Ruprecht Polenz, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, warnt in einem Gespräch mit der Wochenzeitung "Das Parlament“ vom 1. Februar 2010 vor einem Rückzug der NATO aus Afghanistan. "Wenn das Bündnis vorzeitig abzieht, hieße das, den gleichen Fehler zu begehen, wie er nach dem Abzug der Sowjetunion im Jahre 1989 gemacht wurde. Damals hat sich niemand um Afghanistan gekümmert. Die Folge waren Krieg und Bürgerkrieg“, sagt der CDU-Abgeordnete. Polenz würdigt das Engagement des Westens in Afghanistan seit 2001.
"Vor acht Jahren waren wir ungefähr so weit wie Europa nach dem Dreißigjährigen Krieg. Es sind Erfolge erzielt worden. Auf denen kann man aufbauen“, betont Polenz. Er verteidigt die Beschlüsse der Londoner Konferenz zur weiteren Afghanistan-Strategie. "Das Konzept ist nicht neu, aber die Mittel sind neu. Der Strategiewechsel liegt darin, dass schrittweise die Verantwortung an die afghanische Regierung zurückgegeben wird - in den Distrikten und Provinzen, wo es die Lage erlaubt“, erläutert Polenz. Wichtig sei nun, "die Versöhnungsanstrengungen der Menschen untereinander deutlich zu verstärken“ und die Nachbarländer einzubinden. Das Interview im Wortlaut:
Wäre es nicht besser, Deutschland würde sein
Scheitern in Afghanistan eingestehen und die Bundeswehr aus dem
Land zurückziehen?
Nein! Ein Rückzug der Bundeswehr kann nur im Einklang mit der NATO erfolgen. Wenn das Bündnis vorzeitig abzieht, hieße das, den gleichen Fehler zu begehen, wie er nach dem Abzug der Sowjetunion im Jahre 1989 gemacht wurde. Damals hat sich niemand um Afghanistan gekümmert. Die Folge waren Krieg und Bürgerkrieg. Die Taliban herrschten in dem Land. Afghanistan wurde ein Zufluchtsort für Al Qaida, die von dort die Anschläge von New York und Washington und später in Madrid, London und Djerba vorbereiteten. Ähnliches würde sich bei einem sofortigen Abzug wiederholen. Hinzu käme, dass die Taliban das Nachbarland Pakistan weiter destabilisieren würden. Und Pakistan ist eine Atommacht.
Jetzt will die NATO kurzfristig mehr Soldaten nach Afghanistan schicken, um die Lage soweit zu stabilisieren, dass man abziehen kann. Ist das realistisch?
Das ist nur ein Teil der Strategie, wahrscheinlich der kleinere. Der Größere ist, dass wir mit dem Wiederaufbau Afghanistans weiterkommen, die Verwaltungsstrukturen ertüchtigen, sodass die Afghanen nach 30 Jahren Krieg und Bürgerkrieg wieder über verlässliche staatliche Strukturen verfügen. Dazu gehören auch eigene Streitkräfte und eine eigene Polizei.
Das hat in den letzten acht Jahren offenbar aber auch nicht funktioniert...
Wir sind weiter als vor acht Jahren. Vor acht Jahren waren wir ungefähr so weit, wie Europa nach dem Dreißigjährigen Krieg. Es sind Erfolge erzielt worden. Auf denen kann man aufbauen. Das haben uns übrigens die Afghanen bestätigt: 70 Prozent von ihnen schauen laut Meinungsumfragen optimistisch in die Zukunft.
Deutschland will die Ausbildung der afghanischen Polizei verstärken. Zudem soll die zivile Infrastruktur gestärkt werden. Doch was ist neu an dieser Strategie, wie die Bundesregierung behauptet?
Die Ziele wurden in der Tat auch in der Vergangenheit verfolgt, aber teilweise nicht mit ausreichenden Mitteln. Deshalb werden wir unsere Entwicklungshilfe verdoppeln. Die Zahl der Armeeausbilder wird von 200 auf 1.400 erhöht. Die Zahl der Polizeiausbilder wird verdoppelt. Das Konzept ist nicht neu, aber die Mittel sind neu. Der Strategiewechsel liegt darin, dass schrittweise die Verantwortung an die afghanische Regierung zurückgegeben wird - in den Distrikten und Provinzen, wo es die Lage erlaubt. Die Londoner Konferenz hat ferner beschlossen, die Versöhnungsanstrengungen der Menschen untereinander deutlich zu verstärken. Drittens sind in London auch die Nachbarländer Afghanistans eingeladen worden. Ohne deren konstruktives Mitwirken kann der Konflikt nicht gelöst werden.
Die Bundesregierung will 850 Soldaten mehr in den Norden Afghanistans entsenden - keine Kampftruppen, sondern Ausbilder. Gleichzeitig rücken in den Norden verstärkt amerikanische Kampftruppen ein. Drückt sich die Regierung aus innenpolitischer Rücksichtnahme um den militärischen Kampf gegen die Taliban?
