Ein Tag im Wahlkampf mit Wolfgang Wieland (Bündnis 90/Die Grünen)
Sportlich begann Wolfgang Wieland seinen Tag um 10 Uhr mit einer symbolischen Aktion gegen Kernenergie: Von der Zentrale des Stromkonzerns Vattenfall in der Zinnowitzer Straße rollte er ein gelbes Fass mit atomaren Warnhinweisen bis zum Brandenburger Tor. Er hatte einen weißen Ganzkörper-Schutzanzug an – im strahlendem Sonnenschein eines Augusttages: „Ich habe ganz schön geschwitzt“, erzählt Wieland lachend seinem Wahlkampagnenassistenten Dietmar Sittek. Sein Lächeln wirkt immer ein wenig verschmitzt. Und heute lächelt er viel.
Nur wenige Menschen laufen über den Vorplatz und huschen schnell Richtung Bahnhof. Viele schauen Wieland nur verwundert an. Es sind ausländische Touristen, die es nicht verstehen, wenn er fragt: „Möchten Sie das Wahlprogramm der Grünen lesen?“ Andere denken, es sei eine Gratiszeitung. „Ein eigentlich denkbar ungünstiger Ort für einen Wahlkampfstand“, gibt Wieland zu. „Auf der anderen Seite, wo die Busse abfahren, sind mehr Berliner unterwegs.“ Die Erklärung für diesen Ort ist ganz einfach: Auf den Fotos sollten sowohl Kanzleramt, als auch der Hauptbahnhof im Hintergrund zu sehen sein als Hommage an die Forderung der Grünen nach mehr Mobilität auf den Schienen und „als Identifikationsbringer für Mitte“.
Dann entspinnt sich ein Dialog unter Experten des Straßenwahlkampfs, der bestimmten psychologischen Gesetzen folgt: “Es darf nicht zu wenig Laufpublikum sein, aber auch nicht zu viel. Ab einem bestimmten Sättigungsgrad geht man unter“, weiß Wahlkampfassistent Sittek. Wieland nennt einen neuralgischen Punkt: „In der Sonne nehmen die Menschen viel eher etwas entgegen, als im Schatten. Das ist ein psychologischer Effekt, die fühlen sich einfach wohler.“ Auch die Chronologie ist wichtig: „Aus dem großen Pool der Unentschlossenen entscheiden sich beinahe die Hälfte für uns, sodass wir einen Last-Minute-Wahlkampf machen und uns auf die letzten drei Wochen konzentrieren.“ Auch der Wochentag ist dabei entscheidend: „Ideal ist es Samstagvormittag, da haben die Menschen Zeit.“
Wieland möchte die Wähler über politische Forderungen und seine Person erreichen: „Nicht umsonst hängt mein Kopf hier überall, weil er einen bestimmten Bekanntheitsgrad hat, wenn auch nicht den von Christian Ströbele.“ Neben der Zeitung gibt es an dem Stand das Wahlprogramm der Grünen in der ausführlichen Fassung und „kurz und knapp“ sowie ein Faltblatt zu den konkreten Wahlforderungen Wielands. Es ist ebenso wie die Kurzversion des Wahlprogramms mit einer Graffiti-Optik versehen: Parteilogos oder Icons, die Wahlforderungen symbolisieren, sind dargestellt wie mit Sprühschablone aufgetragen. „Es gibt bei uns ja auch verschiedene Typologien, und natürlich ist das Gros der Wähler hier in Mitte der Typ junge Familie, umweltbewusst, urban und weltoffen.“
Seine Wahlkampfstrategie setzt auf einen hohen Identifikationsgrad: „Wir machen Politik dafür, wie die Menschen gerne leben wollen: kiezbezogen, auf kleinteilige Strukturen und intelligente Mobilität bedacht. Es heißt ja auch immer, die Latte-Macchiato-Fraktion wählt uns, und ich gebe zu, ich trinke den viel und gerne.“ Doch zu jugendaffin mag sich Wieland nicht gerieren und nutzt weder Twitter noch soziale Netzwerke wie Facebook: „Wahlkampf 2.0 mache ich nicht. Wir haben einen guten Internetauftritt, aber Twittern ist mir zu blöd. Das ist kein Ersatz für ein Gespräch.“ Auch die Frage, ob er mit oder ohne Krawatte auf dem Plakat zu sehen ist, wurde lange im Wahlkampfteam diskutiert – die Krawatte bekam den Zuschlag: „Wir wollen nicht nur von der Szene gewählt werden, sondern Zuwachspotenzial bei den Schrebergärtnern im Wedding und bei den von der Linkspartei Enttäuschten auf der Fischerinsel.“
Wieland setzt eher auf Alt-Gedientes wie Give-Aways, also kleine Geschenke mit Parteibezug wie Kulis, Luftballons oder die grünenspezifischen Sonnenblumen: „Ohne Give-Aways geht es nicht mehr, weil die Menschen die auch erwarten.“ Nächste Woche will Wieland einen Spaziergang über die Kinderspielplätze im Prenzlauer Berg machen. „Da gibt man dann den Kindern einen Luftballon, um mit den Müttern, die auf der Bank sitzen, ins Gespräch zu kommen.“ Zu den Voraussetzungen, die ein Wahlkämpfer mit sich bringen muss, bemerkt Wieland: „Man muss es mögen und auch mit Ablehnung umgehen können. Ein bisschen Staubsaugervertreter muss man in sich haben.“
Plötzlich erfasst eine heftige Windböe den Stand. Der grüne Aufstellwimpel mit Parteilogo, die Beachflagge, fällt um – Broschüren und Faltblätter werden schnell in Sicherheit gebracht: „Früher hatten wir immer Sonnenschirme, die flogen besonders gerne weg.“
Die letzte Station an diesem Tag ist der Allgemeine Sport Verein Berlin (ASV) im Poststadion, wo Bärbel Jensch, die erste Vorsitzende in 60 Jahren Vereinsgeschichte, den Politiker erwartet. Umringt von einer Schar von Kindern und ehrenamtlichen Trainern hört sich Wieland die Sorgen und Nöte des Leichtathletikvereins an. Die Stimmen werden lauter und erregter, als das Thema „Sommernutzung“ zur Sprache kommt: In den Sommermonaten darf der Rasen zeitweilig nicht betreten werden, damit er nachwachsen kann. „Gerade in den Ferien kommen doch die Kinder hierher und wissen Se, Herr Wieland, der sah so gut aus wie kein anderer Rasen“, sagt Jensch. Wieland nickt zustimmend und verspricht sich dafür einzusetzen.
Schließlich erzählt Wieland von seinen sportlichen Unternehmungen im Wahlkampf. Am Tag vorher spielte er Tennis beim Verein Rot-Gold im Stadion Rehberge und sagt etwas, das schon fast wie ein Schlusswort klingt: „In einer sportlichen Stadt wie Berlin geht es nicht ohne Sport.“ Doch sofort fällt jemandem ein: „Und Kleingärten.“ Wieland kontert elegant: „Die stehen auch schon auf meiner Liste.“ Die Kinder tummeln sich inzwischen auf dem Rasen und spielen Fußball. Dann wird Wieland noch einmal in die Mitte genommen für ein Gruppenfoto, das schon zwei Tage später auf der Vereinsseite online gestellt sein wird. Als Bärbel Jensch anschließend fragt, ob sie ihm noch „etwas Kleines, Frisches“ anbieten kann, macht sich Erleichterung auf Wielands Gesicht breit.