Nach dem EU-Gipfel in Brüssel, auf dem die Grundlagen für eine Reform der Union gelegt wurden, sieht Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) auch einen Neuanfang für Europa. "Damit ist die europäische Harmonie noch nicht wieder hergestellt, aber wir haben jetzt tatsächlich die Chance, für die Europäische Idee zu neu werben, einen neuen Start zu schaffen", sagte Steinmeier in einem Interview mit der Wochenzeitung "Das Parlament" (Erscheinungsdatum: 9. Juli 2007). Ein Scheitern des Gipfels hätte, so Steinmeier, schwerwiegende Folgen haben können. "Meine Sorge war, dass es darüber zu einer Renationalisierung vieler Politikbereiche hätte kommen können. Das wäre vielleicht sogar das Ende des europäischen Projekts gewesen".
Herr Minister, Sie haben hinsichtlich der deutschen EU-Ratspräsidentschaft erklärt, Sie hätten noch nie für „eine gute Sache auf soviel Schlaf verzichtet“. Wie viele Stunden waren es in den letzten sechs Monaten?
Ich habe die Durchschnittswerte nicht gezählt – doch viel Zeit war tatsächlich nicht. Vor allem im Vorfeld des Gipfels zur Verfassungsfrage waren zahllose Gespräche zu führen, viele bis spät in die Nacht, und auf dem Gipfel selbst gab es zwei Nächte lang gar keinen Schlaf, aber die Anstrengung hat sich gelohnt.
Welche Note würden Sie Ihrer Präsidentschaft selber geben?
Das wollen wir lieber anderen überlassen. Jeder wusste, dass wir keine einfache Agenda zu bewältigen hatten. Umso mehr habe ich mich über die große Zustimmung und das Lob gefreut, das wir erfahren haben. Alle waren dankbar, dass wir dem wichtigsten Thema Europas, der Verfassung, nicht ausgewichen sind.
Der Gipfel über den Grundlagenvertrag stand lange auf Messers Schneide –viele sahen sogar eine „Renaissance der Nationalstaaten“. Nehmen die Gemeinsamkeiten in Europa ab?
Ich glaube, dass was wir in Europa erleben, ist mit Renationalisierung nicht treffend wiedergegeben. Wenn wir einen Schritt zurücktreten, sehen wir zwei Diskussionsstränge: Zum einen bewegt die Frage, ob sich die EU wirklich all der Dinge annehmen soll, die die Menschen bewegen. Auf der anderen Seite wird eine Diskussion geführt, die ihren Grund in den Erweiterungsrunden 2004 und 2007 selbst hat – über das Selbstverständnis der EU. Auf dem Gipfel ging es darum, beide Stränge zusammen zu binden. Gelungen ist das, weil wir uns im Vorfeld – während der so genannten Reflexionsphase – viel Zeit zum Gedankenaustausch genommen haben.
Sind wir an einem Punkt, an dem gar nicht mehr Integration möglich ist?
Das Nachdenken darüber, welche politischen Entscheidungen in Brüssel fallen sollten und welche auf Ebene der Mitgliedstaaten getroffen werden müssen, ist nicht das Ergebnis, sondern stand doch am Anfang der Diskussion über die Verfassung. Hier haben wir entscheidende Klarstellungen geschaffen. Das müssen wir all denjenigen in Erinnerung rufen, die mit dem jetzt gefundenen Ergebnis noch nicht restlos zufrieden sind.
Zwischen Abgrenzung auf der einen und Erstarken der Nationalstaaten liegt doch nur ein schmaler Grat?
Wir sollten diese Debatte mit Augenmaß aber auch mit Engagement führen. Wichtig scheint mir zu sein, was Romano Prodi gesagt hat: Jetzt, nachdem der Kampf um die Verfassung und um die Europäische Einigung überstanden ist, müssen wir daran gehen, die europäische Idee wieder neu zu entdecken.
Sind die Sonderregelungen für Polen und Großbritannien ein Schritt hin zu einem Europa der zwei Geschwindigkeiten?
Wir dürfen die Dinge nicht zu pessimistisch betrachten. Wenn wir uns überlegen, wo wir noch zu Jahresbeginn standen, können wir zufrieden auf das Ergebnis schauen. Mit Blick auf unser Ziel, die Substanz der Verfassung zu erhalten, haben wir richtig gelegen. Das war aber nur zu erreichen, indem wir Großbritannien Zugeständnisse bei der Grundrechtecharta und auch Polen Zugeständnisse gemacht haben.
