Über zwei Stunden stand sie im Mittelpunkt der Debatte, zu der der Bundestag am Dienstag, 8. September 2009, zusammengekommen war: die aktuelle Situation in Deutschland. Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel betonte trotz der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise die Erfolge der von ihr geführten Regierung, Deutschland sei dank handlungsfähiger Institutionen "stark und stabil". "Wir können stolz darauf sein, was wir in den letzten zwölf Monaten geleistet haben", sagte Merkel.
Die Opposition nutzte dagegen die Generaldebatte 19 Tage vor der Bundestagswahl zu einer Generalabrechnung mit der Regierungspolitik der Großen Koalition: Selten einmütig bezeichneten die Redner und Rednerinnen von FDP, Linksfraktion und Bündnis 90/Die Grünen die zu Ende gehende Legislaturperiode als "verlorene vier Jahre".
Angela Merkel (CDU/CSU) mahnte als erste Rednerin, die Wirtschaftskrise habe dazu geführt, dass "die Karten neu gemischt" würden, daher sei wichtig, dass sich auch Deutschland neu aufstelle. Merkel versuchte dafür Mut zu machen: Der Rückblick in die deutsche Geschichte zeige, dass sich Einsatz lohne.
Auch vor 60 Jahren, als Deutschland nach dem verlorenen Krieg in Trümmern lag, sei nicht sicher gewesen, dass der Aufbau gelinge – aber er sei gelungen. Ebenso wie die friedliche Revolution, die den Mauerfall vor 20 Jahren auslöste. "Die Freiheit hat gesiegt", so Merkel. Die Wirtschaftskrise, die vor fast genau einem Jahr begonnen habe, sei nun die schwerste Krise seit dem 60-jährigen Bestehen der Bundesrepublik, sagte die Bundeskanzlerin. "Dennoch haben wir erlebt, dass Deutschland stark und stabil ist."
Die Institutionen hätten sich als handlungsfähig erwiesen. Inzwischen sei die Talsohle der Krise erreicht. Zwar sei es noch ein langer Weg, bis das Land wieder so dastehe wie vor der Krise. "Dennoch sind wir 2009 stärker als 2005", bekräftigte die CDU-Vorsitzende. In Deutschland gebe es immer noch 1.250.000 Beschäftigungsverhältnisse, mehr als vor vier Jahren. "Das ist ein Erfolg der Großen Koalition." Aus der Krise seien aber mehrere Lehren zu ziehen: Die Wirtschaft müsse in Zukunft nachhaltiger ausgerichtet sein. Den Mittelstand, der sich auch in der Krise erneut als "Rückgrat der deutschen Wirtschaft" erwiesen habe, wolle die Union mit einer "klugen Steuerpolitik" stärken. "Steuererhöhungen sind da kein gutes Signal", so Merkel.
Dr. Guido Westerwelle (FDP) zog im Gegensatz zur Kanzlerin eine negative Bilanz der bald endenden Legislaturperiode: Nie habe die Große Koalition "Anspruch auf eine geistige Führung" erhoben, monierte der Vorsitzende der Liberalen. Stattdessen sei die Regierung nur ein "Reparaturbetrieb für tagespolitische Probleme gewesen", das Land heute geschwächt und stärker verschuldet als je zuvor. "Das waren vier verlorene Jahre", empörte sich Westerwelle.
Er forderte ein gerechtes Steuersystem, das die Mittelschicht stärke. Diese sei in den letzten zehn Jahren massiv geschrumpft. "Wir brauchen aber die Mittelschicht als Klammer der Gesellschaft – und deshalb auch ein faires Steuersystem", argumentierte der Fraktionsvorsitzende. Besonders kritisierte der Liberale die so genannte Abwrackprämie. Sie bedeute eine erneute Belastung für den Mittelstand. Unternehmen und Arbeitsplätze stünden auf dem Spiel. Zudem hätte das Geld sinnvoller für Bildung eingesetzt werden können, so Westerwelle: "Das Geld gehört in helle Köpfe, nicht in alte Autos investiert."
