Interview mit Norbert Lammert zur Zukunft des Parlamentarismus
Nach Auffassung von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert (CDU) hat die Öffentlichkeit in Zeiten der Krise offenkundig die Bedeutung der Politik wiederentdeckt. Nach einem "dramatischen Schockerlebnis" werde die Unverzichtbarkeit von staatlich gesetzten Rahmenordnungen erkannt, sagte Lammert in einem Interview mit der Wochenzeitung "Das Parlament". In dem Gespräch aus Anlass des 60-jährigen Bestehens des Bundestages äußert sich Lammert zur Entwicklung des demokratischen Systems und des Parlamentarismus, aber auch zur Zukunft der Europäischen Union.
Herr Präsident, teilen Sie den Eindruck, dass es dem Bundestag
wie den Kirchen geht: man wird sich erst in schlechten Zeiten der
Bedeutung bewusst?
Ich möchte mit einem klugen Satz von Henry Kissinger antworten: Was einem Personen wie Institutionen wert sind, erkennt man am besten, wenn man sich einen Augenblick lang fragt, was sie einem wohl wert wären, wenn es sie nicht mehr gäbe.
Gilt das aktuell besonders für politische
Institutionen?
Offenkundig hat die Öffentlichkeit in Zeiten der Krise die Bedeutung der Politik wiederentdeckt. Erst gab es eine sich geradezu überschlagende Begeisterung dafür, die politischen Interventionen insbesondere aus ökonomischen Beziehungen zu verdrängen, weil vermeintlich erst dann der Gipfel der Leistungsfähigkeit erreicht sei, wenn es einschränkende Rahmenbedingungen nicht mehr gäbe. Nun wird nach einem dramatischen Schockerlebnis die Unverzichtbarkeit von Rahmenordnungen wiederentdeckt, die durch den Staat gesetzt werden.
Es scheint aber eine Diskrepanz zu geben zwischen der Begeisterung
für bestimmte Strukturen und der Wertschätzung des
politischen Systems insgesamt.
Wir haben seit geraumer Zeit eine unverändert hohe Wertschätzung der Demokratie als Regelsystem für die staatliche Verfassung unserer Gesellschaft. Gleichzeitig gibt es einen deutlichen Trend, dass das Vertrauen in die Arbeitsfähigkeit der Institutionen, gewissermaßen das Funktionieren des politischen Lebens, dünner geworden ist. Ob die jüngsten Erfahrungen mit dem Umgang des Parlaments und der Regierung mit der Krise zu einer Veränderung dieser Wahrnehmung führen, kann man noch nicht hinreichend beantworten.
Ist es nicht eine gefährliche Entwicklung für das demokratische System, wenn die Bürger es nur schätzen, solange alles gut läuft?
Ich würde das umgekehrt formulieren: Die Begeisterung für Institutionen ist natürlich größer, wenn man es in einer wachsenden Wirtschaft mit wachsenden Einkommen und steigenden Vermögen zu tun hat, als in einer Situation, in der vieles stagniert oder vielleicht sogar zurückgefahren werden muss. Das ist nicht weiter erstaunlich. Dass aber trotz solcher Erfahrungen die grundsätzliche Akzeptanz der politischen und der Wirtschaftsordnung unangefochten ist – bei gleichzeitig kritischem Urteil über das Funktionieren konkreter Abläufe, ist aus meiner Sicht mehr ein Indiz für ein solides Urteilvermögen.
Hat die Unzufriedenheit mit dem konkreten Funktionieren auch mit
der Großen Koalition zu tun? Lähmt sie?
Die Schlussfolgerungen, die sich an diese Konstellation anknüpfen, sind meiner Beobachtung nach übertrieben. Was die oft kritisierte Verlagerung der Entscheidungsfindung in informelle Gremien jenseits des Plenums oder der Fachausschüsse betrifft, ist die Beobachtung zwar richtig,das hat aber mit der Großen Koalition ursächlich nichts zu tun. Ich gehöre dem Bundestag fast dreißig Jahre an und kann sagen: Das war immer schon so – in allen Konstellationen. Und dafür gibt es natürlich gute Gründe.
Dem Parlament werden so doch aber Entscheidungen
vorweggenommen?
