Öffentliche Anhörung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Trotz einer zu erwartenden Abflachung der aktuell "explosionsartigen Preisentwicklung" bei Lebensmitteln wird das Preisniveau bei Nahrungsmitteln langfristig deutlich über dem bisherigen Schnitt liegen. Dies sagte am Montag, dem 23. Juni 2008, bei einer Anhörung über steigende Lebensmittelpreise und agrarpolitische Strategien zur weltweiten Hungerbekämpfung Stefan Tangermann im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz voraus. Der Ernährungs- und Agrardirektor bei der OECD erklärte, dass ein erheblicher Anteil der künftigen Preiserhöhungen auf die wachsende Nachfrage nach Bioenergie zurückzuführen sei.
Zum Auftakt des Hearings machten die Stellungnahmen der Sachverständigen unterschiedliche Meinungen über die Ursachen der globalen Preiskrise und über die Konzepte zur Bewältigung von Hungerproblemen in Entwicklungsländern deutlich. Mehrere Experten mahnten eine verstärkte Förderung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft in der Dritten Welt an.
Tangermann und andere Sachverständige betonten, dass die drastischen Preissprünge bei Nahrungsmitteln besonders arme Bevölkerungsschichten in Entwicklungsländern träfen. Dramatisch seien die hohen Preise für jene Menschen, "die 80 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben müssen", so Thomas Speck, Geschäftsführer der Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt. Wie Speck sagte auch Anita Idel (Projektmanagement Tiergesundheit & Agrobiodiversität), Hungernöte im armen Süden seien vor allem ein weltweites Verteilungsproblem. Die enorme Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität habe nicht zu einer Überwindung von mangelhafter Ernährung in Entwicklungsländern geführt, was durch Hungerproteste in mehreren Staaten offenbar geworden sei. Speck betonte, die Landwirtschaft sei im Prinzip durchaus in der Lage, die Ernährung der Weltbevölkerung zu sichern, es existierten noch viele Potenziale zur Ertragssteigerung beim herkömmlichen wie beim Bioanbau.
Joachim von Braun, Direktor des Internationalen Forschungsinstituts für Ernährungspolitik (Washington), wies darauf hin, dass Hunger und schlechte Ernährung in jungen Jahren erhebliche negative Auswirkungen für den gesamten Lebensweg der Betroffenen hätten.
Willi Kampmann, Leiter der Brüsseler Büros des Deutschen Bauernverbandes, erklärte, der Preisanstieg bei Lebensmitteln sei die Konsequenz des weltweiten Bevölkerungszuwachses, von schlechten Ernten infolge von Naturkatastrophen, gewandelten Ernährungsgewohnheiten in Schwellenländern wie etwa China oder Indien sowie der Gewinnung von Bioenergie. Die Nahrungsmittel seien "nicht zu teuer", die Verbraucher in Deutschland und Europa könnten immer noch günstig einkaufen. Aus Sicht Kampmanns waren die Preise lange Zeit "zu niedrig", es sei "höchste Zeit" für Erhöhungen gewesen. Auch im Weltmaßstab sei das Preisniveau zu gering gewesen, weswegen sich für Bauern in der Dritten Welt die landwirtschaftliche Produktion nicht gelohnt habe. Nach den Preisanhebungen wüchsen jedoch Anreize und Motivation.
Michael Schmitz plädierte für eine Liberalisierung des Welthandels. Protektionismus schade den Entwicklungsländern, eine Liberalisierung mit offenen Märkten fördere hingegen den Wohlstand in der Dritten Welt, sagte der Professor für Agrarpolitik und Marktforschung an der Uni Gießen. Die Forderung nach "fairen Preisen" sei eine irreführende Strategie, Preise seien vielmehr ein Indikator für Knappheit. Zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität sei die umfassende Nutzung wissenschaftlich-technologischer Fortschritte nötig, wozu etwa der chemische Pflanzenschutz oder Investitionen in Bildung gehörten. Schmitz kritisierte auch Defizite bei der Nutzung gentechnischer Potenziale. Der Bio-Landbau habe Chancen in Nischenbereichen, könne jedoch das globale Ernährungsproblem nicht lösen.
Anita Idel sieht indes in der ökologischen Landwirtschaft große Potenziale, da sie die Fruchtbarkeit der Böden erhöhe.
Stefan Tangermann analysierte, die Herstellung von Lebensmitteln halte mit dem wachsenden Bedarf in erster Linie wegen der drastisch steigenden Nachfrage nach Getreide und Pflanzenölen zur Herstellung von Bioenergie nicht Schritt, die Lebensstile in Indien oder China fielen hingegen kaum ins Gewicht. Er werde "ungeduldig", so der OECD-Fachmann, wenn er immer wieder aus der Politik höre, die Produktion von Biosprit spiele bei den drastischen Preiserhöhungen bei Lebensmittel keine große Rolle. Zur Bewältigung der Preiskrise müsse man "das Rad nicht neu erfinden": Entscheidend sei, betonte Tangermann, die Landwirtschaft in der Dritten Welt nicht nur kurzfristig, sondern dauerhaft zu fördern. Jetzt räche sich, beklagte Thomas Speck, dass die Entwicklungshilfe den Agrarsektor lange Zeit vernachlässigt habe.
Die Aufzeichnung der Anhörung steht als Video on Demand bereit (siehe rechts).