Plenarprotokoll 17/37 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 37. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeordneten Lothar Binding (Heidelberg) und Dr. Diether Dehm Begrüßung des neuen Abgeordneten Hans-Werner Kammer Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung Absetzung der Tagesordnungspunkte 5 und 24 Begrüßung des Botschafters der Republik Polen, Herrn Marek Prawda Gedenken an die Opfer des Absturzes der polnischen Präsidentenmaschine Gedenken an in Afghanistan ums Leben gekommene Angehörige der Bundeswehr Zusatztagesordnungspunkt 3: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin: zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin Sigmar Gabriel (SPD) Birgit Homburger (FDP) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) Volker Kauder (CDU/CSU) Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Elke Hoff (FDP) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Elke Hoff (FDP) Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU) Ruprecht Polenz (CDU/CSU) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Jutta Krellmann, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Mit guter Arbeit aus der Krise (Drucksache 17/1396) Klaus Ernst (DIE LINKE) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) Klaus Ernst (DIE LINKE) Ottmar Schreiner (SPD) Reiner Deutschmann (FDP) Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Katja Kipping (DIE LINKE) Mechthild Heil (CDU/CSU) Josip Juratovic (SPD) Pascal Kober (FDP) Klaus Ernst (DIE LINKE) Ulrich Lange (CDU/CSU) Klaus Ernst (DIE LINKE) Ulrich Lange (CDU/CSU) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 28: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung krankenversicherungsrechtlicher und anderer Vorschriften (Drucksache 17/1297) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Filmförderungsgesetzes (Drucksache 17/1292) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2010 (ERP-Wirtschaftsplangesetz 2010) (Drucksache 17/1294) d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 2. Oktober 2008 des Übereinkommens vom 3. September 1976 über die Internationale Organisation für mobile Satellitenkommunikation (International Mobile Satellite Organization - IMSO) (Drucksache 17/1295) e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie auf dem Gebiet des Umweltrechts sowie zur Änderung umweltrechtlicher Vorschriften (Drucksache 17/1393) f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Musterwiderrufsinformation für Verbraucherdarlehensverträge, zur Änderung der Vorschriften über das Widerrufsrecht bei Verbraucherdarlehensverträgen und zur Änderung des Darlehensvermittlungsrechts (Drucksache 17/1394) g) Antrag der Abgeordneten Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Frauenhäuser ausreichend zur Verfügung stellen und deren Finanzierung sichern (Drucksache 17/1409) Zusatztagesordnungspunkt 4: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Lisa Paus, Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Finanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einführen (Drucksache 17/1422) b) Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der Forschungsinstitute für die Gemeinschaftsdiagnose gewährleisten (Drucksache 17/1424) c) Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Umweltberichterstattung in die Gemeinschaftsdia-gnose aufnehmen (Drucksache 17/1423) d) Antrag der Abgeordneten Michael Schlecht, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der Forschungsinstitute für die Gemeinschaftsdiagnose gewährleisten (Drucksache 17/1405) e) Antrag der Abgeordneten Elvira Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Gentechnisch veränderte Amflora-Kartoffel zuverlässig aus der Lebensmittel- und Futtermittelkette fernhalten (Drucksache 17/1410) f) Antrag der Abgeordneten Hilde Mattheis, Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Qualität und Transparenz in der Pflege konsequent weiterentwickeln - Pflege-Transparenzkriterien optimieren (Drucksache 17/1427) Tagesordnungspunkt 29: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes (Drucksachen 17/717, 17/1209, 17/1463) Tagesordnungspunkt 3: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union - zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP: Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zum Beitrittsantrag der Republik Island zur Europäischen Union und zur Empfehlung der EU-Kommission vom 24. Februar 2010 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 GG i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verhandlungen über die Aufnahme Islands in die Europäische Union eröffnen - zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Dietmar Nietan, Michael Roth (Heringen), Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel - zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel (Drucksachen 17/1190, 17/1059, 17/1191, 17/1172,17/1464) Michael Link (Heilbronn) (FDP) Michael Roth (Heringen) (SPD) Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) Andrej Konstantin Hunko (DIE LINKE) Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Stefan Ruppert (FDP) Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Franz Thönnes (SPD) Thomas Silberhorn (CDU/CSU) Veronika Bellmann (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 6: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Lauterbach, Dr. Marlies Volkmer, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Effektivere Arzneimittelversorgung (Drucksache 17/1201) b) Antrag der Abgeordneten Kathrin Vogler, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Faire Preise für wirksame und sichere Arzneimittel - Einfluss der Pharmaindustrie begrenzen (Drucksache 17/1206) c) Antrag der Abgeordneten Birgitt Bender, Fritz Kuhn, Maria Anna Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Qualität und Sicherheit der Arzneimittelversorgung verbessern - Positivliste einführen - Arzneimittelpreise begrenzen (Drucksache 17/1418) Dr. Karl Lauterbach (SPD) Heinz Lanfermann (FDP) Jens Spahn (CDU/CSU) Kathrin Vogler (DIE LINKE) Daniel Bahr, Parl. Staatssekretär BMG Dr. Karl Lauterbach (SPD) Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Erwin Lotter (FDP) Stephan Stracke (CDU/CSU) Bärbel Bas (SPD) Michael Hennrich (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die aufsichtsrechtlichen Anforderungen an die Vergütungssysteme von Instituten und Versicherungsunternehmen (Drucksachen 17/1291, 17/1457) Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär BMF Manfred Zöllmer (SPD) Björn Sänger (FDP) Harald Koch (DIE LINKE) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 8: a) Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Teilhabe und Perspektiven für Langzeitarbeitslose mit einem verlässlichen Sozialen Arbeitsmarkt schaffen (Drucksache 17/1205) b) Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gute öffentlich geförderte Beschäftigung - Eine Alternative zu Langzeiterwerbslosigkeit und Ein-Euro-Jobs (Drucksache 17/1397) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Heike Brehmer (CDU/CSU) Michael Groschek (SPD) Karl Schiewerling (CDU/CSU) Hubertus Heil (Peine) (SPD) Pascal Kober (FDP) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Sabine Zimmermann (DIE LINKE) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 9: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung - zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP: Gewährleistung der Sicherheit der Eisenbahnen in Deutschland - zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Gewährleistung der Sicherheit im Schienenverkehr muss Priorität haben - zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Dr. Gesine Lötzsch, Heidrun Bluhm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Den Schienenverkehr als sichere Verkehrsform erhalten und stärken - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Eisenbahnsicherheit verbessern (Drucksachen 17/1162, 17/655, 17/1016, 17/544,17/1459) Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär BMVBS Uwe Beckmeyer (SPD) Patrick Döring (FDP) Sabine Leidig (DIE LINKE) Patrick Döring (FDP) Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ulrich Lange (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Gerster, Nicolette Kressl, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit erhalten (Drucksachen 17/244, 17/1458) Olav Gutting (CDU/CSU) Martin Gerster (SPD) Dr. Daniel Volk (FDP) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Peter Aumer (CDU/CSU) Namentliche Abstimmung Ergebnis Tagesordnungspunkt 11: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaffung des Finanzplanungsrates (Drucksachen 17/983, 17/1465) Antje Tillmann (CDU/CSU) Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) Otto Fricke (FDP) Katja Kipping (DIE LINKE) Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Peter Götz (CDU/CSU) Angelika Krüger-Leißner (SPD) Tagesordnungspunkt 12: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Beschäftigte vor Arbeitslosigkeit schützen - Konditionen für Kurzarbeit verbessern (Drucksachen 17/523, 17/1446) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) Willi Brase (SPD) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) Jutta Krellmann (DIE LINKE) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Paul Lehrieder (CDU/CSU) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) Tagesordnungspunkt 13: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes (1. Telemedienänderungsgesetz) (Drucksachen 17/718, 17/995, 17/1219) Tagesordnungspunkt 14: a) Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Jan van Aken, Sevim Daðdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: VI. EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel in Madrid: Den Aufbruch zur zweiten Unabhängigkeit Latein-amerikas solidarisch unterstützen (Drucksache 17/1403) b) Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Dr. Hermann Ott, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Klimaschutz und gerechten Handel mit Lateinamerika und der Karibik voranbringen (Drucksache 17/1419) Heike Hänsel (DIE LINKE) Anette Hübinger (CDU/CSU) Klaus Barthel (SPD) Marina Schuster (FDP) Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 15: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes (Drucksachen 17/719, 17/996, 17/1257) Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Markus Kurth, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Europäische Antidiskriminierungspolitik unterstützen - 5. Gleichbehandlungsrichtlinie der EU nicht länger blockieren (Drucksache 17/1202) Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung "Deutsches Historisches Museum" (Drucksache 17/1400) Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) Dorothee Bär (CDU/CSU) Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD) Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 18: Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Initiative für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die europäische Schutzanordnung (inkl. 17513/09 ADD 1 und 17513/09 ADD 2) (ADD 1 und ADD 2 in Englisch) Ratsdok. 