Bildung für alle, das ist die Voraussetzung für eine hohe Rate qualifizierter Beschäftigung. Aber die Gegebenheiten in den einzelnen Mitgliedstaaten sind unterschiedlich. Ich kann und werde heute in Brüssel nicht einfach ein pauschales EU-Ziel zur Quote der Hochschulabsolventen unterstützen; denn wir müssen zum Beispiel darauf achten, dass die deutschen Berufsbildungsabschlüsse bestimmten Hochschulabschlüssen in anderen Mitgliedstaaten durchaus ebenbürtig sind. Das müssen wir miteinander vergleichen und dafür auch werben.
Deshalb teile ich an dieser Stelle ausdrücklich die Auffassung der Ministerpräsidenten der Länder: Hier gibt es noch Beratungsbedarf, und die Zeit dafür werden wir uns nehmen.
Dennoch bin ich optimistisch, dass wir uns auf europäischer Ebene auf ein vernünftiges Verfahren für ein Bildungsziel verständigen können, und zwar unter einer Voraussetzung: Es muss die spezifischen Gegebenheiten der einzelnen Mitgliedstaaten berücksichtigen.
Meine Damen und Herren, ich habe es schon oft gesagt und wiederhole es heute, weil man es nicht oft genug wiederholen kann: Niemals darf die große Herausforderung der Bewältigung der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise gleichsam als Ausrede dafür herhalten, andere große Herausforderungen in den Hintergrund treten zu lassen. Das muss auch für den heutigen EU-Rat vermieden werden, weil etwa die Erfüllung der Klima- und Energieziele der Europäischen Union keinen Aufschub duldet.
Der Strukturwandel in Richtung einer kohlenstoffarmen Wirtschaft muss konsequent vorangetrieben werden. Das hat dann natürlich auch einen ökonomischen Mehrwert; denn wenn wir in Europa diesen Strukturwandel frühzeitig einleiten und umsetzen, wird dies zu erheblichen Wettbewerbsvorteilen für unsere Industrie im globalen Wettbewerb führen. Wir müssen also - das muss uns leiten - unsere Chancen erkennen, und darüber hinaus gilt: Wir müssen diese Chancen dann auch konsequent gemeinsam nutzen. Deshalb unterstütze ich ausdrücklich den Vorschlag der EU-Kommission, die Erfüllung der vom Europäischen Rat unter deutscher Präsidentschaft beschlossenen Energie- und Klimaziele auch im Rahmen der EU-2020-Strategie zu verankern und voranzubringen.
Ich füge allerdings hinzu: Da die Wahrheit oft im Kleingedruckten steckt, wird Deutschland ein waches Auge auf die Diskussion haben, die in diesem Zusammenhang in der Europäischen Kommission im Anschluss an den Europäischen Rat zum Thema Energieeffizienz geführt wird. Deutschland nimmt die Verantwortung, die sich durch eine Vorreiterrolle für den Klimaschutz in Europa ergibt, weiterhin konsequent wahr. Einen wichtigen Impuls für Fortschritte in den internationalen Verhandlungen werden wir auch noch einmal mit der Ministerkonferenz des Bundesumweltministers für den Klimaschutz vom 2. bis 4. Mai in Bonn setzen.
Allerdings müssen wir auch darauf achten, dass sich die vereinbarten Maßnahmen in der Europäischen Union nicht gegenseitig widersprechen, sondern dass sie in sich konsistent sind. So kann man nach meiner Auffassung, wenn man sich zum Beispiel für den Zertifikatehandel entscheidet, nicht gleichzeitig Steuern und Ähnliches einführen. Das bringt kein konsistentes Bild in die gesamte Debatte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will Ihnen nicht verschweigen, dass es bei der Beratung der EU-2020-Strategie heute ein Thema geben wird, zu dem es von mir für ein quantitatives Ziel keine Unterstützung geben wird. Ich meine die Bekämpfung der Armut in Europa. Natürlich: Alle wollen Armut bekämpfen, niemand von uns findet sich mit ihr ab. Wir als Bundesregierung verfolgen das gemeinsam mit den die Regierung tragenden Fraktionen ganz konsequent. Außerdem gilt: Soweit die Armutsbekämpfung über mehr Wachstum erreicht werden kann, gehört sie in die neue europäische Strategie 2020. Aber - darum geht es mir - Armutsbekämpfung ist viel mehr als wirtschaftliches Wachstum. Sie ist eine sozialpolitische Aufgabe. Diese ist - ich erinnere an den Grundsatz der Subsidiarität - mit gutem Grund Angelegenheit der Mitgliedstaaten. Da sollten wir sie auch belassen.
Das ist ein klassisches Beispiel dafür, dass wir nicht mehr alle Ziele aufnehmen können, die man für gut und richtig hält, sondern dass man genau schauen muss: Wo sind die Prioritäten? Wo muss man bestimmte Aufgaben an die Mitgliedstaaten verweisen?
Die Ziele der neuen EU-2020-Strategie werden heute und morgen im Rat beraten. Nach den Vorschriften des Vertrages von Lissabon sind sie für die Mitgliedstaaten zwar rechtlich nicht bindend, dennoch - davon bin ich überzeugt - werden sie eine nicht zu unterschätzende politische Bindungswirkung entfalten. Denn in Zukunft kommt gerade dem Rat bei dem Beschluss solcher Ziele eine ungleich größere Verantwortung als früher zu, weil wir auch für die Einhaltung dieser Ziele geradestehen müssen. Deshalb ist es wichtig, dass wir, wenn die Kommission regelmäßig überprüfen will, ob wir diese Ziele einhalten, auch zu Hause miteinander - das bedeutet die Diskussion im Deutschen Bundestag, das bedeutet auch die Diskussion mit dem Bundesrat - intensiver als früher diskutieren; denn nur wenn ein solches Ziel breit getragen wird von denen, die die parlamentarischen Entscheidungen in Deutschland fällen, kann ich das Ziel für Deutschland umsetzen. Nur dann können wir auch akzeptieren, dass die Kommission auf diese Einhaltung pocht. Das heißt also, wir vereinbaren Ziele nur dann, wenn wir gemeinsam, mehrheitlich in diesem Hause zu der Überzeugung kommen, dass es die richtigen und wichtige Ziele sind.
In der Debatte um die Strategie EU 2020 wurde in den vergangenen Wochen immer wieder die Verknüpfung des Stabilitätspaktes mit der neuen Wachstumsstrategie gefordert. Ich habe mich immer wieder konsequent, wie auch die ganze Bundesregierung dies getan hat, dagegen gewendet. Ich hielte es für falsch, wenn wir Wachstum gegen Stabilität ausspielen würden, wenn wir den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufweichen würden. Ich hielte es sogar für verhängnisvoll.
Deshalb bin ich froh, dass das verhindert werden konnte. Wir können uns eine Verwässerung des Stabilitätspaktes nicht leisten. Mit der Bundesregierung - ich glaube, dafür auch die Unterstützung des Parlaments zu haben - wird es sie nicht geben. Zur Rückkehr zu soliden Staatsfinanzen gibt es nämlich keine vernünftige Alternative.
Hier darf nicht getrickst werden. Sie brauchen sich auch gar keine Sorgen machen, dass wir nicht anfangen. Allein das Grundgesetz zwingt uns dazu.
Das ist der richtige Ort, an dem die Schuldenbremse verankert ist.
Alle Mitgliedstaaten müssen diesen Weg gehen. Nur mit der Rückführung der Defizite in jedem einzelnen Mitgliedstaat kann Europa das Vertrauen in seine wirtschaftliche Stärke, seine gemeinsame Währung und seine politische Handlungsfähigkeit sichern. Das ist unverzichtbar für die Zukunft Europas.
Aber wir spüren in diesen Wochen durchaus auch die Grenzen des Stabilitätspaktes. Er war und ist nicht darauf ausgerichtet, strukturelle Fehlentwicklungen und den damit verbundenen Aufbau von erheblichen Ungleichgewichten in der EU zu erkennen.
Um es klipp und klar zu sagen: Auf ein bewusstes Unterlaufen seiner Kriterien, wie wir das im Falle Griechenlands erleben mussten, war und ist dieser Pakt nicht eingestellt. Deshalb sage ich: Ein solches Unterlaufen muss für die Zukunft unterbunden werden. Wir dürfen nicht mit Europas Zukunft spielen.
Ich werde das heute und morgen in Brüssel unmissverständlich deutlich machen. Deutschland ist sich hier seiner historischen Verantwortung bewusst. Die Wirtschafts- und Währungsunion wurde seinerzeit maßgeblich von der deutschen Bundesregierung geprägt. Helmut Kohl und Theo Waigel haben für ein Regelwerk gekämpft, das die Stabilität des Euro dauerhaft garantiert. Das hat sich ausgezahlt: Der Euro ist heute stabiler, als die D-Mark es je war. Der Euro hat uns gerade bei der Bewältigung der internationalen Finanzkrise sehr geholfen.
Als man die vertraglichen Grundlagen für die Einführung des Euro geschaffen hat, hat man sich eine außergewöhnliche Situation wie die schwerste Wirtschafts- und Finanzkrise seit den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts allerdings nicht vorgestellt. Ich füge hinzu: vielleicht hat man es sich auch nicht vorstellen können; denn wir alle sind mit Dingen konfrontiert worden, die außerhalb dessen waren, was wir erwartet haben. Deshalb wurden in den europäischen Verträgen keine Vorkehrungen getroffen, um eine solche Situation beherrschen zu können.
Würde ein Mitglied der Währungsunion in der gegenwärtigen Situation zahlungsunfähig, bedeutete dies für uns alle in Europa gravierende Risiken, auch für Deutschland als größte Volkswirtschaft Europas. Wie unkontrollierbare Kettenreaktionen entstehen und die ganze Weltwirtschaft erschüttern können, haben wir im Herbst 2008, nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, erlebt. Es ist also sowohl im europäischen als auch im wohlverstandenen deutschen Interesse, schwerwiegende Störungen der Finanzstabilität in der Eurozone oder der globalen Finanzmärkte zu vermeiden.
So weit wollen und dürfen wir es nicht kommen lassen. Deshalb haben die Staats- und Regierungschefs beim letzten EU-Gipfel, am 11. Februar, klar vereinbart: Wenn es notwendig sein sollte, sind die Euromitgliedsländer bereit, entschlossen und koordiniert zu handeln, um die Finanzstabilität in der Eurozone insgesamt zu sichern.
Diese Vereinbarung - Sie erinnern sich - wurde ganz wesentlich in einer Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich erreicht. Sie hat sich schon jetzt bewährt. Heute, sechs Wochen später, können wir eine erste Zwischenbilanz dieser Entscheidung ziehen. Wir stellen fest: Es ist noch kein Euro und kein Cent für die Unterstützung Griechenlands ausgegeben worden. Bislang ist Griechenland nicht zahlungsunfähig geworden. Auch sind düstere Vorhersagen über die Entwicklung in anderen Mitgliedstaaten nicht Realität geworden. Stattdessen hat Griechenland ein ambitioniertes Sparprogramm beschlossen und erfolgreich eine Anleihe an den Märkten platziert.
Ich glaube, sagen zu können, dass sich Europa am 11. Februar in einer Stunde der größten ökonomischen und politischen Herausforderung als gleichermaßen entschieden, aber auch besonnen gezeigt hat; das hat seine Effekte gezeitigt. Ich wiederhole: Deutschland und Frankreich haben dabei sehr eng zusammengearbeitet.
Wir wissen: Jede weitere Entscheidung über die kurzfristige Stabilisierung eines Mitgliedstaats der Europäischen Union muss im Einklang mit der langfristigen Stabilität der Wirtschafts- und Währungsunion getroffen werden. Ich bin mir als deutsche Bundeskanzlerin der außerordentlich großen Verantwortung in dieser Stunde bewusst. Denn das deutsche Volk hat im Vertrauen auf einen stabilen Euro seinerzeit die D-Mark aufgegeben. Dieses Vertrauen - das eint die ganze Bundesregierung - darf unter keinen Umständen enttäuscht werden.
Deshalb sage ich: Ein guter Europäer ist nicht unbedingt der, der schnell hilft. Ein guter Europäer ist der, der die europäischen Verträge und das jeweilige nationale Recht achtet und so hilft, dass die Stabilität der Eurozone keinen Schaden nimmt.
Das war die Richtschnur des bisherigen Handelns des Bundesfinanzministers, von mir und der gesamten Bundesregierung. Das ist die Richtschnur aller Entscheidungen heute und morgen auf dem Rat und auch in Zukunft.
Heute und morgen geht es darum, die Entscheidungen des Rats vom 11. Februar zu spezifizieren, also darum, fortzuschreiben, wie wir im äußersten Notfall als Ultima Ratio - so haben wir es gesagt - agieren können, wenn die Stabilität gefährdet ist, wenn ein Eurostaat keinen Zugang zu den internationalen Finanzmärkten mehr hat, wenn dieser Zugang also erschöpft ist. Für einen solchen Notfall haben die Finanzminister Gemeinschaftshilfen ausgeschlossen und sich für bilaterale Hilfen ausgesprochen.
Die Bundesregierung wird sich beim Rat heute und morgen dafür einsetzen, dass im Notfall eine Kombination von Hilfen des IWF und gemeinsamen bilateralen Hilfen in der Eurozone gewährt werden müsste. Aber dies ist - ich sage es noch einmal - die Ultima Ratio. Ich werde entschieden dafür eintreten, dass eine solche Entscheidung - IWF plus bilaterale Hilfen - gelingt. Dabei werden wir wieder sehr eng mit Frankreich zusammenarbeiten. Ich wiederhole: Es geht nicht um konkrete Hilfen, sondern um eine Spezifizierung und Fortschreibung der Entscheidung vom 11. Februar.
Meine Damen und Herren, mit alldem dürfen wir unsere Arbeiten keinesfalls beenden; das würde nicht ausreichen. Denn eine Situation, wie wir sie nie vorausgesehen haben, kann nicht einfach übergangen werden, sondern Europa muss daraus die richtigen Lehren für die Zukunft ziehen. Wir müssen Vorkehrungen treffen, damit sich eine solche Situation nicht wiederholen kann. Wir haben gesehen, dass das aktuelle Instrumentarium der Währungsunion unzureichend ist. Wolfgang Schäuble hat darauf hingewiesen und weiterführende Maßnahmen vorgeschlagen, die ich ausdrücklich unterstütze. Wir beraten schon heute eine Verordnung, die Eurostat das Recht gibt, kritische Fragen direkt vor Ort zu prüfen.
- Auch Sie waren daran beteiligt, als wir Eurostat das verboten haben.
Tricksereien muss ein Riegel vorgeschoben werden. Aber mehr Eingriffsbefugnisse für Eurostat allein werden nicht ausreichen. Wir müssen mit Blick auf die Zukunft folgende Fragen beantworten: Was passiert, wenn trotz aller Vorkehrungen ein Eurostaat zahlungsunfähig wird? Welche Möglichkeiten gibt es, dies in ein geordnetes Verfahren zu bringen, ohne dass die Stabilität der Währungsunion erschüttert wird, sondern dass sie geschützt wird?
Deshalb werde ich mich auch für erforderliche Vertragsänderungen einsetzen, damit Fehlentwicklungen durch geeignete Sanktionen früher und effektiver bekämpft werden können. Hier steht insbesondere die Stärkung des Defizitverfahrens auf der Agenda. Das ist eine Aufgabe, die weit über den heute beginnenden EU-Rat hinausreicht. Sie will wohl überlegt sein. Aber auf Dauer werden wir einer solchen Antwort nicht ausweichen können.
Eines möchte ich an dieser Stelle noch erwähnen, wenn auch nur am Rande: Es ist geradezu absurd, Deutschland mit seiner wettbewerbsstarken Wirtschaft gleichsam zum Sündenbock für die Entwicklung zu machen, die wir jetzt zu bewältigen haben.
Unsere Kritiker in Europa verkennen, dass unsere Exportgewinne zum Teil in die Defizitländer zurückfließen und dass Deutschland auch das größte Importland Europas ist. Deutsche Unternehmen haben 500 Milliarden Euro in der EU investiert und beschäftigen dort mehr als 2,7 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Damit leisten wir einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas, auch auf den Weltmärkten. Darauf können wir zu Recht stolz sein.
Meine Damen und Herren, die Staats- und Regierungschefs werden auf ihrem heute beginnenden Gipfel ein neues und anspruchsvolles Kapitel der wirtschaftlichen Zusammenarbeit Europas aufschlagen. Wir werden in Europa noch stärker zusammenrücken. Wir werden damit unsere Interessen in der Welt noch besser vertreten können. Unsere politische Generation wird auch in unserer Zeit der großen Verantwortung gerecht, die uns die Gründer der wunderbaren Idee der Einigung Europas vor über 50 Jahren mit auf den Weg gegeben haben.
Europa ist Friedensgemeinschaft, Europa ist Rechtsgemeinschaft, Europa ist Stabilitäts- und Wachstumsgemeinschaft, Europa ist unsere Zukunft. Diese Idee zu schützen und zu wahren, das war und das ist jede Mühe und Anstrengung wert. Dafür setzt sich die Bundesregierung und dafür setze ich mich in den nächsten beiden Tagen ganz persönlich ein.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Dr. Angelica Schwall-Düren für die SPD-Fraktion.
Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr enttäuscht über Ihre Erklärung, Frau Bundeskanzlerin.
Sie haben angekündigt, dass beim heute beginnenden Europäischen Rat ein neues und anspruchsvolles Kapitel der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa aufgeschlagen werden soll. Frau Kanzlerin, ich vermisse den anspruchsvollen und leidenschaftlichen Beitrag der Bundesregierung zu dieser Strategie, die uns in den nächsten zehn Jahren zu wirtschaftlichem, sozialem und ökologischem Erfolg führen soll.
Stattdessen, Frau Bundeskanzlerin, erklären Sie uns, welche von der Kommission vorgeschlagenen Ziele Sie zwar gut finden, aber doch bitte nicht so genau festgeschrieben haben wollen. Man könnte die schwarz-gelbe Koalition sonst ja gegebenenfalls daran messen, ob sie tatsächlich Entscheidendes getan hat, um die Chancengleichheit in der Bildung herzustellen oder die Armut abzubauen. Wo, sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, ist denn der kräftige Pinselstrich dieser Regierung im Hinblick auf die Strategie EU 2020, der unsere europäischen Gesellschaften wirklich mit Innovationen voranbringt?
Sie sagen, Sie unterstützten die unter deutscher Präsidentschaft beschlossenen Energie- und Klimaziele der Union. Aber Misstrauen ist angesagt. Denn gleichzeitig haben Sie dem Rats- und dem Kommissionspräsidenten brieflich übermittelt, dass Sie auf dem März-Gipfel keinen quantifizierten Zielen zustimmen können, deren Erfüllung von der Kommission nicht belegt werden könne.
Hier schleicht sich die Klimakanzlerin davon.
Genauso haben Sie im Haushalt nicht die Mittel zur Verfügung gestellt, die zur Erreichung des Klimaschutzes in den Entwicklungsländern notwendig sind.
Frau Kanzlerin, das passt zu den verheerenden Signalen, die Ihre Regierung in Deutschland selbst setzt: Die Förderung der erneuerbaren Energien wird von heute auf morgen reduziert, und die Investoren werden damit verunsichert. Die Markteinführungsprogramme für Effizienztechnologien und Wärmeerzeugung werden gekürzt und gesperrt. Die Wärmedämmung wird nur noch halbherzig unterstützt. Wegen der anstehenden Entscheidung über die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken sind die Kraftwerkserneuerungsprogramme auf Eis gelegt. So kann schon Deutschland seine Klimaziele nicht erreichen.
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie sagen uns, Europa müsse noch stärker zusammenrücken. Wie soll das denn geschehen? Die Staats- und Regierungschefs - so darf ich Sie zitieren - müssten dafür geradestehen, die gemeinsam erarbeiteten Empfehlungen zu Hause umzusetzen. - Wenn Sie sich nicht für eine stärkere wirtschaftspolitische Koordinierung einsetzen, dann bleibt Ihr Verweis auf eine Wirtschaftsregierung nur ein leeres Zugeständnis an Staatspräsident Sarkozy und eine Mogelpackung.
Der Europäische Rat bereitet auch den G-20-Gipfel in Toronto vor. Das wichtigste Thema wird die Reform des Finanzsektors sein. Eine international vereinbarte Steuer auf den Handel von Finanzprodukten würde zu einer Entschleunigung des Finanzroulettes beitragen. Leider ist nicht klar, ob die Bundesregierung eine solche Steuer weiterhin unterstützt.
Heute wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, den Deutschen Bundestag darüber zu informieren.
Wenn wir von Verantwortung sprechen, dann, Frau Bundeskanzlerin, muss ich Ihnen sagen: Sie sind Ihrer Verantwortung in den letzten Wochen nicht gerecht geworden.
In diesen Wochen, in denen sich viele Menschen Sorgen um die Stabilität des Euro und um den Zusammenhalt der Währungsunion machen, betreiben Sie und Ihre Regierung eine unstete und unentschlossene Politik, eine Politik der Unentschiedenheit und des Attentismus. Sie sagen heute: Griechenland wird nicht geholfen. - Morgen verkündet der Finanzminister, er setze sich für einen EWF ein. Und vom Außenminister ist dröhnendes Schweigen zu vernehmen. Das ist eine unehrliche und opportunistische Verhaltensweise.
Ja, Griechenland hat seine schwierige Lage überwiegend selbst verursacht. Während der frühere griechische Ministerpräsident Karamanlis mit Goldman Sachs gezockt hat, erweist sich der heutige Ministerpräsident Papandreou aber als wahrer Patriot. Er - das sollten Sie zur Kenntnis nehmen - und die aktuelle Regierung haben mit der Politik der Vorgängerregierung gebrochen. Die jetzige Regierung bettelt nicht um Hilfe. Papandreou hat seiner Bevölkerung ein strenges Spar- und Reformpaket verordnet, das seinesgleichen sucht. Er nimmt ein hohes persönliches, aber auch ökonomisches und soziales Risiko für sein Land auf sich.
Heute ist übrigens griechischer Nationalfeiertag. Wir wünschen der griechischen Bevölkerung von hier aus Mut, Kraft und Erfolg bei den Reformbemühungen.
Der Ministerpräsident will, dass Griechenland die Krise aus eigener Kraft bewältigt. Aber Sie, Frau Merkel, fallen ihm in den Rücken.
Jedes Mal, wenn Sie sich äußern und verkünden, nein, über Hilfsprogramme spreche man nicht, ja, Griechenland müsse seine Probleme allein lösen, nein, es gebe keinen Anlass, über Hilfen zu spekulieren, heizen Sie die Spekulationen an.
Jedes Mal, wenn Sie sprechen, fallen die Kurse für Griechenland, und der Spread steigt; das heißt, die Griechen müssen mehr als doppelt so hohe Zinsen wie Deutschland für Anleihen bezahlen.
Ich darf Ihnen hier ein unverdächtiges Blatt zeigen. Diese Grafik bildet die Kursschwankungen ab. Die Financial Times Deutschland schreibt: Merkels riskantes Spiel mit den Märkten. Offensichtlich, Frau Bundeskanzlerin, wollen Sie nach der Methode der Zeitung mit den vier großen Buchstaben das vermeintliche Bauchgefühl potenzieller Wähler in NRW ansprechen.
In Wahrheit verunsichern Sie die Bevölkerung. Sie beschädigen Ihren Finanzminister. Sie verprellen die europäischen Partner, indem Sie ihnen die kalte Schulter zeigen. Mit Ihrem Verhalten kündigen Sie die europäische Solidarität auf.
Sie brechen mit der Tradition der deutschen Europapolitik all Ihrer Vorgänger. Sie isolieren Deutschland in Europa.
Dies alles, Frau Bundeskanzlerin, sind keineswegs moralisierende Vorhaltungen. Ökonomischer Sachverstand müsste Ihnen klarmachen, dass Sie mit Ihrem Hin und Her die Spekulationsjongleure stärken. Der Devisenmarkt interpretiert die von Ihnen genährten Spekulationen bereits als Schwäche des Euro. Wenn es so weitergeht, wird bald nicht nur Griechenland Hilfe benötigen.
Auch Portugal ist bereits im Visier der Spekulanten.
Die Stabilität der Eurozone liegt im ureigenen deutschen Interesse.
Helmut Schmidt und Helmut Kohl wussten beide, dass das Wohlergehen der Europäischen Union auch Wohlstand für Deutschland bedeutet. Deutschlands Interessen können nicht gegen die Interessen der EU gestellt werden. Die wiederholt vorgetragene Forderung der Bundesregierung, ein Mitgliedsland gegebenenfalls aus der Eurozone auszuschließen, widerspricht dem EU-Vertrag. Die Diskussion über einen möglichen Rausschmiss muss so schnell wie möglich beendet werden, um Schlimmeres zu verhindern.
Statt zu spalten, sollte die Bundesregierung konstruktive Vorschläge machen, wie weiteren Wirtschafts- und Finanzkrisen in der EU vorgebeugt werden kann und wie solche Krisen gegebenenfalls gemanagt werden sollen. Das Ziel muss sein, Heterogenität zu verringern, Innovationen voranzubringen, die Produktivität nachhaltig zu steigern und die Kaufkraft zu stärken. Nur so können wir wirtschaftliche Ungleichgewichte verringern und gemeinsam stark sein.
Frau Bundeskanzlerin, wir sollten uns nicht vom Außenminister von Luxemburg sagen lassen müssen, dass die EU eine Schicksalsgemeinschaft ist. Wer sollte dies besser wissen als wir Deutschen? Frau Merkel, greifen Sie die Initiative des Präsidenten des Europäischen Rates, Van Rompuy, des spanischen Ministerpräsidenten Zapatero und des Vorsitzenden der Eurogruppe, Juncker, auf und werden Sie Ihrer Verantwortung in und für Europa und Deutschland gerecht.
Danke schön.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger für die FDP-Fraktion.
Birgit Homburger (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Diskussion über die Strategie Europa 2020 für Wachstum und Beschäftigung werden die Lehren aus der gescheiterten Lissabon-Strategie gezogen. Das ist gut so. Bei der Lissabon-Strategie hatte man sich zu viel auf zu vielen Gebieten vorgenommen, vor allen Dingen auf Gebieten, auf denen die EU keine eigene Kompetenz hat. Damit hat man der europäischen Integration keinen Gefallen getan.
Deshalb ist es gut, dass der Schwerpunkt jetzt auf Schlüsselbereiche gelegt wird, dass weniger Ziele, dafür aber erreichbare Ziele definiert werden. Es ist auch gut, dass eine Koordinierung erfolgt. Genauso wichtig ist es aber, dass dort, wo die Mitgliedstaaten die Kompetenz und die Verantwortung haben, weiter die Mitgliedstaaten handeln.
Mit Blick auf die Diskussion in den letzten Tagen ist festzustellen, dass das Ziel nicht die Konvergenz der Mitgliedstaaten in Richtung des kleinsten gemeinsamen Nenners sein kann. Die europäischen Volkswirtschaften bilden kein nach außen abgeschlossenes Nullsummenspiel, wo sich die Besten nur zurücklehnen müssten, damit es allen anderen besser geht. Wir befinden uns in einem internationalen Wettbewerb. Deshalb ist es wichtig, dass wir deutlich machen: Niemandem in Europa ist geholfen, wenn sich die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands verschlechtert.
Deshalb werden wir weiter daran arbeiten, die Wettbewerbsfähigkeit dieses Landes zu stärken.
Die Grundlage unseres Wohlstands sind gut ausgebildete und motivierte Menschen, die Produkte und Dienstleistungen in hoher Qualität erfinden und erzeugen bzw. bereitstellen.
Unsere Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Ländern außerhalb der EU hängt wesentlich von Bildung, Forschung und Innovation ab. Deshalb ist es gut, dass hier Ziele definiert werden, zum Beispiel, 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung aufzuwenden. Wir haben uns in Deutschland vorgenommen, bis zum Jahr 2015 10 Prozent für Bildung und Forschung auszugeben.
Wir sind der Überzeugung, dass es mehr Investitionen in die Köpfe von Menschen bedarf. Das haben wir schon jetzt im Haushalt 2010 umgesetzt, indem wir 750 Millionen Euro zusätzlich für Bildung und Forschung eingestellt haben, und wir werden im Laufe dieser Legislaturperiode 12 Milliarden Euro zusätzlich in diesen Bereich investieren, weil wir überzeugt sind, dass das ein Schlüsselbereich ist, und weil wir der Auffassung sind, dass wir auf dem Weg zu Innovationen in der Bildung einen Schwerpunkt setzen müssen.
Wir können es uns nicht erlauben, kreative Köpfe auf dem Bildungsweg zu verlieren. Deshalb setzen wir als Koalition diese Schwerpunkte, und sie sind richtig.
Ich möchte an dieser Stelle aber auch sagen: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben unsere volle Unterstützung, wenn Sie nicht dafür eintreten, dass ein pauschales EU-Ziel zur Quote von Hochschulabsolventen eingeführt wird. Ich sage das ganz ausdrücklich mit Blick beispielsweise auf den sehr speziellen Studiengang der Berufsakademien, der sehr praxisorientiert ist und eine exzellente Ausbildung darstellt. Das muss auch entsprechend gewertet werden.