Wie soll denn eine sorgfältige Urteilsbildung erfolgen, wenn schon das Sortieren von Argumenten auf dem offenen Markt stattfinden muss? Problematisch wäre es, wenn Entscheidungen den Gremien entzogen würden, die darüber eigentlich zu befinden haben. Davon kann aber heute genauso wenig die Rede sein wie früher. Was in diesem Land verbindlich wird, wird durch Entscheidungen im Deutschen Bundestag verbindlich oder es wird nie Gesetz.
Aber viele Entscheidungen fallen im
Vermittlungsausschuss.
Nein, auch der Vermittlungsausschuss macht einen Änderungsvorschlag zu vom Parlament verabschiedeten Gesetzen, sonst würde er gar nicht angerufen. Das Vermittlungsergebnis wird Gesetz, wenn es der Deutsche Bundestag und der Bundesrat beschließen. Der Vermittlungsausschuss beschließt nichts.
Bestehen falsche Vorstellungen? Viele Bürger sehen einen
leeren Plenarsaal und kommen zu dem Schluss, Wichtiges werde nicht
im Bundestag entschieden.
Voll sind die Parlamente da, wo sie nichts zu sagen haben. Wenn die Volkskammer der DDR zusammentrat oder der Oberste Sowjet tagte, war der Laden voll – und hatte nichts zu sagen. Einflussreiche Parlamente sind dagegen hoch arbeitsteilig organisiert.
Das heißt?
In der Regel findet die Darstellung der Regelungsabsichten wie der Einwände durch die Kollegen statt, die mit dem jeweiligen Thema fachlich befasst sind. Auf deren Empfehlung hin stimmen die Fraktionen für oder gegen ein bestimmtes Gesetz. Ob an dieser Plenardebatte auch die übrigen 500 Abgeordneten physisch teilnehmen, die damit nicht so befasst sind, ist für den Sachverhalt unerheblich, für das Erscheinungsbild allerdings schon. Die Urteilsbildung der Abgeordneten findet vor allem in den Fraktionsberatungen statt, nicht im Plenarsaal. Auch wenn es die Zuschauer nur begrenzt tröstet: Das Verfahren hat sich bewährt. Man kann die gleiche Erfahrung übrigens auch im amerikanischen Kongress, im britischen Unterhaus und in der französischen Nationalversammlung machen.
Bietet der Bundestag den Zuschauern zu wenig Show? In den USA haben
politische Ereignisse mittlerweile Event-Charakter – und
begeistern die Massen.
Ich bin der Meinung, dass ein Staat mit herausragenden Ereignissen angemessen umgehen und zwischen Übertreibung und Banalisierung einen souveränen mittleren Weg finden muss. Und der ist nicht patentfähig, weil er mit Mentalitäten und historischen Erfahrungen zu tun hat. Dass der deutsche demokratische Staat sich nach den hier gemachten Erfahrungen zurückhaltender aufführt als seine Vorgänger, finde ich nicht nur verständlich, sondern auch vernünftig. Ich höre von vielen ausländischen Beobachtern, dass sie mit Bewunderung und einem leichten Anflug von Neid die Erinnerungskultur verfolgen, die wir im Deutschen Bundestag im Umgang mit bedeutenden historischen Ereignissen entwickelt haben.
Eine Möglichkeit, die Arbeit des Bundestages transparenter zu
machen, wäre mehr Ausschüsse öffentlich tagen zu
lassen.
Ich bin zurückhaltend gegenüber einer solchen generellen Lösung. Erstens sieht unsere Geschäftsordnung die Möglichkeit ja vor, zweitens wird von dieser Möglichkeit häufiger Gebrauch gemacht als es in der Vergangenheit der Fall war. Drittens finde ich genau diese Abwägung im Einzelfall vernünftig. Ich bin kein Freund einer prinzipiellen Öffentlichkeit von Ausschusssitzungen, weil wenig Phantasie zu der Vorhersage gehört, dass das zu Mini-Plenarsitzungen führt, bei denen die Neigung, für ein Fernsehpublikum zu reden, sich vor das Interesse schiebt, im Gespräch untereinander für schwierige Probleme möglichst tragfähige Lösungen zu finden. Darin liegt ein großer Teil des Wertes der Arbeitsteilung zwischen Plenum und Ausschüssen. Das Plenum überweist ja deswegen eingebrachte Gesetzentwürfe und andere Vorlagen nach einer öffentlichen Plenarberatung in die Ausschüsse, damit dort mit mehr Zeit und Ruhe die Gelegenheit besteht, es unter allen relevanten Gesichtspunkten abzuwägen und auf dieser Basis einen Beschlussvorschlag zu machen, der wiederum im Plenum behandelt und entschieden werden muss. Diesen sehr vernünftigen Unterschied prinzipiell durch die gleiche öffentliche Behandlung einzuebnen, ist spätestens beim zweiten Blick keine kluge Überlegung.