17513/09 (Drucksachen 17/720 Nr. A.7, 17/1461) Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) Dr. Eva Högl (SPD) Marco Buschmann (FDP) Raju Sharma (DIE LINKE) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 19: Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung (Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung) (Drucksache 17/1411) Tagesordnungspunkt 20: a) Antrag der Abgeordneten Martin Gerster, Sabine Bätzing, Gabriele Fograscher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Den Sport in Europa voranbringen (Drucksache 17/1406) b) Antrag der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Winfried Hermann, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sport in der Europäischen Union - Den Lissabon-Vertrag mit Leben füllen (Drucksache 17/1420) Martin Gerster (SPD) Joachim Günther (Plauen) (FDP) Jens Petermann (DIE LINKE) Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär BMI Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Den Europäischen Auswärtigen Dienst europäisch, handlungsfähig und modern gestalten (Drucksache 17/1204) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) Karl Holmeier (CDU/CSU) Dietmar Nietan (SPD) Oliver Luksic (FDP) Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Abgeordneten Gerold Reichenbach, Dr. Eva Högl, Gabriele Fograscher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Neues SWIFT-Abkommen nur nach europäischen Grundrechts- und Datenschutzmaßstäben (Drucksache 17/1407) Clemens Binninger (CDU/CSU) Gerold Reichenbach (SPD) Jimmy Schulz (FDP) Jan Korte (DIE LINKE) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schaffung eines Naturwalderbes vorbereiten und Moratorium für die Privatisierung von Bundeswäldern erlassen (Drucksache 17/796) Alois Gerig (CDU/CSU) Petra Crone (SPD) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) Sabine Stüber (DIE LINKE) Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Umgang mit Guan-tánamo-Häftlingen (Drucksache 17/1421) Nächste Sitzung Berichtigung Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Jörn Wunderlich (DIE LINKE) zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung des Finanzplanungsrates (Tagesordnungspunkt 11) Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes (1. Telemedienänderungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 13) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) Klaus Barthel (SPD) Claudia Bögel (FDP) Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE) Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes (Tagesordnungspunkt 15) Elvira Drobinski-Weiß (SPD) Dr. Erik Schweickert (FDP) Karin Binder (DIE LINKE) Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Julia Klöckner, Parl. Staatssekretärin BMELV Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Europäische Antidiskriminierungspolitik unterstützen - 5. Gleichbehandlungsrichtlinie der EU nicht länger blockieren (Tagesordnungspunkt 16) Norbert Geis (CDU/CSU) Markus Grübel (CDU/CSU) Christel Humme (SPD) Florian Bernschneider (FDP) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung (Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung) (Tagesordnungspunkt 19) Manfred Kolbe (CDU/CSU) Martin Gerster (SPD) Frank Schäffler (FDP) Richard Pitterle (DIE LINKE) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Umgang mit Guantánamo-Häftlingen (Zusatztagesordnungspunkt 5) Rüdiger Veit (SPD) Serkan Tören (FDP) Ulla Jelpke (DIE LINKE) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI 37. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 Beginn: 9.00 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Im Namen des ganzen Hauses möchte ich den Kollegen Lothar Binding und Dr. Diether Dehm nachträglich zu ihren 60. Geburtstagen Anfang April gratulieren und alles Gute wünschen. (Beifall) Die Kollegin Dr. Martina Krogmann hat am 1. April auf ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolger begrüße ich den Kollegen Hans-Werner Kammer. Herzlich willkommen! (Beifall) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zur Sicherheit im Luftverkehr ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zur Finanzierbarkeit der FDP-Steuerpläne (ZP 1 und 2 siehe 36. Sitzung) ZP 3 Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Ergänzung zu TOP 28 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Lisa Paus, Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Finanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einführen - Drucksache 17/1422 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der Forschungsinstitute für die Gemeinschaftsdiagnose gewährleisten - Drucksache 17/1424 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Umweltberichterstattung in die Gemeinschaftsdiagnose aufnehmen - Drucksache 17/1423 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Schlecht, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der Forschungsinstitute für die Gemeinschaftsdiagnose gewährleisten - Drucksache 17/1405 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gentechnisch veränderte Amflora-Kartoffel zuverlässig aus der Lebensmittel- und Futtermittelkette fernhalten - Drucksache 17/1410 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hilde Mattheis, Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Qualität und Transparenz in der Pflege konsequent weiterentwickeln - Pflege-Transparenzkriterien optimieren - Drucksache 17/1427 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Umgang mit Guantánamo-Häftlingen - Drucksache 17/1421 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 6 Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für Wirtschaft und Technologie Eine Wirtschaftspolitik für Wachstum und Arbeitsplätze Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Da heute als erster Tagesordnungspunkt eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin aufgerufen wird, verschiebt sich der dort ursprünglich vorgesehene Tagesordnungspunkt 3 an die Stelle des Tagesordnungspunktes 5. Dieser wird abgesetzt. Außerdem soll der Tagesordnungspunkt 24 abgesetzt werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, bitte ich Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben und zweier Ereignisse in der parlamentarischen Osterpause zu gedenken. (Die Anwesenden erheben sich) Meine Bitte gilt auch unseren Gästen auf den Tribünen, unter denen ich besonders den Botschafter der Republik Polen, Herrn Marek Prawda, begrüße. Der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sind tief erschüttert über den Absturz der polnischen Präsidentenmaschine in der Nähe von Smolensk am Morgen des 10. April 2010, bei dem alle Mitglieder