Berlin: (hib/KOS) Nach Angaben von Heinz Fromm gab es im Herbst 2002 kein Angebot der USA, den Guantanamo-Gefangenen Murat Kurnaz nach Deutschland zu überstellen. Vor dem Untersuchungsausschuss erklärte der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) am Donnerstag, seinerzeit sei es nur darum gegangen, den aus Bremen stammenden Türken im Falle einer auf Ebene der US-Geheimdienste erörterten Freilassung nicht in die Bundesrepublik, sondern in die Türkei einreisen zu lassen. Fromm begründete diese von den Führungen der Geheimdienste und der Spitze des Kanzleramts unter der Verantwortung des damaligen Amtschefs Frank-Walter Steinmeier getroffene Entscheidung mit dem Hinweis, Kurnaz habe 2002 als potenzielles Sicherheitsrisiko gegolten. Aus heutiger Sicht, so Walter Wilhelm als Präsident des Bremer Landesamts für Verfassungsschutz (LfV), ist Kurnaz zwar als Islamist, aber nicht als Terrorist oder Gefährder einzustufen. Aufgrund der Informationen zur Zeit des Jahreswechsels 2001/2002 habe man jedoch zu dieser Einschätzung gelangen können. Kurnaz war nach seiner Festnahme Ende 2001 in Pakistan über Afghanistan nach Guantanamo gebracht und dort von Februar 2002 bis August 2006 inhaftiert worden.
Laut Fromm ergab die Vernehmung des Bremer Türken in Guantanamo im Herbst 2002 durch einen BfV-Mitarbeiter keine Hinweise auf terroristische Kontakte seitens Kurnaz in Pakistan. Zweifel an rein religiösen Motiven für dessen Reise in dieses Land hätten jedoch fortbestanden. Die Einordnung des jungen Türken als potenzielles Sicherheitsrisiko habe sich damals auch auf die Erkenntnisse des Bremer LfV gestützt. Letztlich sei, so der BfV-Präsident, die Frage der Gefährlichkeit oder Ungefährlichkeit von Kurnaz nicht geklärt worden. Auf eine entsprechende Frage des FDP-Abgeordneten Max Stadler sagte Fromm, nach dem Verhör in Guantanamo habe der BfV-Mitarbeiter in seinem Bericht nichts mitgeteilt über die Bewertung des Bremer Türken durch zwei an der Vernehmung beteiligte BND-Vertreter, die Kurnaz nicht als Sicherheitsrisiko eingestuft hatten.
Zu kontroversen Diskussionen unter den Ausschussmitgliedern über die Stichhaltigkeit der 2002 vom Bremer LfV gesammelten Erkenntnisse zu Kurnaz kam es während und nach der Vernehmung Wilhelms, der im Übrigen betonte, dass Inhaftierungen in Guantanamo generell nicht zu rechtfertigen seien. Nach den LfV-Berichten soll Kurnaz in der seitens der Behörde als gefährlich eingestuften Islamistenszene im Umfeld einer Moschee indoktriniert worden sein. Auch habe er in Afghanistan den Kampf der Taliban unterstützt und in einem Telefonat mit einem Bremer Iman einen bevorstehenden Taliban-Angriff angekündigt. Wilhelm erklärte, diese Erkenntnisse hätten sich auf "Quellenangaben" gestützt. Näher erörtert wurden diese Mitteilungen von V-Leuten dann in nichtöffentlicher Sitzung. Laut Wilhelm führt die Einstellung des seinerzeit gegen Kurnaz wegen eines terroristischen Anfangsverdachts eingeleiteten Ermittlungsverfahrens nicht zwangsläufig dazu, dass auch das LfV von seiner Einstufung des Betreffenden als Sicherheitsrisiko abrückt. Wegen seiner Einordnung als Islamist werde über Kurnaz weiter eine Akte geführt.
Die Opposition kritisierte nach der Vernehmung Wilhelms, dass die damalige Einschätzung des Türken als gefährlich auf "Quellenangaben" gestützt worden sei, die nur auf "Hörensagen" (Stadler) und auf "Gerede im Umfeld der Moschee" (der Grüne Hans-Christian Ströbele) basiert hätten. Wenn eine Entscheidung über eine Einreisesperre auf einer so "dürftigen Beweislage" gründe, "dann ist das kein Rechtsstaat mehr", so Stadler. Aus Sicht Ströbeles ließ sich auch 2002 anhand der seinerzeitigen Erkenntnisse eine Einordnung von Kurnaz als Sicherheitsrisiko nicht rechtfertigen. SPD-Obmann Thomas Oppermann sagte, die Glaubwürdigkeit der damaligen Quellenangaben sei nicht abschließend zu prüfen. Entscheidend sei jedoch, dass sich Kanzleramtschef Steinmeier und die Präsidenten der Geheimdienste bei ihrem Votum für eine Einreisesperre im Falle einer Freilassung von Kurnaz auf die den Türken stark belastenden Erkenntnisse des Bremer LfV hätten stützen müssen. Die CDU-Abgeordnete Kristina Köhler meinte, zwar blieben die Umstände der Reise nach Pakistan nach wie vor dubios, doch habe Kurnaz Anspruch auf eine Behandlung nach rechtsstaatlichen Maßstäben. Auf keinen Fall sei eine Inhaftierung in Guantanamo zu rechtfertigen. Petra Pau (Linkspartei) erklärte, es müsse hinterfragt werden, warum die damalige Regierung im Herbst 2002 trotzdem für ein Verbleiben des Türken in Guantanamo gesorgt habe.
Deutscher Bundestag, PuK 2 - Parlamentskorrespondenz
Verantwortlich: Uta Martensen
Redaktion: Dr. Bernard Bode, Götz Hausding, Michael Klein, Dr.
Susanne Kailitz, Dr. Volker Müller, Monika Pilath, Günter
Pursch, Annette Sach, Bernadette Schweda, Alexander Weinlein,
Siegfried F. Wolf