In der bildungspolitischen Werteskala ist das deutsche System der beruflichen Aus- und Weiterbildung in Europa zu niedrig eingeordnet. Wir sind der Meinung, dass es eine Gleichwertigkeit der betrieblichen und der akademischen Ausbildung gibt. Wenn ich mir die hochwertige Meisterausbildung in Deutschland anschaue, dann wird klar, dass wir erwarten müssen, dass das auch in Europa den entsprechenden Respekt und die entsprechende Beachtung findet.
Zur Energie- und Klimapolitik will ich hier nur eine kurze Bemerkung machen. Es ist gut, dass das in der Strategie EU 2020 erstmals aufgenommen worden ist und vorangetrieben werden soll. Wir haben uns hier in Deutschland als Koalition sogar ehrgeizigere Ziele gesetzt, Frau Schwall-Düren,
und wir werden die Erreichung dieser Ziele durch das Energiekonzept und die Überprüfung des integrierten Energie- und Klimaprogramms in Deutschland entschieden voranbringen.
Wir haben in den letzten Tagen eine zentrale Diskussion über den Stabilitätspakt geführt; das ist jetzt auch in der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zu Recht angesprochen worden. Es ist ja gefordert worden, den Stabilitätspakt mit der EU-Strategie 2020 zu verknüpfen. Wir sind froh, dass es gelungen ist, das zu verhindern. Der Stabilitätspakt darf nicht aufgeweicht werden.
Wir haben bei der Einführung des Euro für diesen Stabilitätspakt gekämpft, und wir werden ihn weiter mit aller Macht verteidigen. Ich denke, dass es richtig ist, dass alle Mitgliedstaaten zunächst einmal ihre Hausaufgaben machen müssen. Der Kern dabei sind solide Staatsfinanzen. Diese Koalition hat sich genau das auch für Deutschland vorgenommen.
Der Präsident der Europäischen Kommission, Barroso, hat geäußert: Ohne Solidarität gäbe es keine Stabilität. - In dieser Woche fand der Besuch des Präsidenten des Europäischen Parlaments, Herrn Buzek, statt, der in unserer Fraktion mit uns diskutiert und deutlich gemacht hat, dass Solidarität Verantwortung erfordert. Deshalb sage ich an dieser Stelle ganz ausdrücklich: Wir begrüßen die Schritte, die Griechenland jetzt eingeleitet hat.
Ich sage aber auch sehr deutlich, dass es wichtig ist, dass Hilfen eben nicht ?ins Schaufenster gestellt? worden sind, sondern dass die Bundeskanzlerin und die Bundesregierung in den Verhandlungen auf europäischer Ebene deutlich gemacht haben, dass wir erwarten, dass Griechenland eigene Anstrengungen unternimmt. Diese Anstrengungen wollen wir unterstützen, und wir begrüßen sie auch.
Frau Schwall-Düren, entgegen Ihrer Analyse ist es nämlich so, dass es durch die Art und Weise, in der die Bundesregierung agiert hat, wieder zu mehr Stabilität gekommen ist. Die Bundesrepublik Deutschland spielt eine maßgebliche Rolle bei der Bewältigung der Krise. Das ist wichtig. Deshalb hat die Bundeskanzlerin bei dieser Verhandlungsstrategie ganz ausdrücklich unsere Unterstützung. Ich sage auch, Frau Bundeskanzlerin: Sollte am Ende ein Ergebnis stehen, bei dem der IWF und damit auch die spezifischen Kompetenzen und Fähigkeiten des IWF mit ins Boot geholt werden, dann findet das ausdrücklich die Unterstützung unserer Fraktion und - ich glaube - auch der gesamten Koalition.
Abschließend, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte ich noch eine Bemerkung machen: Ich bin davon überzeugt, dass über das hinaus, was jetzt besprochen worden ist, bei der Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise auch europäisch gehandelt werden muss. Wir als Koalition haben in dieser Woche eine bemerkenswerte Initiative auf den Weg gebracht und deutlich gemacht, dass diejenigen, die die Krise verursacht haben, auch dafür geradestehen und an den Kosten beteiligt werden müssen.
Wir sind der Auffassung, dass es weiterer Initiativen bedarf. Es muss auf europäischer Ebene auch über die Frage der Produktaufsicht und Produktregulierung gesprochen werden. Da, wo wir europäisch handeln können, sollten wir das auch tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ziel ist eine neue Verantwortungsethik in der Wirtschaft. Das wollen wir. Denjenigen, die die Verantwortung tragen und die Entscheidungsmöglichkeiten haben, muss klar sein, dass sie auch das Risiko tragen und die Verantwortung übernehmen müssen. Das durchzusetzen, ist eine ganz wesentliche Aufgabe, die sich diese Koalition vorgenommen hat.
Wir werden uns dabei nicht auf Deutschland beschränken, sondern auch auf europäischer Ebene Initiativen ergreifen.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Homburger, an Ihnen schätze ich am meisten, dass dieses Pult hochgefahren werden muss, wenn Sie vor mir gesprochen haben. Das ist bei mir so selten der Fall.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Gysi, wenn wir Ihnen damit eine besondere Freude machen können, würde ich mich darum bemühen, dass wir das vor Beginn einer Rede von Ihnen prinzipiell so einführen.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Dann machen Sie das öfter.
Aber bitte ziehen Sie mir das nicht von der Redezeit ab.
Ich habe gehört, Frau Bundeskanzlerin, dass beim EU-Gipfel die Verabschiedung eines Programms mit dem Titel ?Europa 2020 - eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum? vorgesehen ist. Dann ist mir eingefallen, dass es seit dem Jahre 2000 schon eine Lissabon-Strategie gab. Laut Lissabon-Strategie sollte die Europäische Union bis 2010 - daran möchte ich erinnern - zum wettbewerbsfähigsten, dynamischsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt werden. Nun hat auch die EU-Kommission festgestellt, dass von diesen Zielen keines erreicht ist. Es waren mehr Arbeitsplätze und ein größerer sozialer Zusammenhalt versprochen. Davon kann keine Rede sein. Dieser Zehnjahresplan ist gescheitert.
Nun kennen wir beide ja auch die Fünfjahrespläne aus staatssozialistischen Ländern, die alle gescheitert sind.
Deshalb sage ich: Ihr Vorhaben, einen zweiten Zehnjahresplan zu starten, wird ebenso scheitern.
Nun sind in dem Programm einige konkrete Ziele festgelegt - Sie haben sie genannt -: die Steigerung der Ausgaben für Forschung und Entwicklung, mehr Ausgaben für Bildung, eine wirksamere Armutsbekämpfung, eine Beschäftigungsquote von 75 Prozent - diese Quote liegt in Deutschland jetzt bei 69,4 Prozent, allerdings einschließlich der gesamten prekären Beschäftigung -, außerdem sind Energie- und Klimaprogramme vorgesehen.
Sie sagen jetzt aber, Frau Bundeskanzlerin: Deutschland wird weder bei der Höhe der Bildungsausgaben noch bei der Armutsbekämpfung konkrete Ziele verfolgen. - Das lehnen Sie einfach ab. Gleichzeitig sagen Sie, dass man sich auf Schwerpunkte konzentrieren muss. Darf ich das so verstehen, dass Armutsbekämpfung nicht Ihr Schwerpunkt ist? Es wird aber höchste Zeit, dass wir in Deutschland Armut sehr wirksam bekämpfen.
Ich nenne Ihnen dazu einige Zahlen: In Deutschland gibt es den größten Niedriglohnsektor aller Industriestaaten: Er umfasst ein Viertel der Beschäftigten. Hinzu kommen die prekären Jobs: die 400-Euro-Jobs und andere Minijobs, befristete Arbeitsverhältnisse und die Aufstockerinnen und Aufstocker, die eine Vollzeitbeschäftigung haben, aber so wenig verdienen, dass sie zum Sozialamt geschickt werden müssen. Es ist indiskutabel, was wir diesbezüglich in Deutschland haben.
Der Niedriglohnsektor umfasst, wie gesagt, ein Viertel der Beschäftigten. Das betrifft 9 Millionen Menschen in Deutschland. Als prekär Beschäftigte haben wir 5 Millionen in Teilzeit, 2,6 Millionen in Minijobs und 500 000 in Leiharbeit. Das sind insgesamt fast 7,7 Millionen Beschäftigte. 2,7 Millionen haben eine befristete Beschäftigung. 2 Millionen unserer Kinder leben in Armut. Und dann sagen Sie, Armutsbekämpfung sei nicht Ihr Schwerpunkt. Ich finde, das muss der Schwerpunkt der Politik einer Bundesregierung werden.
Im Übrigen hat die Armut von heute später Folgen - Sie kennen doch die Studie -: Es ist festgestellt worden, dass die Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundesländern in wenigen Jahren im Durchschnitt unter dem Grundsicherungsniveau liegen werden, weil es jetzt so viel prekäre Beschäftigung gibt.
Es ist festgestellt worden, dass wir in Deutschland im Vergleich zu allen anderen Eurostaaten die niedrigsten Lohnstückkosten haben. Das wird durch Lohndumping erreicht, was übrigens auch den Handel der anderen Länder deutlich erschwert.
Kommen wir zur Bildung. Im Vergleich zu den anderen EU-Ländern geben wir in diesem Bereich jährlich 40 Milliarden Euro zu wenig aus, Frau Bundeskanzlerin. Wieso wollen Sie sich hier nicht auf Zahlen festlegen? Wenn wir etwas brauchen, dann sind es höhere Ausgaben für Bildung, eine bessere Ausbildung und vor allen Dingen endlich Chancengleichheit in der Bildung. Davon sind wir meilenweit entfernt.
Ich sage ganz deutlich, auch Ihnen von der FDP: Wir sind mit unserem Schulsystem im 19. Jahrhundert stecken geblieben.
Wir haben 16 Bundesländer und 16 verschiedene Schulsysteme. Das finden Sie toll und nennen es Wettbewerb. Ich sage Ihnen: Das ist eine Benachteiligung von Kindern je nach dem zufälligen Geburtsort. Das ist nicht hinnehmbar.
- Sie können noch so viel herumbrüllen. - Ich möchte im Unterschied zu Ihnen, dass wir endlich ein Top-Bildungssystem bekommen, und zwar von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern. Ich möchte, dass alle Kinder die gleiche Chance auf eine sehr gute Ausbildung haben, auch das dritte Kind der alleinerziehenden Hartz-IV-Empfängerin, das Sie ausgrenzen.
Das ist der Punkt: Sie machen reine Elitebildung.
Wir müssen die soziale Ausgrenzung in der Bildung überwinden. Insofern hätten Sie sich durchaus auf ein konkretes Ziel einlassen sollen.
Was ist wirtschaftspolitisch vorgesehen? Wirtschaftspolitisch ist vorgesehen, mit der Lissabon-Strategie weiterzukommen: Flexibilisierung, Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung. Das alles hat uns in die Krise geführt.
Sie ziehen daraus keine Schlussfolgerung, sondern machen einfach so weiter.
Spannend finde ich auch, wie Sie Wachstum erreichen wollen. Sie schlagen zwei Wege vor: erstens Ausstieg aus dem Konjunktur- und Wachstumsprogramm und zweitens Schuldenabbau über strenges Sparen. Das ist aufregend. Was passiert denn da? Wenn wir aus den Konjunktur- und Wachstumsprogrammen aussteigen, gibt es keine staatlichen Investitionen. Wenn es keine staatlichen Investitionen gibt, gibt es weniger Konjunktur und weniger Wachstum. Wie Sie damit Wachstum beschleunigen wollen, ist ein Geheimnis, das Sie unserer Bevölkerung noch verraten müssen.
Wenn Sie bei den Renten, bei Hartz IV und den anderen Sozialleistungen sparen wollen, dann reduzieren Sie die Kaufkraft. Wenn Sie die Kaufkraft reduzieren, wird weniger eingekauft, und es werden weniger Dienstleistungen in Anspruch genommen. Dann gehen kleine und mittlere Unternehmen pleite, und die Zahl der Arbeitslosen steigt. Dann haben Sie wieder höhere Ausgaben und außerdem viel weniger Steuereinnahmen.
Die Unlogik ist nicht mehr zu bremsen.
Wenn Sie Wirtschaftswachstum wollen, dann brauchen Sie Investitionen und mehr soziale Gerechtigkeit, also genau das Gegenteil davon. Die gegenteiligen Programme sind schon alle gescheitert.
- Ja. - Ich sage Ihnen noch etwas: Die Reallöhne sind in Deutschland - und zwar nur in Deutschland - im Vergleich zu allen anderen Industrieländern um 8 Prozent gesunken. Glauben Sie, dass das unsere Wirtschaft vorangebracht hat? Überhaupt nicht. Im Gegenteil, es hat viele kleine und mittlere Unternehmen ruiniert. Sie gehen einen völlig falschen Weg.
Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, fordern wir eine grundlegende Überarbeitung der Strategie ?Europa 2020?. Es muss um die Schwerpunkte Armutsbekämpfung, Bildung, Beschäftigung und sozialer Ausgleich gehen. An diesen Zielen sollte Europa unbedingt festhalten und endlich etwas in diese Richtung tun.
Jetzt komme ich zu Griechenland und damit auch zur Eurozone. Ich kann mich ja noch daran erinnern - Herr Bundestagspräsident, das wollte ich Ihnen auch gerne einmal erzählen -, dass wir hier saßen und Schilder hatten - damals flogen wir aber noch nicht raus -, auf denen ?Euro - so nicht? stand. ?Euro - so nicht? war eine kluge Formulierung; wir haben nämlich nicht ?Euro - nein? gesagt, sondern wir haben gesagt: erst die politischen und ökonomischen Voraussetzungen schaffen und dann den Euro einführen. - Aber alle anderen waren ja schlauer, und jetzt haben wir mit Griechenland genau das Beispiel, dass es so nicht geht und dass es nicht ordentlich vereinbart war.
Ich habe ja nichts dagegen, dass Sie zu Recht darauf hinweisen, dass die griechische Regierung eine Mitverantwortung trägt und dass sie in diesem Umfange selbstverständlich auch verantwortlich gemacht werden muss. Aber jetzt sage ich Ihnen: Die wirklichen Gewinner der Krise um Griechenland sind wieder die Spekulanten.
Hierzu würde ich gern erklären - das muss man auch einmal den Leuten erklären -, was es mit einer Kreditausfallversicherung auf sich hat. Es gibt Leute, die einen Kredit gewähren und sich dann für den Fall versichern, dass sie den Kredit nicht zurückgezahlt bekommen; dann bekommen sie etwas von der Versicherung. Dies finde ich ja noch nachvollziehbar. Dann gibt es aber noch eine zweite Gruppe - dass muss man auch erklären -, die Folgendes macht: Die geben gar keinen Kredit, sondern schließen mit der Versicherung eine Wette dergestalt ab, dass sie sagen: Ich glaubte, der Kredit wird nicht zurückgezahlt. - Wenn sie mit ihrem Wettangebot recht haben, bekommen sie dafür Geld. Das ist die absurdeste Spekulation, die man sich vorstellen kann: ohne jede Wirtschaftsleistung, nichts steckt dahinter.
Dies wird jetzt forciert. Das wäre so, als könnte ein Brandstifter bei einer Versicherung eine Wette abschließen, die besagt: Das Haus wird in Kürze brennen. Dann zündet er es selber an und kriegt dafür 1 Million. Sagen Sie mal, wo leben wir denn hier eigentlich?
- Wenn wir Glück haben, kriegt er neben dem Geld auch noch Knast; aber da müssen wir schon sehr viel Glück haben. Herr Kauder, nehmen Sie dazu doch einmal Stellung.
Leerverkäufe sind nichts anderes als eine Wette. Ich sage: ?Die Kurse fallen oder die Kurse steigen?, und dann bekomme ich Geld, wenn ich recht hatte. Sie hatten die Leerverkäufe verboten. Warum, Herr Schäuble, haben Sie sie denn wieder erlaubt? Das war doch vernünftig. Jetzt haben Sie angekündigt, sie wieder zu verbieten. Ja, wann denn? Machen Sie es doch endlich mal! Wir müssen raus aus der Spekulation, wenn wir aus den Krisen raus wollen.
Wie könnte man Griechenland helfen? Sie verweigern sich ja der Hilfe für Griechenland, was ich für völlig falsch halte, weil es auch Europa und uns mit nach unten zieht. Es gibt folgenden Weg: Wir müssen Griechenland zinsgünstige Darlehen der EU anbieten. Machten wir dies, wäre der Weg für die Spekulanten schon versperrt, weil dann deren hohe Zinsen nicht mehr aufgehen würden. Dann müsste man einen Teil dieser Kredite auch gar nicht mehr geben, weil die Spekulation beendet ist. Soweit man Kredite gibt, bekommt man das Geld mit Zinsen wieder zurück. Was soll denn daran eine Katastrophe sein? Warum fällt es Ihnen so schwer, diesen Weg zu gehen, um so schnell wie möglich aus dieser spezifischen Krise herauszukommen?
Dann haben Sie gesagt: Jetzt sollen endlich einmal die Verantwortlichen der Banken, die ja das Ganze angeleiert haben, mit einer Bankenabgabe tatsächlich zur Verantwortung gezogen werden. - Wir haben Ihnen hier vorgeschlagen, den Weg von Obama zu gehen. Wenn Sie den Weg von Obama gehen würden, hätten wir eine Mehreinnahme von 9 Milliarden Euro. Aber das trauen Sie sich ja hinten und vorne nicht. Sie machen so ein kleines ?Abgäbelchen? und wollen gerade einmal 1 Milliarde einnehmen. Hinzu kommt, dass Sie diese Abgabe auch noch von den Sparkassen und der genossenschaftlichen Raiffeisenbank verlangen, was eine Unverschämtheit ist; sie haben weder direkt noch indirekt irgendetwas vom Staat erhalten, sie sind auch gar nicht daran beteiligt. Nein, das müssen schon die Deutsche Bank und die Commerzbank und die anderen Banken bezahlen.
Aber ich sage Ihnen noch einmal: Ihr Weg ist nicht einmal ein Neuntel dessen wert, was Obama diesbezüglich vorgeschlagen hat.
Die Obama-Regierung macht übrigens noch etwas - das haut mich ja schon fast um -: Sie hat jetzt bei 119 Managern
- ja, hören Sie mal genau zu - vom Versicherungskonzern AIG, von den Autobauern Chrysler und General Motors die Vergütungen, also die normalen Einkünfte, um 15 Prozent und die Sondervergütungen um ein Drittel gesenkt. Sie hätten ja nicht einmal den Mumm, daran zu denken, Ackermanns Vergütung zu kürzen; lieber laden Sie ihn viermal zum Essen ein. Aber ich sage Ihnen: Das andere ist der richtige Weg.
Nun weiß ich ja, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie keine linke Regierung führen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ich muss zum Ende kommen. Das ist sehr bedauerlich; ich mache es aber.
Insofern sind Sie nur sehr begrenzt zu vernünftiger Politik fähig. Wenn wir Ihnen Obama-Politik vorschlagen, dann gehen wir doch schon sehr weit; wir nehmen schon Rücksicht auf Ihre Situation. Obama ist nämlich vieles, aber kein Linker.
Machen Sie es endlich: Helfen Sie in dieser Krise ganz anders! Denken Sie an die Bekämpfung von Armut! Denken Sie endlich einmal an die Chancengleichheit im Bildungsbereich! Schaffen Sie mehr Beschäftigung! Organisieren Sie nicht die Wiederholung der Krise! Leider sind Sie dabei.
Danke.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
Volker Kauder (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Agenda 2020, die heute im Rat besprochen wird, ist eine wichtige Grundlage dafür, dass die europäischen Staaten im Wettbewerb mit anderen Ländern vorankommen. Dabei ist Bildung ein zentrales Thema. Länder, die rohstoffarm sind - davon gibt es viele in Europa -, die keine Bodenschätze haben, müssen dafür sorgen, dass vor allem junge Menschen etwas in den Köpfen haben. Deshalb ist diese Strategie genau richtig.
Herr Gysi, ich weiß, dass Sie meinen, zu allem und zu jedem einen Beitrag abliefern zu müssen. Das ist Ihr gutes Recht. Sie sagen aber auch Dinge, die Sie entlarven, die nicht in Ordnung sind. Sie stellen sich hier an das Rednerpult und sagen, dass Sie für Chancengleichheit im Bildungswesen sind; aber die Linke trägt in Berlin die Mitverantwortung für eine der größten Unsinnigkeiten, für die Verlosung von Plätzen an den Gymnasien.
Ich kann nur sagen: Wer das Schicksal von jungen Menschen dem Los unterwirft, der hat jedes Recht verloren, von Chancengleichheit im Bildungswesen zu sprechen.
Ich bin der Bundeskanzlerin außerordentlich dankbar, dass sie darauf hingewiesen hat, dass Europa nur dann mit seinen Strategien vorankommt, wenn sich Europa - die Europäische Kommission und der Rat - auf zentrale, wichtige Punkte konzentriert. Wir haben manchmal den Eindruck, dass sich Europa darin verliert, mikrokosmisch kleine Detailfragen regeln zu wollen. Diese Fragen können wir schon selber regeln. Stattdessen brauchen wir die große Linie, die große Ansage. Frau Bundeskanzlerin, deswegen ist es richtig, wenn Sie heute im Rat dem Subsidiaritätsprinzip, auf das wir hier im Deutschen Bundestag großen Wert legen, zur Geltung verhelfen.
Ich unterstütze besonders, dass die Europäische Union neben der Bildung bei einem anderen Thema Führung zeigen will - es steht in den Papieren zur Agenda 2020 -: Wir müssen den Wettbewerb mit China und Japan vor allem um die Vorreiterrolle bei der Elektromobilität aufnehmen.
Der Automobilbereich wird auch in Zukunft eine Schlüsseltechnologie sein. Wir müssen doch wollen, dass das Auto der Zukunft, das modernste Auto der Welt, dass die Elektromobilität aus Europa kommt, nicht aus Japan oder China. Deswegen ist es notwendig, dass wir alle Anstrengungen unternehmen, hier voranzukommen.
Ein Blick in die Strategie ?Europa 2020? zeigt, dass dort der richtige Weg beschrieben wird. Der Rat wird heute Abend den Vorschlag der Europäischen Kommission verabschieden: Um voranzukommen - genau das ist das Thema -, muss die Europäische Union nicht bestimmte Antriebe und Technologien vorschreiben. Mir hat sehr gefallen, was im Text steht. Wir werden in Europa die gemeinsamen Standards für Elektromobilität entwickeln und damit den Marktzugang in ganz Europa öffnen. Das ist der richtige Weg, den Europa beschreiten muss.
Gerade das Festsetzen der Standards wird für die Zukunft der Elektromobilität entscheidend sein. Wir müssen den Standard setzen; wir dürfen nicht zulassen, dass er von anderen gesetzt wird. Wenn sich Europa auf Standards verständigt hat, muss es relativ schnell mit anderen Ländern in der Welt, mit Japan und mit China, darüber reden, wie einheitliche Standards erreicht werden können. Dafür hat Europa die Kompetenz. Ein einzelnes Land kann das nicht erreichen.
Ein weiteres Thema, das in der EU-Strategie 2020 sehr deutlich angesprochen wird, ist das Thema Energie. Energiesicherheit und Energieversorgung zu akzeptablem Preis werden ganz entscheidend für das Wirtschaftswachstum sein, das dieses Papier als Ziel enthält. Zum einen geht es um die Sicherheit, über die notwendige Energie verfügen zu können; zum anderen muss das zu einem wettbewerbsfähigen Preis möglich sein. Was wir uns in der Koalition vorgenommen haben, nämlich dieses Jahrzehnt zum Jahrzehnt der erneuerbaren Energien zu machen, wird auch in diesem Bericht zugrunde gelegt.
Aber es geht beim Thema Energie immer auch darum, klimapolitische Ziele zu erreichen. Deswegen kann ich nur sagen: Wir wollen den Bereich der erneuerbaren Energien ausbauen - das ist in dem Konzept richtig dargestellt -; wir wollen unsere Klimaziele erreichen - auch das ist richtig -, und deswegen wird die Kernenergie noch eine Zeit lang als Brückentechnologie eingesetzt werden müssen.
Wer den Menschen etwas anderes erzählt, sagt ihnen etwas Falsches.
Deswegen werden wir über dieses Thema in der Koalition sprechen.
Selbstverständlich ist es ein Thema, dass wir in Europa Armut bekämpfen wollen.
Ich bin der Meinung, dass das Aufgabe der Nationalstaaten ist. Was ich überhaupt nicht verstehe, Herr Kollege Gysi, ist Folgendes: Wenn wir, Bund und Kommunen, in diesem Land Jahr für Jahr für die Grundsicherung, für Hartz IV über 50 Milliarden Euro einsetzen, dann ist dies Teil der Armutsbekämpfung. Deshalb kann es doch nicht sein, dass wir, wenn wir Menschen finanziell unterstützen und sie dadurch aus der Armut herausholen, mit dem Satz konfrontiert werden: Je mehr Geld in Sozialpolitik investiert wird, desto stärker steigt die Armut. - Einen größeren Unsinn habe ich noch nie gehört, Herr Gysi, um das einmal klar und deutlich zu sagen.
Frau Bundeskanzlerin, wir unterstützen Sie auch - die Kollegin Homburger hat es gesagt - in Ihrem Bemühen, die Stabilität in Europa zu bewahren. Von zentraler Bedeutung ist, dass die Menschen in unserem Land sich darauf verlassen können, dass das, was wir bei Einführung des Euro gesagt haben, auch heute noch gilt. Der Euro, war damals die Aussage, wird so stark und stabil sein wie die D-Mark. Ich kann nur sagen: Wir haben in jüngster Zeit Entwicklungen erlebt, die sich so nicht wiederholen dürfen. Deshalb bin ich dankbar für die Aussagen dieser Regierung. Es war nicht in Ordnung - und hat den einen oder anderen in der Europäischen Union vielleicht dazu bewegt, Dinge zu machen, die nicht hätten gemacht werden dürfen -, dass ausschließlich aufgrund einer politischen Entscheidung der rot-grünen Regierung im Jahr 2004 die instabilen Verhältnisse im deutschen Bundeshaushalt nicht zu einer Rüge durch Europa geführt haben.
Man hat mit einer politischen Entscheidung gesagt: Wir lassen uns von Europa in Sachen Stabilität nichts vorschreiben. - So etwas darf es nicht noch einmal geben.
Ich kann mich noch sehr genau an die Aussagen von Herrn Eichel und dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder erinnern. Deswegen ist es richtig, dass wir in Europa formulieren: Wir wollen eine unabhängige Zentralbank. Wir wollen die Stabilität des Euros. Wer in die Europäische Gemeinschaft und in die Euro-Zone aufgenommen werden will, muss die Voraussetzungen dafür zu 100 Prozent erfüllen.
Jetzt zum Fall Griechenland. Allein die Tatsache, dass die Bundesregierung klar und deutlich gesagt hat, Griechenland müsse die Voraussetzungen dafür schaffen, dass es wieder zu einer wirtschaftlichen Gesundung kommt, hat dazu geführt, dass in Griechenland enorme Sparanstrengungen unternommen wurden. Dies erkennen wir ausdrücklich an.
Dieser Weg muss weitergegangen werden. Wir unterstützen es, dass, solange Griechenland nicht konkret nach finanzieller Unterstützung gefragt hat, auch keine Antwort darauf gegeben werden muss. Wir sollten die Fragen beantworten, die gestellt werden, nicht die, die möglicherweise nie gestellt werden.
Wenn Griechenland in eine besonders schwierige Lage kommt, dann kann als Ultima Ratio mit dem Internationalen Währungsfonds und mit bilateralen Hilfen Unterstützung angeboten werden. So weit sind wir aber noch gar nicht. Deswegen rate ich uns allen dringend, das Thema nicht jeden Tag in Interviews zu befeuern, solange es nicht ansteht.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben unsere volle Unterstützung.
Die Frage ist: Was soll in Zukunft für den Fall geschehen, dass Probleme auftauchen? Ich glaube, dass wir hierüber sehr gewissenhaft nachdenken müssen. Es ist sicher richtig, ein Instrument für die Probleme zu schaffen, die man beim Start der Euro-Gemeinschaft noch nicht gesehen hat, um in besonderen Fällen zu helfen. Mit der Schaffung eines solchen Instruments sind wir einverstanden. Aber eines möchte ich ausdrücklich sagen, damit dies bedacht wird, wenn darüber diskutiert wird: Wir möchten nicht, dass als Lösung solcher Probleme das Instrument eines Finanzausgleichs auf europäischer Ebene geschaffen wird. Das wollen wir auf keinen Fall.
Dies würde nicht zu einer Stärkung der Stabilität führen. Vielmehr würden alle nach dem Motto handeln: Wir können machen, was wir wollen. Einer wird uns schon helfen. - Mit diesen zentralen Fragen beschäftigen wir uns heute.
Ich komme zum Schluss. Frau Schwall-Düren, Sie haben gesagt - das unterstütze ich ausdrücklich -: Wir sehen in Europa eine Schicksalsgemeinschaft. Wir sehen in Europa unsere Zukunft. Wir wissen, dass Europa schon Großes geleistet hat. Allein die Tatsache, dass es auf europäischem Boden keinen Krieg mehr gibt, ist schon einen Dank an dieses gemeinsame Europa wert.
