Vorabmeldung zu einem Interview in der
nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 27. Oktober
2008)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen
Veröffentlichung –
Der Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft, Professor Werner Hohenberger, beklagt „strukturelle Schwierigkeiten“ bei deutschen Studien zur Krebsforschung. In Großbritannien, Skandinavien und den Niederlanden würden mehr Studien als in Deutschland durchgeführt. „Dort ist die Behandlung viel stärker regional gebündelt und die Patienten sind dadurch leichter zu rekrutieren“, sagt Hohenberger. „Da haben wir Defizite.“ Beim Aufbau deutscher Krebszentren gebe es die Auflage, dass mindestens zehn Prozent der Patienten an randomisierten Studien teilnehmen müssten. „Aber mit dem Arzneimittelgesetz sind die Auflagen immer höher geworden. Wir glauben, dass da zu viel Bürokratie Einzug gehalten hat“, sagt Hohenberger.
Auch wenn Meldungen über neue Durchbrüche in der Krebsforschung überwiegend aus den USA kämen, sehe er die deutsche Forschung gut aufgestellt. „Das Deutsche Krebsforschungszentrum in Heidelberg hat führende Beiträge geleistet, etwa im Bereich der Apoptose. Das ist der programmierte Zelltod, der bei der Krebszelle eben nicht eintritt, sodass sie immer weiter wächst.“ Auch an der Sequenzierung des menschlichen Genoms seien deutsche Forscher beteiligt gewesen, so Hohenberger.
Hohenberger spricht sich für ein striktes Rauchverbot aus, um das Lungenkrebs-Risiko zu senken. „Spricht man ein Rauchverbot aus, ist das für Einzelne zwar misslich, aber es ist der Ansatz, um Lungenkrebs zu mindern. Während der Pathologe Rudolf Virchow im Jahr 1875 die Krebsart noch als Rarität beschrieben habe, sei danach der Tabakkonsum gestiegen und der Lungekrebs lange Zeit „Killer Nummer eins“ gewesen. Das Bewusstsein in der Bevölkerung müsse weiter geschärft werden. „Mittlerweile kann jeder wissen, dass Rauchen, Alkoholkonsum und Gewichtszunahme Faktoren sind, die die Häufigkeit von Krebs beeinflussen“, sagt Hohenberger.
Interview mit Professor Hohenberger im Wortlaut:
Professor Hohenberger, am 18. Februar 1900 wurde in
Berlin das „Komitee für Krebsforschung“
gegründet und damit der Grundstein für diesen
Forschungszweig gelegt. Was wurde seither
erreicht?
108 Jahre sind eine lange Spanne,
entsprechend groß ist natürlich der Wissenszugewinn.
Damals lag die Operationssterblichkeit bei 30 bis 40 Prozent,
ungefähr 1884 hatte Theodor Billroth zum ersten Mal
überhaupt einen Magenkrebs entfernt. Über Heilungschancen
sprach man damals überhaupt noch nicht, weil kaum jemand
geheilt wurde. Betrachten wir den Dickdarm- und Mastdarmkrebs:
Damals wurde in so einem Fall immer der Schließmuskel
entfernt, inzwischen kann er in 85 Prozent der Fälle erhalten
werden, die Langzeitüberlebensquote liegt bei etwa 80
Prozent.
Dennoch erkranken jährlich mehr als 400.000
Menschen in Deutschland an Krebs, mehr als 200.000 sterben an der
Krankheit und in einigen Jahren werden Krebserkrankungen die
Herz-Kreislauferkrankungen als Todesursache Nummer eins
abgelöst haben. Warum?
Das ist schwer zu
beantworten. In den vergangenen 20 Jahren ist die Sterblichkeit an
Herz-Kreislauf-Erkrankungen tatsächlich um etwa ein Viertel
zurückgegangen. Auch die Krebssterblichkeit nimmt zwar ab,
aber die Neuerkrankungen nehmen zu. Die Inzidenz, also die
Häufigkeit von Neuerkrankungen, steigt bei Krebs ab dem 55.
Lebensjahr rapide, in allen Ländern der Welt. Es gibt zwar
Tumore selbst bei Neugeborenen und Kleinkindern, aber mit
fortschreitendem Alter steigt die Krebsgefahr, weil die
Selbstreparaturmechanismen der Menschen und ihrer Zellen den
Belastungen der Umwelt nicht mehr standhalten. Etwa beim
Gebärmutterhalskrebs weiß man, dass es von der ersten
Stufe bis zum großen Tumor 15 Jahre dauert, bei
Dickdarmtumoren ist es ähnlich. Krebs entsteht nicht von heute
auf morgen – und je älter die Menschen werden, desto
mehr erleben sie die lange Spanne von der ersten malignen Zelle bis
zum Tod durch Krebs. Dennoch hat die Mortalität von
Krebserkrankungen in den vergangenen 15 bis 20 Jahren um 15 bis 20
Prozent abgenommen.