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) verteidigte die Politik der Großen Koalition: Dass die Krise die Menschen nicht noch härter getroffen habe, sei ein "Erfolg" aller, die mitgeholfen hätten, "Brücken zu bauen". Ob Bankenrettungsschirm, Konjunktur- und Investitionsprogramm, Kurzzeitarbeitergeld oder auch die "Umweltprämie" – das "Ensemble" der Maßnahmen habe dazugeführt, so der Kanzlerkandidat der SPD, "dass bei uns nicht wie in Spanien die Arbeitslosigkeit von 8 auf 18 Prozent gestiegen ist ist, sondern nur von 7 auf 8 Prozent".
Das Vertrauen, das aber die Politik in der Krise gewonnen habe, dürfe man nun nicht leichtfertig wieder verspielen, warnte Steinmeier. Deutschland brauche Politik mit "Kompass und Richtung". Wer Steuersenkungen verspreche, zeige nur, dass ihm der Kompass fehle, so der Außenminister mit einem Seitenhieb auf die FDP. "Der Staat muss handlungsfähig bleiben." Ein "Rückzug des Staates" stehe in Zukunft nicht auf dem Programm. Eher eine "Rückkehr der Politik", sagte Steinmeier und bekräftigte insbesondere die Notwendigkeit von Regeln für das Finanzsystem und einen "Bildungssoli".
Dr. Gregor Gysi (Die Linke) nutzte seine Rede, um Die Linke als einzige Alternative zur bisherigen Regierungspolitik darzustellen: Ob in punkto Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr oder in der Renten- und Sozialpolitik - seine Partei sei die einzige, die eine andere Position vertrete als die Regierung und die Oppositionsparteien FDP und Grüne: "Wir sagen als Einzige 'Raus aus Afghanistan', wir sind die Einzigen, die gegen Hartz IV sind", so der Fraktionsvorsitzende der Linken.
Gysi griff insbesondere die SPD an: Unter Bundeskanzler Gerhard Schröder habe sie zunächst den Spitzensteuersatz gesenkt, dann sei eine Senkung der Körperschaftsteuer gefolgt. Die Konsequenz dieser Entscheidungen, die allesamt zu Mindereinnahmen in der Staatskasse geführt hätten: Sozialabbau. Pendlerpauschale und Sparerfreibetrag seien abgeschafft oder gekürzt worden, die Mehrwertsteuer erhöht. Für die Menschen, insbesondere im Osten, habe die Politik der Großen Koalition nichts verbessert, kritisierte Gysi. Immer noch seien dort Löhne und Renten geringer als im Westen.
Auch Renate Künast, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, nannte die vergangenen vier Jahre "verlorene Jahre". Nicht erst die aktuelle Krise stelle Deutschland vor Herausforderungen: "Wir hatten schon vorher eine Strukturkrise", sagte Künast. Nun seien die Probleme jedoch riesig: Klimawandel, Wirtschafts- und Bankenkrise und nicht zuletzt ein "zutiefst ungerechtes Bildungssystem". Statt "Scheinlösungen" brauche man jetzt "neue Strukturen für die Schlüsselindustrien".
Deutschland müsse sich insgesamt neu ausrichten, forderte die Politikerin. Bislang jedoch vermisse sie wirkliche Zukunftsprojekte. Das, was die Regierung "Brücken" nenne, Instrumente wie die Kurzarbeit oder die Abwrackprämie, seien in Wahrheit keine Brücken. "Ihre Brücken enden im Nichts, in der Mitte des Sees", monierte Künast. "Was kommt denn nach der Abwrackprämie?" Deutschland brauche eine soziale und ökologische Modernisierung. "Mit einem Zehntel des Geldes für die Abwrackprämie hätten wir einen Entwicklungsboom in der Elektromobilität auslösen können", sagte die Grüne.