Jetzt geht es darum, diesem Europa die Kraft zu geben, in wirtschaftlicher, kultureller und auch sozialer Hinsicht die notwendigen Veränderungen zu gestalten. Dabei kommt es darauf an, dass zunächst einmal die Nationalstaaten ihre Hausaufgaben machen und dass Europa die Dinge regelt, die ein Einzelner nicht leisten kann.
Wenn dieser Grundsatz - Europa ist für die großen Dinge zuständig, alle anderen Dinge bleiben in der Verantwortung der Nationalstaaten - weiter Maßstab sein wird, dann hat dieses Europa eine gute Zukunft.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Gregor Gysi.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Was stöhnen Sie denn gleich? Sie wissen doch noch gar nicht, was ich sagen werde.
Herr Kauder, zunächst einmal möchte ich Ihnen widersprechen. Sie haben behauptet, den größten Unsinn in Ihrem Leben hätten Sie von mir gehört. Das glaube ich Ihnen nicht. Sie müssen in Ihrer Partei schon größeren Unsinn gehört haben. Darauf würde ich sogar eine Wette abschließen.
Jetzt zum Ernst. Sie haben etwas Falsches über die sogenannte Losentscheidung bei der Vergabe von Gymnasialplätzen in Berlin gesagt, das ich richtig stellen möchte. Die Situation ist eine völlig andere. Alle Schüler, die für das Gymnasium geeignet sind, bekommen in Berlin auch einen Platz an einem Gymnasium. Wir haben jedoch das Problem, dass bestimmte Schulen im Gegensatz zu anderen Schulen überlaufen sind. Deshalb können nicht alle Schülerinnen und Schüler das Gymnasium besuchen, das sie gern besuchen wollen. Der Senat hat sich für ein Losverfahren entschieden und gesagt: Wir mischen uns nicht ein. Dann gibt es keine Bestechung. Dann gibt es keine Beziehungsfragen. -
Vielleicht werden wir es korrigieren. Dann wird es aber schwieriger.
- Da gibt es gar keinen Grund, zu lachen. Hören Sie doch erst einmal zu!
Wenn ein Schüler Pech beim Losverfahren hat, dann geht er selbstverständlich an ein anderes Gymnasium und bekommt dort seine gymnasiale Ausbildung und kann das Abitur machen. Das müssen Sie bitte immer dazusagen. Das machen Sie aber nicht.
Jetzt werden wir vielleicht wegen Ihrer Kritik einen anderen Weg gehen und Kommissionen bilden. Ich sage Ihnen aber, dass dann die Leute kommen und sagen werden: Wieso ist gerade meine Tochter nicht dabei? Warum die anderen? Nach welchen Kriterien sind Sie vorgegangen? - Ich weiß gar nicht, ob das wirklich gerechter ist. Bitte sagen Sie das aber beim nächsten Mal dazu und erwecken Sie nicht den Eindruck, als ob Schülerinnen und Schüler, die für das Gymnasium geeignet sind, in Berlin keinen Platz an einem Gymnasium bekommen; denn das ist nicht der Fall. Das Los entscheidet nur, ob sie zu dieser Schule gehen oder eventuell zu einer anderen Schule gehen müssen. Das ist in Berlin durchaus machbar.
Ich wäre auch froh, wenn alle Schüler die Schule besuchen könnten, die sie besuchen wollen. Sie wissen aber, dass wir noch nicht so weit sind, weil Sie zu wenig Geld für Bildung zur Verfügung stellen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege Kauder, bitte.
Volker Kauder (CDU/CSU):
Herr Kollege Gysi, es ist bezeichnend für Ihre Einlassung zu diesem Thema, dass Sie nicht darüber sprechen, was die Ursache für dieses nicht akzeptable Losverfahren ist. Das ist nämlich eine Qualitätsfrage. Wenn die Schulen in Berlin die Qualität hätten, die sie eigentlich haben müssten, dann käme es überhaupt nicht zu diesem Ausleseverfahren. Darüber sollten Sie einmal reden.
Sie liefern die Qualität nicht ab.
Herr Kollege Gysi, im Rahmen der Föderalismusreform I haben wir klare Verabredungen getroffen. Dabei ist gesagt worden: Der Bund soll sich nicht um die Bildung kümmern. Das machen die Länder. - Deswegen haben die Länder diese Aufgabe zu erfüllen, Herr Kollege Gysi.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe jetzt gelernt, dass in Baden-Württemberg alle Schülerinnen und Schüler genau die Schule besuchen, die sie besuchen wollen.
Ich habe ein Weiteres gelernt, lieber Herr Kauder. Wenn Sie über die Föderalismusreform I reden, dann sollten Sie den Mut haben, zu sagen: Als wir damals das Kooperationsverbot bei der Bildung in das Grundgesetz geschrieben haben, haben wir einen großen Fehler gemacht. Das würden wir heute in dieser Form nicht wieder machen. - Das wäre ehrlich.
Frau Bundeskanzlerin, die Bild-Zeitung hat Sie in ihrer heutigen Ausgabe als Bismarck abgebildet. Nun kann ich Sie nicht dafür in Haftung nehmen, wie andere Sie porträtieren. Sie haben aber mit Ihrer Regierungserklärung den ernsthaften Versuch unternommen, dieses Portrait argumentativ zu unterfüttern. Da sage ich Ihnen: Bismarck steht für den organisierten Nationalstaat. Das gemeinsame Europa war die Überwindung genau dieses Gedankens des Nationalstaats Bismarck?scher Prägung. Deswegen sollten Sie als Vorsitzende der Partei von Konrad Adenauer und Helmut Kohl die Skizzierung als Bismarck als Kritik und nicht als Ansporn für Ihre Politik nehmen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gysi?
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Bitte.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ich möchte Ihnen, Herr Trittin, bevor ich meine Frage stelle, wirklich allerbeste Genesung wünschen. Wir alle haben Ihre Erkrankung mitbekommen, und ich glaube, das wünschen Ihnen alle hier.
Sie sind jetzt zwar beim Thema Europa; aber ich habe mich schon zur Zwischenfrage gemeldet, als Sie beim Thema Bildung waren. Ich habe dazu eine Frage: Können Sie Herrn Kauder vielleicht einmal erklären, wie groß der Anteil von Kindern, die ein Abitur machen, in Berlin ist und wie groß der Anteil zum Beispiel in Bayern und Baden-Württemberg ist? Vielleicht können Sie ihm noch erklären, warum der Anteil in Bayern und Baden-Württemberg so viel kleiner als in Berlin ist.
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Lieber Herr Kollege Gysi, wir sind hier - das verstehe ich durchaus als Antwort auf Ihre Frage - an einem der Punkte der Regierungserklärung von Frau Merkel. Was ist der Grund, warum Sie, Frau Merkel, es verweigern, sich zusammen mit den Ministerpräsidenten in Europa auf quantifizierte und überprüfbare Bildungsziele zu einigen?
Der Grund ist relativ einfach: weil Sie sich mit Ihrer auf Selektion, das heißt auf Ausschluss von Bildungschancen beruhenden Bildungspolitik nicht dem europäischen Vergleich, zum Beispiel mit Finnland - da muss man gar nicht nach Berlin schauen - und anderen Ländern, stellen wollen. Das ist der Grund, warum Sie an dieser Stelle die EU-Strategie 2020 blockieren.
Das ist auch der Grund, warum die Bild-Zeitung zu Recht dieses Bismarck-Bild von Ihnen gezeichnet hat. Es war jahrelang gute Tradition, dass die Bundesrepublik Deutschland in Europa eine antreibende, eine gestaltende, eine vorwärtstreibende, Europa stärkende Rolle spielte. Was tun Sie im Zusammenhang mit dieser Ratssitzung? Sie sind es, die dafür gesorgt hat, dass beispielsweise die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Island auf Eis gelegt wird. Warum eigentlich? Weil Island bilaterale Probleme mit den Niederlanden und Großbritannien hat?
Das kann wohl für Europa und für Deutschland kein Argument sein.
Sie sind es, die quantifizierte Bildungsziele in dieser Strategie verweigert.
Sie haben hier explizit erklärt: Die Bundesrepublik Deutschland ist dagegen, das Ziel der Armutsbekämpfung zum Bestandteil einer gemeinsamen europäischen Strategie zu machen. Ich sage Ihnen: Da kommen wir genau an den Punkt, warum dieses Europa zurzeit in einer existenziellen Krise ist, einer Krise, die weit über das hinausgeht, was wir im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um den Verfassungsvertrag erlebt haben. Was passiert denn in Griechenland? Da verbrennen Leute, die sich gegen diese Sparpolitik wehren, inzwischen die europäische Fahne. Das ist ungerecht gegenüber Europa; da sind wir wahrscheinlich einer Meinung. Besser wäre es, wenn diejenigen die Fahne der griechischen Konservativen verbrennen würden, weil die der griechischen Bevölkerung die Suppe eingebrockt haben.
- Der Ministerpräsident hieß Karamanlis. Er war Mitglied Ihrer Schwesterpartei, Herr Kauder. Das müssen Sie schon aushalten. -
Aber dahinter steckt doch ein viel ernsteres Problem. Ein Europa, das nach außen und gegenüber den Menschen in Europa den Eindruck erweckt, man kümmere sich um alles Mögliche, zum Beispiel um Stabilitätskriterien, aber nicht begreift, dass die Überwindung von Armut ein gemeinsames Ziel ist, muss sich doch nicht wundern, wenn die Akzeptanz für dieses Europa mehr und mehr in den Keller geht.
Bei dem, was in den letzten Wochen und Monaten aus Ihren Reihen zur griechischen Krise zum Besten gegeben worden ist, frage ich mich natürlich: Sind wir denn eigentlich selber so weit von griechischen Verhältnissen entfernt? Ist es nicht so, dass die Bundesrepublik Deutschland zur Erreichung des Maastricht-Stabilitätskriteriums ein Jahr länger Frist von der EU-Kommission bekommen hat als Griechenland?
Ist es nicht so - ich schaue zu den Kolleginnen und Kollegen von den Liberalen -, dass zum Beispiel in Griechenland gut verdienende Ärzte gerade einmal 10 000 Euro versteuern, und das zu einem maximalen Steuersatz von 40 Prozent. Da muss Ihnen von der FDP doch das Herz aufgehen.
Sie fordern doch für Deutschland genau die Verhältnisse, die Sie in Griechenland kritisieren. Ich warte jetzt nur noch auf den Vorschlag aus Ihren Reihen, wir könnten doch Sylt und Helgoland verkaufen, um Ihre Steuerreform zu finanzieren. Auf diesem Niveau lagen Ihre Vorschläge zur Behebung der Krise in Griechenland.
Nun will ich gerne konzedieren, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie sich das nicht zu eigen gemacht haben. Aber auch Ihnen, Frau Merkel, kann ich den Vorwurf nicht ersparen, dass Sie die Stammtischmentalität, die sich da ausgetobt hat, mit Ihren Äußerungen verstärkt und gestützt haben.
Schlimmer noch: Sie haben damit die Krise in Griechenland verschärft.
- Nein, das ist eine Tatsache. Es war die deutsche Bundeskanzlerin, die vorgeschlagen hat, die EU-Verträge so zu ändern, dass man ein Land wie Griechenland auch hinausschmeißen könnte. - Sie haben die Reaktion auf den internationalen Finanzmärkten sehen können: Während Deutschland für Anleihen heute nur eine Rendite von 3 Prozent bieten muss, muss Griechenland 6,5 Prozent, also mehr als das Doppelte, zahlen. Ihre Äußerungen haben den Kurs nach oben getrieben.
Jerzy Buzek hat in den Fraktionen gesagt, in Europa gehörten Verantwortung und Solidarität zusammen. Dazu sage ich Ihnen: Mit vorsätzlichen, leichtfertigen Äußerungen die Kreditbedingungen für Griechenland zu verschlechtern, das ist weder verantwortlich noch solidarisch. Es ist das Gegenteil einer vernünftigen europäischen Politik.
Übrigens, niemand aus dem Oppositionslager hat gefordert, Griechenland mit Steuergeldern zu unterstützen.
Wir haben ausschließlich gesagt, man müsse Griechenland über Euro-Bonds die Möglichkeit geben, sich auf dem Kreditmarkt mit dem notwendigen Geld zu versorgen.
Das tun wir übrigens gegenüber Osteuropa, gegenüber Lettland und Ungarn, genauso. Das ist nichts Neues. Was Sie getan haben, ist schlicht und ergreifend, sich der selbstverständlichen Solidarität gegenüber Griechenland zu entziehen.
Das ist kurzsichtig.
Wir haben übrigens lange von den überschießenden Binnenmarktentwicklungen in Spanien, Portugal und Griechenland profitiert. Auch das ist ein Teil der Wahrheit. Wenn wir weiterhin in dieser Form exportieren wollen, dann hat die Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland ein massives Interesse daran, dass die Binnennachfrage im Süden der EU nicht völlig zusammenbricht. Es ist zwar falsch, uns unsere Exportstärke vorzuwerfen; da stimme ich der Kanzlerin zu. Aber es ist genauso falsch, dazu beizutragen, die Märkte, auf die wir exportieren können, mit dieser Form unsolidarischen Verhaltens zu ruinieren. Auch das ist ökonomisch kurzsichtig.
Es ist schon bezeichnend, dass der Einzige, der in diesem Kabinett noch den Mut hat, zu Europa zu stehen, der Bundesfinanzminister ist. Man kann über Wolfgang Schäubles Vorschlag eines EWF lange streiten; aber eines bleibt wahr und Herr Schäubles richtiger Gedanke, Frau Bundeskanzlerin, ist doch: Europa muss seine Probleme selber lösen. Europa kann sie nicht an Washington oder an den IWF delegieren. Deswegen ist Ihr Vorschlag falsch.
Dieser Tage wird Helmut Kohl 80. Wir alle wünschen ihm alles Gute. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich politisch in Opposition zu ihm gestanden,
aber eines, meine Damen und Herren, würde ich Helmut Kohl immer bescheinigen: Helmut Kohl war ein großer Europäer. Er hat selbst im Jubel der deutschen Einheit daran festgehalten, dass es Deutschland nur in einem starken, gemeinsamen Europa geben kann. Das war der Grund, warum er gesagt hat: Wir müssen Deutschland in das gemeinsame Europa einbinden. Das Instrument dafür war die Einführung des Euro. Das war für ihn - ich zitiere - ?eine Frage von Krieg und Frieden?. Er hatte recht. Ich sage Ihnen: Zentrale Probleme dieses gemeinsamen Europas müssen künftig europäisch gelöst werden. Das können Sie nicht an internationale Finanzinstitutionen delegieren. Wenn Sie das tun, liebe Frau Merkel, dann tun Sie nur eins: sich aus Wahlkampfgründen einer richtigen, europäischen Lösung verschließen. Damit treten Sie das Erbe Helmut Kohls mit Füßen und schaden deutschen Interessen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Michael Link für die FDP-Fraktion.
Michael Link (Heilbronn) (FDP):
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Man startet mit der Regierungserklärung bei Europa und landet in der Berliner Landespolitik.
Daran wird zumindest eines deutlich: Die von der christlich-liberale Koalition getragene Bundesregierung betreibt europäische Politik, insbesondere Währungspolitik, nicht als Roulette, Lotto oder andere Dinge. Wir stellen fest: Sie brauchen, um Ihre Berliner Schulprobleme zu lösen - in Ihrer Kurzintervention haben Sie selbst entlarvend gesagt: um zum Beispiel Bestechung zu verhindern -, Instrumente wie Lotto und Roulette. Wir wollen bei der Währung ganz bewusst keine Risiken eingehen, um nicht mit das Wichtigste, was wir durch die europäische Einigung erreicht haben, nämlich einen stabilen und harten Euro, zu gefährden. Deshalb unterstützt die FDP-Fraktion den Kurs der Bundesregierung auf das Entschiedenste.
In unserer Generation wird entschieden, ob die Wirtschafts- und Währungsunion ein Erfolg bleibt oder ob sie daran zugrunde geht, dass einige Staaten über einen längeren Zeitraum weit über ihre Verhältnisse leben, in Bezug auf ihre Wirtschaftsleistung immer gewaltigere Defizite aufbauen und sich dann, wenn es nicht mehr weitergeht, hilfesuchend an Dritte wenden. Das kann so nicht funktionieren. Solidarität braucht und setzt Verantwortung voraus.
Es geht nicht darum: Wer ist der beste Europäer, sprich: wer ist am solidarischsten, wer hilft am schnellsten? Das ist genau der falsche Reflex. Deshalb begrüßen wir auch in diesem Punkt das, was wir heute Morgen von der Bundeskanzlerin gehört haben. Aus unserer Sicht waren das Worte, die genau in die richtige Richtung gehen, weil sie zeigen, dass wir sehr wohl im Extremfall als Ultima Ratio über die erwähnten Instrumente - IWF und notfalls auch bilaterale Hilfen - helfen werden. Frau Kollegin Schwall-Düren, damit wollen wir Stabilität, Ruhe und Sicherheit in die Märkte hineinbringen. Sie haben die Financial Times Deutschland hochgehalten. Wir haben Respekt vor der Pressefreiheit. Ich kann nur sagen: Meines Erachtens ist der Kurs, den Sie vorschlagen, sowohl für den Euro als auch für die Märkte riskant.
Wir haben in der Regierungserklärung der Frau Bundeskanzlerin gehört, dass wir darauf reagieren müssen, wenn die Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes unterlaufen werden. An unsere gemeinsamen Kriterien müssen wir in der Tat noch einmal heran. Wahrscheinlich wird es ohne eine Überarbeitung und Präzisierung unserer Kriterien nicht gehen. Bei diesem Prozess müssen wir aber aufpassen - Rainer Brüderle hat es gesagt -, dass wir nicht in einen europäischen Finanzausgleich hineinkommen. Ein europäischer Finanzausgleich wäre genau der falsche Weg. Wir brauchen stattdessen Wege, die den Ländern, die sich in einer problematischen Situation befinden, helfen, ohne die Stabilität der Währung aufzuweichen. Ich glaube, mit den Vorschlägen, die jetzt gemacht worden sind, sind wir auf einem guten Weg.
Wenn wir allen Vorschlägen folgen würden, die Sie, Kollege Gysi, hier gemacht haben, die durch einige Ausführungen des Kollegen Trittin ergänzt wurden, bei denen ich mich gefragt habe, ob er auch die Historie der griechischen Kreditwürdigkeit studiert hat, dann kämen wir schnell in eine Situation, in der der Euro die Stabilität hätte wie am Schluss die Ostmark.
Vom Kollegen Trittin ist Island angesprochen worden. Ich vermute, dieses Thema wird auch später noch eine Rolle spielen; denn wir haben mehrere Anträge dazu vorliegen. Kollege Trittin, Sie haben gesagt, die Kanzlerin würde sich wie Bismarck verhalten. Ich will Ihre Aufmerksamkeit jetzt einmal ganz bewusst auf einen anderen Aspekt lenken, weil Island ein sehr schönes Beispiel ist. Im Fall Island handeln wir, wie ich finde, eben nicht genau wie Bismarck - nach dem Motto: Wir entscheiden und alle anderen müssen folgen -, sondern wir haben uns als Bundestag entschieden - auch im Lichte der neuen Begleitgesetze und der Entscheidung Karlsruhes -, diesen Prozess in aller Ruhe durchzuführen.
Erweiterungen funktionieren für uns nicht auf Knopfdruck. Erweiterung ist ein Prozess - die FDP-Fraktion steht zur Fortsetzung des Erweiterungsprozesses -, der im Einzelfall kontrolliert, mit genauer Begleitung und vor allem unter parlamentarischer Kontrolle erfolgen muss. Dies verbietet es, diesen Prozess übers Knie zu brechen.
Deshalb werden wir Ihren Anträgen, die Sie heute dazu vorgelegt haben, nicht zustimmen. Wir sind für das ganz normale parlamentarische Verfahren. Wir werden das noch einmal ausführlich im Bundestag behandeln. In der nächsten Sitzungswoche - wahrscheinlich sogar mit einer großen Debatte während der Kernzeit - werden wir uns des Themas Island noch einmal ganz besonders annehmen. Im Übrigen steht dieses Thema nicht auf der Tagesordnung des Europäischen Rates. Auch deshalb wäre es falsch, schon heute darüber abzustimmen. Bei Erweiterungsfragen ist genauso wie bei Währungsfragen nicht die Schnelligkeit entscheidend. Nicht derjenige, der schnell hilft, ist der beste Europäer. Gründlichkeit ist aus unserer Sicht ganz wichtig, um den Prozess der Erweiterung auch weiterhin rechtfertigen zu können.
Für die FDP-Fraktion sind Verträge und Vertragstreue ein hohes Gut.
Das gilt aus unserer Sicht für alle Bereiche der europäischen Politik. Das gilt für Beitrittsverhandlungen. Ich habe es erwähnt: Das gilt für Island, aber auch für alle anderen Fälle. Für uns gilt: Pacta sunt servanda. Das gilt für den Verfassungsvertrag und die strikten Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, die wir, wo nötig, ergänzen und überarbeiten müssen. Das gilt für uns vor allem für den harten Euro. Deshalb gilt das auch für die Unterstützung des hier vorgestellten Kurses der Bundesregierung beim Europäischen Rat.
Kolleginnen und Kollegen, noch ein Wort an uns selbst: Das gilt auch für die neue Begleitgesetzgebung. Das, was wir in der nächsten Sitzungswoche, aber auch schon heute aufgrund der Anträge der Kollegen von der Opposition bezogen auf Island machen, ist der erste Fall - das hört sich jetzt technisch an - einer Stellungnahme nach § 10 EUZBBG, dem Begleitgesetz, das die Zusammenarbeit zwischen Bundestag und Bundesregierung regelt. Das ist der erste Fall, und wir müssen uns sehr viel Zeit nehmen, um das genau durchzusprechen. Wir erinnern uns selbst, aber auch die Bundesregierung daran, dass die Zeiten, in denen Europapolitik quasi an die Bundesregierung delegiert wurde, vorbei sind. Das nimmt uns in die Pflicht und die Bundesregierung genauso.
Wir wissen aber auch - deshalb waren wir über die klaren Worte in der heutigen Regierungserklärung froh -, dass die deutschen und die europäischen Interessen bei der Bundesregierung auf der Tagung des Europäischen Rates heute und morgen in guter Hand sind. Wir wünschen erfolgreiche Verhandlungen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Axel Schäfer für die SPD-Fraktion.
Axel Schäfer (Bochum) (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin und die Positionierung der Koalitionsfraktionen zu dieser so wichtigen europapolitischen Frage in dieser Stunde kann man mit zwei Worten überschreiben: unberechenbar und unglaubwürdig.
?Unberechenbar? ist in diesem Zusammenhang keine Erfindung der SPD, sondern das können Sie jeden Tag in Ihnen nahestehenden Zeitungen lesen, von FAZ bis Financial Times, weil sich täglich die Position der Bundesregierung, der Kanzlerin zu zentralen europäischen Fragen, wie jetzt zur Hilfe für Griechenland, ändert. Tagtäglich ändert sich das.
Das ist alles andere als eine verlässliche Europapolitik.
Mal gibt man Unterstützung, mal ist man dagegen. Man ist für einen europäischen Währungsfonds, aber eigentlich doch nicht. Jetzt geht es um Maßnahmen über den IWF. Wenn sich die Fraktionsvorsitzenden einmal anschauen, was gestern in dem Entwurf zur Regierungserklärung stand und was heute erklärt worden ist, dann sehen sie, dass es selbst da Unterschiede gibt. So schnell ändern sich Positionen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre ja schon genug, Sie für diese Europapolitik zu kritisieren. Es geht hier aber auch um die deutsche Rolle.
Durch dieses Wackeln, Schweigen oder auch zum Teil Hinterherlaufen gibt es keine deutsche Führungsposition in Europa. Es gibt keine deutschen Vorstellungen, für die man wirbt, sondern man wartet, wechselt oder läuft Positionen hinterher. Genau das darf Deutschland als verantwortungsvolles Land in Europa nicht machen.
Warum ist das alles unglaubwürdig? Die Kanzlerin hat heute ermahnt - ich zitiere aus dem Gedächtnis, aber fast wörtlich -, dass wir über die Themen, die auch beim Europäischen Rat anstehen, mehr diskutieren müssen. Was ist die Praxis?
Wir haben gestern im Europaausschuss erlebt, dass ein zentrales Thema, nämlich die Strategie ?EU 2020?, für das die SPD Vorarbeiten geleistet hat und sich für die Diskussion positioniert hat, abgesetzt worden ist. Das heißt, die Kanzlerin fährt jetzt zum Gipfel, ohne dass es eine abgestimmte Position gibt, ohne dass der Bundestag grundlegend darüber diskutiert hat. Das fehlt, und das haben Sie verhindert.
Es geht noch weiter. Kollege Link hat natürlich völlig recht,
wenn er sagt, dass wir die Konsequenzen aus dem Lissabon-Vertrag und dem Lissabon-Urteil ernst nehmen müssen. Ich zeige Ihnen konkret, wie ernst sie genommen werden.
Erstes Beispiel: europäische Bürgerinitiative. Es ist ein zentrales Anliegen Deutschlands und dieses Hauses insgesamt, es Bürgerinnen und Bürgern möglich zu machen, sich durch Unterschriften für ein europäisches Projekt zu engagieren. Das muss dann zu einem Gesetzesakt, zu einem Vorschlag der Kommission führen muss. Dazu ist weder von der Bundesregierung noch von einer der sie tragenden Fraktionen etwas gesagt worden, weder von CDU/CSU noch von FDP. Dort herrscht nur lautes Schweigen zu Europa.
Zweites Beispiel: Europäischer Auswärtiger Dienst. Dazu gibt es Vorschläge und Positionen der SPD, aber von Ihnen ist kein Vorschlag gemacht worden, wie die Bundesregierung positioniert werden soll.
Drittes Beispiel: Island. Dieses Beispiel ist besonders schön; denn da wird die Arbeitsteilung der Verhinderung einer Positionierung deutlich. Die einen, nämlich die Bundesregierung, sagen, man müsse auf den Bundestag warten, und die anderen, die Koalitionsfraktionen im Bundestag, erweisen sich als unfähig, sich in ihren Arbeitsgruppen abzustimmen, um rechtzeitig eine Positionierung zu Island zu erreichen.
Es wäre jetzt noch möglich, eine Positionierung rechtzeitig zu erreichen. Bis zur letzten Woche war von der spanischen Ratspräsidentschaft angekündigt worden - der Brief vom 18. März liegt vor -, das zu machen. Das ist nicht gemacht worden. Wir sind jetzt in der Situation, dass wir nicht wissen, auf welchen Wegen bestimmte Entscheidungen, Vorentscheidungen oder Abstimmungen getroffen werden, ohne dass der Bundestag durch eine Debatte und einen Beschluss Einvernehmen herstellt. Wir wollten das mit gutem Willen machen. Dieser gute Wille hat bei Ihnen im Monat März gefehlt. Das muss hier offen kritisiert werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier geht es um die Frage: Sind wir als Bundestag, selbstverpflichtend über die Fraktions- und Parteigrenzen hinweg, willens und in der Lage, tatsächlich europäische Politik zu gestalten? Das, was ich zurzeit von den geschätzten Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition erlebe, ist mutlos. Es ist auch manchmal ratlos. Aber am Ende kann es auch dazu führen, dass man rückgratlos wird, wenn man all das, was man vorher zur Stärkung der parlamentarischen Rechte vereinbart hat, hier nicht wahrnimmt.
Wir werden unsere Oppositionsrolle so wahrnehmen, dass wir Punkt für Punkt bei allen wichtigen europäischen Fragen die Diskussion im EU-Ausschuss, möglichst in allen Ausschüssen und im Plenum führen, damit die Europäisierung des Bundestages gelingt. Dafür braucht man nicht nur Überzeugung, sondern auch Gestaltungswillen. Der Gestaltungswille fehlt auf der rechten Seite dieses Hauses.
Dass Sie anders können, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben Sie an zwei Stellen gezeigt:
Sie haben den Mut gehabt - es gehört zu einer fairen und ehrlichen Debatte, auch das zu sagen -, dafür zu sorgen, dass der Deutsche Bundestag - das wurde auf Antrag der SPD-Fraktion beschlossen und vom Bündnis 90/Die Grünen, von der Linken, der FDP und der CDU/CSU unterstützt - den deutschen Kommissar Günther Oettinger nach seiner Benennung eingeladen hat und wir ihn befragt haben. Das war ein historisches Novum für das Parlament. Die Regierenden sollten sich schon einmal Gedanken machen, ob sie auch Minister in Zukunft vielleicht nicht nur ernennen, sondern ob sie solche Anlässe auch parlamentarisch nutzen. Minister könnten sich hier im Parlament den Fragen der Abgeordneten stellen und gewissermaßen auf den Prüfstand gestellt werden. Die Befragung des deutschen Kommissars Oettinger haben wir im Bundestag, wie gesagt, gemeinsam beschlossen. Das war ein guter Weg.
Außerdem haben wir im Europaausschuss gemeinsam vereinbart, bei unseren Debatten die Öffentlichkeit zuzulassen; auch das ist richtig.
