Experten im Innenausschuss uneins über Zeitpunkt der Wahlrechtsnovelle
Die von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagene Änderung des Bundeswahlrechts noch vor der Bundestagswahl am 27. September 2009 ist unter Experten umstritten. Während sich die geladenen Sachverständigen in einer Anhörung des Innenausschusses am Montag, dem 4. Mai 2009, mehrheitlich für eine Änderung noch vor dem Wahltag aussprachen, warb Prof. Dr. Heinrich Lang von der Universität Rostock für eine umfassende Wahlrechtsreform „mit ruhiger Hand“.
Mit dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen (
16/11885) soll ein Urteil des
Bundesverfassungsgerichts zum so genannten negativen Stimmgewicht
(Az: 2 BvC
1/07, 2 BvC 707) vom Juli 2008
umgesetzt werden. Die Karlsruher Richter hatten festgestellt, dass
das Bundeswahlgesetz punktuell gegen die Verfassung
verstößt, weil ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem
Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen
zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann. Dem
Gesetzgeber räumten sie für eine Neuregelung eine Frist
bis zum 30. Juni 2011 ein.
Nach den Vorstellungen der Grünen-Abgeordneten soll die Verfassungswidrigkeit dadurch beseitigt werden, dass die Anrechnung der Direktmandate auf das Zweitstimmenergebnis bereits auf Bundesebene und nicht wie nach bislang geltendem Recht auf Länderebene erfolgt. Überhangmandate entstünden dann „in der Regel nicht mehr“, heißt es in der Vorlage. Überhangmandate erhalten Parteien, wenn sie in einem Bundesland mehr Direktmandate erringen, als ihnen nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen.
Lang warnte in der Anhörung, nicht nur verfassungsrechtliche
Risiken der Grünen-Vorlage sprächen gegen eine schnelle
Lösung. Auch das Bundesverfassungsgericht habe vor
übereilten Korrekturen gewarnt. Danach lasse sich der Effekt
des negativen Stimmgewichts „nicht isoliert beheben“,
sondern erfordere grundlegende Vorarbeiten.
Der frühere Bundeswahlleiter Johann Hahlen sagte, nach seiner Erfahrung müsste der Gesetzgeber den Wahlorganen etwa bis Mitte Juni Klarheit über eine etwaige Neuregelung geben. Es gebe aber keine verfassungsrechtliche Notwendigkeit für eine solche Neuregelung bis zum 27. September. Der Gesetzgeber habe daher zu prüfen, ob er den „Wahlfehler des negativen Stimmgewichts“ noch beseitige oder in der kommenden Wahlperiode eine „sorgfältige und große Wahlrechtsreform“ vorlege.
Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Ernst
Gottfried Mahrenholz mahnte, ein Bundestag, der gleiches
und unmittelbares Wahlrecht zu verwirklichen habe, müsse dies
für jede Wahlperiode machen. Andernfalls stelle er sich
über das Grundgesetz. Mahrenholz warf zugleich die Frage auf,
wie das Parlament hier „ein Stillhalten gegenüber den
Wählern verantworten“ wolle. Nach dem gegenwärtigen
Wahlrecht dürfe nicht gewählt werden.
Der Berliner Staatsrechtler Prof. Dr. Dr. Hans Meyer argumentierte, es müsse verhindert werden, dass nach einem Wahlrecht gewählt werde, bei dem eine Stimme für eine Partei gegen diese Partei gewertet werden könne. Dabei sei der vom Verfassungsgericht festgestellte Verstoß „relativ leicht zu beseitigen“.
Prof. Dr. Friedrich Pukelsheim vom Institut
für Mathematik der Universität Augsburg argumentierte,
nur bei einer Umsetzung des Gesetzentwurfs könnten die
Wähler so wählen, wie sie sich das vorher vorstellen.
Auch Wilko Zicht von der Internetplattform
„wahlrecht.de“ befand, dass der Grünen-Entwurf
„trotz gewisser Schwächen im Detail“ so
übernommen werden könne.
Geladene Sachverständige