der Delegation ums Leben kamen. Unter den 96 Opfern befanden sich der polnische Staatspräsident Lech Kaczynski und seine Ehefrau sowie zahlreiche hochrangige Repräsentanten des polnischen Staates und der Kirche. Auch die Vizepräsidentin des Senats und zwei Vizepräsidenten sowie weitere 15 unserer Kolleginnen und Kollegen des Sejm und des Senats zählen zu den Opfern. Mit vielen von ihnen haben wir über unsere Parlamente, ihre Ausschüsse und Gremien in den vergangenen Jahren eng zusammengearbeitet. Sie waren uns zu Partnern und Freunden geworden. Staatspräsident Kaczynski und seine Delegation waren auf dem Weg zu einer Gedenkfeier, um am Mahnmal von Katyn der fast 22 000 polnischen Offiziere und Intellektuellen zu gedenken, die 1940 von Spezialeinheiten des sowjetischen Geheimdienstes in einem Wald bei Katyn ermordet worden waren. Es ist besonders tragisch, dass diese Reise, die als Geste der Versöhnung zwischen Polen und Russland gedacht war, mit einer solchen Katastrophe endete. Die große Anteilnahme der internationalen Staatengemeinschaft und die Beteiligung am Staatsbegräbnis in Krakau belegen die Bedeutung und Wertschätzung, die Polen im Kreis der Demokratien der Welt genießt. Unser gemeinsames Ziel der Versöhnung der europäischen Völker und Nationen werden wir auch im Gedenken und Respekt für die Opfer des Unglücks von Smolensk mit umso größerem Ernst weiterführen. Der Deutsche Bundestag trauert mit dem polnischen Volk und teilt seinen Schmerz über den furchtbaren Unfalltod seines Staatsoberhauptes, seiner Ehefrau und der übrigen Mitglieder seiner Delegation. Wir drücken den Angehörigen der Toten und dem gesamten polnischen Volk unser tief empfundenes Mitgefühl und unser Beileid aus. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Bestürzung haben wir in den letzten Tagen erfahren müssen, dass am Karfreitag drei deutsche Soldaten in Afghanistan gefallen sind. Am vergangenen Donnerstag riss in der nordafghanischen Provinz Baghlan eine Sprengstofffalle der Taliban weitere drei unserer Soldaten in den Tod. Wenige Stunden später wurden Bundeswehrangehörige mit Hand- und Panzerabwehrwaffen beschossen. Dabei wurde ein deutsches Sanitätsfahrzeug getroffen und ein Militärarzt getötet. Wir beklagen inzwischen 43 gefallene deutsche Soldaten. Wir trauern um die Toten. Unsere Anteilnahme gilt den Angehörigen, unsere besondere Fürsorge gilt den Verletzten. Der Auftrag unserer Soldaten ist ein Beitrag zu unserer Sicherheit und unserer Freiheit, die in Zeiten des internationalen Terrorismus auch und gerade dort verteidigt werden müssen, wo dieser seine Rückzugsräume und Kommandozentralen hat. Der Deutsche Bundestag ist sich seiner besonderen Verantwortung für die Militäreinsätze bewusst, die bislang jeweils mit hohen parlamentarischen Mehrheiten beschlossen worden sind. Niemand unter den Abgeordneten macht sich seine Entscheidung leicht. Alle ernsthaften Einwände und Aspekte, die unter den Soldaten und in der Öffentlichkeit diskutiert werden, sind auch Gegenstand der parlamentarischen Beratung und Entscheidung. Aus guten Gründen entscheidet der Bundestag jeweils über ein befristetes Mandat. Dies gibt uns die Möglichkeit und verpflichtet uns zugleich, immer wieder neu Auftrag und Ziele im Lichte der Erfahrungen und Lageveränderungen zu überprüfen. Zur selbstkritischen Überprüfung der beschlossenen Einsätze gehört dabei auch, die direkten und indirekten Wirkungen eines beschleunigten Rückzugs auf Afghanistan und auch auf die internationale Staatengemeinschaft zu berücksichtigen. Über vierzig Staaten unterstützen Afghanistan auf dem Weg, für die eigene Sicherheit selbst Verantwortung zu übernehmen. Von diesem Ziel, ein stabiles, demokratisches afghanisches Staatswesen aufbauen zu helfen, darf sich die internationale Staatengemeinschaft nicht verabschieden. Diesem Auftrag fühlten sich auch unsere gefallenen Soldaten verpflichtet. Unter Einsatz ihres Lebens haben sie daran mitgewirkt, den Menschen in Afghanistan eine friedfertige Zukunft zu ermöglichen. Der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes verneigen sich vor den Toten. Den Hinterbliebenen und Angehörigen bekunden wir unser tiefes Mitgefühl. Den Verletzten wünschen wir eine schnelle und vollständige Genesung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, Sie haben sich zu Ehren der Opfer von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 unserer Tagesordnung auf: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Auch hierzu darf ich Einvernehmen feststellen. Dann ist das so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Übermorgen nehmen wir Abschied von vier deutschen Soldaten, die am letzten Donnerstag in Afghanistan gefallen sind. Wir nehmen Abschied von Thomas Broer, Marius Dubnicki, Josef Kronawitter und Jörn Radloff. Schon vor zwei Wochen mussten wir Abschied nehmen von Martin Augustyniak, Nils Bruns und Robert Hartert. Sie waren am Karfreitag in Afghanistan gefallen, ebenso wie sechs afghanische Soldaten. Sie alle sind gestorben, weil sie Afghanistan zu einem Land ohne Terror und Angst machen wollten. Ich spreche den Angehörigen, den Kameraden und Freunden mein tief empfundenes Mitgefühl aus. Ich tue dies im Namen der ganzen Bundesregierung und der Mitglieder dieses Hohen Hauses und für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Auch an die Verwundeten denken wir. Auch bei ihnen sind meine und unsere Gedanken und Sorgen. Wir wünschen ihnen baldige und vollständige Genesung. Anlässlich des Gelöbnisses von jungen Bundeswehrrekruten am Jahrestag des Stauffenberg-Attentats hat Altbundeskanzler Helmut Schmidt am 20. Juli 2008 vor dem Reichstag gesagt - ich zitiere -: Liebe junge Soldaten! Ihr habt das große Glück ..., einer heute friedfertigen Nation und ihrem ... rechtlich geordneten Staat zu dienen. Ihr müsst wissen: Euer Dienst kann auch Risiken und Gefahren umfassen. Aber ihr könnt euch darauf