Ich appelliere an Sie von CDU/CSU und FDP, der gemeinsamen europäischen Verantwortung im Parlament nachzukommen und nicht nur zu fragen, was die Regierung erlaubt. Die SPD wird sich nicht danach richten, was die Regierung ihr erlaubt, sondern wir werden unsere Fragen stellen. Wir werden uns Punkt für Punkt anschauen, wie Sie Europapolitik machen, und den Finger dort in die Wunde legen, wo Sie keine gestaltende deutsche Europapolitik machen. Die brauchen wir nämlich. Das ist eine gute Tradition. Für diese Tradition stehen Frank-Walter Steinmeier und die sozialdemokratische Bundestagsfraktion.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Hans-Peter Friedrich für die CDU/CSU-Fraktion
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wenn sich die Frau Bundeskanzlerin schon auf den Weg zum Europäischen Rat machen musste, will ich mit einem großen Kompliment beginnen. Sie hat in den letzten Tagen und Wochen die Interessen Deutschlands, aber auch die Interessen Europas trotz der schwierigen Debattenlage auf europäischer Ebene in hervorragender Weise vertreten, und zwar sowohl im Hinblick auf die Schuldenkrise Griechenlands als auch hinsichtlich der EU-Strategie 2020.
Angela Merkel hat gezeigt, dass sie Hüterin der Ordnung in Europa ist, einer Ordnung, die sich Europa selbst gegeben hat und die von Begriffen wie Subsidiarität und Stabilität geprägt ist. Beide Begriffe dürfen nicht der Beliebigkeit geopfert werden; dafür hat sie gesorgt. Denn sie sind die Spielregeln, die wir Europäer uns selbst gegeben haben und die eingehalten werden sollen.
Lieber Herr Kollege Schäfer, ich bin froh, dass wir nach dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages die Möglichkeit haben, uns mehr als in der Vergangenheit und bei noch größerer Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit im deutschen Parlament mit europäischen Themen zu befassen. Ich bin der Meinung, dass diese wichtigen Themen nicht in irgendeinen nichtöffentlich tagenden Ausschuss gehören, sondern in das Parlament. Insofern sind diese Regierungserklärung und die heutige Debatte wichtig und, wie ich hoffe, der Anfang einer ausführlichen europäischen Debatte, die wir gemeinsam führen wollen.
Nur, ich halte es, auch wenn wir über die verschiedenen Fragen kontrovers diskutieren, für notwendig, dass wir dann, wenn es darum geht, deutsche Interessen wahrzunehmen, der Regierung und insbesondere, wie in diesem Fall, der Bundeskanzlerin den Rücken stärken, zusammenstehen und sagen: Wenn es um unser gemeinsames deutsches Interesse geht, dann muss die Regierung von allen unterstützt werden.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sarrazin?
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU):
Nein, danke. Jetzt keine Zwischenfragen.
Griechenland hat über seine Verhältnisse gelebt; ich glaube, das bestreitet auch niemand. Das Ergebnis ist, dass Griechenland heute eine Nettoneuverschuldung von 13 Prozent zu verzeichnen hat; ich wiederhole: 13 Prozent. Das Ergebnis ist, dass die Schuldenstandsquote in Griechenland heute bei 120 Prozent liegt; das bedeutet, die Schulden betragen 120 Prozent dessen, was das Land in einem ganzen Jahr erwirtschaftet. Das ist eine unvorstellbare Summe.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist deutsches und europäisches Interesse, und zwar das Interesse aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union, dass Griechenland aus dieser instabilen, schwierigen Lage herauskommt.
Das ist deswegen unser Interesse, weil wir eine gemeinsame Währung haben und weil Europa, die EU eine Schicksalsgemeinschaft ist.
Es ist auch unser Interesse, zu verhindern, dass an die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands und Europas die Botschaft gesendet wird, dass derjenige, der sich an die Spielregeln hält und fleißig ist, am Ende der Dumme ist und die Zeche zahlen muss. Auch dies ist notwendig.
Ich begrüße es außerordentlich, dass die Frau Bundeskanzlerin heute gesagt hat: Alles, was wir uns an Hilfen überlegen, ist Ultima Ratio, das allerletzte Mittel. - Darum muss es gehen. Griechenland hat einen wichtigen und einen richtigen Kurs eingeschlagen. Dass der Kurs richtig ist, beweisen die Reaktionen der Finanzmärkte und die heutige Entscheidung der EZB, den Griechen ein Stück entgegenzukommen. Ich glaube, das ist ein glaubwürdiger und richtiger Kurs.
Dieser Kurs kann nur gemeinsam mit der griechischen Bevölkerung in Angriff genommen werden. Es ist notwendig, dass die Menschen in Griechenland den Ernst der Lage ihres Landes erkennen. Sie müssen aber auch die Ursachen dafür erkennen. Deswegen ist es sehr ungünstig - ich drücke mich vorsichtig aus -, dass man in Griechenland heute so tut, als seien die europäischen Partner nicht die Opfer der Tricks und Täuschungen, die frühere Regierungen vorgenommen haben, sondern die Täter; dies geht aus der veröffentlichten Meinung hervor. Täter und Opfer auseinanderzuhalten, ist in dieser Frage sehr wichtig.
Herr Gysi, Sie haben letzte Woche - ich zitiere aus dem Protokoll - in der Haushaltsdebatte gesagt:
Jetzt gehen die Menschen dort
auf die Straße, und zwar, wie ich finde, völlig zu Recht. ? Da stehen wir an der Seite der Bevölkerung Griechenlands.
Herr Gysi, Sie gehören zu denjenigen, die der griechischen Regierung in der Problematik, den Menschen den Ernst der Lage ihres Landes zu erklären, in den Rücken fallen. Darum geht es.
Deswegen gehören Sie auch zu denjenigen, die eine Mitschuld daran tragen, dass stattfindet, wovon Herr Trittin gesprochen hat: Es werden europäische Flaggen verbrannt. Wir jedenfalls stehen an der Seite derjenigen, die eine verantwortliche Politik für Europa machen wollen.
Meine Damen und Herren, die Einhaltung der Stabilitätskriterien und der Stabilitätsziele war eine wichtige Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit unserer Währung und eine wichtige Voraussetzung dafür, dass der Euro und Europa bis jetzt so hervorragend aus dieser Wirtschaftskrise hervorgegangen sind. Ich glaube, dass es richtig war, von Anfang an klar und deutlich zu machen: Es gibt keine Gemeinschaftshilfen. Es gibt keine gesamtschuldnerische Haftung aller Europäer für griechische Schulden. Das ginge nämlich gegen den Geist und gegen die Buchstaben von Maastricht. Deswegen möchte ich an dieser Stelle der Frau Bundeskanzlerin herzlich dafür danken, dass sie dies von Anfang an klipp und klar gemacht hat.
Heute kommt die Idee, den IWF in die Verantwortung einzubeziehen, offiziell zum Tragen. Wer Mitglied der Europäischen Union und Mitglied der Europäischen Währungsunion ist, scheidet nicht automatisch aus anderen Organisationen aus. Er scheidet nicht automatisch aus anderen Instrumentarien, auf die er einen Anspruch hat, aus, wenn es darum geht, ihm zu helfen. Weil die Griechen gegenüber dem IWF einen Anspruch auf Hilfe haben, ist es richtig, den Weg der Einschaltung des IWF als Ultima Ratio in Erwägung zu ziehen.
Dennoch zögert Griechenland, Hilfen von den europäischen Partnern oder vom IWF anzufordern. Griechenland zögert zu Recht. Denn jeder, der Hilfen von Dritten anfordert, beraubt sich gleichzeitig ein Stück seiner Freiheiten und Möglichkeiten. Er muss akzeptieren, dass an diese Hilfen und Forderungen Bedingungen geknüpft sind. Deswegen zögert Griechenland zu Recht. Es geht um die Aufrechterhaltung seiner eigenen Souveränität. All diejenigen, die allzu schnell raten, den Griechen zur Seite zu stehen, haben oft überhaupt nicht das griechische Interesse im Blick, sondern eigene, vielleicht manchmal auch sehr durchsichtige Interessen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Frau Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung gesagt: Wir müssen vermeiden, dass die Stabilitätskriterien in der Zukunft wieder unterlaufen werden können. Die Lehre, die aus der Krise zu ziehen ist, ist in allererster Linie, dass wir Transparenz herstellen: Transparenz in technischer Hinsicht dadurch, dass wir eine einheitliche Datengrundlage für alle Länder zur Verfügung stellen, aber auch Transparenz in politischer Hinsicht - auch das ist heute angesprochen worden - dadurch, dass wir europäischen Aufsichtsbehörden die Möglichkeit geben, die Einhaltung der Stabilitätskriterien vor Ort zu überwachen.
Mit der eindeutigen Haltung von Angela Merkel in all diesen Fragen ist etwas korrigiert worden, was zu Zeiten der rot-grünen Regierung 2005 allzu leicht und allzu leichtfertig über Bord geworfen worden ist. Damals wurde nach Europa ein falsches Signal gesandt,
nämlich das Signal, man könne über die Stabilitätskriterien, die Theo Waigel seinerzeit eingeführt hat, noch einmal reden. Nein, man kann darüber nicht reden. Die Stabilitätskriterien gelten und müssen eingehalten werden und werden eingehalten werden. Das hat Angela Merkel deutlich gemacht.
Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat eine besondere Stabilitätsmentalität. Das liegt nicht nur an Traditionen, sondern auch an schlechten Erfahrungen, die dieses Land, dieses Volk gemacht hat. Deswegen war und ist es wichtig, das Vertrauen der Menschen in die neue Währung Euro zu erhalten. Ich bin der Frau Bundeskanzlerin und der Bundesregierung außerordentlich dankbar,
dass sie im Zusammenhang mit der EU-Strategie 2020 deutlich gemacht haben, dass wir die Stabilitätskriterien nicht an politische, zweifelhafte Kriterien binden lassen. Frau Merkel hat in einem Brief an Herrn Van Rompuy deutlich gemacht, dass auch im Sinne der neuen Strategie Europa 2020 ein Aufweichen der Stabilitätskriterien nicht infrage kommt. Ich bin froh, dass so etwas aus den Vorschlägen, die die Europäische Union macht, inzwischen verschwunden ist.
Theo Waigel hat gestern in einem Artikel in der FAZ etwas gefordert, was, glaube ich, identisch ist mit dem, was die Bundeskanzlerin heute in ihrer Regierungserklärung gesagt hat. Theo Waigel hat gesagt: Wir brauchen eine neue Konsolidierungsstrategie für ganz Europa. - Ja. Und auch da ist Deutschland Vorreiter, und zwar weil wir im vergangenen Jahr gemeinsam - SPD, FDP, CDU/CSU - eine Schuldenbremse ins Grundgesetz aufgenommen haben.
Das ist in Europa wie in der Welt ein bisher einmaliger Vorgang. Diese Schuldenbremse wird unseren Kollegen aus dem Haushaltsausschuss noch sehr viel Arbeit machen und die Bundesregierung - ich sage das voraus - noch viel Schweiß kosten, wenn es darum geht, den nächsten Haushalt und den übernächsten Haushalt aufzustellen.
Sie wird auch der deutschen Bevölkerung das eine oder andere abverlangen. Diese Schuldenbremse ist aber alternativlos angesichts der Verantwortung, die wir für die Finanzen, aber auch für die Zukunft künftiger Generationen in diesem Land haben. Deswegen gibt es zu dieser Konsolidierungsstrategie in Deutschland, aber auch in Europa keine Alternative.
Es ist angesprochen worden, dass Deutschland von einigen europäischen Partnern wegen seiner Wettbewerbsfähigkeit angegriffen wird. Mit der Lissabon-Strategie ist damals ausgerufen worden, Europa solle zur wettbewerbsfähigsten Region der Erde werden. Leider ist daraus nichts geworden; aber das Land, das dieses Ziel für sich erreicht hat, ist Deutschland. Deswegen ist es falsch, gerade dieses Land an den Pranger zu stellen. Vielmehr sollten sich die anderen überlegen, warum sie mit Deutschland nicht gleichziehen konnten, warum es ihnen nicht gelungen ist, ebenfalls eine so gute Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Wettbewerbsfähigkeit ist uns nicht geschenkt worden. Ich erinnere daran, dass wir in den 90er-Jahren ein Leistungsbilanzdefizit hatten, nämlich als wir nach der Wiedervereinigung, Herr Gysi, die Trümmer des Kommunismus auf deutschem Boden aufräumen mussten.
Dieses Land hat gelitten unter diesem Defizit. Es war nicht einfach, dieses Defizit zu überwinden. Ich erinnere an die Konsolidierungsstrategie, die Mitte der 90er-Jahre dafür gesorgt hat, dass die Produktivität in Deutschland gestiegen ist, aber auch an die Agenda 2010. Auch durch sie wurde den Menschen viel abverlangt, aber sie hat dazu geführt, dass die Produktivität an jedem Arbeitsplatz in Deutschland höher als bei den Wettbewerbern in der Welt ist. Das ist der Grund für die Wettbewerbsfähigkeit und für die Leistungsfähigkeit, und dafür brauchen wir uns nicht zu schämen, sondern darauf kann dieses Land stolz sein.
Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass die europäische Leistungsbilanz insgesamt negativ wäre, wenn es den Überschuss in der Leistungsbilanz der Deutschen nicht gäbe. Insofern leisten wir auch in diesem Punkt einen wichtigen Beitrag.
Zur Lohnpolitik. Die zurückhaltende Lohnpolitik unserer Tarifpartner, die ich an dieser Stelle ausdrücklich loben möchte, hat dazu geführt, dass Deutschland hinsichtlich der Arbeitslosigkeit bis heute weit mehr Fortschritte als seine Partner gemacht hat.
Wir liegen heute mit 7,5 Prozent um 2,5 Prozentpunkte unter der Arbeitslosenquote in Europa. Wenn man das mit anderen Ländern vergleicht - 9 Prozent in Frankreich, 13,8 Prozent in Irland -, dann kann man sehen, dass diese Lohnzurückhaltung, die unsere Tarifpartner an den Tag gelegt haben, der richtige Weg zu Beschäftigung und Arbeit für die Menschen in Deutschland ist.
Schließlich zur EU-Strategie 2020. Ich werfe einen Blick auf die Struktur Europas und der europäischen Partnerländer. Diese Struktur ist außerordentlich heterogen. Wir haben im Grunde folgende Möglichkeiten:
Erstens. Wir, alle 27 Länder, einigen uns nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Das wäre zu wenig für ein gemeinsames Europa.
Zweitens. Wir zwängen diese 27 Länder auf einen gemeinsamen Kurs, durch den Kreativität verschwindet und der letzten Endes auch hinsichtlich der Akzeptanz der Bevölkerung schwierig ist.
Drittens. Diesen Weg wollen und sollten wir gehen: den Weg der Vielfalt der Systeme, der Gestaltungsfreiheit und des Gestaltungswettbewerbs. Dieses Prinzip hat sich im deutschen Föderalismus hervorragend bewährt. Dieser Gestaltungswettbewerb muss auch in Europa Platz greifen. Der Beste muss derjenige sein, der die Marken setzt und das Vorbild für andere ist.
In diesem Sinne wird es gelingen, dass Deutschland Vorbild in Europa ist und dass Europa insgesamt vorankommt. Wir wünschen der Bundeskanzlerin für ihre Verhandlungen beim Europäischen Rat alles Gute.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Eva Högl für die SPD-Fraktion.
Dr. Eva Högl (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sehe überhaupt keinen Anlass, der Bundeskanzlerin in einer Rede fünf Komplimente zu machen und 28-mal zu danken,
weil ich die Regierungserklärung der Kanzlerin enttäuschend und erschreckend ideenlos fand.
Wir hätten hier im Bundestag gerne über ein Konzept zu Europa 2020 diskutiert. Als Mitglied der SPD-Fraktion und Opposition sage ich: Ich hätte mich gerne richtig kritisch mit den Vorstellungen und Ideen der Bundesregierung auseinandergesetzt, aber ich habe keine Konzepte, keine Visionen und keine Strategie für Europa gehört,
sondern ich habe ganz viel dazu gehört, was Sie alles nicht wollen. Das verstecken Sie hinter der Floskel ?Vielfalt der Systeme?. Dabei bleiben Sie doch erschreckend vage und unverbindlich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, die CDU war einmal europaengagiert. Ich müsste mich gar nicht um das europapolitische Profil der CDU sorgen, wenn es nicht um Deutschland und um die Zukunft Europas ginge. Das sorgt uns alle. Wir haben in Europa nämlich zehn ganz entscheidende Jahre vor uns. Es geht um die Stabilität und den Zusammenhalt Europas und um unsere Rolle in der Welt. Ich habe von der Bundesregierung bisher nichts dazu gehört, wie es da weitergehen kann.
Die EU-Kommission unter Barroso macht Vorschläge zu fünf Kernzielen; mehr sind es gar nicht. Ich muss die EU-Kommission und ihren Präsidenten Barroso überhaupt nicht verteidigen; denn das ist gar nicht meine Kommission, und sie ist, wie Sie wissen, auch nicht mehrheitlich mit Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten besetzt. Die EU-Kommission legt also eine Grundlage mit fünf Zielen. Zwei davon lehnen Sie ab. Da fragen wir uns doch: Welche Strategie bleibt eigentlich noch für Europa? Wohin soll der Weg gehen?
Dass Sie das Armutsziel ablehnen, halte ich für einen unglaublichen Vorgang.
Beim Thema Armut dürfen wir uns nicht hinter Sonntagsreden und hinter halbherzigen Bekenntnissen verschanzen. Dafür ist das Thema Armut zu wichtig; es muss auch auf der europäischen Ebene ausführlich diskutiert und engagiert angegangen zu werden.
Wir erleben zurzeit die Bundesministerin von der Leyen - wortreich und durchaus mit Empathie - zum Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Aber auch sie lehnt das Ziel der Armutsbekämpfung in Europa ab. Dabei geht es nur um ein gemeinsames Ziel in Europa - nicht um mehr, aber auch nicht um weniger.
Dieses gemeinsame Ziel wäre ein wichtiges Signal an die Menschen in Deutschland und in Europa, dass wir es ernst meinen mit der Bekämpfung von Armut, dass uns ihre Sorgen ernsthaft interessieren und kümmern, dass wir Maßnahmen ergreifen und nicht nur reden, sondern auch handeln. Wenn dieses Signal vom Europäischen Rat ausgehen würde, wäre das sehr, sehr wichtig für die Menschen in Europa.
Ich will auch etwas zum Thema Bildung sagen.
Man kann kritisch sein, und der Bundesrat hat zum Ausdruck gebracht, dass er für das Thema Bildung zuständig ist. Aber ein gemeinsames Ziel in Europa, die Verständigung darauf, dass Bildung wichtig ist und wir in diesem Bereich ambitioniert vorgehen müssen, stellt die Kompetenz der Bundesländer überhaupt nicht in Frage. Wenn man will, dass in Europa Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit großgeschrieben werden und wir gut aufgestellt sind - das haben Sie betont -, dann müssen wir uns auch im Bereich der Bildung Ziele setzen. Dann geht es in Europa gar nicht ohne Bildung.
Aber die schwarz-gelbe Regierung bleibt die Antwort auf die Frage schuldig, wie das mit der Bildung denn gehen soll. Denn Sie nehmen uns mit Ihrer Steuerpolitik jeden Spielraum, um in Deutschland sinnvolle und gute Bildungspolitik zu machen. Ich würde mir wünschen, dass die Bildungspolitik durch ein engagiertes Ziel auf der europäischen Ebene befördert würde.
Zwei Ziele lehnen Sie ab - darauf habe ich hingewiesen -, bei einem dritten Ziel sind Sie unengagiert, und das ist die Beschäftigungsquote. Es geht um die Weiterentwicklung der Lissabon-Strategie. Wir dürfen das Thema Beschäftigungsquote nicht nur auf die Floskel ?Hauptsache Arbeit, egal was für eine? reduzieren. Wir brauchen bei der neuen Strategie klare Aussagen zur Qualität der Arbeit.
Es geht nämlich darum, wie die Menschen in unserem Land arbeiten. Wir brauchen eine Lösung für das Problem, dass immer mehr Menschen von Löhnen leben, von denen sie sich und ihre Familien nicht ernähren können.
Deswegen hätte ich mir gewünscht, dass wir die neue Strategie ganz klar formulieren, im Bereich der Beschäftigungspolitik um einen qualitativen Aspekt ergänzen und feststellen: Wir sind gegen Ausbeutung. Wir sind für gute Löhne auch auf der europäischen Ebene. - Ich hätte mir auch gewünscht, dass wir uns ein engagiertes Ziel mit Blick auf die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen gesetzt hätten. Morgen findet der Equal Pay Day statt. In diesem Zusammenhang hätte man diese Strategie gut weiterentwickeln und ein gutes Ziel setzen können. Das hätte dann den Namen ?neue Strategie? auch verdient.
Eine letzte Bemerkung zum Parlament - der Kollege Schäfer hat es schon gesprochen -: Wir haben eine erste Debatte zum Thema Europa 2020 - und dabei geht es nicht um mehr, aber auch nicht um weniger als um die Zukunft der Europäischen Union - am 4. März um 21.30 Uhr für 30 Minuten geführt. Ansonsten ist das Parlament nicht beteiligt worden. Heute hat es zum ersten Mal die Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen, welche Position die Kanzlerin bei diesem wichtigen Europäischen Rat vertreten wird. Ich finde, das ist eine gravierende Missachtung des Deutschen Bundestages. Das finde ich enttäuschend. Ich hätte mir im Vorfeld dieses Europäischen Rates mehr gewünscht.
Das wäre insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache wichtig gewesen, dass mit dem Lissabon-Vertrag die Parlamente gestärkt wurden. Man hätte auch hier ein deutliches Zeichen setzen können. Aber die Kanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung die Parlamente nicht ein einziges Mal erwähnt, weder den Deutschen Bundestag noch das Europäische Parlament.
Ich kann nur hoffen, dass sie sich mit ihrer Zögerlichkeit und Ideenlosigkeit im Europäischen Rat nicht durchsetzt und dass die anderen Kolleginnen und Kollegen ambitionierter sind und eine gute Strategie 2020 im Sinne der Zukunft Europas, im Sinne der Menschen in Deutschland und Europa und auch im Sinne einer guten Positionierung Deutschlands formulieren.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem Kollegen Michael Stübgen für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Michael Stübgen (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim Europäischen Rat, der in wenigen Stunden in Brüssel beginnt, soll über die Ausgestaltung der sogenannten Europa-2020- oder Post-Lissabon-Strategie diskutiert werden. - Frau Högl, hören Sie einmal zu, was ich zu sagen habe.
Der neue Präsident van Rompuy beabsichtigt, beim Europäischen Rat eine Grundverständigung über die Architektur der neuen Wachstumsstrategie zu erreichen. So steht es auf der Einladung und in der Tagesordnung. Es soll eine Aussprache geben, um dann zu Vorarbeiten und konkreten Beschlüssen zu kommen. Das passiert jetzt beim Europäischen Rat. Wenn Sie richtig zugehört haben, dann wissen Sie, dass der Präsident des Europäischen Parlaments, Herr Buzek, diese Woche mehrfach erklärt hat, dass der Europäische Rat frühestens am 17. Juni eine konkrete Strategie beschließen wird.
Die Koalitionsfraktionen werden fundiert, und zwar durch Beratung in allen beteiligten Ausschüssen im Bundestag, rechtzeitig zu diesem Termin eine detaillierte Stellungnahme mit Bindewirkung für die Bundesregierung vorlegen. Das geschieht dann, wenn es nötig ist, und dies ist für eine allgemeine Diskussion nicht der Fall. Wir beschließen doch im Bundestag keinen Sprechzettel für die Kanzlerin, auf dem steht, was sie in der Aussprache mit den Regierungschefs sagen darf.
In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf Island eingehen. Für jemanden, der das Thema nicht genau kennt, ist es nicht nachvollziehbar, worüber sich die SPD und die Grünen beschweren.
Wir haben von der Bundesregierung den Auftrag bekommen, eine Stellungnahme zum Beschluss von Beitrittsverhandlungen mit Island zu erarbeiten. Zunächst war von der schwedischen und dann weiter verfolgt von der spanischen Ratspräsidentschaft geplant, heute auf dem Europäischen Rat über die Beitrittsverhandlungen abzustimmen. Es zeichnete sich seit Januar ab, dass dieser Termin von den europäischen Institutionen nicht gehalten werden wird.
Wir haben im Bundestag mit unseren Anträgen dafür gesorgt, dass wir schon in der nächsten Sitzungswoche eine fundierte Stellungnahme vorlegen können,
die den Beginn von Beitrittsverhandlungen befürwortet, was wir aber mit dem konkreten Hinweis verbunden haben, dass dann ein entsprechender Beschluss gefasst werden soll. Wir werden am 22. April die zweite und dritte Lesung im Bundestag durchführen, rechtzeitig bevor irgendein Rat irgendetwas in dieser Angelegenheit entscheiden wird. Genau das fordert die Begleitgesetzgebung von uns. So werden wir das als Koalitionsfraktionen auch weiter handhaben.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sarrazin?
Michael Stübgen (CDU/CSU):
Bitte.
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kollege Stübgen, Sie haben gesagt, Sie wüssten nicht, worüber wir uns beschweren. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass sich die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen darüber beschwert, dass die Koalition eine Chance vergibt, Island ein deutliches Signal zu geben, dass wir für einen Beitritt sind, dass wir zwar kritische Fragen haben, aber in der Lage sind, schnell zu agieren, um die Verhandlungen aufzunehmen? Das heißt, wir beschweren uns darüber, dass ein positives Signal ausgelassen wird. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, bevor Sie antworten: Der Kollege Liebich will auch eine Zwischenfrage stellen. Wollen Sie sie zulassen? Dann können Sie zusammenhängend ihre Redezeit deutlich verlängern.
Michael Stübgen (CDU/CSU):
Danke schön.
Stefan Liebich (DIE LINKE):
Herr Kollege, ich möchte mich der Beschwerde meines Vorredners anschließen. Denn es gab Anträge von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der Linksfraktion im Europaausschuss, die die CDU/CSU und die FDP nicht beschließen wollten, in denen wir uns dafür ausgesprochen haben, jetzt sehr frühzeitig das Signal auszusenden, dass sich die Bundesregierung für Verhandlungen mit Island einsetzt. Sind Sie auch bereit, zuzugestehen, dass Sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten, dass das nicht auf der Tagesordnung steht? Der Staatssekretär hat nämlich gesagt, dass es noch nicht auf der Tagesordnung steht bzw. dass man nicht wisse, ob es auf der Tagesordnung stehen werde.
Ist es nicht vielmehr so, dass Sie dort gesagt haben, dass Sie, egal ob es auf der Tagesordnung steht oder nicht, nicht wollen, dass es auf die Tagesordnung kommt, weil Sie Beratungsbedarf haben, und demzufolge CDU/CSU und FDP auf der Bremse stehen, aber nicht Bündnis 90/Die Grünen, die Linke und die SPD?
Michael Stübgen (CDU/CSU):
Ich werde es im Protokoll nachlesen. Vielleicht verstehe ich dann Ihre Frage.
Aber ich glaube, es war so ziemlich dieselbe Frage wie die von Herrn Sarrazin.
Es war ganz einfach so, dass nach der ursprünglichen Planung heute ein Beschluss gefasst werden sollte. Wir haben uns im Ausschuss mit der Frage beschäftigt, wie wir es schaffen können, heute zu beschließen. Dabei ist herausgekommen, dass wir es mit verkürzten Beratungszeiten der mitberatenden Ausschüsse, Fristverzicht und dergleichen gerade so hätten hinbekommen können. Als dann vor drei Wochen deutlich wurde, dass dieser Rat darüber nicht entscheiden kann, haben wir gesagt, dass wir es auch mit den mitberatenden Ausschüssen ausführlich beraten werden, was übrigens unsere Verantwortung als federführender Europaausschuss ist, um den Beschluss dann zu fassen, wenn er notwendig ist. Dies wird in der nächsten Sitzungswoche der Fall sein.
Noch eines auf Ihre Frage, Herr Sarrazin: Die Frage, wer hier Chancen für Island verbaut, können wir in der nächsten Woche noch einmal intensiv diskutieren; denn Sie als Grüne haben einen Antrag gestellt, in dem Sie von Island fordern, das angeblich absolute Walfangverbot der Europäischen Union einzuhalten, bevor es Mitglied in der Europäischen Union werden kann. Damit fordern Sie von Island die Einhaltung von Regeln, die es in der Europäischen Union gar nicht gibt. Dort gibt es nämlich Ausnahmen für wissenschaftliche Zwecke und zur Nutzung durch die indigene Bevölkerung. Wenn Sie also glauben, Sie setzten sich besonders für Island ein, dann schauen Sie sich doch erst einmal die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union an, anstatt von mitgliedswilligen Ländern Dinge zu fordern, die wir in der Europäischen Union selber nicht erfüllen. - Danke schön.
In diesem Zusammenhang weise ich noch auf Folgendes hin - das muss schon einmal gesagt werden -: Es ist doch kein Zufall, dass wir in diesem Bundestag erst seit 2006 überhaupt substanzielle Mitbestimmungsrechte in europäischen Fragen haben. Ich kann Ihnen sagen, warum das so ist: weil während der Regierungszeit von Rot-Grün Schröder und Fischer kategorisch jede substanzielle Mitberatungs- und Mitbestimmungsmöglichkeit des Bundestages verhindert haben.