Vor einigen Jahren war die Entdeckung eines
bösartigen Brusttumors für eine Frau ein ziemlich
sicheres Todesurteil. Was bedeutet eine solche Diagnose
heute?
Die Heilungschancen sind relativ hoch, weil
man einen beträchtlichen Aufwand bei der Behandlung betreibt:
Operation, Brustbestrahlung, Chemotherapie. In den 70er-Jahren hat
man die Patientinnen meist radikal operiert, das heißt, die
Brust entfernt. Dann hat man allmählich begonnen, die
Chemotherapie einzusetzen, was vor allem den Frauen hilft, die
Metastasen hatten. Später wurde bekannt, dass der Hormonstatus
des Brustkrebses Einfluss auf die Prognose hat und dass man bei
bestimmten Patientinnen in Abhängigkeit von Alter und
Hormonstatus mit Anti-Östrogenen behandeln kann. Dann kam die
Bestrahlung, und man konnte weit weniger radikal operieren. Heute
ist der Anteil der brusterhaltenden Operationen auf etwa 80 Prozent
gestiegen.
Wie kann die Patientin sichergehen, dass sie die beste
Behandlung erhält?
In den 70er-Jahren ging eine
Frau mit einem Knoten in der Brust zum Frauenarzt oder zum
nächsten Chirurgen. Damals gab es keine Leitlinien, die
für komplexe Fälle die Behandlung vorgegeben hätten,
auch deshalb, weil es außer der chirurgischen Behandlung im
Grunde nicht viel gab. Inzwischen ist das Spektrum der
Behandlungsmöglichkeiten so groß, dass ein einzelner
Arzt das nicht mehr überblickt. Es gibt deshalb Brustzentren,
in denen Leitlinien der Fach- und Krebsgesellschaften umgesetzt
werden und die festlegen, welche Behandlung in welchen Fällen
erfolgt. Natürlich müssen immer wieder
Einzelfallentscheiden getroffen werden, aber für die Mehrzahl
der Patienten kann man vorgeben, was getan werden muss. Diese
Zentrenbildung hat die Deutsche Krebsgesellschaft forciert und sich
dabei auf die „großen Killer“ konzentriert:
Darmkrebs, Brustkrebs, Prostatakrebs, Lungenkrebs und Hauttumore.
Diese Krankheiten sollen in Zentren behandelt werden, wo ein Fall
nicht mehr nur in den Händen eines Arztes liegt, sondern der
Sachverstand aller Fachrichtungen zusammenfließt.
In einer jüngst veröffentlichten Studie
schneidet Deutschland in der 5-Jahres-Überlebensrate nur
mittelmäßig ab. Ist unsere Versorgung im internationalen
Vergleich so schlecht?
Nein. Das ist eine britische
Studie, die kürzlich in der Fachzeitschrift „Lancet
Oncology“ erschienen ist. Das Problem dabei ist, dass sich
die Zahlen für Deutschland auf das Saarland beziehen, das nur
etwa ein Prozent der Population spiegelt. Tatsache ist, dass die
Daten unserer Tumorzentren in Sachen Überlebensrate
keinesfalls schlechter sind als die anderer Länder. Wir haben
vielmehr Zentren, die mit ihren Ergebnissen weltweit als
Maßstab gelten.
Bei vielen der insgesamt etwa 230 Krebserkrankungen ist
beinahe im Wochenrhythmus von neuen Durchbrüchen in der
Forschung zu lesen – aber meist in den USA.
Die
USA haben in Sachen Forschung immense Ressourcen, aber 80 Prozent
ihrer Ergebnisse werden von Ausländern erarbeitet. Dort wird
schlicht mehr Geld für Krebsforschung zur Verfügung
gestellt. Deshalb gehen viele junge Forscher in die USA. Es wird
aber auch in Deutschland nicht schlecht geforscht. Das Deutsche
Krebsforschungszentrum in Heidelberg hat führende
Beiträge geleistet, etwa im Bereich der Apoptose. Das ist der
programmierte Zelltod, der bei der Krebszelle eben nicht eintritt,
sodass sie immer weiter wächst. Auch am wesentlichen
Fortschritt in der Grundlagenforschung, nämlich der
Sequenzierung des menschlichen Genoms, waren deutsche Forscher
beteiligt. In Deutschland wird noch ein weiteres wichtiges Feld
bearbeitet: die zellulären Signaltransduktionen. Das sind
Prozesse, mit denen Zellen auf äußere Reize reagieren.
Aus dieser Forschung können Medikamente resultieren.
Haben solche Entdeckungen schon Einzug in den
Klinikalltag gehalten?
Ja. Es gibt zum Beispiel eine
ganze Gruppe verschiedener Tyrosinkinase-Rezeptorenhemmer, die mit
relativ wenigen Nebenwirkungen etwa bei Nierenzellkarzinomen oder
bestimmten Weichteilgewebstumoren eingesetzt werden. Die Karzinome
schrumpfen, weil man genau den Signalweg kennt, an dem man sie
angreifen muss. Früher hat man mit Chemotherapeutika
gearbeitet, die den Stoffwechsel blockiert haben, aber mit mehr
Nebenwirkungen.
