Von der Grenzöffnung am Abend des 9. November 1989 erfuhr Dr. Dagmar Enkelmann, heute Parlamentarische Geschäftsführerin der Linksfraktion im Bundestag, aus dem Fernsehen: Ungläubig sah die damalige Doktorandin an der Akademie der Gesellschaftswissenschaften in Berlin zu, wie Günter Schabowski, Sprecher des SED-Zentralkomitees, in einer live übertragenen internationalen Pressekonferenz die neue Reiseregelung bekanntgab. Auch dass sich daraufhin an den Grenzübergängen Tausende Menschen sammelten und die überforderten Soldaten zur prompten Maueröffnung zwangen, verfolgte die damals 32-Jährige am Fernsehapparat. Sie selbst blieb zuhause.
"Warum? Ich war bei meinen Eltern in Bernau und musste mich darauf vorbereiten, am nächsten Morgen in der Akademie meine Doktorarbeit zu verteidigen. Aber auch wenn ich mich damals nicht unter die Menschen mischte, die die Öffnung der Grenzen mit eigenen Augen sehen wollten, so beschäftigte ich mich doch inhaltlich mit dem, was gerade in der DDR passierte: Meine Arbeit handelte schließlich von der Identitätskrise der Jugend mit dem Sozialismus.
Die anonymen Befragungen von 2.000 Probanden, die ich in Zusammenarbeit mit dem Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig durchgeführt hatte, ergaben deutlich, dass mehr als zehn Prozent der Jugendlichen der DDR ablehnend gegenüberstanden.
Ein Wert, der seit den siebziger Jahren deutlich angestiegen war. Der Grund? Die jungen Leute wollten gebraucht und mehr beteiligt werden. Und insbesondere die fehlende Reisefreiheit hatte viele von ihnen dazu bewogen, sich vom Staat abzuwenden.
Die Ereignisse des 9. Novembers bestätigten also nur das, was ich während meiner Forschungen bereits festgestellt hatte: Die DDR verlor an Unterstützung. Die Ausreisewelle im Sommer und die Demonstrationen im Herbst 1989 machten dann aber offensichtlich, dass viel in Bewegung gekommen war.
Für mich aber waren besonders die Bilder von den prügelnden Polizisten ein Schock. Dass so etwas bei uns passieren konnte, hatte ich bis dahin für völlig unmöglich gehalten. Sie waren aber der Anlass für meine Teilnahme als SED-Mitglied am Runden Tisch in meiner Heimatstadt Bernau. Ich wollte mich für Reformen einsetzen - und eine Erneuerung der DDR.
Der Beschluss, die Grenzen in Richtung Westen zu öffnen, überraschte mich dennoch völlig. Ich konnte es gar nicht glauben. Erst als ich am nächsten Morgen auf dem Weg zur Verteidigung meiner Doktorarbeit überall Menschen vor den Sparkassen Schlange stehen sah, die offensichtlich Geld umtauschen wollten, realisierte ich langsam, was passiert war.
Ich erinnere mich noch, wie ich erstaunt meinen Vater, der mich mit dem Auto zur Akademie fuhr, fragte: So, und die gehen jetzt alle rüber? Ich selbst hatte zunächst gar keinen Drang dazu. Es war doch noch so unklar, wie es weitergehen würde. Ich befürchtete auch, dass man die Grenzen, so plötzlich, wie man sie geöffnet hatte, auch wieder schließen könnte. Und der Gedanke, ich wäre in dem Moment gerade im Westen und von meinen Kindern im Osten getrennt, machte mir Angst.
Kurz vor Weihnachten sind wir dann aber mit der ganzen Familie zum Bummeln nach West-Berlin gefahren. Die Häuser, die Geschäfte - alles war so bunt! Aber noch viel prägender, vor allem für meine Kinder, war etwas anderes: ein Obdachloser. Der Mann lag mit geschlossenen Augen auf einer Parkbank, zugedeckt mit Zeitungen, überall um ihn herum standen Tüten.
Ich erinnere mich, wie meine Kinder fragten: Mama, warum schläft der Mann da? Obdachlose hatten sie in der DDR noch nie gesehen."