Wenn Sie sich heute als Retter der Demokratie aufspielen, dann sage ich Ihnen: Fassen Sie sich bitte an die eigene Nase; denn wenn wir in der Großen Koalition nicht mit nachhaltigem Druck im Koalitionsvertrag durchgesetzt hätten, dass wir substanzielle Rechte für den Bundestag bekommen, dann gäbe es sie erst jetzt, weil wir nun eine vernünftige Koalition haben. Aber bis zum vorigen Jahr hätte es sie noch nicht gegeben. Bitte seien Sie etwas zurückhaltender mit Ihren Vorwürfen.
Ich muss noch ein Thema ansprechen; ohne es anzusprechen, kann man nicht über den Europäischen Rat sprechen. Es geht um die Finanzhilfen an Griechenland. Ohne Zweifel befindet sich Griechenland in einer sehr schwierigen Haushaltssituation. Die Situation ist ernst und wird im Übrigen von der griechischen Regierung auch nicht beschönigt. Endlich, möchte ich sagen; denn leider mussten wir an der Verlässlichkeit griechischer Zahlen in den letzten Jahren zweifeln. Wir wissen heute, dass die Zahlen viele Jahre bewusst gefälscht wurden.
Das Reformprogramm der griechischen Regierung ist ambitioniert, aber nicht unerfüllbar. Darauf will ich auch einmal hinweisen. Wenn ich sehe, dass das Renteneintrittsalter in Griechenland auf 63 hochgesetzt worden ist, dann ist das gut. Aber wir sind bei 67 Jahren. Dies haben wir nicht gemacht, weil es uns Spaß macht, sondern deswegen, weil wir sonst die Rentenstruktur nicht hinbekämen. Griechenland erhöht die Mehrwertsteuer um 2 Prozentpunkte. Das ist wichtig, um die eigenen Staatsfinanzen in den Griff zu bekommen. Wir haben die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht, um dies zu erreichen. Das hat auch keinen Spaß gemacht, war aber notwendig. Griechenland hat das Ostergeld und das Weihnachtsgeld für die Angestellten im öffentlichen Dienst gestrichen. Die rot-grüne Bundesregierung hat das sogenannte dreizehnte Monatsgehalt 2004 gestrichen, übrigens ausnahmsweise ein richtiger Punkt. Wir sehen, die Reformen, die Griechenland in Angriff nimmt, sind richtig; sie müssen umgesetzt werden, und Griechenland braucht unsere Unterstützung dafür. Aber es sind durchweg Reformen, die in diesem Land sehr spät in Gang gesetzt werden und bei uns in den letzten zehn Jahren schon umgesetzt wurden. Deshalb ist es wichtig, dass Griechenland diese Arbeit in erster Linie alleine macht.
Ich möchte noch auf einen Punkt hinweisen: Bei dem, was wir eben nicht nur in Griechenland, sondern auch in Portugal und Spanien und anderen Mitgliedsländern sehen, können wir, was den Stabilitäts- und Wachstumspakt betrifft, nicht einfach weiter so machen, auch wenn wir die kurzfristigen Probleme halbwegs gelöst haben. Es hat sich gezeigt, dass der Wachstums- und Stabilitätspakt gerade dann nicht funktioniert, wenn eine Krise besonders schwer ist. Deshalb müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir den Stabilitäts- und Wachstumspakt verändern und ihn krisenfester machen. Ich finde es zum Beispiel sehr richtig, dass der Europäische Rat wahrscheinlich schon heute darüber redet - ein Fachministerrat wird das umsetzen -, endlich die Kontrollbefugnisse von Eurostat erheblich auszuweiten. Eurostat soll künftig die Möglichkeit haben, direkt in den Ländern zu prüfen, ob die Zahlen, die sie öffentlich angeben oder nach Brüssel weitergeben, stimmen. Ich weiß: Rot-Grün hat das damals abgelehnt. Wir haben es damals, 2004, auch abgelehnt; das war ein Fehler. Jetzt ist es wichtig, diesen Fehler so schnell wie möglich zu korrigieren.
Ich möchte noch eines sagen: Zukünftig können wir in den europäischen Verträgen, in der Eurogruppe nicht mehr ausschließlich auf finanzielle Sanktionen setzen. Wenn ein Land nämlich erst einmal kurz vor der Zahlungsunfähigkeit steht, dann nützt es nicht mehr viel, Sanktionen in Form einer finanziellen Strafe zu erteilen. Wir müssen uns da etwas Intelligenteres einfallen lassen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die erwogen werden sollten. Zum einen könnte man im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens wegen eines Verstoßes gegen die Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes die Stimmrechte eines Landes teilweise aussetzen. Darüber sollten wir nachdenken. Ich weiß, dass wir dafür die Verträge ändern müssen. Wir sollten zum anderen aber das, was ansatzweise im Lissabon-Vertrag schon angelegt ist, nämlich die Möglichkeit, Zahlungen - zum Beispiel Agrarsubventionen oder Mittel aus den Strukturfonds - einzufrieren, ausbauen. Im Übrigen können schon jetzt Mittel aus dem Kohäsionsfonds eingefroren werden; das wurde aber noch nie gemacht.
Eines möchte ich noch sagen: Ich finde es schon merkwürdig, dass Herr Barroso, der auch schon vor fünf Jahren Kommissionspräsident war, jetzt in Interviews erklärt: Ich bin nicht schuld; ich konnte nichts machen, weil ich keine Möglichkeiten hatte.
Er sollte erklären, warum er die Möglichkeiten, die er hatte, nicht genutzt hat.
Das Thema Europa wird auch in Zukunft wichtig sein. Wir sind da auf dem richtigen Weg. Ich wünsche der Bundeskanzlerin für den Europäischen Rat alles Gute.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Entschließungsanträgen.
Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1191 soll überwiesen werden: zur federführenden Beratung an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Finanzausschuss und den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und den Haushaltsausschuss. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1170 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1171 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nun zum Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1172. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Überweisung, und zwar zur federführenden Beratung an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss und den Finanzausschuss sowie an den Ernährungs- und den Umweltausschuss. Die Abstimmung über den Antrag auf Ausschussüberweisung geht nach ständiger Übung vor. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Überweisung ist so beschlossen, und zwar mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und der Linken gegen die Stimmen der Grünen. Wir stimmen also heute nicht über den Entschließungsantrag ab.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 e auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Rettungsschirm für Kommunen - Strategie für handlungsfähige Städte, Gemeinden und Landkreise
- Drucksache 17/1152 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Axel Troost, Harald Koch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verbindliches Mitwirkungsrecht für Kommunen bei der Erarbeitung von Gesetzentwürfen und Verordnungen sowie im Gesetzgebungsverfahren
- Drucksache 17/1142 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Axel Troost, Harald Koch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Zukunft der Kommunalfinanzen - Transparenz gewährleisten und Öffentlichkeit herstellen
- Drucksache 17/1143 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Innenausschuss
d) - Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines ? Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes
- Drucksache 17/520 -
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses (7. Ausschuss)
- Drucksache 17/869 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Aumer
Martin Gerster
Dr. Thomas Gambke
- Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/872 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Umsatzsteuerermäßigung für Hotellerie zurücknehmen
- Drucksachen 17/447, 17/869 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Aumer
Martin Gerster
Dr. Thomas Gambke
Über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes, Tagesordnungspunkt 5 d, werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Bernd Scheelen für die SPD-Fraktion das Wort.
Bernd Scheelen (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Herbst 2008 haben wir in diesem Hohen Haus den Rettungsschirm für Banken in einer sehr schnellen Aktion gemeinsam aufgespannt. Er war erfolgreich und verbunden mit dem Namen des damaligen Finanzministers Peer Steinbrück. Wir haben danach gemeinsam in der Großen Koalition einen Rettungsschirm für Arbeitsplätze aufgespannt, der mit dem Namen Olaf Scholz eng verbunden war. Darüber hinaus haben wir zu Zeiten der Großen Koalition gemeinsam Ansätze eines Rettungsschirms für Kommunen beschlossen; ich erinnere an das Stichwort Konjunkturpaket II. Im Rahmen dieses Konjunkturpaketes haben wir als Bund den Kommunen 10 Milliarden Euro gegeben, damit sie vor Ort Arbeitsplätze sichern und die Wirtschaft am Laufen halten können. Das örtliche Handwerk wurde durch die Maßnahmen, die wir zur energetischen Gebäudesanierung auf den Weg gebracht haben, gefördert.
Jetzt wäre es an der Zeit, über einen umfänglichen Rettungsschirm für die Kommunen nachzudenken.
Eigentlich wäre es Aufgabe der Regierungskoalition, Aufgabe von Schwarz-Gelb, das Thema hier aufzusetzen. Aber wir, die SPD-Fraktion, haben es aufgesetzt, weil wir dieses Thema für besonders wichtig erachten. Denn den Kommunen geht es schlecht.
Landauf, landab wird diskutiert, wo man in kommunalen Haushalten einsparen kann und wie man eventuell an mehr Geld kommt. Es wird über die Schließung von Theatern, Museen, Schwimmbädern und Ähnlichem nachgedacht. Städte wie Köln denken darüber nach, ob sie eine Bettensteuer einführen.
- Ein Akt der Notwehr, Frau Kollegin Piltz, gegen die Maßnahmen, die Sie hier schon beschlossen haben.
Es gibt Kommunen, Duisburg zum Beispiel, die darüber nachdenken, eine besondere Form der Gewerbesteuer einzuführen: Sie wollen das älteste Gewerbe der Welt besteuern.
Das alles sind Akte der reinen Verzweiflung, weil es den Kommunen schlecht geht und sie den Eindruck haben, dass sich Schwarz-Gelb auf Bundesebene nicht um sie kümmert.
Die Kommunen leiden unter der Wirtschafts- und Finanzkrise. Das gilt natürlich auch für Bund und Länder. Die Kommunen leiden zudem aber unter Schwarz-Gelb.
Sie leiden unter dem Katalog der Grausamkeiten, den Sie Koalitionsvertrag nennen. Man bräuchte eine Stunde, um all das aufzuzählen, was Sie den Kommunen antun wollen. ?Privat vor Staat? steht quasi über dem Koalitionsvertrag. Sie wollen, dass der Staat den Kommunen alles wegnimmt, was sie als Aufgaben sinnvollerweise für die Bürger erledigen, und es den Privaten gibt, damit diese ihre Geschäfte machen können.
Das ist nicht das, was wir wollen.
Sie wollen einen schwachen Staat. Wir wollen einen leistungsfähigen Staat und starke Kommunen. Denn in den Kommunen entscheidet sich das Schicksal der Menschen. Vor Ort wird gelebt, gearbeitet, Kultur erlebt, gemeinsam etwas getan. Vor Ort wird auch Politik hautnah erlebt, und vor Ort werden die Folgen von Politik unmittelbar deutlich.
Aber was macht Schwarz-Gelb? Was macht zum Beispiel die CDU in Nordrhein-Westfalen? Am Wochenende gab es einen Parteitag in Münster. Da haben sich die Bundeskanzlerin und der Kollege Rüttgers für einen Satz feiern lassen, der sinngemäß lautete: Wir dürfen die Kommunen nicht ausbluten lassen, nur um Steuersenkungen durchführen zu können. - Ja, richtig!
Für diesen Satz sollen die beiden auf diesem Parteitag jubelnd gefeiert worden sein.
Da kann man sich nur fragen: Leiden die Delegierten dort alle unter retrograder Amnesie?
Haben sie zum Beispiel Ihren Koalitionsvertrag nicht gelesen? Haben sie noch nicht mitbekommen, was Sie hier bisher getan haben, was Sie an Gesetzen beschlossen haben? Sie sind jetzt fünf Monate an der Regierung. Die Bilanz ist: drei Gesetze.
Das nennt man normalerweise Stillstand der Rechtspflege.
Aber diese drei Gesetze gehen im Wesentlichen zulasten der Kommunen. Als Erstes haben Sie im vorigen Jahr die Beteiligung des Bundes an den Kosten der Unterkunft abgesenkt.
- Das ist doch völliger Unsinn, Herr Kollege; das wissen auch Sie. - Sie haben den Kommunen 3 Prozentpunkte - das sind 400 Millionen Euro - abgenommen, und das in einer Situation, wo die Kosten der Unterkunft in den Kommunen steigen.
Spätestens jetzt muss auch Ihnen klar werden, dass der bestehende Abrechnungsmechanismus, so sinnvoll er im Einzelnen vielleicht sein mag, ein schwerwiegendes Problem hat: Er kommt immer zwei Jahre zu spät. Den Kommunen wird jetzt Geld erstattet auf der Basis von vor zwei Jahren, als es den Kommunen gut ging. Auf dieser Basis hatte man errechnet, sie bräuchten weniger. Jetzt geht es ihnen aber schlecht. Das heißt, zumindest hier sollten Sie uns zustimmen, wenn wir sagen: Wir brauchen für die nächsten zwei Jahre eine Überbrückung, damit die Kommunen nicht prozyklisch bestraft werden. Das heißt, wenn es mit der Wirtschaft abwärtsgeht, bekommen sie weniger; wenn es mit der Wirtschaft wieder aufwärtsgeht, dann erhalten sie mehr. Was Sie da machen, ist doch hirnrissig. Da muss eine Überbrückung her.
- Die Kollegin Hagedorn weist zu Recht darauf hin, dass die SPD-Fraktion einen entsprechenden Antrag in der vorigen Woche im Rahmen der Haushaltsberatungen eingebracht hat.
Wir haben beantragt, den Kommunen 400 Millionen Euro mehr für dieses und das nächste Jahr zur Verfügung zu stellen. Diesen Antrag haben Sie abgelehnt. Zu den Schweinereien, die Sie hier veranstalten, sollten Sie auch stehen.
Die anderen beiden Gesetze, die Sie verabschiedet haben, haben Steuergeschenke an Privilegierte zum Inhalt: an Hoteliers, an reiche Erben und an Unternehmen, die ihre Gewinne lieber im Ausland versteuern. Sie haben ihnen das noch erleichtert. An den Verlusten, die als Folge dieser Gesetze entstehen, sind die Kommunen überproportional beteiligt: bei dem einen Gesetz mit 40 Prozent, bei dem anderen mit 20 Prozent, obwohl sie an den Gesamteinnahmen des Staates auf der Steuerebene mit nur 13 Prozent beteiligt sind. Das heißt: Sie machen konkret eine Politik gegen die Kommunen. Die Kommunen leiden unter Ihnen.
Es muss Schluss sein mit Ihren weiteren Steuersenkungsplänen. Sie müssen das, was den Kommunen durch Ihre Beschlüsse an Verlusten - sie belaufen sich in etwa auf 2,5 Milliarden Euro - entsteht, kompensieren. Die Kommunen brauchen dieses Geld; sonst können sie ihre Aufgaben nicht erfüllen.
Sorgen Sie also für Kompensation für die Steuerausfälle. Hören Sie auf, Steuergeschenke zu verteilen.
Heben Sie die Beteiligung des Bundes an den Kosten der Unterkunft um 3 Prozentpunkte, um 400 Millionen Euro, an.
Ganz wichtig: Lassen Sie die Finger von der Gewerbesteuer.
Das ist ein entscheidender Punkt.
Die Gewerbesteuer ist kein Thema, mit dem man die Menschenmassen auf den Marktplätzen begeistern kann. Aber wenn man den Menschen sagt, dass die Einnahmen aus der Gewerbesteuer im Jahre 2008, als sie den höchsten Stand in der Nachkriegsgeschichte erreicht hatte, 41 Milliarden Euro ausgemacht haben und die Sozialausgaben der Kommunen bei 40 Milliarden Euro liegen, dann wird ihnen klar, dass in vielen Kommunen das, was an Gewerbesteuereinnahmen hereinkommt, für soziale Aufgaben benötigt wird. Lassen Sie deswegen die Finger von der Gewerbesteuer. Das ist die wichtigste Einnahmequelle, die die Kommunen haben.
Im Zug der Krise sind natürlich auch die Einnahmen aus der Gewerbesteuer eingebrochen, und zwar um etwa 18 Prozent - das ist schlimm genug -; aber auch die Einnahmen aus der Einkommensteuer sind eingebrochen, um 8 Prozent.
- Natürlich konjunkturell bedingt. - Die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer, die Sie teilweise als Ersatz anbieten, sind um 60 Prozent eingebrochen. Was ist das denn für die Kommunen für ein Ersatz, wenn sie die Einnahmen aus einer Steuer, die leicht konjunkturreagibel ist, gegen die Einnahmen aus einer anderen Steuer tauschen, die schwer konjunkturreagibel ist? Was Sie da machen wollen, ist doch hirnrissig.
Sie benutzen die Krise sozusagen als Alibi, um die Gewerbesteuer abzuschaffen. Insbesondere die FDP stellt sich hierhin und erklärt: Schaut doch einmal, die Einnahmen aus der Gewerbesteuer sind eingebrochen. Eine solche Steuer muss abgeschafft werden; denn die Kommunen brauchen verlässliche Einnahmen. - Die Krise dient hier als reines Alibi.
Was Sie als Ersatz anbieten, ist, die Einnahmen aus einer Steuer, die nur die Wirtschaft zahlt, durch die Einnahmen aus drei anderen Steuern zu ersetzen, von denen nur noch eine von der Wirtschaft gezahlt wird, nämlich die Körperschaftsteuer. Die Einnahmen aus dieser Steuer liegen manchmal bei null. Ich erinnere an das Jahr 2003: Da gab es überhaupt keine Zahlungsverpflichtungen. Die anderen beiden Steuern werden von den Menschen gezahlt, nämlich die Mehrwertsteuer - von den Verbraucherinnen und Verbrauchern - und die Einkommensteuer, von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Das ist nicht unser Modell. Das werden wir auf keinen Fall mitmachen.
Ein weiterer Punkt. Klopfen Sie bitte Ihren Ländern auf die Finger,
damit sie das Geld, das der Bund ihnen für die Kommunen zur Verfügung stellt, weitergeben. Stichwort ?Betreuung unter Dreijähriger?: Das Geld für die Kommunen, das der Bund zur Verfügung stellt, versickert in den meisten Ländern mit einer CDU-geführten Regierung, bleibt also an den klebrigen Händen der dortigen Finanzminister hängen.
Ein letztes Wort, und zwar zu der Einigung von letzter Nacht zu den Jobcentern. Hier haben wir gemeinsam eine gute Lösung gefunden. Aber diese hätten Sie schon voriges Jahr haben können. Das hätten Sie mit uns gemeinsam in der Großen Koalition beschließen können. Das haben Sie aus durchsichtigen Gründen nicht gewollt.
Ganz im Gegenteil: Sie haben in den schwarz-gelben Koalitionsvertrag aufgenommen, dass Sie die bewährte Zusammenarbeit der Jobcenter mit der Bundesagentur für Arbeit und den Kommunen beenden wollen. Sie wollen alles wieder auseinanderreißen. Das steht so in Ihrem Koalitionsvertrag. Gott sei Dank sind Sie klüger geworden. Ich unterstreiche ausdrücklich, dass ich das gut finde; denn jetzt können Millionen Langzeitarbeitslose nach wie vor Leistungen aus einer Hand bekommen.
Ich stelle fest, dass die Einigung im Wesentlichen eine sozialdemokratische Handschrift trägt. Wir wissen, wie man gute Politik macht. Wenn Sie gute Politik machen wollen, fragen Sie uns. Wir wissen, wie es geht, Sie nicht.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss auf den vorherigen Tagesordnungspunkt zurückkommen. Bei der Überweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1172 habe ich bei der Verlesung der vielen Ausschüsse, an die der Antrag überwiesen werden soll, den Haushaltsausschuss vergessen. Das ist ein unverzeihlicher Fehler, den wir jetzt korrigieren sollten. Ich bitte also um Ihre Zustimmung für die Überweisung des Antrags auch an den Haushaltsausschuss. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das ausdrücklich so beschlossen.
Nun erteile ich der Kollegin Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Antje Tillmann (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit einiger Zeit diskutieren wir in jeder Plenarwoche mindestens ein Mal über die Situation der Kommunen, heute sogar anhand von fünf verschiedenen Oppositionsanträgen. Das wäre gut und richtig, wenn wir mit dieser Debatte neue und problemlösende Ideen diskutierten; denn die Situation der Kommunen ist ernst. Leider steht in den Anträgen nichts, was nicht sowieso schon Gesetz ist oder durch Bundesfinanzminister Dr. Schäuble nicht bereits auf den Weg gebracht worden ist. Lieber Kollege Scheelen, in Ihrem Antrag steht nichts, was in irgendeiner Weise gegenfinanziert ist.
Es ist kein Wunder, dass Sie Ihren Antrag genau in der Woche stellen, in der die Haushaltsberatungen vorbei sind. Alles, was Sie fordern, ist überhaupt nicht gegenfinanziert. Bei den Haushaltsberatungen haben Sie versäumt, entsprechende Anträge zu stellen.
Sie können das bei den nächsten Haushaltsberatungen nachholen.
Ich zähle einzeln auf: Sie fordern 1,6 Milliarden Euro als Kompensation für die Kommunen. Sie fordern, die Beteiligung des Bundes an den Unterkunftskosten um 3 Prozent anzuheben. Sie fordern, bewährte Programme wie die Städtebauförderung zu verstärken. Sie fordern Altschuldenhilfe für Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern. Sie fordern die Erweiterung der kulturellen Projektförderung und die Unterstützung der kulturellen Infrastruktur und, und, und. Die Umsetzung dieser Forderungen macht ohne Weiteres bis zu 20 Milliarden Euro aus. Wo war Ihr entsprechender Antrag in den Haushaltsberatungen? Fehlanzeige! Sie haben sich vor dieser Debatte bei den Haushaltsberatungen ganz bewusst gedrückt, weil Sie nämlich nicht wussten, woher dieses Geld genommen werden soll.
- Herr Poß, ich freue mich immer, wenn Sie bei meiner Rede anwesend sind; denn dann wird es lebhaft.
Herr Kollege Scheelen, Ihre Forderung, unseren Ländern auf die Finger zu klopfen, sieht unsere Verfassung aufgrund unseres föderalen Staatsaufbaus nicht vor.
Machen Sie doch bitte konkrete Vorschläge, wie wir den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern verändern können. Zu dieser Debatte sind wir mit Sicherheit bereit.
Das von Ihnen gewählte Beispiel Jobcenter ist nun wirklich das schlechteste Beispiel. Es geht überhaupt nicht darum, den Kommunen über viele Einzelprogramme - wie Sie sie fordern - immer dann Mittel zur Verfügung zu stellen, wenn wir uns dazu zwar bereit erklären, diese Mittel aber an eine Zweckbindung geknüpft sind. Vielmehr geht es darum, dass die Kommunalparlamente freie Einnahmen brauchen, mit denen sie eigenverantwortlich Schwerpunkte in der jeweiligen Kommune setzen können.
Die Entscheidung für Jobcenter zeigt, worauf es Ihnen ankommt: Ihnen geht es darum, die Kommunen so weit wie möglich zu gängeln. Warum sonst sollte es von einer Zweidrittelmehrheit im Kommunalparlament abhängen, ob sich eine Kommune entscheidet, zu optieren oder nicht? Wir haben Vertrauen in unsere kommunalpolitischen Kollegen. Wir glauben, dass die Kommunen eigene Einnahmequellen brauchen, damit sie besser Entscheidungen treffen können.
Wir werden keineswegs die Finger davon lassen. In der Kommission, die Finanzminister Schäuble einberufen hat, werden wir selbstverständlich den Finger auf jede Wunde legen, und wir werden jede Chance erörtern, die es den Kommunen ermöglicht, zukünftig über eigene und sichere Einnahmequellen zu verfügen. Die Gewerbesteuer ist sehr konjunkturabhängig. Ich habe nicht gehört, welche Einnahmequelle Sie den Kommunen anbieten, die eine Alternative zu den Einnahmen aus der Gewerbesteuer ist - abgesehen von Einzelprogrammen, bei denen wir als Bundestagsabgeordnete mit darüber entscheiden, was die Kommunen mit ihren Mitteln machen.
- Sie können sich jetzt beruhigen!
Neben den SPD-Anträgen gibt es auch Anträge der Linken. Diese fordern zum Beispiel ein verbindliches Mitwirkungsrecht der Kommunen. Sie kritisieren, dass die institutionelle Garantie der Kommunen, verankert in Art. 28 des Grundgesetzes, nicht dazu führe, dass Kommunen Debatten, die sie betreffen, mitgestalten dürften. Das ist völlig daneben. Selbstverständlich sieht dieser Artikel vor, dass die Kommunen gefragt werden, wenn es um ihre Einnahmesituation geht. Das ist übrigens eine ganz alte Tradition in diesem Haus.
Sowohl in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien als auch der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags sind das Beratungsrecht und die Fragepflicht der Kommunen ausdrücklich vorgesehen. Ich zitiere § 41 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien:
Zur Vorbereitung von Gesetzesvorlagen, die Belange der Länder oder der Kommunen berühren, soll vor Abfassung eines Entwurfs die Auffassung der Länder und der auf Bundesebene bestehenden kommunalen Spitzenverbände eingeholt werden.
Was Sie fordern, ist also längst Tatsache. Das bewährt sich in der Praxis. Ob Sie die Unternehmensteuerreform, das Zukunftsinvestitionsgesetz oder die Föderalismuskommission nehmen: Sie können selbstverständlich in jedem Protokoll der Anhörungen sachkundige Äußerungen der kommunalen Spitzenverbände lesen. In die Beschlüsse der Föderalismuskommission haben wir die Forderung der kommunalen Spitzenverbände, dass es künftig keine Bundesaufgabe mehr gibt, die den Kommunen direkt übertragen wird, sogar eins zu eins aufgenommen. Es gibt also unendlich viele Beispiele, die zeigen, dass diese Zusammenarbeit hervorragend ist.
Ich bin sicher - das ist Auftrag der Regierungskommission von Herrn Finanzminister Dr. Schäuble -, dass diese Frage in der Kommission überprüft wird, dass noch einmal überlegt wird, wie man kommunale Verbände noch besser in zusätzliche Entscheidungen einbeziehen kann.
Nur eine Randbemerkung: Ihnen ist aufgefallen, dass in der Kommunalkommission der Bundesregierung die kommunalen Spitzenverbände mit Herrn Christian Schramm und Herrn Jörg Duppré vertreten sind, wir Bundestagsabgeordnete aber nicht.
Ich sehe nicht, dass die kommunalen Spitzenverbände nicht in dem erforderlichen Umfang auch in diese Kommission eingebunden sind, sodass ich glaube, dass dieser Antrag in dem Punkt völlig überflüssig ist.
Als reine Zeitverschwendung würde ich, liebe Kollegen von der Linken, Ihren Antrag ?Zukunft der Kommunalfinanzen - Transparenz gewährleisten und Öffentlichkeit herstellen? bewerten. Sie fordern, eine breite und ergebnisoffene Debatte über Chancen der dauerhaft stabilen Einnahmesituation der Kommunen zu führen. Seit 20 Jahren tun wir nichts anderes, als darüber zu diskutieren, ob es richtig ist, den Kommunen eine Einnahmequelle neben der Gewerbesteuer und der Grundsteuer zu ermöglichen. Diese Diskussion wird immer dann besonders laut, wenn die Gewerbesteuer nicht so gut fließt wie in guten Jahren, also wie es jetzt der Fall ist.
Dass diese Diskussion ergebnisoffen geführt wird, können Sie daran erkennen, dass wir in den letzten 20 Jahren keine Lösung gefunden haben.
Deshalb wäre mir sehr viel lieber, wir führten sie ein bisschen weniger ergebnisoffen und dafür ein bisschen ergebnisorientierter. Das werden wir tun, und das wird auch die Gemeindefinanzkommission tun.
Sie fordern weiter, dass Vorschläge, die bisher von kommunalen Vertretungen, Wahlbeamten, Gewerkschaften und Wissenschaftlern gemacht wurden, in die Diskussion dieser Kommission einfließen. Entschuldigung, worum geht es denn sonst in dieser Kommission, außer über die Modelle, die auf dem Tisch liegen, zu diskutieren und gemeinsam mit den kommunalen Spitzenverbänden eine Lösung zu suchen?
Sie fordern in demselben Antrag auch, dass die Regierungskommission regelmäßig über den Stand der Arbeit öffentlich Bericht erstattet. Der federführende Ausschuss ist gestern informiert worden, und ich bin sicher, dass er in den nächsten Monaten immer wieder informiert wird. Wie die Kommission es schaffen sollte, völlig geheim die Gewerbesteuer abzuschaffen, auszuweiten oder eine sonstige Kommunalsteuer einzuführen, ist mir nicht klar. Also, die Öffentlichkeit wird selbstverständlich hergestellt. Ihres Antrags bedarf es deshalb nicht.
Ich schlage vor, wir lassen die Kommission erst einmal arbeiten. Dann hat sie auch etwas zu berichten. Ich bin sicher, dass Finanzminister Schäuble seine Zusage, die er uns gegeben hat, nämlich über die Informationen zeitnah mit uns zu diskutieren, einhalten wird. Wir werden gemeinsam mit den Städten und Gemeinden eine Lösung für das Problem der nicht vorhandenen Verstetigung der Einnahmen finden. Selbstverständlich geht das nicht gegen die kommunalen Verbände. Wir werden gemeinsam nach einer Lösung suchen, und die Kommunen werden eigenständig über eigene, konjunkturunabhängige Einnahmen beraten. Zu der Diskussion darüber lade ich Sie ein, und darauf freue ich mich.