verlassen: Dieser Staat wird euch nicht missbrauchen. Ende des Zitats. Ja, dieser Staat, der im letzten Jahr 60 Jahre alt wurde und der in diesem Jahr 20 Jahre Wiedervereinigung feiern kann, verlangt von seinen Soldatinnen und Soldaten viel, sehr viel, wie wir gerade in diesen Tagen schmerzhaft erfahren müssen. Aber niemals wird er sie missbrauchen. Er stellt sie in den Dienst der freiheitlichen und demokratischen Werte dieses Landes. Die im Einsatz in Afghanistan gefallenen Soldaten haben wie alle ihre Kameraden, die als Berufssoldaten oder Soldaten auf Zeit tätig sind, einen Eid geleistet, diesen Eid: Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Ja, die im Einsatz gefallenen Soldaten, derer wir heute gedenken, haben der Bundesrepublik Deutschland treu gedient, indem sie einem Mandat folgten, das der Deutsche Bundestag in den letzten acht Jahren mit unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen auf Antrag von Bundesregierungen in unterschiedlicher Zusammensetzung immer wieder beschlossen hat. Dieses Mandat ist über jeden vernünftigen völkerrechtlichen oder verfassungsrechtlichen Zweifel erhaben. (Widerspruch bei der LINKEN) Es ruht auf den Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Es ist unverändert gültig. Unsere im Einsatz gefallenen Soldaten waren tapfer, weil sie ihren Auftrag, unser Recht und unsere Freiheit zu verteidigen, in vollem Bewusstsein der Gefahren für Leib und Leben ausgeführt haben. Tapferkeit - das haben zuerst sie und ihre Angehörigen, aber dann auch wir alle schmerzhaft erfahren müssen - ist ohne Verletzbarkeit nicht denkbar. Jeder einzelne gefallene Soldat verpflichtet deshalb uns alle, sorgsam mit seinem Andenken umzugehen. Unser Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel hat die drei Toten des Karfreitags zurück nach Deutschland begleitet. Unser Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg ist unmittelbar nach dem Gefecht der vergangenen Woche zurück nach Masar-i-Scharif geflogen. Ich bin vor zwei Wochen nach Selsingen zur Trauerfeier gefahren, und ich werde am Samstag gemeinsam mit dem Bundesaußenminister und dem Bundesverteidigungsminister in Ingolstadt sein. Wir alle haben das nicht allein als Regierungsmitglieder getan, wir tun es auch - wie viele andere aus diesem Hohen Hause - als Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Denn auch als Abgeordnete haben wir diesen Einsatz beschlossen und damit die Verantwortung dafür übernommen, was mit unseren Soldatinnen und Soldaten geschieht. Das, was unsere toten Soldaten für uns getan haben, hat im Mittelpunkt unseres öffentlichen Andenkens zu stehen. Ich habe es in den letzten Tagen und Wochen häufiger gesagt und wiederhole es heute: Dass die meisten Soldatinnen und Soldaten das, was sie in Afghanistan täglich erleben, Bürgerkrieg oder einfach nur Krieg nennen, das verstehe ich gut. Wer täglich fürchten muss, in einen Hinterhalt zu geraten oder unter gezieltes Feuer zu kommen, der denkt nicht in juristischen Begrifflichkeiten. Wer so etwas erlebt, der fürchtet vielmehr, dass derjenige, der völkerrechtlich korrekt vom nicht internationalen bewaffneten Konflikt spricht, die Situation zu verharmlosen versucht. Deshalb sage ich ganz deutlich: Niemand von uns verharmlost; niemand von uns - ob er im Deutschen Bundestag für oder gegen diesen Einsatz gestimmt hat - verharmlost das Leid, das dieser Einsatz bei unseren Soldaten und ihren Familien, aber auch bei Angehörigen unschuldiger ziviler afghanischer Opfer hinterlässt. Am 10. Februar dieses Jahres hat Bundesaußenminister Guido Westerwelle für die Bundesregierung vor diesem Hohen Haus erklärt - ich zitiere -: Die Intensität der mit Waffengewalt ausgetragenen Auseinandersetzung mit Aufständischen und deren militärischer Organisation führt uns zu der Bewertung, die Einsatzsituation von ISAF auch im Norden Afghanistans als bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts zu qualifizieren. Das, meine Damen und Herren, ist das, was landläufig als kriegerische Handlung oder Krieg bezeichnet wird. Jedem Mitglied dieses Hauses, das sich ernsthaft mit dieser Frage beschäftigt hat - und das unterstelle ich jedem von uns -, war dies vor der Abstimmung über das aktuelle Mandat bewusst. Wir können von unseren Soldaten nicht Tapferkeit erwarten, wenn uns selbst der Mut fehlt, uns zu dem zu bekennen, was wir beschlossen haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In einem Interview, das am letzten Sonntag in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen ist, hat Hauptfeldwebel Daniel Seibert minutiös ein Gefecht beschrieben, in das er am 4. Juni des letzten Jahres geriet. Auf die Frage, ob er selbst in diesem Gefecht geschossen und einen Menschen getötet hat, antwortet er - ich zitiere -: Ich habe ihn erschossen. Er oder ich, darum ging es in diesem Fall. (Zuruf von der LINKEN) Daniel Seiberts Handeln während des Gefechts war es zu verdanken, dass ein Spähtrupp aus einem Hinterhalt der Taliban befreit werden konnte. Hauptfeldwebel Seibert wurde für Tapferkeit ausgezeichnet. Das bedeutet ihm, wie er in dem Interview weiter ausführt, nicht viel. Wichtiger seien ihm Anerkennung und Respekt für die Härte seines Einsatzes, Anerkennung und Respekt von uns allen, von allen Bürgerinnen und Bürgern, Respekt für ihn und alle Soldaten, die in Extremsituationen ihres Lebens kommen, die wir uns in Deutschland kaum oder gar nicht vorstellen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises am 10. Dezember des letzten Jahres hat der amerikanische Präsident Barack Obama gesagt - ich zitiere -: Ja, die Mittel des Krieges spielen eine Rolle in der Erhaltung des Friedens. Und doch muss diese Wahrheit neben einer anderen bestehen, nämlich der, dass Kriege menschliche Tragödien bedeuten, wie gerechtfertigt sie auch immer sein mögen. Der Mut des Soldaten ist ruhmreich, ein Ausdruck der Aufopferung für sein Land, für die Sache und für seine Waffenbrüder. Doch der Krieg selbst ist niemals ruhmreich, und wir dürfen ihn niemals so nennen. In anderen Worten: Wir müssen das Leid beim Namen nennen. 