Ist das Wahlrecht noch geeignet, die politischen
Realitäten abzubilden?
Wir haben im Rahmen eines Wahlrechts, das in seinen Grundstrukturen seit Beginn dieser Republik unverändert geblieben ist, beachtliche Veränderungen im Parteiensystem und in der parlamentarischen Repräsentanz erlebt. Das ist ein starker Beleg dafür, dass eben nicht das Wahlrecht das Wahlverhalten prägt, sondern das Wahlverhalten die politischen Verhältnisse.
Dennoch werden immer wieder Änderungen des Wahlrechts
gefordert.
Es gibt eine Reihe von Änderungen, die ich mir vorstellen kann, ohne sie für unverzichtbar zu halten. Ich fände eine Erweiterung der Legislaturperiode des Bundestags auf fünf Jahre schlüssig und hilfreich – auch im Kontext der Erfahrung, dass die immer häufiger stattfindenden Wahlen offenkundig die Wahlbegeisterung nicht befördern. Zweitens: Da, wo im geltenden Wahlrecht Probleme aufgetreten sind, zum Beispiel beim Zustandekommen von Überhangmandaten, empfehle ich, unvermeidliche Änderungen so zügig wie möglich vorzunehmen.
Ist mehr direkte Beteiligung der Bürger nötig, mehr
direkte Demokratie?
Die Vorstellung, bei immer komplizierteren Sachverhalten möglichst häufig plebiszitäre Entscheidungen anstelle repräsentativer zu ermöglichen, halte ich für bestenfalls gut gemeint, aber nicht wirklich gut durchdacht. Welche der Richtungsentscheidungen in der Bundesrepublik wäre wohl über ein Plebiszit möglich gewesen? Die Entscheidung für die Einführung der Marktwirtschaft oder für den NATO-Beitritt, für den Wiederaufbau der Bundeswehr oder die Einführung des Euro und die Abschaffung der D-Mark? Mit Blick auf die 60 guten Jahre, die diese Republik hinter sich hat, haben wir Anlass, den Repräsentanten für die klugen Entscheidungen zu danken, die sie an manchen Stellen auch gegen die erkennbare Mehrheitsstimmung der Bevölkerung getroffen haben. Zudem eignen sich Plebiszite nur für Fragen, die in einer vertretbaren Weise mit ja oder nein beantwortet werden können. Die gibt es in einer hoch entwickelten Gesellschaft immer seltener, vielmehr werden die Sachverhalte komplizierter. Wie man die Reparatur des eigenen Wagens nicht dem Nachbarn, sondern, auch wenn's teurer wird, einem ausgewiesenen Fachmann überlässt, sollte man die Beantwortung dieser Fragen Leuten überlassen, die das hauptberuflich machen und dafür im Lauf der Zeit eine gewisse Erfahrung entwickelt haben. Außerdem muss man wissen: Für eine durch Plebiszite getroffene Entscheidung lassen sich nie Verantwortliche identifizieren, für parlamentarische Entscheidungen immer.
Viele Menschen sind besorgt, der Bundestag könne Kompetenzen
zugunsten von Brüssel verlieren. Teilen Sie diese
Angst?
Nichts von dem, was heute auf europäischer statt auf nationaler Ebene entschieden wird, haben irgendwelche Europäer in einem rechtswidrigen Zugriff den Mitgliedstaaten weggenommen. Alles, was heute auf europäischer Ebene verhandelt und gegebenenfalls entschieden wird, beruht auf der freiwilligen Übertragung nationaler Souveränitätsrechte auf die europäische Gemeinschaft. Wir haben gewusst, dass und warum wir bestimmte Dinge europäisch statt national entscheiden wollen. Weil wir überzeugt sind, dass es nur so oder jedenfalls überzeugender geht – etwa bei Migrations- und Umweltfragen und zunehmend auch bei Energiefragen.
Es gibt Berechnungen, mittlerweile kämen rund 80 Prozent der
Gesetze aus Brüssel.