Danke schön.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Gesine Lötzsch für die Fraktion Die Linke.
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE):
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die schwäbische Stadt Nürtingen hat für dieses Jahr ihren Bürgern angekündigt, dass die Elternbeiträge für den Hort um 5 Prozent, für die Ferienbetreuung um 12 Prozent und für die Musikschulen um 5 Prozent steigen werden. Die Stadt Wuppertal denkt darüber nach, das Schauspielhaus, Schulen und Bäder zu schließen.
Ich finde, das sind unhaltbare Zustände für eines der reichsten Länder der Erde.
Im Jahr 2009 fehlten den Kommunen 7,1 Milliarden Euro, und im Jahre 2010 werden es wohl 12 Milliarden Euro sein. Die Bundeskanzlerin, Frau Merkel, hat wie immer Verständnis für die Lage der Kommunen geäußert. Verständnis ist immer gut. Doch woher soll das Geld für die Kommunen kommen? Diese Frage muss beantwortet werden.
Nun plant die Bundesregierung eine Bankenabgabe. Das hört sich erst einmal gut an. Doch diese Bankenabgabe soll lediglich 1 Milliarde Euro einbringen; das ist lächerlich. Diese 1 Milliarde Euro ist nicht einmal für die Kommunen gedacht. Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, wollen nur die Banken vor der nächsten Krise schützen, nicht etwa die Kommunen und die Bürgerinnen und Bürger. Für sie gibt es keinen Schutz, weder in der jetzigen Krise noch vor zukünftigen Krisen. Das müssen wir ändern.
Schauen wir in die Zukunft.
Ab dem Jahr 2011 wird Finanzminister Schäuble das Volumen des Bundeshaushalts jedes Jahr um 10 Milliarden Euro kürzen müssen, um die Schuldenbremse, die im Grundgesetz festgeschrieben wurde, einzuhalten. Wie er das machen will, hat er uns bisher nicht verraten.
Klar ist nur, dass angesichts der Schuldenbremse für die Unterstützung der Kommunen kein Spielraum mehr sein wird. Im Gegenteil: Er wird die Kommunen mit den Auswirkungen der Gesetze allein lassen, wie es die Kommunen seit Jahren erleben. Dieser Zustand muss endlich beendet werden.
Aber das ist noch nicht alles. Die Koalition hat vor allen Dingen auf Betreiben der FDP im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass weitere Steuersenkungen von 24 Milliarden Euro beschlossen werden sollen. Damit wollen Sie den Kommunen noch mehr Geld entziehen.
Ich kann Ihnen nur sagen: Es war ein schwerer Fehler, die Banken an der Finanzierung der Kosten, die im Rahmen der Krise angefallen sind, nicht zu beteiligen. Es war ein schwerer Fehler, Bund, Länder und Gemeinden mit einer Schuldenbremse zu knebeln. Es war ein weiterer schwerer Fehler, in dieser Situation weitere Steuergeschenke zu versprechen. Das ist die falsche Politik.
Eine Politik der Deregulierung der Märkte, der Privatisierung öffentlichen Eigentums und der Zerstörung des Arbeitsmarktes blutet die Kommunen aus.
Wenn ich die Anträge der anderen Fraktionen lese, dann habe ich häufig den Eindruck, dass man dort denkt, die Finanz- und Wirtschaftskrise sei vom Himmel gefallen bzw. habe uns wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen und die Welt sei vorher in Ordnung gewesen. Doch die Welt war auch vorher nicht in Ordnung. Die Regierungen Kohl, Schröder und Merkel haben dazu beigetragen, dass die Haushaltsnotlage der Kommunen immer größer wurde.
Ich kann es Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, nicht ersparen: Ihr Antrag ist zwar gut gemeint; doch es kommt nicht zum Ausdruck, wie Sie das strukturelle Defizit von 12 Milliarden Euro jährlich beseitigen wollen. In Ihrem Antrag wird das Problem nicht an der Wurzel gepackt. Das Problem ist die Agenda 2010, insbesondere Hartz IV. Dies hat nämlich dazu geführt, dass die Kommunen über 40 Milliarden Euro für soziale Leistungen aufbringen müssen. Das können die Kommunen nicht schultern; das wissen Sie genau.
Dies war die falsche Entscheidung. Die Agenda 2010 und Hartz IV müssen abgewickelt werden.
Wenn das SPD-Präsidium nun vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen einen Rettungsschirm für die Kommunen beschließt, dann ist das gut. Aber Sie müssen natürlich ganz genau erklären, wie Sie ihn finanzieren wollen; denn wir können nicht noch einmal einen Rettungsschirm in Höhe von 480 Milliarden Euro aufspannen. So viel Geld ist wirklich nicht vorhanden. Wir können den Kommunen nur helfen, wenn die Kräfte der Vernunft in diesem Haus bereit sind, über die Stabilisierung der Einnahmen zu reden. Bundespräsident Horst Köhler haben wir erfreulicherweise schon auf unserer Seite. Er hat nämlich erklärt, es gebe keinen Spielraum für Steuersenkungen. Ich finde, da Sie sich so gerne auf den Bundespräsidenten berufen, sollten Sie diese Aussage von ihm ernst nehmen.
Um die aktuellen und langfristigen Probleme in unserem Land zu lösen, müssen wir endlich diejenigen zur Kasse bitten, die uns die Krise eingebrockt haben, an der Krise verdient haben und jetzt schon wieder im Kasino zocken. Wir von der Linken wollen Mehreinnahmen. Mit diesen Mehreinnahmen wollen wir eine stabile Finanzausstattung der Kommunen schaffen und diese langfristig sichern. Denn das Leben in den Kommunen ist konkret: Es geht um Schulen, es geht um Schwimmbäder, es geht um Bibliotheken, es geht um Theater. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass ein reiches Land wie Deutschland auf all dies verzichten bzw. die kulturelle Landschaft ausdünnen will.
Meine Damen und Herren, der SPD-Antrag enthält viele Forderungen, die wir von der Linken mittragen können. Doch der Schirm, den Sie konzipiert haben, ist leider ein bisschen zu klein. Wir brauchen einen wirklich verlässlichen Rettungsschirm für die Kommunen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Birgit Reinemund für die FDP-Fraktion.
Dr. Birgit Reinemund (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich nach diesem Rundumschlag über die allgemeine Steuer- und Verteilungspolitik zum Thema kommunale Finanzen zurückkehren.
Am Dienstag dieser Woche hat das Statistische Bundesamt die aktuellen Zahlen zur Finanzsituation der Städte und Gemeinden vorgelegt. Die Finanzlage der Kommunen ist noch ernster als erwartet. Im Jahr 2009 klaffte in den Kassen der Kommunen ein Finanzloch in Höhe von 7,1 Milliarden Euro. Im Vergleich zum Vorjahr sind die Einnahmen im Krisenjahr um rund 2,7 Prozent eingebrochen - die Konjunktur ist übrigens um 5 Prozent eingebrochen -; die Ausgaben der Kommunen stiegen dagegen um 6 Prozent. Das macht deutlich: Wir haben ein Einnahmeproblem und ein noch wesentlich größeres Ausgabenproblem.
Verursacht wurde dieses Problem einerseits durch den Einbruch der Gewerbesteuer - bundesweit um 18,4 Prozent, in einzelnen Kommunen um bis zu 40 Prozent - und andererseits durch die Explosion der Sozialausgaben.
Diese stiegen um 4,9 Prozent auf insgesamt 40,3 Milliarden Euro. Laufende Ausgaben müssen zunehmend über Kassenkredite finanziert werden. Es ist richtig: Dadurch werden die notwendigen Gestaltungsspielräume der verfassungsrechtlich geschützten kommunalen Selbstverwaltung immer geringer.
Lassen Sie mich von diesen pauschalen Zahlen absehen; denn die Lage der einzelnen Kommunen stellt sich recht unterschiedlich dar: Neben schuldenfreien Kommunen gibt es solche mit einer Pro-Kopf-Verschuldung von über 2 000 Euro, und das über alle Gemeindetypen, Gemeindegrößen und Regionen hinweg. Das heißt, manche Kommune muss sich fragen lassen, inwieweit sie konsequent Ausgaben- und Aufgabenkritik betreibt.
Gleichzeitig gibt es durchaus positive Beispiele: Kommunen, die trotz aller Widrigkeiten ihren Haushalt konsolidieren konnten, zum Beispiel Dresden und Düsseldorf. Die Analyse dieser Best-practice-Beispiele wäre sicherlich lohnenswert.
Es besteht Konsens, dass die Kommunen eine solide, verlässlichere finanzielle Basis brauchen. Darunter verstehen wir allerdings keine plakativen Worthülsen. Wir streben möglichst schnell eine nachhaltige und tragfähige Lösung an. ?Solide? bedeutet: verlässlich, konjunkturunabhängig und weniger schwankungsanfällig auf der Einnahmeseite.
Genauso wichtig ist es, die Ausgabenseite zu betrachten. In diesem Zusammenhang sollten wir überprüfen, ob die Zuweisungsschlüssel im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs die Veränderungen der Bevölkerungsstrukturen noch ausreichend abbilden.
Am 4. März hat die Regierungskommission, die sich mit diesen Themenkomplexen befasst, ihre Arbeit aufgenommen. Staatssekretär Koschyk hat diese Woche im Finanzausschuss bestätigt, dass alle Beteiligten zu einer vorurteilsfreien und zielorientierten Zusammenarbeit bereit sind. Das ist schon einmal ein guter Ausgangspunkt.
Drei Arbeitsgruppen werden sich mit den Themen kommunale Steuern, Standards und Rechtsetzung beschäftigen. Damit sind die Weichen gestellt. Die von SPD und Linken geforderte Transparenz und Beteiligung der Kommunen sind durch die Mitwirkung der kommunalen Spitzenverbände seit Jahren längst gewährleistet.
Noch vor der Sommerpause wird es einen Zwischenbericht geben, und bis zum Herbst soll das Konzept stehen. Dieser Zeitplan ist sehr ambitioniert, realistisch und dringend notwendig.
Die kurzfristigen Hauruck-Aktionen, die die SPD in ihrem Antrag vorschlägt, verpuffen, wenn die strukturellen Defizite nicht behoben werden. Wie fair und solidarisch ist es denn, schlecht wirtschaftenden Kommunen finanziell unter die Arme zu greifen und die, die sich schmerzhaft konsolidieren, links liegen zu lassen?
Wir werden die Grundstrukturen des Systems verbessern. Sie doktern an den Symptomen herum.
Das ist populistisch und erzielt keine nachhaltige Wirkung. Als kurzfristige Maßnahmen gab es die Konjunkturpakete und die - seit langem höchsten - Zuweisungen an Kommunen. Wie Sie selbst erkannt haben, basieren die Finanzprobleme der Kommunen in erster Linie auf den strukturellen Fehlentwicklungen der letzten Jahre. Ich erinnere an dieser Stelle daran, dass es die SPD war, die die letzten elf Jahre den Finanzminister gestellt hat
und die Kommunen jahrelang im Regen stehen ließ. Die Kommunen leiden nicht unter Schwarz-Gelb, sie leiden an den Folgen von Rot-Grün.
Sie selbst beschreiben in Ihrem Antrag, und zwar durchaus richtig, die strukturelle Unterfinanzierung der Kommunen und fordern, dass diese durch mittelfristige und langfristige Maßnahmen beseitigt werden. Da sind wir ganz auf einer Linie. Dann stellen Sie fest, dass der Umfang der kommunalen Aufgaben und Ausgaben und die zur Verfügung stehenden Einnahmen in Einklang gebracht werden müssen. Auch das ist absolut richtig. Doch ist der vorwurfsvolle Ton nicht ziemlich heuchlerisch? Es war schließlich die rot-grüne Regierung, die den Kommunen mit der fortlaufenden Übertragung von Aufgaben finanziell die Luft abgeschnürt hat,
zum Beispiel mit dem Gesetz zum Krippenausbau ohne gleichzeitige Kostenübernahme
und mit dem Gesetz zu den Kosten der Unterkunft für Hartz-IV-Empfänger.
- Das habe ich sehr wohl nachgelesen, Herr Binding. - Soll Ihr gegenwärtiger Aktionismus eventuell die Fehler Ihrer eigenen Regierungszeit kaschieren?
Das müssen Sie nicht tun. Wir gehen die Themen jetzt an.
Strukturelle Probleme müssen mit Strukturreformen gelöst werden. Ich lade Sie ein, konstruktiv, vorurteilsfrei und offen mitzuarbeiten. Diskussionsgrundlage, auch der Kommission, ist die im Koalitionsvertrag vereinbarte Strukturreform. Die in höchstem Maße konjunkturabhängige Gewerbesteuer soll aufkommensneutral ersetzt werden durch eine stabile, verlässlichere Einnahmequelle, durch einen höheren Anteil an der Umsatzsteuer und einen kommunalen Zuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer mit einem eigenen Hebesatzrecht für die Kommunen. Wir diskutieren ergebnisoffen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollegin Britta Haßelmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Gott, Frau Reinemund, um Ihre Vorstellung von der kommunalen Wirklichkeit sind Sie wirklich nicht zu beneiden. Ich rate Ihnen: Fahren Sie einfach einmal nach Nordrhein-Westfalen und unterhalten Sie sich mit den Menschen, die in den Kommunen Politik machen.
In Ihrer Wirklichkeit kommt Kommunalpolitik nicht vor.
Ihre latente Botschaft war: Es gibt Kommunen, die haben es geschafft, die haben sich aus eigener Kraft saniert,
und es gibt welche, die haben das nicht getan, die haben sich anscheinend nicht genug angestrengt. Meinen Sie, den Kommunen eine solche Botschaft übermitteln zu müssen? In den Kommunen gibt es 35 Milliarden Euro Kassenkredite. 15 Milliarden Euro davon gibt es allein in Nordrhein-Westfalen. Ich rate wirklich niemandem in diesem Haus, eine Botschaft nach dem Motto: ?Wisst ihr, ihr habt einfach nur eine falsche Politik vor Ort gemacht, und daran liegt das Wohl und Wehe der Kommunen? zu propagieren.
Ich finde das ungeheuerlich.
Vermitteln Sie das einmal Leuten, die jeden Tag Kommunalpolitik machen, und das auch noch ehrenamtlich.
Genauso unangenehm fällt eine Bemerkung der Kanzlerin auf. In Wahlkampfreden sagt sie dauernd - in Nordrhein-Westfalen tritt sie zurzeit besonders häufig auf;
ob das hilft, sei einmal dahingestellt; der CDU geht es ja schlecht;
das wissen die CDUler hier vorne selber -: Wir müssen jetzt etwas für die Kommunen tun. Letzte Woche sagte sie noch, die Menschen müssten Spaß an Kommunalpolitik haben.
Wie wahr, Frau Merkel. Nur, dann muss man hier in Berlin endlich einmal mit der kommunenfeindlichen Politik aufhören. Herr Dautzenberg, das wissen Sie doch ganz genau.
Frau Reinemund, auch wenn Sie erst seit Beginn dieser Legislaturperiode dabei sind: Es ist eine Mär, dass die Situation, die heute in den Städten und Gemeinden herrscht, das Resultat von rot-grüner Politik ist. Wissen Sie eigentlich, wie lange hier schon eine andere Regierung existiert, wie lange in Nordrhein-Westfalen Schwarz-Gelb regiert und wie viele Klageverfahren die Kommunen dort gerade gegen diese schwarz-gelbe Landesregierung anstreben?
Ich glaube, Sie wissen es nicht. Aber ich will mich nicht zu lange damit aufhalten.
Vielleicht nenne ich Ihnen einfach einmal ein paar Fakten. Mindereinnahmen für die Kommunen seit Ende 2008 durch Bundesbeschlüsse - -
- Seien Sie doch erst einmal ganz ruhig. Das waren Bundesbeschlüsse. Da haben Sie von der CDU mitregiert. Da können Sie nicht sagen: Rot-Grün war es!
Mindereinnahmen für die Kommunen seit Ende 2008 - da gab es noch Schwarz-Rot - durch Bundesbeschlüsse: Die Mindereinnahmen durch die Konjunkturpakete I und II - sie brachten 10 Milliarden Euro zusätzlich für die Kommunen für zwei Jahre; was haben wir uns alle auf die Schultern geklopft - betrugen 2,5 Milliarden Euro.
Bürgerentlastungsgesetz: 1,7 Milliarden Euro Mindereinnahmen.
Das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz: 1,6 Milliarden Euro Mindereinnahmen; dies wurde jetzt unter Schwarz-Gelb beschlossen. Über die Änderung steuerlicher Regelungen bei Funktionsverlagerungen wird ja Ende der Woche im Bundesrat entschieden. Jürgen Rüttgers reißt gerade den Mund ganz weit auf
nach dem Motto, er stimme keinem einzigen Gesetz mehr zu, das negative Auswirkungen, sprich Steuersenkungen, für die Kommunen bedeutet. Am Freitag werden wir einmal sehen, wie Jürgen Rüttgers im Bundesrat abstimmt.
Besteuerung von Funktionsverlagerungen: 0,65 Milliarden Euro weniger für die Kommunen.
Sie wissen das alles. Das ergibt unter dem Strich - ich sage das für die, die nicht so schnell mitgerechnet haben - knapp 6,5 Milliarden Euro Mindereinnahmen seit Ende 2008 nur durch Bundesbeschlüsse.
Wie sollen die Städte und Gemeinden das verkraften? Erklären Sie uns das doch einmal!
Denn zu diesen Steuerbeschlüssen kommen noch die wahnsinnigen Auswirkungen der Krise und der aktuellen konjunkturellen Situation. Die aktuellen Zahlen liegen vor: 14,8 Milliarden Euro weniger für die Kommunen; das ist Fakt. Wir haben bei den Gewerbesteuereinnahmen Einbrüche von 19,7 Prozent und bei den Steuern ein Minus von 11,4 Prozent.
Kommen Sie doch hier nicht mit typischen Erklärungsmustern wie ?man werde schon helfen? und ?es werde schon besser werden?, wenn die Kommunen Kritik an der Aufgabenzuweisung äußern. Wir müssen hier im Bundestag systematisch auf Steuersenkungen verzichten. Geben Sie doch endlich einmal eine Garantie dafür ab, dass Sie davon absehen, Ihre Steuersenkungspläne weiter zu verfolgen; denn Sie schaden den Kommunen.
Erklären Sie den Menschen doch einmal, wie Sie die Gewerbesteuer ersetzen wollen. Die Einnahmen durch die Gewerbesteuer betragen 35 Milliarden Euro.
- In der Spitze, Herr Dautzenberg, okay. Aber Sie sprechen doch dauernd vom Wachstum und sagen, dass es besser wird.
Wenn Sie auf diese 35 Milliarden Euro verzichten wollen,
was Sie ja anscheinend planen - die FDP erklärt doch dreimal pro Woche, sie wolle die Gewerbesteuer abschaffen -,
dann sagen Sie doch einmal, wer diese 35 Milliarden Euro dann zahlen soll.
Wenn die Kommunen dies über ihre Anteile an der Körperschaftsteuer, der Einkommensteuer, der Mehrwertsteuer und der Umsatzsteuer ausgleichen, bedeutet das, meine Damen und Herren - ich sage das auch an die Menschen, die heute der Debatte zuhören -, dass nicht mehr die Unternehmen vor Ort durch die Gewerbesteuer in die Verantwortung genommen werden,
um auch ihren Beitrag zur Daseinsvorsorge zu leisten, sondern dass die Bürgerinnen und Bürger in die Haftung genommen werden.
Das ist Fakt, wenn wir uns von der Gewerbesteuer verabschieden und eine Verlagerung in Richtung Einkommensteuer vornehmen. Körperschaftsteuer betrifft auch Unternehmen; darüber können wir gerne diskutieren. Aber eine Verlagerung in Richtung Einkommensteuer- und Umsatzsteueranteile zahlen - das wissen Sie ganz genau - am Ende die Bürgerinnen und Bürger. Deshalb stehen Sie in der Frage schlecht da.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollegin Haßelmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dautzenberg?
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja, natürlich, Herr Dautzenberg.
Leo Dautzenberg (CDU/CSU):
Frau Kollegin Haßelmann, konstatieren Sie und stimmen Sie mir zu, dass die Gewerbesteuer durch einen betrieblichen Teil der Einkommensteuer ersetzt wird und dass die Körperschaftsteuer der klassische Teil der Unternehmensbesteuerung ist?
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Dautzenberg, wir beide wissen sehr genau, wie die Gewerbesteuer funktioniert. Deshalb glaube ich auch, dass Sie wissen, dass die Pläne der FDP, die Gewerbesteuer komplett abzuschaffen, problematisch sind.
Ich weiß, dass Sie persönlich immer ?ersetzen? sagen.
Aber Ihre Koalition sagt: Wir schaffen das Ganze ab. Da liegt der Unterschied. Wir beide wissen genau, wie es funktioniert.
Ich sage Ihnen: Sie dürfen die Unternehmen nicht aus der Verantwortung für die Daseinsvorsorge ihrer Stadt und Gemeinde - sie müssen hier Verantwortung zeigen - entlassen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Herr Dautzenberg, möchten Sie eine zweite Frage stellen?
Lassen Sie, Frau Haßelmann, eine zweite Frage zu?
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich glaube, ich habe auf Ihre Frage hinreichend geantwortet.
Die Detailprobleme im Hinblick auf die Gewerbesteuer werden wir in meinem Redebeitrag von noch einer Minute nicht lösen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich muss korrigieren: Sie haben noch eine halbe Minute, wie Ihnen auch angezeigt wird.
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Okay, gut.
Wir werden die Debatte über die Gewerbesteuer fortsetzen.
- Nein. Wir wissen doch ganz genau, wovon die Rede ist.
Sie arbeiten mit verteilten Rollen. Jürgen Rüttgers erklärt überall in Nordrhein-Westfalen: Es gibt keine weiteren Steuersenkungen zulasten der Kommunen, und die Gewerbesteuer bleibt bestehen.
Gleichzeitig planen Sie hier etwas ganz anderes. Sie wollen die Gewerbesteuer abschaffen. Sie machen sich aber einen schlanken Fuß,
indem Sie die Diskussion in die Kommission verlagern. Sie wollen am liebsten außerhalb des Parlaments, nämlich in der Kommission, darüber diskutieren.
Wir werden erst beteiligt, wenn das Ganze beschlossen ist. Dann darf auch das Parlament etwas dazu sagen.
Jetzt möchte ich noch einen Satz an die SPD richten. Ich freue mich, dass Sie, wie auch wir, eine Weiterentwicklung der Gewerbesteuer wollen, zum Beispiel durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage.
An dieser Stelle sage ich Ihnen: Für einen Teil der Steuerbeschlüsse tragen, wie ich gerade ausgeführt habe, auch Sie Verantwortung.
Mich ärgert, dass Sie sich einen schlanken Fuß gemacht haben, als wir in der letzten Woche im Bundestag über die Kosten der Unterkunft gestritten haben.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollegin Haßelmann, das ist ein sehr langer letzter Satz.
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich komme zum Ende. - Wir haben ganz klar gesagt: Die Kosten der Unterkunft müssen sich an den tatsächlichen Kosten orientieren; denn sonst zahlen die Städte und Gemeinden die Zeche. Wir haben einen entsprechenden Antrag eingebracht, den Sie abgelehnt haben. Eine Erhöhung um 3 Prozentpunkte reicht an dieser Stelle nicht aus.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Sie sprechen jetzt auf Kosten Ihrer Fraktion.
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das wissen Sie.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans Michelbach für die Unionsfraktion.
Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir mussten den größten Wirtschaftseinbruch seit den 30er-Jahren hinnehmen. 2009 sackte das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland um 5 Prozent ab. 2010 ist nur mit einer leichten Erholung auf niedrigem Niveau zu rechnen. Die schwerste und gefährlichste Wirtschafts- und Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg schlägt auf alle Gebietskörperschaften durch. Wir stehen vor einer Herkulesaufgabe. Die Folgen der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, unter anderem die daraus resultierenden gewaltigen Einnahmeeinbrüche der Kommunen, müssen wir möglichst schnell beseitigen.
Dazu gibt es, wie diese Debatte zeigt, unterschiedliche Ansätze. Wir wollen Finanzmarktstabilität, Wachstum und Konsolidierung. Das ist unser Ziel. Wir müssen natürlich zunächst einmal über die Ausgangslage reden: Wie sah die Ausgangslage aus? 2008 hatten wir noch hervorragende Verhältnisse. Die Kommunen verzeichneten einen Überschuss in Höhe von 7,7 Milliarden Euro;
das ist eine Tatsache.
2009 sanken die Steuereinnahmen auf 62,4 Milliarden Euro. Das war ein Rückgang gegenüber dem Vorjahresbetrag um 11,4 Prozent. Letzten Endes wurde durch diese Entwicklung, die eindeutig mit der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise zu tun hat, ein großes Loch in die Haushalte der Kommunen gerissen. Heute beträgt das Defizit 7,1 Milliarden Euro. Das ist die Ausgangslage, die den akuten Handlungsbedarf aufzeigt.
Das kommunale Handeln ist aufgrund der Finanzkrise zweifellos stark eingeschränkt. Die Situation der Kommunen muss stabilisiert werden. Der politisch motivierte Versuch der Opposition, diese Probleme der heutigen Bundesregierung anzulasten, ist jedoch unglaubwürdig, sachlich falsch und nicht zielführend.
Ihre Polemik, meine Damen und Herren, hilft unseren Kommunen nicht. Nur Reformfähigkeit, Wirtschaftsförderung und Entlastung helfen unseren Kommunen. Das ist der richtige Rettungsschirm, nicht aber Steuererhöhungen, Mangelverwaltung und was Sie sonst noch auf Ihrer Agenda haben. Wir wollen unseren Kommunen konkret helfen, und zwar durch Finanzmarktstabilität, Konsolidierung und Wachstumsentwicklung.
Die Sicherung der Kommunalfinanzen ist für uns ein wichtiges Anliegen. Die Bekämpfung der Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die Kommunen wird offensiv angegangen.
Wir haben das Konjunkturpaket II geschnürt. Es ist ein Erfolgsmodell. Maßnahmen im Umfang von 8,3 Milliarden Euro wurden in die Wege geleitet. Ich verstehe nicht, dass es Länder in dieser Republik gibt - insbesondere die, die von Ihnen regiert werden -, die das Zusätzlichkeitskriterium im Zukunftsinvestitionsgesetz aufweichen wollen. Das ist kontraproduktiv. Wir wollen keine Förderung mit der Gießkanne, sondern das Gegenteil: eine gezielte Förderung der Kommunen.
Wir haben die Einsetzung einer Gemeindefinanzkommission beschlossen.
Ich bin der Bundesregierung sehr dankbar, dass sie die Umsetzung des Koalitionsvertrages jetzt schon konkret angegangen ist. Herr Bundesfinanzminister, die Einsetzung einer Kommission zur Erarbeitung von Vorschlägen zur Verbesserung der Gemeindefinanzen ist in der jetzigen Zeit der richtige Weg. Dafür sind wir dankbar. Die Kommission wird auf der Basis einer Bestandsaufnahme Vorschläge zur Neuordnung der Gemeindefinanzierung erarbeiten und bewerten. Im Rahmen dieser Bestandsaufnahme soll es auch um die Frage der Gewerbesteuer sowie um die Frage der anderen Finanzbeziehungen zwischen Wirtschaft und Kommunen gehen.
Wir wollen ein stabiles Band zwischen Wirtschaft und Kommunen. Wir wollen dieses Wellental bei der Gewerbesteuer nicht mehr. Wir wollen eine Verstetigung der Einnahmen der Kommunen. Das ist ein wesentlicher Punkt.
Wir wollen deutlich machen, dass in einer Finanzverfassung, wie wir sie haben, nicht nur im Falle von Steuermehreinnahmen, sondern auch im Falle von Steuermindereinnahmen alle Gebietskörperschaften beteiligt sind. Anders geht es nicht. Wir können doch keinen Verschiebebahnhof organisieren. Das wäre völlig falsch.
Wir betreiben in dieser Frage eine konsequente und fachlich klare Haushalts- und Steuerpolitik gemäß unserer Finanzverfassung. Wenn Sie die Einnahmeseite stärken wollen, dann müssen Sie Leistungsanreize setzen. Diese Anreize setzen wir durch unsere steuerpolitischen Maßnahmen. Für die Kommunen bedeutet das zukünftig Mehreinnahmen.
Es handelt sich dabei nicht um Steuergeschenke. Substanzbesteuerung ist kontraproduktiv. Das, was wir im Wachstumsbeschleunigungsgesetz gemacht haben, ist für die Kommunen hilfreich.
Wir haben zum Beispiel die Verlustnutzung bei Sanierungen von Betrieben zugunsten des Erhalts von Betrieben und Arbeitsplätzen erst wieder möglich gemacht. Was nützt es unseren Kommunen, wenn die Betriebe vor Ort vor die Hunde und Arbeitsplätze verloren gehen? Es darf keine Substanzbesteuerung geben.