43 deutsche Soldaten haben seit Beginn unseres Einsatzes ihr Leben in Afghanistan verloren. 24 von ihnen sind durch sogenannte Feindeinwirkung und im Kampf gefallen. Unbeteiligte Menschen haben ihr Leben verloren - auch infolge deutschen Handelns, wie beim Luftschlag in Kunduz am 4. September vergangenen Jahres. Jeder Tod beendet nicht nur ihr Leben, er trifft auch immer gelebte zwischenmenschliche Nähe, Liebe, Hoffnungen und Träume. Deshalb ist es wieder und wieder wichtig, dass wir uns klarmachen, warum wir junge Frauen und Männer in ein fernes Land schicken, wo ihre Gesundheit an Körper und Seele und ihr Leben immer wieder in Gefahr sind. (Zuruf von der LINKEN: Ja, warum denn?) Es ist wieder und wieder wichtig, dass wir Politiker die Tatsachen klar benennen. Es ist wieder und wieder wichtig, sich auch als Mitglieder der Bundesregierung und als Abgeordnete zu den menschlichen Zweifeln zu bekennen, die jeder von uns schon hatte oder hat: die Zweifel, ob dieser Kampfeinsatz in Afghanistan tatsächlich unabweisbar ist. Erst wenn wir uns diesen Zweifeln stellen, können wir den Einsatz glaubhaft verantworten. So jedenfalls geht es mir. Dennoch - und so stehe ich wie die große Mehrheit dieses Hauses hinter diesem Einsatz. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegen den Willen der Bevölkerung!) Dass afghanische Frauen heute mehr Rechte als früher haben, dass Mädchen zur Schule gehen dürfen, dass Straßen gebaut werden und dass vieles, vieles mehr geschafft wurde, ist das Ergebnis unseres Einsatzes in Afghanistan. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Das lohnt sich, und das ist mancher Mühe wert. Dadurch alleine könnte der Einsatz unserer Soldaten dort aber nicht gerechtfertigt werden. In so vielen anderen Ländern dieser Welt werden die Menschenrechte missachtet, werden Ausbildungswege verhindert, sind Lebensbedingungen katastrophal - und trotzdem entsendet die internationale Gemeinschaft keine Truppen, um sich dort militärisch zu engagieren. Nein, in Afghanistan geht es noch um etwas anderes. Der berühmte Satz unseres früheren Verteidigungsministers Peter Struck bringt das für mich auf den Punkt. Er sagte vor Jahren: Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD - Lachen bei der LINKEN - Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das wird auch nach Jahren nicht besser! - Weiterer Zuruf von der LINKEN: Das ist ein Mythos!) Bis heute hat niemand klarer, präziser und treffender ausdrücken können, worum es in Afghanistan geht. Bislang ist diesem Satz aber vielleicht noch nicht eine ausreichende Debatte darüber gefolgt, was genau es bedeutet, wenn wir sagen: Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt. (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Er hat "Freiheit" gesagt! Freiheit!) Unsere Sicherheit, in einem freien Rechtsstaat leben zu können, wird heute von Entwicklungen gefährdet, die weit außerhalb unserer Grenzen entstehen können. Das ist an sich keine neue Entwicklung, aber in Zeiten der Globalisierung hat es eine neue Qualität erlangt. Der internationale Terrorismus und die von ihm ausgehende sogenannte asymmetrische Bedrohung durch Menschen, denen ihr eigenes Leben nichts bedeutet - dies ist eine der großen Schattenseiten der Globalisierung. Doch sowenig man die Globalisierung abschaffen kann - was ich nicht will, was aber auch gar nicht ginge, selbst wenn man es wollte -, so wenig dürfen wir in unseren Anstrengungen nachlassen, den Gefahren für das Recht, die Sicherheit und die Freiheit unseres Landes dort zu begegnen, wo sie entstehen. Es ist müßig und an dieser Stelle auch völlig unnötig, darüber zu diskutieren, in welchem Zusammenhang die historischen Ereignisse der Jahre 1989 und 1990, die zum Ende des Kalten Krieges geführt haben, auch mit dem ebenfalls 1989 abgeschlossenen Abzug der sowjetischen Soldaten aus Afghanistan stehen könnten. Diese Diskussion kann und will ich hier nicht führen, aber etwas anderes steht fest, und zwar, dass Afghanistan durch den Sieg der Taliban Jahre später zur Heimstatt internationaler Terrororganisationen wie al-Qaida gemacht wurde. Die Terrorangriffe des 11. September hatten ihre Wurzeln in den Ausbildungslagern der al-Qaida im von den Taliban beherrschten Afghanistan. Aus ihnen sind die Attentäter von New York und Washington und später die von London und Madrid unerkannt hervorgegangen. Viele dieser Gruppen haben unerkannt unter uns gelebt. Ja, sie haben inzwischen auch bei uns in Deutschland verheerende Anschläge geplant. Wir hatten bisher lediglich das Glück, sie noch rechtzeitig verhindern zu können. Es wäre jedoch ein Trugschluss, zu glauben, Deutschland wäre nicht im Visier des internationalen Terrorismus. Die Anschläge des 11. September haben uns ahnen lassen, was sich mittlerweile bestätigt hat: dass sich unter den Bedingungen der Globalisierung die Herausforderungen an unsere Sicherheitspolitik nach dem Ende des Kalten Krieges drastisch gewandelt haben. Es wird in Zukunft weit weniger als bisher um Konflikte zwischen Staaten gehen. Es sind die asymmetrischen Konflikte, die unsere sicherheitspolitische Zukunft dominieren werden. Es sind Taliban und ihre Verbündeten in Afghanistan, die sich hinter Stammes- und Dorfstrukturen unerkannt verstecken und damit selbst hinter Frauen und Kindern, um dann mit militärischen Mitteln zuzuschlagen. Es sind Piraten vor der Küste Somalias, die mit räuberischen Attacken unsere Handelswege in Gefahr bringen. Es sind die Gefahren, die nicht dem klassischen, dem gewohnten Muster von Konflikten und Kriegen entsprechen, die auch aus weiter Entfernung in Windeseile direkt zu uns gelangen können. Dennoch: Es ist und bleibt zunächst nicht eine militärische Aufgabe, dieser