Diese Größenordnungen, die immer wieder durch die Medien geistern, sind nachweislich falsch und differenzieren nicht zwischen herausragend wichtigen und Routineentscheidungen. Es ist albern, etwa eine Verfassungsänderung im Bundestag in gleicher Weise als Gesetzgebungsvorgang zu zählen wie die 27. Novelle der europäischen Milchpreisverordnung. Weil wir freiwillig Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft übertragen haben, legen wir allerdings großen Wert darauf, dass dieser Entscheidungsprozess auf europäischer Ebene parlamentarisiert wird. Deswegen sieht der Lissabonner Vertrag sowohl die Stärkung des Europäischen Parlaments als auch eine Beteiligung der nationalen Parlamente an europäischen Entscheidungsprozessen vor.
Mit dem Vertrag von Lissabon sollen die Parlamente die
Möglichkeit einer Subsidiaritätsklage erhalten. Innerhalb
einer Frist von acht Wochen müssen nicht nur die Parlamente
der Mitgliedstaaten eine Entscheidung dafür treffen, sondern
die Parlamente müssen sich auch zusammenschließen. Das
klingt nicht sonderlich realistisch.
Ich halte diese Regelung nicht für den wirklichen Hebel in der Balancierung nationaler und europäischer Zuständigkeiten. Die stärkere Wahrnehmung parlamentarischer Kontroll- und Entscheidungsrechte der nationalen Parlamente auf ihre jeweiligen nationalen Regierungen ist zweifellos viel wichtiger. Das heißt, es ist Aufgabe des jeweiligen nationalen Parlaments, der eigenen Regierung auf die Finger zu gucken, wie sie sich in Europa verhält, was den Entwurf, den Inhalt und die Verabschiedung von Initiativen angeht. Die nationalen Parlamente konkurrieren nicht mit dem Europäischen Parlament. Sie haben eine Aufgabe in der Kontrolle und –- wenn es denn sein muss – der Konditionierung der eigenen nationalen Regierung im europäischen Entscheidungsprozess.
Besonders eng arbeitet der Bundestag mit den Parlamenten in Polen
und Frankreich zusammen. Was ist der Unterschied zwischen diesen
beiden Partnerschaften?
Deutschland und Frankreich teilen eine jahrzehntelange gemeinsame Rolle innerhalb der Europäischen Gemeinschaft und haben sich immer als besonders verantwortliche Länder im europäischen Entscheidungsprozess verstanden. Ohne die deutsch-französische Versöhnung und Zusammenarbeit wäre Europa im Sinne der Europäischen Gemeinschaft nie zustande gekommen. Dagegen ist die Rolle Polens wie der anderen neuen Beitrittsländer sowohl historisch wie ökonomisch naturgemäß deutlich anders. Umso bemerkenswerter finde ich, dass sich gemessen an der Zahl gemeinsamer Treffen von Parlamentariern, Ausschüssen und Präsidien in den letzten beiden Jahren die deutsch-polnischen Beziehungen noch intensiver entwickelt haben als die deutsch-französischen. Manches spricht dafür, dass ohne eine intensive Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen das Zusammenwachsen dieser größeren Europäischen Gemeinschaft in Mittel- und Osteuropa hinein nicht gelingen kann.
Zum Abschluss ein Blick in die Zukunft: Wie sehen
Sie den Bundestag 2020?
Ich bin sicher, dass es ihn dann noch gibt und dass er ähnlich unangefochten sein wird wie in den bisherigen 60 Jahren. Wir werden sicher 2020 einen weiteren Integrationsfortschritt in der Europäischen Gemeinschaft erleben, einschließlich einer vermutlich zusätzlichen Erweiterung der Mitgliedstaaten. Ich persönlich wünsche mir allerdings auch ausdrücklich, dass wir die nächsten zehn Jahre dazu nutzen, die Frage zu klären, wo denn eigentlich die Grenzen dieser Europäischen Gemeinschaft liegen sollen. Jedenfalls stelle ich mit einer Mischung aus Faszination und Besorgnis fest, dass die eigendynamische Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft von zunächst sechs auf jetzt 27 Mitgliedstaaten die Zahl der Beitrittskandidaten nie reduziert hat, sondern die Zahl der potenziellen Bewerber mit jedem weiteren Beitritt gewachsen ist. Das ist ein stolzer Beleg für die Attraktivität dieser Union, aber auch ein starker Hinweis auf einen vorhandenen Klärungsbedarf.