Diese Korrektur war absolut zielführend für unsere Kommunen. Das gilt auch für die Zinsschrankenänderung und die Funktionsförderung in der Forschung. Das alles sind ganz gezielte Maßnahmen, die uns in unserer Aufgabe, die Kommunen zu stabilisieren und zu stärken, voranbringen.
Ganz fatal ist es, wenn Sie ausgerechnet die Förderung von Familien sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, also das Kindergeld und die Tarifentlastung, geißeln. Das ist doch eine verkehrte Welt. Auch durch den Konsum entstehen Mehreinnahmen bei den Kommunen.
Deswegen sage ich: Sie haben mit diesen Einnahmeausfällen in Höhe von 1,6 Milliarden Euro für die Kommunen aus dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz den Teufel an die Wand gemalt. Die Tatsachen sehen nämlich ganz anders aus. Wir haben ein klares Konzept für Wachstum, Finanzmarktstabilität, Entlastung und Förderung der Kommunen. Das sind die richtigen Rettungsschirme, und sie werden uns zum Erfolg führen. Deswegen sind Ihre Anträge für die Kommunen absolut kontraproduktiv. Wir haben ein klares ökonomisches Konzept, wie wir in die Zukunft gehen wollen. Das wird den Kommunen letzten Endes helfen, so, wie es 2008 zum Erfolg geführt hat.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat die Kollegin Sabine Bätzing für die SPD-Fraktion.
Sabine Bätzing (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute auch über die Mehrwertsteuerermäßigung für Hotelübernachtungen, die uns diese Koalition eingebrockt hat,
mit der sie den Hotels Millionen geschenkt und den Kommunen Millionen genommen hat.
Auch aus diesem Grund ist ein Rettungsschirm für Kommunen notwendiger denn je.
Eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wir der Union und der FDP dankbar sein; denn der schwarz-gelben Koalition ist etwas gelungen, was mit Gesetzen nicht immer gelingt: Sie hat unser Leben tief und nachhaltig beeinflusst. Den Beweis halte ich hier in meinen Händen. Ich darf aus einem Hinweis des Referates PM 2 der Verwaltung des Deutschen Bundestages zur Abrechnung von Reisekosten zitieren:
Die Kosten für das Frühstück können ab sofort nur erstattet werden, wenn eine Arbeitgeberveranlassung vorliegt.
Danke, liebe Regierungskoalition! Wenn wir Sie und Ihr Wachstumsbeschleunigungsgesetz nicht gehabt hätten, hätten wir das nie erfahren.
Sie werden mir verzeihen, wenn ich etwas sarkastisch bin; aber die Mehrwertsteuerermäßigung für Übernachtungen - wir wollen sie mit unserem Gesetzentwurf heute rückgängig machen - bietet sich geradezu dafür an, sarkastisch zu sein. Ich habe mir in der Vorbereitung auf die heutige Debatte noch einmal angeschaut, was mein Kollege Martin Gerster am 9. Februar im Finanzausschuss gesagt hat. Mein Kollege hat einfach die Äußerungen verschiedener Politiker zu diesem Thema aufgelistet. Ich sage Ihnen: Aus diesen Äußerungen könnte man ein ganzes Comedyprogramm gestalten. Kolleginnen und Kollegen, we proudly present: Herr Dr. Pinkwart von der nordrhein-westfälischen FDP will das Gesetz aussetzen; man habe ein ?bürokratisches Monster? geschaffen. Herr Dr. Rüttgers findet das gut - nicht das mit dem bürokratischen Monster, sondern das, was Herr Dr. Pinkwart gesagt hat. Da frage ich mich: Wer hat dem Gesetzentwurf eigentlich im Bundesrat zugestimmt? Der Kollege von der CDU, Herr Kolbe, sagte am 25. Januar der Presse, dass die Mehrwertsteuerermäßigung der Koalition den Start vermasselt habe. Auch der Kollege Dr. Wissing von der FDP war mit dem Entwurf und der Bevorzugung von Sondergruppen nicht zufrieden.
Da frage ich mich: Wer hat dem Gesetzentwurf eigentlich im Finanzausschuss zugestimmt? Unser Bundestagspräsident, Herr Dr. Lammert, hielt die Mehrwertsteuerermäßigung für eine ?nicht vertretbare Regelung?. Da frage ich mich: Wer hat dem Gesetzentwurf eigentlich im Bundestag zugestimmt?
Es könnte trotzdem alles in Ordnung sein, wenn wenigstens die Hotelbetreiber dankbar und zufrieden wären. Das ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil, die Hotels haben plötzlich einen erhöhten Verwaltungsaufwand. Genauso geht es den Reiseunternehmen, den Wirtschaftsverbänden und den Finanzämtern. Wir halten also fest: Die Mehrwertsteuerermäßigung für Hotels ist Mist.
Immerhin können wir durch die Mehrwertsteuerermäßigung für Hotels viel Neues lernen: Tierpensionen sind keine Hotels; sie genießen keine Steuerermäßigung. Allerdings ist die Übernachtung des Tieres doch steuerermäßigt, wenn es mit einem Menschen in einem Hotel übernachtet. Wenn Kabinen auf Schiffen der Beförderung dienen, sind sie nicht steuerermäßigt, wenn sie dem Wohnaufenthalt dienen, schon. Der Handtuchwechsel im Hotel ist steuerermäßigt. Bahnfahrten im Schlafwagen sind es nicht. Plätze zum Abstellen von Fahrzeugen sind, selbst wenn es sich bei diesen Fahrzeugen um Campingmobile handelt, nicht steuerermäßigt - es sei denn, es handelt sich um Campingplätze.
Auch Tagungsräume und Stundenhotels sind nicht umsatzsteuerermäßigt - wenigstens etwas.
Was sagt die Finanzverwaltung dazu? Sie will bei der Anwendung des Gesetzes kulant sein. Gott sei Dank, was für eine Erleichterung für den Bürger!
Wir werden das Steuerrecht spürbar vereinfachen und von unnötiger Bürokratie befreien.
Wissen Sie, wer das gesagt hat? - Das waren die Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP in ihrem Koalitionsvertrag.
Aus diesem Grund wollen wir eine Kommission einsetzen, die sich mit der Systemumstellung bei der Umsatzsteuer sowie dem Katalog der ermäßigten Mehrwertsteuersätze befasst.
Wissen Sie auch, wer das gesagt hat? - Genau: Auch das steht in dem Koalitionsvertrag.
Zeit wird es, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen; denn das Einzige, was Sie zwei Monate nach Inkrafttreten Ihres Gesetzes haben sinken sehen, sind nicht die Hotelpreise, sondern Ihre Umfragewerte.
Die Hotelpreise sind im Gegensatz dazu gestiegen.
Ich frage mich: Was war denn eigentlich noch einmal das Ziel, das mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz verbunden war? Wachstum? Meinten Sie das Wachstum der Gewinnmarge der einzelnen Lobbygruppen oder das Wachstum der Branche durch mehr Übernachtungen?
Ob und wie viel investiert worden ist, ist eine schöne Frage, die wir uns aufheben, und Sie können sich sicher sein, dass wir sie immer und immer wieder stellen werden, es sei denn, Sie machen heute dem Spuk ein Ende
und stimmen unserem Gesetzentwurf heute zu, mit dem Sie das Thema ein für alle Mal vom Tisch hätten. Außerdem hätten Sie den großen Vorteil, politische Größe gezeigt zu haben. Das wird aber wahrscheinlich nicht passieren.
Warum nicht? - Das wird deshalb nicht geschehen, weil es Ihrem Plan für Deutschland widersprechen würde, wenn wir ein Land hätten, in dem die Politik nicht durch die Interessen einzelner Wirtschaftsteilnehmer bestimmt wird,
und wenn wir ein Land hätten, in dem man einen Interessensausgleich sucht, statt nur die Interessen einer bestimmten Klientel zu vertreten. Manchmal wird von der FDP ja nicht nur das Interesse einer Branche, sondern sogar das Interesse eines einzelnen Wirtschaftsteilnehmers höher als das Allgemeinwohl gewertet.
Herr Westerwelle hat uns ja immer wieder gesagt, wie er sich seine Welt vorstellt,
eine Welt mit Menschen, die ihren Lohn nicht mehr von Unternehmen, sondern als ergänzende Sozialleistung vom Staat erhalten, eine Welt mit Unternehmen, die dadurch ihre Gewinne ins Unermessliche steigen lassen, darauf aber möglichst keine Steuern zahlen müssen,
eine Welt mit Kommunen, die nicht mehr für sich selber sorgen können und nach dem Willen der FDP dann wohl auch abgeschafft werden müssen.
Gott sei Dank regiert die FDP aber nicht alleine; sie hat ja noch einen Koalitionspartner. Was macht der? - Nun, die CSU mosert zwar ständig gegen die FDP,
macht aber nichts richtig Eigenes. Die CDU lässt jeweils eine Seite gewähren und versucht im Erfolgsfalle, das Ganze als ihre Idee hinzustellen. Das kennen wir aber schon aus der Großen Koalition.
Ich und mit mir Hunderte von Kommunen in Deutschland wollen endlich einmal eine Antwort auf die Frage bekommen, wie die Regierung die finanzielle Zukunft der Kommunen sieht.
Die Antwort der Regierung lautet: Wir haben dafür eine Kommission.
Meine Frage lautet: Was machen Sie denn inzwischen? Was machen Sie bis zur NRW-Wahl? Nichts?
Sagen Sie den Kommunen, dass Ihnen das Wahlergebnis in NRW wichtiger ist, als es die Finanzen und damit auch die soziale und kulturelle Ausstattung der Kommunen sind?
Sagen Sie ihnen, dass Sie auch weiterhin Gelder, die die Kommunen wirklich brauchen, an Wirtschaftsunternehmen verteilen wollen? Sagen Sie ihnen das wirklich?
Mein üblicher Schlusssatz: Schaffen Sie die Klientelpolitik ab, stimmen Sie unserem Antrag zu und kümmern Sie sich endlich um die Probleme in diesem Land!
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDP-Fraktion.
Gisela Piltz (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bätzing, Sie haben sich heute hier eines ernsthaft erworben, nämlich den Titel der Märchenerzählerin des Tages.
Sie haben dabei nur eines vergessen: dass nämlich gerade Ihre SPD in Bayern die Mehrwertsteuersenkung für Hotels und Gastronomiebetriebe genauso gefordert hat. Weil an Ihrem Märchen etwas gefehlt hat, möchte ich das ergänzen: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann reden sie als SPD in Bayern noch immer in der Opposition. - Daran sollten Sie immer denken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aufgabenstellung ist eindeutig: Der Schieflage in den kommunalen Haushalten muss jetzt entgegengewirkt werden. Wir müssen jetzt handeln, um die immer deutlicher werdende Misere - ich glaube, das sehen wir alle im Haus so - in den Griff zu bekommen. So gesehen finde ich es gut, wenn hier im Haus Konsens herrscht. Erstaunlich ist nur, dass gerade die Kolleginnen und Kollegen von der SPD hier so auftrumpfen. Sie haben die Kommunen elf Jahre lang mit drei Finanzministern gequält.
Das waren Herr Lafontaine - daran erinnern Sie sich nicht so gerne -, Herr Eichel und Herr Steinbrück. Aber keiner Ihrer Minister hat es geschafft, eine wirklich grundlegende Lösung zu finden. Von daher müssen Sie sich erst einmal selbst fragen lassen, was Sie eigentlich gemacht haben.
Wenn ich von Ihnen höre: ?Wir brauchen eine kommunalfreundliche Politik?, dann sage ich Ihnen eines: Das machen wir jetzt, weil Sie es nicht hinbekommen haben.
Herr Scheelen, Frau Haßelmann, Sie erzählen hier ja immer von den Kommunen in Nordrhein-Westfalen. Ich kann Ihnen dazu eine Geschichte erzählen. Ich darf sie erzählen, weil ich ja gelernt habe, wie man das macht.
- Nein, das ist leider kein Märchen: Sie sind schuld daran, dass es Köln so schlecht geht. 1999 bei der Kommunalwahl hat es in Köln und in Düsseldorf eine deutliche Mehrheit für Schwarz-Gelb gegeben. Ich kann Ihnen sagen, was in Düsseldorf passiert ist: Wir haben dort zehn Jahre lang die kommunalen Haushalte saniert.
Wir sind seit Jahren schuldenfrei. Wir haben über 100 Millionen Euro in die Schulen investiert und jede Steuer gesenkt. Den Unternehmen geht es gut und den Bürgerinnen und Bürgern auch.
Was ist in Köln passiert?
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollegin Piltz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Haßelmann?
Gisela Piltz (FDP):
Nein, im Moment nicht.
Sie kommt ja weder aus Köln noch aus Düsseldorf. Und nach einer Kurzintervention, Frau Haßelmann, habe ich drei Minuten Zeit zum Antworten; das ist noch schöner.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Es gibt kein Grundrecht auf Kurzinterventionen. Insofern ist noch nicht klar, ob Sie diese drei Minuten zur Antwort überhaupt erhalten.
Gisela Piltz (FDP):
Also: In Köln hat es Rot-Grün geschafft, dass diese Stadt wirklich am Ende ist.
Ich sage das nicht, weil ich Düsseldorferin bin. Ich leide wirklich mit Köln. Manchmal frage ich mich, ob wir als Düsseldorfer nicht Entwicklungshilfe leisten müssten.
Daran sehen Sie, was eine Regierung unter Rot-Grün kaputtmachen kann. Das sollten Sie sich einfach einmal klarmachen und nicht pauschal davon reden, dass die Situation in Nordrhein-Westfalen so schlimm ist.
Frau Haßelmann, noch ein Wort zu Ihnen: Wenn Sie sagen, dass die schwarz-gelbe Regierung in Düsseldorf die Kommunen kaputtgespart hat, dann sage ich Ihnen: Das Land hat dieses Jahr trotz rückläufiger Steuereinnahmen den zweithöchsten Betrag aller Zeiten, nämlich 7,6 Milliarden Euro, an die Kommunen gegeben. Ich frage Sie: Was hat denn Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen gemacht, solange es regiert hat? - Gar nichts! Sie haben uns verfassungswidrige Haushalte beschert, mehr nicht!
Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir uns mit der Verstetigung der Kommunalfinanzen beschäftigen. Sie haben eigentlich genau das Gegenteil gemacht: Sie haben über die Substanzbesteuerung auch noch die Liquidität der Unternehmen gefährdet. Das heißt, Sie haben die Einnahmenseite nur begrenzt verbessert, die Finanzsituation der Unternehmen geschwächt und damit die Vernichtung von Arbeitsplätzen bewirkt.
Ich frage mich, ob es das ist, was Sie gewollt haben.
Ich frage mich auch noch etwas anderes, wenn Sie hier immer wieder mit dem Thema Hotels anfangen: Herr Scheelen, wo waren Sie eigentlich, als die sogenannte Große Koalition 5 Milliarden Euro per Federstrich in die Autoindustrie gesteckt hat? Wo sind Sie denn da gewesen? Wo waren Sie denn, als die Kommunalpolitiker der Grünen und insbesondere der SPD gejault haben: Warum gebt ihr der Autoindustrie 5 Milliarden Euro und gebt diese Mittel nicht an die Kommunen?
Das habe ich bei Ihnen vermisst. Das ist unehrlich. Aber das mag sicherlich daran liegen, dass Herr Gabriel und die SPD ordentlich Geld mit der Autoindustrie verdient haben.
Ich jedenfalls bin froh, Herr Schäuble - und deshalb mein Dank an Sie -, dass Sie sich der kommunalen Finanzen so schnell annehmen. Es ist mir auch wichtig, dass wir nicht nur über die Einnahmenseite, sondern auch über die Ausgabenseite sprechen. Ich hoffe, dass sich alle Mitglieder dieser Kommission - das gilt insbesondere für die Opposition und die kommunalen Spitzenverbände - endlich von dem Gedanken befreien, dass die Gewerbesteuer, so wie sie jetzt angelegt ist, die beste Steuer in diesem Zusammenhang ist.
Um es ganz klar zu sagen: Wir wollen das Gewerbe nicht aus seiner steuerlichen Verantwortung entlassen. Aber das muss nicht über die Gewerbesteuer erfolgen. Das müssen Sie irgendwann einmal zur Kenntnis nehmen. Wenn Sie das immer wieder falsch zitieren, bringt uns das auch nicht weiter.
Zum Schluss noch einige Sätze zu dem Antrag der Linken: Recycling ist sicherlich in der Umweltpolitik schön und richtig, aber nicht bei Ihrem Antrag. Den haben Sie schon in der letzten Legislaturperiode vorgelegt.
- Nicht immer; nur dann, wenn es sinnvoll war. Aber zu dem Thema dieses Antrags hat es eine Anhörung gegeben, aus der relativ deutlich geworden ist, dass das nicht der richtige Weg ist. Ich zitiere:
Die Forderungen aus dem Antrag der Linken sind in der Sache bereits im geltenden Recht verankert.
Wir von der christlich-liberalen Koalition wollen die Kommunen beteiligen. Auch das wird Thema der Kommission sein. Kommunen sind aber - das ist schon angesprochen worden - nicht Sache des Bundes, sondern der Länder. Ihr Antrag ist leider nicht klug und bringt uns nicht weiter.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollegin Piltz, kommen Sie bitte zum Schluss.
Gisela Piltz (FDP):
Ich komme zum Schluss. - Wir glauben, dass die Kommunen unsere Hilfe brauchen. Deshalb gibt es eine Kommission, die handelt, statt nur zu reden. Das haben wir elf Jahre und damit lange genug von Ihnen ertragen.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Zu einer Kurzintervention hat nun die Kollegin Haßelmann das Wort.
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Frau Piltz, Sie haben über NRW geredet und mich direkt angesprochen. Ist Ihnen bewusst, dass die Stadt Düsseldorf in einer solchen Situation ist - das müsste Ihnen klar sein, weil Sie die Stadt gut kennen -, weil sie ihr gesamtes Tafelsilber verscheuert hat?
Düsseldorf hat sämtliche Beteiligungen verkauft und konnte damit seine massiven Haushaltsschulden sanieren. Das kann man aber nur einmal tun. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: Sie suchen Beispiele für Ihre kommunenfreundliche Politik. Ich hoffe, Sie wissen, dass derzeit über 20 Kommunen vor dem Landesverfassungsgericht in Nordrhein-Westfalen gegen Sie, die schwarz-gelbe Landesregierung, klagen, weil Sie systematisch den Kommunen Geld entziehen und Aufgaben von der Landesebene auf die kommunale Ebene delegieren, ohne die Finanzierung dieser Aufgaben sicherzustellen. Über 20 Kommunen klagen gegen Sie.
Es gibt ein weiteres Beispiel für Ihre kommunenfeindliche Politik. Sie haben unter großem Applaus Ihrer selbst die Änderung der Gemeindeordnung in Nordrhein-Westfalen gefeiert, in der Sie versucht haben, den Kommunen die wirtschaftliche Betätigung völlig zu entziehen.
Damit sind Sie jetzt absolut abgestürzt. Sie müssen die Gesetzgebung korrigieren. Die Gemeindeordnung muss geändert werden, weil die wirtschaftliche Betätigung, die unter Schwarz-Gelb beschlossen worden ist, den gerichtlichen Prüfungen nicht standgehalten hat. Das ist ein Beleg für kommunenfeindliche Politik im Land Nordrhein-Westfalen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Bitte, Kollegin Piltz.
Gisela Piltz (FDP):
Frau Haßelmann, ich will kurz antworten. Erstens. Ich war Fraktionsvorsitzende im Rat einer Stadt. Sie waren Landtagsabgeordnete.
Ihr Problem ist, dass Sie hier im Bundestag Landespolitik diskutieren wollen. Das ist durchsichtig, und ich finde, das gehört so nicht hierher.
Zweitens. Wenn Sie davon sprechen, dass eine Stadt ihr Tafelsilber verscheuert, dann muss ich Sie darauf hinweisen, dass ich in Düsseldorf noch nie mit silbernem Besteck gegessen habe.
Ein weiterer Punkt ist, dass das, was Sie so bedauern, der Stadt Düsseldorf jedes Jahr 50 Millionen Euro bringt, und zwar dauerhaft. Das, was Sie verscherbeln nennen, halte ich für eine gute Anlage, weil wir durch den einmaligen Verkauf von Anteilen jedes Jahr über 50 Millionen Euro an Schuldentilgung sparen. Das ist kluge Haushaltsführung und hat nichts mit dem zu tun, was Sie hier vorgetragen haben.
Ich komme zum Schluss. Wenn ich das richtig sehe, ist die Klage, die Sie meinen, in dieser Woche entschieden worden. Leider hat die Landesregierung gewonnen.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Ingrid Remmers das Wort.
Ingrid Remmers (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Regionalverband Rhein-Ruhr hat am Montag eine Resolution gegen die Überschuldung der Kommunen beschlossen. In dieser Sitzung sagte der CDU-Oberbürgermeister aus Hamm: Ich bin seit elf Jahren Oberbürgermeister, beschissen werden wir von beiden Landesregierungen. - Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU und SPD, sollte Sie tief erschüttern.
Nach Auffassung der Linken liegt die Hauptverantwortung für die chronische Unterfinanzierung der Kommunen in der Gesetzgebung des Bundes. Hier müssen die notwendigen Weichenstellungen für die Anpassung an den Finanzbedarf der Kommunen erfolgen. Hatte aber bereits die rot-grüne Bundesregierung mit ihrer Steuer- und Finanzmarktreform den Grundstein für die heutige Finanzmisere der Kommunen gelegt, sattelten und satteln die Große Koalition und die jetzige Bundesregierung noch kräftig weitere Kosten für Städte und Gemeinden obendrauf.
Diese Entwicklung, noch einmal verschärft durch das krisenbedingte Wegbrechen der Gewerbesteuer, führte im letzten Jahr dazu, dass die Städte und Gemeinden insgesamt 7,1 Milliarden Euro mehr ausgegeben haben, als sie im selben Zeitraum eingenommen haben. Für dieses Jahr wird - die Genossin Gesine hat es eben schon gesagt -
ein Rekorddefizit von 12 Milliarden Euro erwartet.
Für mein Bundesland NRW heißt dies ganz konkret, dass sich die Haushaltspläne der Kommunen inzwischen zu reinen Sparlisten entwickelt haben, dass in Hagen und Oberhausen der Gesamtwert des städtischen Besitzes inzwischen geringer ist als ihre Verbindlichkeiten und in Städten wie Duisburg, anders als etwa eben in Düsseldorf, die Entwicklung der Gewerbesteuer zur reinen Glückssache geworden ist. Diese völlige Schieflage, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist aus Sicht der betroffenen Kommunen nicht haltbar.
Aber erst jetzt, nachdem die Kommunen beginnen, sich öffentlich zu wehren, und angesichts der anstehenden NRW-Landtagswahl sieht sich endlich auch unsere Bundesregierung gezwungen, sich in dieser Frage zu bewegen. Dazu hat sie erst einmal eine Kommission zur Erarbeitung von Reformvorschlägen eingesetzt. Wie halbherzig dieser Ansatz ist, zeigt sich, anders als Kollegin Tillmann es eben behauptet hat, darin, dass schon der Einsetzungsbeschluss der Bundesregierung keine Änderung der Finanzverteilung vorsieht. Dies führt doch, verehrte Kolleginnen und Kollegen, die ganze Angelegenheit ad absurdum.
Das bedeutet faktisch, dass eine echte Mitbestimmung der einbezogenen kommunalen Spitzenverbände genauso wenig vorgesehen ist wie etwa die weiterer kommunaler Verbände, Gewerkschaften oder gar der Bürgerinnen und Bürger.
Auch der vorliegende Antrag der SPD geht hier völlig ins Leere. Ein verbindliches Mitspracherecht der Kommunen taucht auch hier nicht auf. Sowohl Rot-Grün als auch - -
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollegin Remmers, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Tillmann?
Ingrid Remmers (DIE LINKE):
Ungern.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ja oder nein?
Ingrid Remmers (DIE LINKE):
Sowohl Rot-Grün als auch Schwarz-Rot
waren in den vergangenen Jahren die Belange der Kommunen augenscheinlich ziemlich egal. Die Linke fordert, die Kommunen endlich in die Entscheidungen über ihre eigenen Angelegenheiten einzubeziehen und ihnen dabei selbstverständlich reale Mitwirkungsrechte zuzugestehen.
Darüber hinaus fordern wir die Weiterentwicklung der Gewerbesteuer zur sogenannten Gemeindewirtschaftsteuer. Dazu gehören unter anderem die Einbeziehung der freien Berufe; alle Schuldzinsen und Finanzierungsanteile von Mieten, Pachten, Leasingraten und Lizenzgebühren sollen künftig in voller Höhe bei der Ermittlung der Steuerbasis berücksichtigt werden und Gewinne und Verluste dann steuerlich geltend gemacht werden, wenn sie tatsächlich anfallen, um hier Steuerschlupflöcher zu verhindern. Um kleinere Gewerbetreibende nicht zu stark zu belasten, soll der Freibetrag für Freiberufler, kleine Unternehmen und Existenzgründer von derzeit 24 500 Euro auf 30 000 Euro erhöht werden.
Nicht zuletzt muss man nach unseren Vorstellungen nicht, wie es hier eben gesagt worden ist, die Gewerbesteuer abschaffen, sondern die Gewerbesteuerumlage der Kommunen an den Bund und die Länder schrittweise, aber schnell senken.
Diese Vorschläge, verehrte Kolleginnen und Kollegen, bieten einen praktikablen Weg, um die Eigenständigkeit der Kommunen endlich wieder herzustellen. Da, wo die Kommunen einsparen müssen, braucht es meines Erachtens eine neue Debatte über die Frage, was in Zukunft eigentlich Pflichtaufgabe und was freiwillige Leistung sein soll.
Zuletzt sage ich noch einmal klipp und klar, dass auch der Ausverkauf öffentlichen Eigentums - Beispiel Düsseldorf - die faktische Handlungsunfähigkeit der Kommunen mitverursacht hat.
Man kann es nicht oft genug sagen: Der Verkauf von Wohnungen, Stadtwerken und Öffentlichem Personennahverkehr sowie die Einführung von Public-Private Partnerships fanden aus akutem Geldmangel statt und verschlechtern auch noch die langfristigen Aussichten. Damit wird nicht nur die politische Kontrolle über die Infrastruktur weitgehend ausgelagert; auch die möglichen Einnahmen öffentlicher Betriebe verschwinden völlig. Da drängt sich doch schon fast der Eindruck auf, die gewollte Finanznot der Kommunen hätte Methode.
Die Linke hat mit ihren Anträgen, wie ich Ihnen gerade aufgezeigt habe, erfolgversprechende Vorschläge auf den Tisch gelegt. Wir fordern nun die Bundesregierung auf, endlich dafür zu sorgen, dass die Kommunen wieder handlungsfähig werden, und dabei intelligente Vorschläge auch über Fraktionsgrenzen hinweg aufzunehmen.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finanzen:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Lage der kommunalen Finanzen, der Kommunen ist schwierig. Ich hatte bei manchen Beiträgen, die ich eben in dieser Debatte gehört habe, fast das Gefühl, dass es schon ein bisschen aus dem Blick geraten ist: Die Lage ist wirklich ungewöhnlich ernst. Wahr ist auch: 2008 haben die kommunalen Gebietskörperschaften saldiert einen deutlichen Überschuss erzielt.
Es ist also richtig, dass ein Teil der Probleme eine Folge der tiefgreifenden Finanz- und Wirtschaftskrise ist, die uns in den letzten zwei Jahren ereilt hat. Wahr ist aber auch, dass wir bei den Kommunalfinanzen ein grundsätzliches Problem haben, das sich über eine viel längere Zeit hinweg entwickelt hat. Es kommen also beide Dinge zusammen.
Ich glaube, es ist unstreitig - deswegen ist es gut, dass wir diese Debatte führen -, dass die Lebensfähigkeit und Leistungsfähigkeit der Kommunen die Grundlage für die Nachhaltigkeit und Stabilität unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung bildet. Wir dürfen das nicht aus dem Blick verlieren. Ich habe schon ein paar Mal an dieser Stelle gesagt: In einer Welt der Globalisierungen, in einer Zeit, in der Bindungen aufgrund vielfältiger Entwicklungen eher schwächer werden und es schwierig erscheint, die Menschen zu erreichen, ist es umso wichtiger, dass die kommunale Selbstverwaltung - die Bindung der Bürgerinnen und Bürger an die Gemeinde, die Eigenverantwortung und die Gestaltungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger in ihrer Gemeinde - vital bleibt. Das ist die Grundlage für die Stabilität und Nachhaltigkeit unserer Freiheitsordnung.
Wir müssen diese Aufgabe in unserer föderalen Ordnung erfüllen. Wir wissen spätestens seit den beiden Föderalismusreformen, dass diese Ordnung kompliziert ist. Daraus ergeben sich praktische Konsequenzen. Ich begrüße sehr, dass wir uns bei der Frage der Jobcenter darauf verständigt haben, eine gute Grundlage zu schaffen. Wir sehen an jedem dieser Punkte, welche Rahmenbedingungen unsere föderale Ordnung für die Lösung dieser Probleme setzt. Ich füge hinzu - das muss man gelegentlich den Kommunalvertretern sagen -: Unser Bundesstaat, die Bundesrepublik Deutschland, besteht aus den staatlichen Ebenen des Bundes und der Länder, nicht aus drei Ebenen. Die kommunale Selbstverwaltung bildet eine wichtige Grundlage; aber sie ist etwas anderes als eine dritte staatliche Ebene. Das muss man sich gelegentlich ins Bewusstsein rufen.