Ich halte die Unterscheidung zwischen Kampftruppen und Nichtkampftruppen für schwierig. Letztlich sind alle Soldaten dafür ausgebildet, sich zu verteidigen und ihren Auftrag notfalls auch mit Waffengewalt durchzusetzen. Die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte soll in der Fläche erfolgen und in engem Kontakt zur Bevölkerung. Die Soldaten, die sich zur Ausbildung in Dörfern aufhalten, die von den Taliban angegriffen werden, werden sich zu wehren wissen. Aber eine Unterscheidung ist wichtig: Der Ausbildungseinsatz ist ein eher defensiver Einsatz.
Außenminister Guido Westerwelle plant, kriegsmüde Taliban mit finanziellen Anreizen zu einem Ausstieg zu bewegen. Wie soll das in der Praxis funktionieren?
Das plant nicht Herr Westerwelle, sondern der afghanische Präsident Hamid Karzai, und die internationale Staatengemeinschaft legt dafür einen Fonds auf. Die Idee ist, den jungen Männern eine Alternative zu bieten. Die Alternativen sind Ausbildung oder Arbeit in der Landwirtschaft. Aber es geht auch darum, die Integration aller Stämme in den afghanischen Staat zu bewirken. Zwar sind meines Wissens alle Taliban-Kämpfer Paschtunen, aber nicht jeder Paschtune ist ein Taliban. Die Paschtunen fühlen sich - auch wenn Karsai selbst Paschtune ist - in der Machtbalance des Landes nicht genügend berücksichtigt.
Die Kritik im Westen an Karzai hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Hat er Sie während seines Besuchs im Auswärtigen Ausschuss davon überzeugen können, dass er der richtige Mann für Afghanistan ist?
Es war für alle Mitglieder des Ausschusses zunächst wichtig, sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu machen. Er hat sehr ausführlich auf unsere Fragen geantwortet. Niemand unterschätzt die Aufgabe, vor der Karzai steht. Aber egal, wie viel man ihm zutraut, er ist der gewählte Präsident, mit ihm müssen wir uns auseinandersetzen. Afghanistan ist kein westliches Protektorat.
Die Kritik am Isaf-Einsatz ist nach der Bombardierung der von Taliban-Kämpfern entführten Tanklastwagen bei Kundus lauter geworden. War es ein Fehler, der Öffentlichkeit weismachen zu wollen, am Hindukusch herrsche kein Krieg?
Die Lage in Afghanistan hat sich in den letzten achten Jahren mehrfach verändert. Nach dem Sieg über die Taliban im Jahr 2001 war die Sicherheitslage relativ gut und stabil. Sie hat sich dann im Zuge des Irak-Kriegs und der amerikanischen Truppenverlagerung von Afghanistan in den Irak schrittweise verschlechtert. Und man musste sich dieser veränderten Lage anpassen. Das gilt auch für den Norden des Landes, der lange Zeit ruhig gewesen ist. Als die Taliban im Süden unter Druck gerieten, sind sie in den Norden ausgewichen. Außerdem wollen sie die veränderten Nachschublinien der Nato treffen, die jetzt auch über die Nordroute in die zentralasiatischen Staaten verlaufen.
Der Luftangriff hat die Frage aufgeworfen, ob dieser von einem deutschen Offizier hätten befohlen werden dürfen. Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) forderte mehr Rechtssicherheit für die Soldaten. Heißt das, die Soldaten stehen seit acht Jahren in einem Einsatz ohne Rechtssicherheit?
Nein, das heißt es nicht. Es geht darum, die veränderte Lage rechtlich zu bewerten. Nicht die Politik stellt fest, unter welchen rechtlichen Normen ein solcher Einsatz einzuordnen ist. Das wird jetzt der Generalbundesanwalt machen, wenn er vor der Frage steht, ob das Strafgesetzbuch oder das Völkerstrafrecht in diesem Fall anzuwenden ist. Das Völkerstrafrecht gilt dann, wenn es sich - wie es der Verteidigungsminister formuliert hat - in Afghanistan um "kriegsähnliche Zustände“ handelt. Oder, um es juristisch zu formulieren, um einen nicht-internationalen bewaffneten Konflikt.
Das vom Bundestag verabschiedete Mandat erlaubt aber ausdrücklich den Einsatz militärischer Gewalt. Haben denn jene Abgeordnete, die jetzt behaupten, Oberst Klein hätte den Luftangriff nicht befehlen dürfen, den Mandatstext nicht gelesen, bevor sie darüber abgestimmt haben?
Man muss unterscheiden zwischen der grundsätzlichen Ermächtigung für die Bundeswehr im Mandat und einem konkreten Einzelfall wie diesem. Das Mandat beruht auf einem Beschluss des UN-Sicherheitsrates, nach dem der Isaf-Einsatz unter Artikel 7 der UN-Charta zur Friedenserzwingung steht. Das ermächtigt auch zum Einsatz militärischer Gewalt. Aber welche Mittel im konkreten Einzelfall angewendet werden, obliegt der militärischen Lagebeurteilung vor Ort. Und wenn Zweifel an der Richtigkeit dieser Entscheidung aufkommen, dann muss man diese im Nachhinein prüfen und bewerten. Das wird im eingesetzten Untersuchungsausschuss des Bundestages auch geschehen.