60 Jahre Bundestagsgeschichte – das sind 16 Legislaturperioden, acht Bundeskanzler und unzählige Reden, die im Plenum des Parlaments gehalten wurden. Einige Debatten in dieser Zeit waren besonders kontrovers, wie etwa die über die Frage der Wiederbewaffnung Deutschlands 1952 oder die der Ostverträge 1972. Ein Streifzug durch die bedeutendsten Dispute und Entscheidungen der bisherigen 16 Wahlperioden.
"Mein Bauch gehört mir!" Mit dieser provozierenden Parole war
die Frauenbewegung Anfang der siebziger Jahre in der Bundesrepublik
angetreten, um die ersatzlose Streichung des Paragrafen 218 aus dem
Strafgesetzbuch zu erreichen. Frauen sollten das Recht haben, sich
ohne Strafandrohung gegen ein Kind entscheiden zu dürfen.
Am 6. Juni 1971 erschien das Magazin "Der Stern" mit der
Schlagzeile "Wir haben abgetrieben!" und einem Titelbild, auf dem
sich 28 Frauen mit ihrem Foto öffentlich zu einem
Schwangerschaftsabbruch bekannten. Diese Aktion, initiiert von der
Journalistin und Frauenrechtlerin Alice Schwarzer, löste
schließlich eine breite und emotional geführte
gesellschaftliche Debatte über die Frage aus, ob und unter
welchen Umständen eine Frau abtreiben darf.
Seit 1871 stellte der Paragraf 218 des Strafgesetzbuches Abtreibungen grundsätzlich unter Strafe. Angedroht wurden bis zu fünf Jahre Zuchthaus, mindestens aber sechs Monate Gefängnis. Als einzige Ausnahme von diesem Verbot ließ die Justiz seit 1927 Abtreibungen aus medizinischen Gründen zu.
Bemühungen von SPD und KPD, den Paragrafen in der Zeit der
Weimarer Republik zu reformieren oder gar zu streichen, waren stets
gescheitert. Nach dem Ende des Nationalsozialismus wurde der
Abtreibungsparagraf 1949 fast unverändert in das
Strafgesetzbuch der gerade gegründeten Bundesrepublik
übernommen. Zwischenzeitliche Verschärfungen der
Strafandrohung im "Dritten Reich" hatten die Besatzungsmächte
nach dem Krieg wieder aufgehoben.
Erst die sozialliberale Koalition, die sich nach dem
Regierungswechsel 1972 unter dem Motto "Mehr Demokratie wagen!"
diverse Reformvorhaben auf die Fahnen geschrieben hatte, plante im
Rahmen einer breiten Strafrechtsreform auch eine Änderung des
Paragrafen 218.
Dieses Vorhaben rief jedoch heftige Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit hervor. Während die Befürworter der Reform das Persönlichkeitsrecht der Mutter in den Vordergrund stellten, betonten die Reformgegner, darunter vor allem die katholische Kirche, das uneingeschränkte Lebensrecht des Ungeborenen.
Auch der Bundestag zeigt sich tief gespalten: Die CDU/CSU-Fraktion
favorisierte eine "Indikationsregelung", die Abtreibungen an eine
Reihe medizinischer und ethischer Voraussetzungen knüpfte. Die
Koalitionsfraktionen SPD und FDP unterstützten dagegen
mehrheitlich eine "Fristenregelung", nach der ein Abbruch
grundsätzlich bis zur zwölften Schwangerschaftswoche
straffrei bleiben sollte.
Es waren langwierigen Beratungen, zu denen die Abgeordneten an zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Bundestag zusammenkamen: Die Generaldebatte am 25. April 1974, in der insgesamt 27 Redner das Wort ergriffen, dauerte vom Morgen bis weit nach Mitternacht.
Erst am folgenden Tag, am 26. April, kam es nach der dritten Lesung
zur Endabstimmung. Zwar beschworen Redner von Regierung und
Opposition immer wieder Gemeinsames und bemühten sich um
Sachlichkeit, doch waren die Divergenzen, die nicht immer entlang
von Parteigrenzen verliefen, kaum zu überbrücken. Das
Parlament zeigte sich in der Abtreibungsfrage tief gespalten.
Während Elfriede Eilers (SPD) die Fristenregelung als "entscheidenden Schritt hin zur Eigenverantwortung und sozialen Gleichstellung der Frauen" bezeichnete, fürchtete Detlef Kleinert (FDP), "mit der Änderung der Strafnorm" werde sich auch die "dahinter stehende ethische Norm ändern".