Aber wie kann man denn ein gutes Spiel machen, wenn von den Mitspielern im Laufe des Matches immer wieder die Regeln verändert werden?
Wir haben das Endspiel begonnen, als der Konflikt schon da war. Unsere Aufgabe war es, diesen Konflikt zu beenden. Damit ist die europäische Harmonie vielleicht noch nicht wieder hergestellt, aber wir haben jetzt tatsächlich die Chance, für die europäische Idee neu zu werben, einen neuen Start zu schaffen.
Und wenn der Gipfel gescheitert wäre?
Dann hätten wir nicht einfach so weitermachen können. Wir wären um eine Generation zurückgefallen. Meine Sorge war, dass es darüber zu einer Renationalisierung vieler Politikbereiche hätte kommen können. Das wäre vielleicht sogar das Ende des europäischen Projekts gewesen.
Aber auch ohne ein Scheitern gab es viele Misstöne, gerade hinsichtlich des deutsch-polnischen Verhältnisses?
Der Zungenschlag in dieser Debatte hat mir nicht gefallen. Töne, wie wir sie gehört haben, haben in einer europäischen Debatte keinen Platz. Trotzdem sollten wir mit diesen Dingen ruhig und verantwortungsvoll umgehen. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass wir als deutsche Nachbarn – auch aufgrund der schrecklichen Geschichte, die uns mit Polen verbindet – keinen Anlass haben, zur Eskalation einer ohnehin schwierigen Diskussion beizutragen.
Aber wie redet man da Tacheles?
Wir haben in den zurückliegenden Wochen nicht nur mit Polen, sondern auch mit anderen Partnern diskutiert und in manchen dieser Gespräche haben wir auch das offene Wort nicht gescheut. Immer aber haben wir uns sehr bemüht, jene Zwischentöne herauszuhören, die uns dem politischen Kompromiss näher gebracht haben – mit Erfolg, wie sich zum Schluss gezeigt hat.
Welche Rolle spielen die nationalen Parlamente?
Ohne die nationalen Parlamente würde dem Einigungsprojekt einer seiner tragenden Grundpfeiler fehlen. Und schon deshalb war die Bundesregierung aus Überzeugung bereit, den Bundestag stärker zu beteiligen. Dazu haben wir 2006 eine wegweisende Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union (BBV) geschlossen.
Nicht nur die Opposition kritisiert, dass die in der Vereinbarung enthaltene Möglichkeit, den Bundestag einzubeziehen, nicht genutzt wurde?
Wir haben sie mehrfach genutzt: Vor dem letzten EU-Gipfel fand eine ausführliche Debatte im Bundestag statt, nach dem Gipfel habe ich den Bundestagspräsidenten schriftlich über die Ergebnisse unterrichtet. Wir standen dem Parlament regelmäßig im Europaausschuss Rede und Antwort – diese Praxis wird während der Regierungskonferenz natürlich fortgesetzt und ich hoffe, dass wir uns über die in einem Punkt strittige Vereinbarung schnell verständigen. Es kann und darf nicht sein, dass die große inhaltliche Übereinstimmung in europäischen Fragen im Deutschen Bundestag überlagert wird durch einen überflüssigen Streit ums Verfahren. Das sollte nicht wieder vorkommen.
Im zweiten Halbjahr steht die Verlängerung der drei Afghanistan-Mandate an. Wird es dafür eine Mehrheit geben?
Die Mandatsfrage hat ohne Zweifel große Bedeutung. Ich plädiere aber dafür, dass wir die gesamte Debatte vom Kopf auf die Füße stellen. Dabei haben wir zu prüfen, ob das, was wir an Mitteln aufgewandt haben, auch bei der afghanischen Bevölkerung angekommen ist. Zweitens müssen wir uns fragen, ob wir dem Ziel näher gekommen sind, unsere afghanischen Partner in die Lage zu versetzen, eines Tages selbst für ihre Sicherheit zu sorgen.
Nicht nur Afghanistan wird in Ihrer Fraktion kontrovers diskutiert. Auch das Verhältnis zur Linkspartei ist stark umstritten. Könnten Sie sich auch jemand aus dieser Partei als Kollegen am Kabinettstisch vorstellen?
Also, bisher kann ich in der Außenpolitik keine Gemeinsamkeiten zwischen der SPD und der Linkspartei erkennen.
Das klingt so, als sei es nur die Außenpolitik?
Keinesfalls. Aber schon die Differenzen in der Außenpolitik allein schließen eine Zusammenarbeit mit der Linken auf Bundesebene aus.
Das Interview führten Sebastian Hille und Annette Sach