Wie teuer ist eigentlich der medizinische
Fortschritt?
Auch wenn die Behandlung eines
Krebspatienten bis zu 100.000 Euro pro Jahr kosten kann, ist das
wirklich Teure die Arzneimittelentwicklung. Die Industrie rechnet
mit bis zu 800 Millionen Euro für ein Krebsmittel, von der
Idee bis zur fabrikmäßigen Herstellung. Weil sie
Medikamente zur Zulassung bringen will, ist sie natürlich an
der Forschungsförderung beteiligt, schießt aber auch
offenen Studien sehr viel Geld zu. Der zweite große
Förderer ist die Deutsche Krebshilfe, die jährlich
insgesamt mindestens 60 Millionen Euro in Krebsforschung und
Krebsbekämpfung gibt, davon etwa 20 Millionen Euro in die
reine Grundlagenforschung. Dann kommt erst der Staat mit der
Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Erst im April 2008 hat eine von der EU finanzierte
Studie beklagt, dass die Krebsforschungsaktivitäten in Europa
zu wenig gebündelt würden. Warum?
In
Großbritannien, Skandinavien und den Niederlanden werden viel
mehr Studien als bei uns durchgeführt. Dort ist die Behandlung
viel stärker regional gebündelt und die Patienten sind
dadurch leichter zu rekrutieren. Da haben wir Defizite.
Grundsätzlich gibt es aber international einen starken
Austausch. Aber Forschung braucht Studien, und da haben wir
strukturelle Schwierigkeiten. Beim Aufbau von Krebszentren gibt es
die Auflage, dass mindestens zehn Prozent der Patienten an
randomisierten Studien teilnehmen müssen, also Studien, in
denen eine zweite Gruppe Patienten das zu testende Mittel nicht
einnimmt. Aber mit dem Arzneimittelgesetz sind die Auflagen immer
höher geworden. Wir glauben, dass da zu viel Bürokratie
Einzug gehalten hat.
Sind grundsätzlich genug Patienten bereit, an
Studien teilzunehmen?
Es gibt wenige, die prinzipiell
Studien ablehnen. Im Gegenteil, viele Patienten gehen dorthin, wo
Studien gemacht werden, weil gilt: Wer Studien durchführt, der
ist besonders qualifiziert. Patienten, die in Studien behandelt
werden, haben immer eine etwas bessere Prognose.
In den vergangenen Jahren hat es einen
Perspektivenwechsel von der reinen Behandlung hin zur
Prävention gegeben. Kann man sich tatsächlich vor Krebs
schützen?
Etwa beim Gebärmutterhalskrebs
hat sich die Sterblichkeit in den vergangenen 20 Jahren vor allem
deshalb halbiert, weil es Vorsorgeuntersuchungen gibt. Inzwischen
hat man auch entdeckt, dass Papilloma-Viren bei der Entstehung
dieses Krebses eine Rolle spielen. Daher wurde eine Impfung
entwickelt, die seit dem vergangenen Jahr verfügbar ist und
mit der man das Zervix-Karzinom mit hoher Wahrscheinlichkeit
verhindern kann, sofern man geimpft wurde, bevor man erstmals in
Kontakt mit diesen Viren kommt. Die zweite Möglichkeit sind
Vorsorgeuntersuchungen. Regelmäßige Darmspiegelungen
können einen Großteil der Tumore verhindern und so die
Sterblichkeit verringern. Deshalb bezahlen die Kassen diese
Untersuchung mittlerweile ab dem 55. Lebensjahr. Man kann
weiterdenken: Ein Teil der Tumore ist vererbt und das Risiko der
Nachkommen, daran zu erkranken, liegt bei etwa 50 Prozent. Sie
könnten herausgefiltert werden und intensivere
Vorsorguntersuchungen bekommen. Leider wird das Angebot der
Darmspiegelung noch zu wenig angenommen.
Haben wir mehr medizinischen Fortschritt, aber zu wenig
Eigenverantwortung?
Ja. Durch die vielen Kampagnen
etwa der Felix-Burda-Stiftung wird zwar das Bewusstsein der
Bevölkerung geschärft, aber noch nicht genug.
Mittlerweile kann jeder wissen, dass Rauchen, Alkoholkonsum und
Gewichtszunahme Faktoren sind, die die Häufigkeit von Krebs
beeinflussen. Spricht man ein Rauchverbot aus, ist das für
Einzelne zwar misslich, aber es ist der Ansatz, um Lungenkrebs zu
vermindern. 1875 beschrieb der Pathologe Rudolf Virchow den
Lungenkrebs als Rarität. Dann stieg der Tabakkonsum, und
Lungenkrebs war lange Zeit der Killer Nummer eins. Würde man
das Rauchen verbieten, könnte man den Lungenkrebs wieder
weitgehend zum Verschwinden bringen.