Dennoch plädierte der Liberale dagegen, "ein offensichtlich
unwirksames Gesetz" aufrechtzuerhalten und damit in Kauf zu nehmen,
dass die rechtspolitische Wirkung ad absurdum geführt wird,
nur weil man meine, "man müsse das ethische Prinzip auf diese
Weise erhalten".
Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) argumentierte ebenfalls, "Rechtsauftrag und soziale Wirklichkeit" des seit gut hundert Jahre geltenden Paragrafen 218 hätten sich "auseinander entwickelt". "Es gab viele dunkle Wege in die Illegalität, es gab viel Krankheit und Tod, die hätten vermieden werden können", sagte Brandt.
Der geltende Abreibungsparagraf habe diese "Übelstände"
aber nicht verhindert. "Der Paragraf 218 ist in dem, was er real
bewirkte, ein schwer erträglicher Restbestand sozialer
Ungerechtigkeit des vorigen Jahrhunderts", sagte Brandt im Hinblick
darauf, dass es vor allem eher mittellose Frauen waren, die die
Folgen unsachgemäßer Eingriffe zu tragen hatten.
Paul Mikat (CDU/CSU) wies dagegen die "Fristenregelung" scharf zurück: Seiner Meinung nach handelte es sich bei einem Embryo um "individuelles menschliches Leben", das von Beginn seiner Existenz an und nicht erst ab dem dritten Monat zu schützen sei.
Mikat forderte vor dem Hintergrund der Geschichte des
Nationalsozialismus, in der sich die Deutschen "wie kein anderes
Volk gegen das Leben" versündigt hätten, ein "Bekenntnis
zur grundsätzlichen Unverfügbarkeit menschlichen
Lebens".
Schließlich stimmte der Bundestag am 26. April 1974 mit relativ knapper Mehrheit von 247 Ja-Stimmen zu 233 Nein-Stimmen bei Enthaltung von neun Abgeordneten für das von der Koalition favorisierte Fristenmodell.
Danach war der Abbruch einer Schwangerschaft in den ersten drei
Schwangerschaftsmonaten straffrei, wenn er von einem Arzt nach
vorheriger Beratung vorgenommen wurde. Beschlossen war aber damit
die Reform des Paragrafen 218 noch nicht, denn auch der
unionsdominierte Bundesrat musste dem fünften
Strafrechtsänderungsgesetz zustimmen – und dieser hatte
bereits Einspruch angekündigt.
Eine einstweilige Verfügung Baden-Württembergs beim
Bundesverfassungsgericht verhinderte so letztendlich das
Inkrafttreten des Gesetzes. Im Februar 1975 erklärten die
Karlsruher Richter die Fristenregelung für verfassungswidrig,
weil sie der Verpflichtung aus Artikel 2 des Grundgesetzes, das
werdende Leben auch gegenüber der Mutter wirksam zu
schützen, "nicht in dem gebotenen Umfang gerecht geworden
ist".
Daraufhin verabschiedete der Bundestag schließlich am 12. Februar 1976 eine Reform des Abtreibungsparagrafen, die erneut den Schwangerschaftsabbruch verbot und eine Strafandrohung gegen die Mutter – und auch den behandelnden Arzt – enthielt.
Von einer Bestrafung sollte aber abgesehen werden, wenn die
Schwangere in "besonderer Bedrängnis" handelte, die über
vier so genannte Indikationen definiert wurde: die medizinische,
eugenische, kriminologische und soziale Indikation, die jedoch
nicht der Arzt feststellen musste, der den Abbruch vornahm.
Einen letzten Höhepunkt erlebte die Abtreibungsdebatte nach der Wiedervereinigung. In der DDR hatte seit 1972 die Fristenlösung gegolten, nun war es notwendig, aus den Modellen in Ost und West ein gesamtdeutsches zu entwickeln.
Nach der heute gültigen Regelung ist ein
Schwangerschaftsabbruch rechtswidrig. Er bleibt aber straffrei,
wenn er innerhalb der ersten drei Monate und nach einer
Konfliktberatung durchgeführt wird. Nicht rechtswidrig ist
eine Abtreibung ausdrücklich, wenn eine medizinische oder
kriminologische Indikation vorliegt.