Ich finde es richtig - das muss ich entgegen manch kritischem Einwand sagen -, dass wir uns dafür entschieden haben, die Kommission, in der wir die Probleme aufarbeiten und Lösungsvorschläge erarbeiten wollen - wir wollen und wir werden die Vorschläge noch in diesem Jahr dem Hohen Haus präsentieren -, mit Vertretern der Bundesländer und der Kommunen, der kommunalen Spitzenverbände, zu führen. Deswegen haben wir die Kommission so gebildet. Sie hat ihre Arbeit mit hoher Dringlichkeit aufgenommen. Daran liegt mir, weil das eine prioritäre Aufgabe ist, die wir erfüllen müssen.
Ich will zwei Bemerkungen hinzufügen. Ich glaube, dass Ad-hoc-Zuweisungen an die Kommunen durch den Bund, durch Programme des Bundes bis hin zu Rettungsschirmen, wie man sie damals spannte - die aber auch nicht lange halten; sonst hätten Sie nicht so viele Rettungsschirme aus der Vergangenheit erwähnen können, und die Probleme bestehen trotzdem weiterhin -, generell allenfalls die zweitbeste Lösung sind
- wenn überhaupt -, und zwar im Wesentlichen aus zwei Gründen: Zum einen führen sie nicht gerade zur Stärkung der kommunalen Eigenverantwortung. Die Kommunen können nicht selbst gestalten; denn auch der goldene Zügel ist ein Zügel. Zweitens befördern sie natürlich nicht gerade die optimale Ressourcenallokation. Denn wenn man Zuweisungen, Zuschüsse bekommt, wendet man in dem Bereich notfalls auch Eigenmittel auf, auch wenn man das anderenfalls nicht machen würde.
Deswegen ist es besser - und das ist unser grundsätzlicher Ansatz -, die Grundlagen der kommunalen Finanzen zu stärken, und zwar in zweierlei Hinsicht. Den ersten Punkt habe ich in der bisherigen Debatte ein wenig vermisst. Wir sollten gemeinsam mit den Ländern und Gemeinden überlegen, ob wir den Kommunen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nicht größere Gestaltungs- und Entscheidungsspielräume geben können. Das heißt, wir müssen prüfen: Müssen in Bezug auf die Ausgabenseite und die Leistungsstandards bundeseinheitliche Vorgaben gemacht werden, oder können wir uns zu mehr Eigenverantwortung, zu Regionalisierung, Benchmarking, Wettbewerb bekennen? Ich bin für das Zweite. Genau dafür muss diese Arbeitsgruppe Vorschläge machen.
Wenn wir das Problem nicht von der Ausgabenseite, sondern nur von der Einnahmeseite her angehen, werden wir es nicht zureichend lösen können. Im Übrigen befördern wir auf diese Weise langfristig die Entwicklung, dass viele, die sich in der kommunalen Selbstverwaltung heute dankenswerterweise noch engagieren, keine Lust mehr dazu haben, weil sie nichts mehr entscheiden können. Das gilt übrigens auch im Zusammenhang mit der Auslagerung vieler Eigenbetriebe in manchen Kommunen; aber das ist ein anderes Thema. Wir werden diesen Trend nur stoppen, wenn wir der kommunalen Ebene selbst wieder mehr Entscheidungsspielraum und Entscheidungsverantwortung geben. Diesen Aspekt dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren.
Der zweite Punkt sind die kommunalen Finanzquellen. Es ist ein altes Thema, dass die Gewerbesteuer eine besonders konjunkturanfällige Steuerquelle der Gemeinden ist. Das kann man nicht ernsthaft bestreiten.
- Aber Sie wissen genau, Herr Kollege Poß: In dem Maße, in dem Sie sie verbessern, gehen Sie im Zweifel stärker
in Richtung Substanzbesteuerung.
Dadurch erreichen wir genau das Gegenteil. Wir haben im Zusammenhang mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz darüber diskutiert. Ich halte die Entscheidung nach wie vor für zwingend notwendig und richtig, dass wir bei der gegebenen Lage etwa des Einzelhandels in Großstädten und Mittelstädten die begrenzten Korrekturen im Wachstumsbeschleunigungsgesetz festgeschrieben haben, die natürlich zulasten der Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer gehen.
Das ist wahr. Aber wenn die Unternehmen Pleite gehen würden, dann wäre die Bemessungsgrundlage Null. Damit wäre auch nichts gewonnen.
Das zeigt doch nur die Reformbedürftigkeit.
Das kann also nicht falsch, sondern muss richtig sein. Wir haben ja auch einen gewissen internationalen Vergleich. Wir haben uns mit dem Dualismus in der Besteuerung in Deutschland lange beschäftigt, bis hin zur Anrechnung im Rahmen der Einkommensteuer - auch darüber ist schon gesprochen worden -, um das Problem zu minimieren. Die Grundüberlegung, eine Verbreiterung der Finanzierungsgrundlage der Kommunen durch eine Verstetigung des Zuschlags - nicht nur durch die Beteiligung an der Einkommensteuer, sondern auch durch ein Zuschlagsrecht einschließlich Hebesatzrecht bei Einkommen- und Körperschaftsteuer - herbeizuführen, ist doch nichts Schlimmes, sondern dient im Ergebnis der Verankerung der kommunalen Selbstverwaltung in der Breite der Bevölkerung.
Ich weiß schon, dass die Interessenlage und die Betroffenheit der Kommunen unterschiedlich sind. Ich weiß auch, dass das alles andere als einfach ist. Aber genau deswegen sagen wir: Wenn wir den Gesamtzusammenhang, Beteiligung an der Umsatzsteuer, Revitalisierung der Grundsteuer - darüber ist noch gar nicht geredet worden -, Zuschlagsrecht auf Einkommen- und Körperschaftsteuer, sehen, dann hätten wir eine Chance, die Einnahmebasis der Kommunen im Sinne einer Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung zu festigen. Das ist des Schweißes aller Beteiligten wert. In genau diese Richtung wollen wir arbeiten.
Wenn wir dies mit mehr Entscheidungsspielräumen für die Kommunen bei den Ausgaben verbinden, dann erfüllen wir unsere Aufgabe, nämlich die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung. Dafür bitte ich um Ihre Mitwirkung.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Dr. Thomas Gambke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, ich kann es Ihnen nicht ersparen:
Das Thema ist die Umsatzsteuer. Ich weiß, Sie können es nicht mehr hören;
denn die guten Argumente sind vielfach genannt
und von Ihnen, wie ich immer wieder merke, gehört, von vielen auch verstanden und - das lese ich zwischen den Zeilen - für richtig befunden. Nehmen Sie sich doch mal zusammen. Der doch sehr lebendige Vortrag von Kollegin Bätzing hat es vielleicht ein bisschen in den Hintergrund gerückt:
Wir reden immerhin von 1 Milliarde Euro, die dem Staat nicht mehr zur Verfügung stehen, weil Sie dieses Geld durch die Umsatzsteuerermäßigung für Hoteliers weggeben. Erkennen Sie dies als Fehler an und nehmen Ihr Gesetz zurück. Stimmen Sie dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zu!
Lassen Sie mich in der knappen Redezeit, die ich habe, eine grundsätzliche Bemerkung machen. Ich will mit einem Zitat anfangen:
Es ist nicht Aufgabe der Bundesregierung, Lobbygruppen zu vertreten. Aufgabe der Bundesregierung ist vielmehr, ein Steuerrecht zu schaffen, das den berechtigten Belangen der Gesellschaft ... gerecht wird.
Würden Sie dem zustimmen? Das hat Kollege Wissing 2008 in der Diskussion zu einem Antrag gesagt, der den Umsatzsteuersatz für Produkte und Dienstleistungen für Kinder beinhaltete. Herr Wissing, Glückwunsch zu dieser Bemerkung und zu dieser klaren ordnungspolitischen Aussage. Aber dann machen Sie doch das, was Sie gesagt haben. Handeln Sie so, wie Sie sprechen.
Auch Herr Kolbe von der CDU hat im Übrigen durch sein Abstimmungsverhalten beim Wachstumsbeschleunigungsgesetz eine klare Aussage getroffen. Dabei ist Herr Kolbe kein Geringerer als derjenige, der bei Ihnen für die Umsatzsteuer verantwortlich ist. Beide Kollegen wissen nämlich, dass die Umsatzsteuer eben kein Steuerungsinstrument ist. Sie eignet sich dafür nicht. Sie wissen auch, dass es jetzt umso schwieriger sein wird, diese Sündenfälle zu stoppen. Was 2008 die Schweineohren waren, sind jetzt die Hoteliers.
Kehren Sie auf den Pfad der Ordnungspolitik zurück. Sie wollen eine Kommission zur Reform der Umsatzsteuer einsetzen. Sie verlieren doch hier Ihre Glaubwürdigkeit, wenn Sie dieses Gesetz zur Umsatzsteuerermäßigung nicht sofort stoppen.
Sie müssen doch die grundsätzlichen Probleme der Umsatzsteuerermäßigung anerkennen. Sie wirkt nicht zielgenau. Sie weist hohe Mitnahmeeffekte auf. Sie hat kaum eine Verteilungswirkung, weil Einkommensmillionäre genauso wie Hartz-IV-Empfänger betroffen sind. In vielen Fällen kommt sie gar nicht beim Verbraucher an.
Gehen Sie einmal zu McDonald?s. Kaufen Sie einen Hamburger zum Mitnehmen, dann zahlen Sie 7 Prozent Mehrwertsteuer. Kaufen Sie einen zum Verzehr vor Ort, dann sind es 19 Prozent Mehrwertsteuer. Wer profitiert von dieser Differenz von 12 Prozentpunkten? Nicht der Verbraucher, sondern McDonald?s. So ist die Wirklichkeit. Die Einnahmeausfälle für den Fiskus sind enorm.
Wenn Sie etwas für eine nachhaltige Entwicklung tun wollen, dann investieren Sie bitte in den Klimaschutz, dann investieren Sie bitte in Bildung, aber bitte geben Sie das Geld nicht einfach so den Hoteliers.
Danke schön.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Bernhard Kaster für die Unionsfraktion.
Bernhard Kaster (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die finanzielle Situation der Gemeinden und Städte ist schlecht, sie ist dramatisch schlecht. Die Wirtschaftskrise - das haben wir in der Debatte schon mehrfach gehört - ist auf der Ebene angekommen, auf der das reale Leben vor Ort stattfindet, nämlich bei unseren Kommunen. Die Wirtschaftskrise hat dazu geführt, dass das Bruttoinlandsprodukt im vergangenen Jahr um 90 Milliarden Euro, also um 5 Prozent gesunken ist.
Was ist nun zu tun? Die SPD beantragt einen Rettungsschirm. Ich sage: Nein, wir brauchen keinen Schirm. Wir brauchen für die Kommunen dauerhaft und nachhaltig gutes Wetter.
Sie fordern eine kurzfristige Stabilisierung, Herr Scheelen. Sie wollen auf zwei Jahre befristete Hilfen bei den Kosten der Unterkunft. So steht es in Ihrem Antrag. Das heißt nichts anders als: Schirm auf, Schirm zu.
Für uns, für die Union als Kommunalpartei ist die politische und finanzielle Handlungsfähigkeit unserer Gemeinden und Städte niemals Thema für populistische Anträge.
Die kommunale Ebene, die kommunale Selbstverwaltungsgarantie und die Subsidiarität sind bei uns politisches Fundament. Deshalb werden wir diese Legislaturperiode nutzen, um die politische und finanzielle Handlungsfähigkeit unserer Kommunen nachhaltig zu sichern.
Die eingesetzte Regierungskommission unter Leitung von Finanzminister Dr. Schäuble und unter Beteiligung unseres Innenministers de Maizière hat drei große Aufgabenstellungen: erstens die notwendige Verstetigung der Einnahmeseite, zweitens die Begrenzung der Ausgaben und Standards sowie die Schaffung von mehr Flexibilität und drittens die stärkere Beteiligung der Kommunen bei den sie betreffenden politischen Entscheidungsprozessen.
Auch auf der Einnahmeseite gehen wir im Hinblick auf nachhaltige Finanzstrukturen ohne Tabus an dieses Thema heran. Das heißt, wir reden über die Ausgestaltung der Gewerbesteuer und auch über Alternativen, über den Anteil am Umsatzsteueraufkommen und über den Anteil am Einkommensteueraufkommen.
Als ehemaliger Bürgermeister sage ich Ihnen, dass es mir wichtig ist, bei der Gestaltung der kommunalen Finanzen weiterhin an drei wichtigen Beziehungen, an drei wichtigen Bezugspunkten festzuhalten. Dies sind der Bezugspunkt Gemeinde und Bürger, der Bezugspunkt Gemeinde und Grund und Boden sowie der Bezugspunkt Gemeinde und Wirtschaft. Bei der Ausgestaltung des dritten Bezugspunkts, bei der Ausgestaltung einer wirtschaftsbezogenen Steuer, müssen wir uns Gedanken machen.
Aber auch auf der Ausgabenseite müssen wir zwingend über Standards nachdenken. Dies betrifft viele Bereiche und erfordert mehr Flexibilität.
Dazu fällt mir ein Beispiel aus meiner Heimatstadt Trier ein. Über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg befanden sich dort französische Streitkräfte und deren französische Familien. Noch kurz vor dem Abzug der französischen Streitkräfte konnten wir uns damals als Stadträte die französischen Schulen und die französischen Kindergärten ansehen. Wir haben gesehen, wie wohl sich die Kinder dort gefühlt haben.
Als wir diese Schulen und Kindergärten jedoch übernommen haben, waren plötzlich Millioneninvestitionen notwendig, weil es hieß, die Scheiben seien zu dünn, der Boden sei zu hart, die Fliesen seien zu glatt usw. Wir brauchen also mehr Flexibilität.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist schon etwas dreist, wer sich heute hier als der Retter der Kommunen aufspielen will. Das muss in dieser Debatte einmal gesagt werden.
Die Wirtschaftskrise - daran gibt es nichts herumzudeuteln - hat die Kommunen in große finanzielle Schwierigkeiten gebracht. In den rot-grünen Jahren von 1998 bis 2005 hat es einer solchen Wirtschaftskrise aber nicht bedurft, um die Gemeinden finanziell abstürzen zu lassen. Das hat Rot-Grün damals ganz allein geschafft.
5 Milliarden Euro Minus im Schnitt in dieser Zeit. Das war damals so gewesen. Ich könnte mehrere Beispiele nennen, wie die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage usw.
Lassen Sie mich noch etwas als Rheinland-Pfälzer sagen. Ich finde es schon gewagt, dass Sie in Ihrem Antrag Vergleiche zu Rheinland-Pfalz anstellen. Ich bitte Sie!
- Herr Scheelen, Rheinland-Pfalz kümmert sich um die Kommunen in der Weise, dass in Rheinland-Pfalz die Pro-Kopf-Verschuldung der Kommunen aufgrund eines ganz miesen Finanzausgleichs um 30 Prozent höher ist als in allen anderen westlichen Flächenländern. Ich will gar nicht davon sprechen, wofür in Rheinland-Pfalz sonst noch Geld ausgegeben wird. Nürburgring lässt grüßen.
Ein Finanzminister ist schon zurückgetreten. Ich sage aber auch: In dieser Gemeindefinanzkommission wird auch Rheinland-Pfalz vertreten sein. Der Finanzminister wird, solange er im Amt ist,
auch da mitwirken können.
Noch ein Wort zu Ihrer doch sehr populistischen und falschen Steuerdiskussion. Dass wir zum 1. Januar das Kindergeld, die Kinderfreibeträge und den Grundfreibetrag erhöht und den Steuertarif um 330 Euro nach rechts verschoben haben, das war richtig.
Es war deswegen richtig, weil es nicht sein kann, dass die Finanzmisere, in der sich Bund, Länder und Kommunen befinden, ausgerechnet von den Bürgern mit mittleren und kleineren Einkommen bezahlt werden soll, die über Jahre Steuern zahlen. Es kann nicht sein, dass sie still und heimlich über die Jahre inflationsbedingt in höhere Steuersätze hineinrutschen und wir einfach zuschauen. Das ist unfair gegenüber den Bürgern. Das muss man korrigieren, und das haben wir gemacht.
Wir brauchen Fairness gegenüber den Bürgern und Fairness gegenüber den Kommunen. Die Koalition und die Union als Kommunalpartei
werden auch in schwieriger Zeit diese Fairness gewährleisten; denn unser Grundsatz gilt: Geht es den Gemeinden gut, geht es dem ganzen Land gut. Deswegen wiederhole ich: Wir brauchen keinen Schirm, sondern dauerhaft gutes Wetter für unsere Kommunen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich dem Kollegen Poß das Wort gebe, sei mir der Hinweis gestattet, dass wir noch zwei Redner in dieser Debatte haben und beiden ermöglichen sollten, hier zu reden. Allen, die im Saale sind, sollten wir ermöglichen, sie zu hören und zu verstehen. Deshalb bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, die zur namentlichen Abstimmung schon herbeigeeilt sind, Platz zu nehmen, sodass wir die Debatte zu Ende führen können.
Das Wort hat der Kollege Joachim Poß für die SPD-Fraktion.
Joachim Poß (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Kaster, die Kommunen brauchen jetzt keinen Schönwetterredner, sondern sie brauchen eine sofortige Hilfe,
weil sie mit den Folgen der Krise nicht mehr klarkommen, weil sie die Einrichtungen der sozialen Infrastruktur wie Kindertagesstätten nicht mehr aufrechterhalten können. Die haben nichts von Ihren Sprüchen und von den Ankündigungen von Herrn Schäuble, die er hier gemacht hat. Denen muss jetzt und wirksam geholfen werden,
und zwar nicht, um abstrakt Kommunen zu helfen, sondern um den wirklich Betroffenen, den Kindern und Jugendlichen in den Kommunen, zu helfen. Das ist die Aufgabe. Das müssen Sie doch erkennen.
Diese Feststellung wird nicht einmal mit einem Vorwurf garniert. Wir alle fühlen uns doch zu Recht nicht schuldig wegen der Krise. Wir haben nicht die schwerste Wirtschafts- und Finanzkrise, die wir bisher in der Nachkriegszeit erlebt haben, herbeigeführt, und zwar keiner von uns. Wir müssen uns nur der Realität stellen. Sie haben einen Koalitionsvertrag gemacht, der die Realität leugnet. Das ist doch das Problem. Deswegen kommen Sie im Moment mit der Realität nicht klar.
Das dürfen nicht die Kommunen ausbaden, weil Sie Schwierigkeiten haben, irgendetwas von Ihrem ?Kollisionsvertrag?, wie meine Kollegin gesagt hat, überhaupt umzusetzen, was kein Wunder ist. Alles, was Sie bisher durchgesetzt haben, wirkte krisenverschärfend für die Kommunen. Das ist die Wahrheit. Da helfen die schönen Reden von Frau Merkel auf dem CDU-Landesparteitag in Münster oder die von Herrn Rüttgers, der die Gemeinden beschwört, nichts. In der Realität machen Sie das Gegenteil von dem, worüber Sie reden. Bei Ihnen klaffen Reden und Handeln notorisch auseinander. Das geht zulasten der Kommunen. Das zu ändern, ist die Aufgabe.
Sie, Herr Bundesfinanzminister, beginnen jetzt von neuem, das durchzubuchstabieren, was schon 2003 in einer großen Kommission unter Beteiligung aller Ebenen erörtert wurde, nämlich alle Modelle der letzten 30 Jahre, die Sie so gut wie ich kennen. Die Wahrheit ist: Damals, im Jahr 2003, hat die rot-grüne Koalition - ich war der Verhandlungsführer der SPD im Vermittlungsausschuss - im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben, die Gewerbesteuer gerettet; denn starke Kräfte in der Union - ich erinnere an den Leipziger Parteitag - wollten die Gewerbesteuer abschaffen. Das ist die historische Wahrheit und nicht das, was Sie gesagt haben.
Es waren die Sozialdemokraten, die in der Großen Koalition in der Koch/Steinbrück-Arbeitsgruppe dafür gesorgt haben, dass die Gewerbesteuer gefestigt wurde. Das ist die historische Wahrheit. Das war nicht die Union; von der FDP rede ich erst gar nicht.
Wenn es also eine Kommunalpartei in Deutschland gibt, dann können die Sozialdemokraten das für sich in Anspruch nehmen und niemand anderes. Das muss klargestellt werden.
Herr Schäuble, zu unserer gemeinsamen Vergangenheit gehört, dass Sie als Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU Mitte der 90er-Jahre die Aushöhlung der Gewerbesteuer als Ihr wichtigstes Anliegen begriffen hatten. Sie sind nämlich damals vehement für die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer eingetreten.
Sie haben damals gesagt, dies führe zu einem enormen Aufwuchs an Arbeitskräften. Die Gewerbekapitalsteuer wurde abgeschafft. Die Gewerbesteuer wurde dadurch instabiler und konjunkturanfälliger. Ein Aufwuchs an Arbeitskräften ist nicht eingetreten. Daraus sollten Sie, was Ihre Einschätzungsfähigkeit angeht, lernen, Herr Schäuble.
Sie sollten den Einbruch der Wirtschaftskraft um 5 Prozent im vergangenen Jahr nicht als Alibi nutzen, um die wichtigste Einnahmequelle der Kommunen - diese haben wir damals in Verhandlungen mit Ihnen in Art. 28 des Grundgesetzes gefestigt - zu beschädigen. Die FDP sagt es im Klartext: Wir wollen die Gewerbesteuer endlich weghaben. - Das ist die schwarz-gelbe Zukunft für die Gemeinden. Da können die Gemeinden nur noch schwarzsehen. Es muss, auch nach dem 9. Mai - denn Herr Rüttgers macht, was Politik für die Gemeinden betrifft, nur Sprüche -, eine stärkere Sozialdemokratie her, um das zu verhindern. In Nordrhein-Westfalen geht es am 9. Mai auch um die Zukunft der Gemeinden.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg für die Unionsfraktion.
Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU):
Werter Herr Kollege Poß, wir hatten im Mittelteil unserer Debatte eine sehr ernsthafte Auseinandersetzung über die sehr ernsthafte finanzielle Lage der Kommunen. Insbesondere als unser Minister Dr. Schäuble dazu gesprochen hat, konnten Sie feststellen, wie ernsthaft wir uns mit diesem Thema auseinandersetzen. Wir debattieren nicht nur darüber, sondern wir handeln. Wir setzen konkret diese Kommission mit speziellen Untergruppen ein. Wir veranstalten keine Wahlkampfshow, wie Sie das in Ihrem Beitrag versucht haben.
Uns geht es nämlich nicht um Wahlkampf, sondern uns geht es wirklich darum, ein schwieriges Thema in den Griff zu bekommen.
Es ist schon verwunderlich und ziemlich scheinheilig, wie Sie sich hier aufgeführt haben. Wer hat denn elf Jahre lang den Finanzminister in der Bundesrepublik Deutschland gestellt? Wer war denn elf Jahre verantwortlich in diesem wesentlichen Ressort?
Diese Regierung ist jetzt seit fünf Monaten im Amt. Sie wollen sie für das derzeitige Szenario in den Kommunen verantwortlich machen. Das ist schon ziemlich daneben.
Die Kommunen befinden sich aus zwei Gründen - Bundesminister Schäuble hat sie eben deutlich gemacht - in einer ernsthaften finanziellen Situation. Ein wesentlicher Gesichtspunkt ist der starke Zusammenbruch bei der Gewerbesteuer. Das ist auch logisch; denn die Gewerbesteuer ist vor allen Dingen eine sehr wirtschaftsnahe und unternehmensnahe Steuer. Wir sehen bei den Bundessteuern, auch bei der Körperschaftsteuer, mit einem Rückgang des Aufkommens von über 50 Prozent die stärksten Einbrüche.
Das deutet das Dilemma der Kommunen an. Wir müssen die Finanzierung der Kommunen auf stabilere Standbeine stellen als bisher. Das heißt, dass es eine Modifikation bei der Gewerbesteuer geben muss. Deshalb ist es richtig, diese Kommission, in die die Länder und auch die kommunalen Spitzenverbände einbezogen sind, jetzt einzusetzen.
Das ist jedenfalls weitaus intelligenter als die Schnellschüsse, die Sie uns heute per Antrag vorlegen. Sie sind kein ernsthafter Beitrag zur Lösung.
Ich persönlich bin allerdings auch der Ansicht: Wir brauchen eine kommunale Steuer, die einen Bezug zur wirtschaftlichen Entwicklung in den Kommunen hat. Ich denke, das sollte uns klar sein; denn sonst würden wir all die Kommunen bestrafen, die sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten für die Ansiedlung von Unternehmen und damit für Arbeitsplätze engagiert haben. Das wollen wir nicht tun. Das wäre der falsche Anreiz.
Ich komme zum Thema Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Es ist Ihre Lieblingsbeschäftigung, das zu kritisieren. Ich glaube, dass wir mit diesem Gesetz genau das Richtige gemacht haben.
Für die jetzige Situation kann es nicht verantwortlich sein; denn es gilt erst seit drei Monaten. Wir haben in der Tat auch bei der Besteuerung der Leasingunternehmen und bei der Frage der Funktionsverlagerung, die wir anders geklärt haben, richtig gehandelt. Das stärkt auf Dauer unseren Investitionsstandort und auch die steuerliche Basis. Das wird auf mittlere und längere Sicht die Einnahmesituation der Kommunen verbessern.
Sie reden sich ein, Sie hätten durch allerlei Hinzurechnungen die Gewerbesteuer und damit die Einnahmesituation der Kommunen stabilisiert. Gerade die derzeitige Krisensituation zeigt, dass das völliger Unsinn ist;
denn Sie besteuern damit die Substanz von Unternehmen, denen das Wasser ohnehin schon bis zum Hals steht. Sie würden in dieser Situation die Unternehmen und damit die Arbeitsplätze wegsteuern
und die steuerliche Basis vieler Kommunen vernichten.
Wir haben dem Mittelstand Luft verschafft.
Er braucht nämlich vor allen Dingen eines: Liquidität. Sie beschwören immer wieder die Kreditklemme. Indem wir Liquidität für den Mittelstand geschaffen haben, sind wir dieses Problem angegangen. Wir geben den mittelständischen Unternehmen mehr Möglichkeiten, über Kapital frei zu verfügen.
Interessanterweise hat die SPD im Kreistag des Landkreises Emsland eine Resolution gegen das Wachstumsbeschleunigungsgesetz einbringen wollen. Der dortige Landrat hat sich dezidiert mit einzelnen Punkten dieses Gesetzes auseinandergesetzt und sehr fundiert dargelegt, warum es für den Mittelstand in den Gemeinden im Landkreis Emsland nützlich ist. Letztendlich ist es nämlich ein kommunalfreundliches Gesetz. Sie werden lachen: Noch bevor es zur Debatte über diese Resolution kam, hat die dortige SPD-Kreistagsfraktion ihren Resolutionsantrag zurückgezogen. So empfehlen wir Ihnen das mit Ihrem vorliegenden Antrag auch.
An uns - das unterscheidet uns von Ihnen - haben die Kommunen noch Erwartungen. Von Ihnen erwartet man bei diesem Thema nichts mehr. Das drückt sich auch in der Presseinformation des Deutschen Städte- und Gemeindebundes aus, die Ende vergangener Woche herausgegeben wurde. Es ging um das Thema Hartz-IV-Gesetze. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat ausgeführt, dass Ihre Korrekturvorschläge zum Thema Hartz IV unbezahlbar seien. Es gelte, die Eigenverantwortung der Bürger zu stärken, statt immer wieder den Eindruck zu vermitteln, der Staat könne weiterhin ein Rundum-sorglos-Paket finanzieren. Konkret heißt es:
Wer aus eigener Arbeitskraft oder mit eigenem Vermögen seinen Unterhalt bestreiten kann, darf nicht noch zusätzliche Transferleistungen erhalten ...
Weiter heißt es:
Das sei auch eine Frage von sozialer Gerechtigkeit gegenüber Menschen, die mit ihren Steuern das Sozialsystem finanzieren.
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat recht.
Ich darf mit folgender Feststellung schließen. Sie - das machen Ihre Anträge deutlich - entfernen sich immer weiter von der Realität. Uns geht es nicht um Tamtam, sondern um einen ernsthaften Beitrag zur Lösung des Problems. Deswegen empfehle ich, dass wir Ihre Anträge ablehnen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/1152, 17/1142 und 17/1143 an die an der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zur namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/869, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/520 abzulehnen. Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktion der SPD namentlich ab. Vorher möchte ich noch darauf hinweisen, dass wir im Anschluss daran noch eine einfache Abstimmung durchführen werden.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz zu nehmen, damit wir die Abstimmungen zur Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 17/869 fortsetzen können.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 34. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 26. März 2010,
auf der Website des Bundestages unter ?Dokumente & Recherche?, ?Protokolle?, ?Endgültige Plenarprotokolle? veröffentlicht.]