Bundestag gedachte der Opfer des Nationalsozialismus
Vor 64 Jahren befreite die Rote Armee das deutsche Konzentrationslager Auschwitz. Aus diesem Anlass erinnerte der Deutsche Bundestag am 27. Januar 2009 in einer Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus. Bundespräsident Prof. Dr. Horst Köhler und Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert appellierten in ihren Reden daran, die Erinnerung wachzuhalten und an die folgenden Generationen weiterzugeben.
In der Gedenkstunde, an der auch Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel,
Bundesratspräsident Peter Müller und der Präsident
des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier
teilnahmen, begrüßte Lammert unter den Ehrengästen
die Redner in den Gedenkstunden der Jahre 2005 und 2006, Arno
Lustiger und Ernst Cramer, sowie eine Gruppe von Präsidenten
der internationalen Lagergemeinschaften und Häftlingskomitees.
Dazu gehörten Überlebende aus den Konzentrations- und
Vernichtungslagern Auschwitz, Bergen-Belsen, Buchenwald, Dachau,
Flossenbürg, Mittelbau-Dora, Ravensbrück und
Sachsenhausen.
Mit seinen vielen Gedenktagen spiegelt das Jahr 2009 nach den
Worten Lammerts die Errungenschaften wie die Brüche der
wechselvollen Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Das
Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus werde jeden der
kommenden Gedenktage – 60 Jahre Grundgesetz, 70 Jahre
Beginn des Zweiten Weltkrieges, 90 Jahre Weimarer Verfassung, 20
Jahre Mauerfall – wie ein roter Faden verbinden, vor allem
den 60. Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik.
„Beispiellose Verwüstung“
Die zweite deutsche Demokratie sei auf den Trümmern eines totalitären Regimes entstanden, das eine „beispiellose politische, ökonomische und vor allem moralische Verwüstung“ hinterlassen habe. Nicht zufällig bestehe ein enger zeitlicher Zusammenhang zur Staatsgründung Israels, das 2008 seinen 60. Jahrestag feiern konnte. „Der israelische Staat wurde auf der Asche des Holocaust gegründet – von Überlebenden der Todeslager und von Flüchtlingen aus den zerstörten Ghettos“, so der Bundestagspräsident.
„Vor allem aber gedenken wir am heutigen Jahrestag der
Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote
Armee aller im Dritten Reich verfolgten und ermordeten Menschen:
europäische Juden, Roma und Sinti, Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter, Homosexuelle, politische Gefangene, Kranke und
Behinderte und alle anderen, zu Feinden des Nationalsozialismus
erklärten Menschen. Wir gedenken auch derjenigen, die mit dem
Leben bezahlten, weil sie Widerstand leisteten oder verfolgten
Menschen Schutz und Hilfe gewährten“, sagte Lammert.
Die Aufgabe der Nachgeborenen
Wenn die letzten Zeitzeugen nicht mehr leben, liege die wichtige Aufgabe, die Lehren aus der Geschichte an die nächste Generation weiterzugeben, in den Händen der Nachgeborenen. Das ehrenamtliche Engagement junger Europäer stimme ihn zuversichtlich, dass auch „die junge Generation Formen des Erinnerns finden und ihre Lehren aus der Vergangenheit ziehen wird“, betonte der Bundestagspräsident.
Es liege jetzt an „uns, den Nachgeborenen“, dafür
Sorge zu tragen, „dass wir solche Zeiten nie wieder
erleben“. Der Holocaust bleibe eine immerwährende
Warnung, wachsam zu sein und nicht zu schweigen, „wenn wir
unsere demokratischen Grundüberzeugungen oder Regeln
gefährdet sehen oder wenn Menschen Opfer insbesondere von
ideologisch motivierter Gewalt werden“. Für die
„Zukunft unserer Erinnerung“ bedeute dies, dass es
„keinen Schlussstrich“ gebe.
„Kinder hatten kaum eine Chance“
Lammert erinnerte an Anne Frank, die in diesem Jahr ihren 80. Geburtstag hätte feiern können, deren Leben jedoch nach nur 15 Jahren im Konzentrationslager Bergen-Belsen endete. Mit ihrem Tagebuch habe sie Millionen von Menschen weltweit eine Vorstellung davon gegeben, was es bedeutete, in den dreißiger Jahren ein Kind zu sein.
Kinder hätten kaum eine Chance gehabt, sagte Lammert weiter:
„Sie starben bei Vertreibungen, Deportationen und
medizinischen Experimenten oder wurden im Ghetto, bei
Massenerschießungen oder spätestens bei der Ankunft in
einem Vernichtungslager ermordet.“
„Die Schoah ist Teil der deutschen
Identität“
Bundespräsident Horst Köhler nannte Auschwitz den Versuch, ein ganzes Volk auszulöschen. „Was uns an Auschwitz erschüttert und fassungslos macht, das ist nicht allein das Ausmaß des Völkermordes. Es ist die fabrikmäßige Rationalität, die Maschinerie.“
Die Nationalsozialisten wollten den deutschen nach den Worten
Köhlers das Gewissen austreiben. Die Schoah sei der Versuch
gewesen, „alle Moral abzuschaffen“. Die Verantwortung
aus der Schoah sei Teil der deutschen Identität.
„Opfern und Tätern Namen und Gesicht
geben“
Die Trauer über die Opfer, die Scham über die furchtbaren Taten und der Wille zur Aussöhnung mit dem jüdischen Volk und den Kriegsgegnern von einst hätten zu den Wurzeln „unserer Republik“ geführt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Köhler äußerte den Wunsch, dass „die vielen
guten Erinnerungsprojekte, die es in unserem Land bereits
gibt“, immer neue Nachahmer und Nachfolger finden. „Ich
wünsche mir, dass vor allem junge Menschen weiter auf
Spurensuche gehen und sich darum bemühen, den Opfern und den
Tätern Namen und Gesicht zu geben – dort, wo sie gelebt
und gearbeitet haben; dort, wo sie unsere Nachbarn hätten sein
können.“
„Wer sie angreift, greift uns alle
an“
Köhler nannte es eine Schande, dass Orte jüdischen Lebens von der Polizei vor alten und neuen Extremisten geschützt werden müssten. Er rief dazu auf, sich an die Seite „unserer jüdischen Landsleute“ zu stellen: „Wer sie angreift, greift uns alle an.“
Holocaust-Leugner und Extremisten aller Art dürften keinen
Beifall oder auch nur Verständnis finden. Solchen Leuten
müsse entschieden entgegengetreten werden, sie dürften
Deutschlands Namen nicht beflecken. Köhler schloss seine Rede
mit dem Versprechen: „Wir Deutsche werden die Erinnerung an
die Verbrechen des Nationalsozialismus und das Gedenken an die
Opfer wachhalten.“
Schülerinnen der Berliner Sophie-Scholl-Oberschule lasen in
der Gedenkstunde Lebensgeschichten von Kindern, die den Holocaust
überlebt hatten, aus dem Buch „Kinder über den
Holocaust. Frühe Zeugnisse 1944-1948“.