Bedrohung zu begegnen, ganz im Gegenteil: Der Einsatz der Bundeswehr ist und bleibt nur Ultima Ratio. (Widerspruch bei der LINKEN) Er kann stets nur das äußerste Mittel sein, streng gebunden an Völker- und Verfassungsrecht. Deutschland übt sich auch aufgrund seiner Geschichte nicht nur in Afghanistan in militärischer Zurückhaltung. Ich sage: Deutschland übt sich aus gutem Grund in militärischer Zurückhaltung. Militärische Zurückhaltung und der Einsatz militärischer Mittel als Ultima Ratio - das ist Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland, und zwar verbunden mit der politischen Verantwortung, die wir aufgrund unserer wirtschaftlichen Stärke, unserer geografischen Lage im Herzen Europas wie auch als Mitglied unserer Bündnisse wahrnehmen. Wir sind eingebunden in die Partnerschaft mit den Verbündeten in der Europäischen Union und der NATO. Alleine vermögen wir wenig bis nichts auszurichten. In Partnerschaften dagegen schaffen wir vieles. Seit 1990, also seit der Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges, ist unser Land einen beachtlichen Weg gegangen. (Zuruf von der LINKEN: Ja!) Im Rahmen der Wiedervereinigung haben wir den Aufbau einer Bundeswehr geschafft, die seit 1990 das gesamte Bundesgebiet umfasst, also auch das Gebiet der früheren DDR. Schritt für Schritt hat Deutschland international Verantwortung gemeinsam mit unseren Verbündeten in der NATO, in der europäischen Sicherheitspolitik und im Auftrag der Vereinten Nationen auch außerhalb des Bündnisgebietes übernommen. War es unter den Bedingungen des Kalten Krieges noch völlig undenkbar, so stand die Bundeswehr wenige Jahre nach der deutschen Einheit bereits als Teil von Friedenstruppen in Somalia oder auf dem Balkan. 1999 erfolgte die Beteiligung Deutschlands am Einsatz im Kosovo. Ohne Zweifel, es sind diese Einsätze im Ausland, die heute den Auftrag, die Struktur und den Alltag der Bundeswehr wesentlich bestimmen. (Widerspruch bei der LINKEN) Zurzeit beteiligt sich Deutschland mit rund 6 600 Soldatinnen und Soldaten an elf Missionen. Deutsche Soldatinnen und Soldaten sind in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, im Sudan, vor der Küste des Libanon, im Mittelmeer und in Afghanistan im Einsatz. Die rechtliche Absicherung dieser Auslandseinsätze ist in mehreren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts erfolgt. Sie finden statt auf dem Boden von Mandaten des Deutschen Bundestages. Mit ihnen wird über die Abgeordneten ein wichtiges Zeichen für die Verbindung der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes mit unseren Soldatinnen und Soldaten gesetzt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der LINKEN: 70 Prozent sind dagegen!) Dies ist wichtiger denn je. Denn die Bundeswehr wird ihren Auftrag nur dann erfüllen können, wenn sie sich auf den nötigen Rückhalt in der Gesellschaft verlassen kann (Zurufe von der LINKEN: Das kann sie aber nicht!) und wenn dieser Rückhalt auch sichtbar wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auf der Grundlage dieses rechtlichen Rahmens für unsere Bundeswehr sage ich unmissverständlich: Zum Einsatz der Bundeswehr im multilateralen Rahmen wie den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und der Nato sind wir bereit, wenn er dem Schutz unserer Bevölkerung oder dem unserer Verbündeten dient. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Nehmen Sie sich mal ein Beispiel an Kanada!) Wer deshalb heute den sofortigen, womöglich sogar alleinigen Rückzug Deutschlands unabhängig von seinen Bündnispartnern aus Afghanistan fordert, der handelt unverantwortlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Nicht nur würde Afghanistan in Chaos und Anarchie versinken, auch die Folgen für die internationale Gemeinschaft und ihre Bündnisse, in denen wir Verantwortung übernommen haben, und für unsere eigene Sicherheit wären unabsehbar. Die internationale Gemeinschaft ist gemeinsam hineingegangen; die internationale Gemeinschaft wird auch gemeinsam hinausgehen. Handelte sie anders, wären die Folgen - das ist meine Überzeugung - weit verheerender als die Folgen der Anschläge vom 11. September 2001. Dies zeigt allein ein Blick auf die Landkarte: Afghanistan hat in seiner unmittelbaren Nachbarschaft die Nuk-learmacht Pakistan. Wir müssen davon ausgehen, dass ein weiterer unmittelbarer Nachbar Afghanistans, der Iran, alles unternimmt, um Nuklearmacht zu werden. Vor einigen Tagen habe ich zusammen mit vielen Staats- und Regierungschefs auf Einladung des amerikanischen Präsidenten Barack Obama am Nukleargipfel in Washington teilgenommen. Wir waren uns einig: Der Atomterrorismus gehört zu den größten Bedrohungen für die Sicherheit der Welt. Organisationen wie al-Qaida versuchen, in den Besitz von Nuklearwaffen zu kommen oder nukleares Material zu erlangen, um damit als sogenannte schmutzige Bomben nuklear angereicherte konventionelle Waffen zu bauen. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Was hat das mit Afghanistan zu tun?) Besonders gefährlich ist die Situation in Pakistan, Afghanistans östlichem Nachbarn. Die Lage dort ist heute schon sehr fragil. Gingen wir nicht ganz konsequent die nukleare Abrüstung an, wie wir es uns in Washington vorgenommen haben, und verließen wir planlos Afghanistan, würde die Gefahr erheblich steigen, dass Nuk-learwaffen und Nuklearmaterial in die Hände von extremistischen Gruppen gelangen könnten. Dies muss verhindert werden, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir dürfen niemals vergessen, worum es für uns in Afghanistan geht: Es geht nicht um einen Konflikt zwischen sogenanntem Abendland und Morgenland, es geht nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam. Ein Im-Stich-Lassen der moderaten muslimischen Kräfte in Afghanistan durch einen überstürzten oder gar alleinigen Abzug wäre nur eines: eine Ermutigung für alle Extremisten, die weit über Afghanistan und seine Nachbarn hinausginge. Deshalb kann gar nicht oft genug gesagt werden: Es geht um die Sicherheit Deutschlands, die Sicherheit Europas, die Sicherheit unserer Partner in der Welt, die auch am Hindukusch verteidigt wird. Die Partner der internationalen Gemeinschaft wissen, dass wir Afghanistan nicht zu einer Demokratie nach westlichem Vorbild machen können. Darum hat es auch gar nicht zu gehen. Etwas mehr als acht Jahre nach Beginn des Einsatzes müssen wir feststellen - ich sage dies durchaus auch selbstkritisch und ohne jede Schuldzuweisung gegen irgendjemanden -: Es gab manche Fortschritte, es gab zu viele Rückschritte, und unsere Ziele waren zum Teil unrealistisch hoch oder sogar falsch. (Zuruf von der LINKEN: Der Krieg war falsch, von Anfang an!) Es ist deshalb in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug einzuschätzen, dass auf der Londoner Afghanistan-Konferenz vor gut drei Monaten gemeinsam mit der neuen afghanischen Regierung wichtige neue Weichenstellungen unseres bisherigen Vorgehens in Afghanistan vorgenommen wurden. (Widerspruch bei der LINKEN) Es wurde die Strategie der vernetzten Sicherheit verabschiedet, in der die Sicherheitspolitik und die Entwicklungspolitik eng miteinander verbunden sind. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Großer Fehler! Ganz großer Fehler!) Die Londoner Strategie schließt alle politischen Kräfte Afghanistans ein. Ja, es ist ein Angebot auch an diejenigen unter den Taliban und den Aufständischen, die bereit sind, Gewalt und Terror abzuschwören. Es ist ein Angebot an alle, die sich am Aufbau einer guten Zukunft ihres Landes beteiligen wollen. Die Londoner Strategie sieht vor, die afghanischen Sicherheitskräfte so auszubilden, dass sie schnellstmöglich in die Lage versetzt werden, für die Sicherheit und Stabilität ihres Landes selbst zu sorgen. Bereits 2011 wollen wir mit der Übergabe in Verantwortung beginnen. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Mit mehr Soldaten!) Die Londoner Strategie stimmt unsere Aufbau- und Ausbildungsleistung mit den Entwicklungsmaßnahmen unserer Partner genau ab. Die Londoner Strategie hat ausdrücklich eine regelmäßige Überprüfung von Benchmarks, Zielen und Maßnahmen festgelegt. Eine erste Bilanz wird die nächste Konferenz am 20. Juli in Kabul ziehen, an der der Bundesaußenminister teilnehmen wird. (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) In einem Wort: Die Londoner Strategie schafft die Voraussetzungen für eine Übergabe in Verantwortung. Darum, um eine Übergabe in Verantwortung, hat es der internationalen Staatengemeinschaft zu gehen, nicht um einen Abzug in Verantwortungslosigkeit wie auch nicht um den Versuch, Afghanistan zu einer Demokratie nach westlichem Vorbild zu machen. Das missachtete entweder unsere eigenen Sicherheitsinteressen, oder es wäre zum Scheitern verurteilt, weil es die kulturellen, historischen und religiösen Traditionen der afghanischen Gesellschaft unberücksichtigt ließe. Es ist wahr: Die Traditionen der Stammesversammlungen und der Loya Jirga in Afghanistan sind uns nicht vertraut, sondern fremd. Aber wahr ist auch: Sie sind eine eigene afghanische Tradition der konsensorientierten Entscheidungsfindung, die auf ihre Weise Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit ermöglichen kann. Nicht nur aufgrund meiner eigenen Erfahrung in der DDR halte ich den Rechtsstaat für die größte zivilisatorische Errungenschaft der Menschheit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD - Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Müssen Sie auch das noch bemühen?) Rechtsstaatlichkeit - das meint nicht nur, aber zunächst die Freiheit der Menschen von Willkür und Unterdrückung, von Anarchie und Chaos, von einer Situation, in der jeder in der ständigen Angst leben muss, verfolgt oder getötet zu werden. Erst wenn den Menschen diese permanente Angst genommen wird, erst wenn der Staat in der Lage ist, das elementare Bedürfnis seiner Bevölkerung nach Sicherheit zu erfüllen, erst dann gewinnen Menschen auch den Freiraum, ja die Freiheit, sich dem Aufbau ihres Landes zu widmen, ihrer Bildung, ihrer Wirtschaft, ihrem sozialen Ausgleich. Es ist die vornehme Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft, Afghanistan beim Aufbau einer solchen Ordnung zu unterstützen, und zwar weil das unserer eigenen Sicherheit dient. Das ist der Auftrag, den die NATO und ihre Verbündeten, also auch die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, dort erfüllen. Es ist richtig: Sicherheit kann es auf Dauer nicht ohne Entwicklung geben; aber genauso richtig ist: Sicherheit ist die Voraussetzung jeder Entwicklung und die Voraussetzung dafür, dass sich in einem Land wie Afghanistan nicht wieder Brutstätten des internationalen Terrorismus bilden, die uns in Europa und der Welt bedrohen können. Das eine ist die Voraussetzung des anderen. Die internationale Gemeinschaft wird ihre militärische Präsenz so lange aufrechterhalten, wie es nötig ist, nicht länger, aber auch nicht kürzer. Unser Einsatz ist nicht auf Dauer angelegt, aber auf Verlässlichkeit. Das ist der Kern der Übergabe in Verantwortung, die wir in London eingeleitet haben und die wir erfolgreich beenden werden. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Durchhalteparole!) Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die 43 Soldaten, die in ihrem Einsatz für Deutschland in Afghanistan ihr Leben verloren haben, haben den höchsten Preis gezahlt, den ein Soldat zahlen kann. Sie haben uns Deutsche mit davor beschützt, dass wir in Zeiten der globalen Dimension unserer Sicherheit im eigenen Land Opfer von Terroranschlägen werden. (Zuruf von der LINKEN: Unglaublich!) Alle Soldaten, die in Afghanistan Dienst tun, verdienen unsere Solidarität und unser Mitgefühl. Sie leben ständig in Angst, verletzt oder getötet zu werden. Sie leben in dieser Angst, damit wir zu Hause in Deutschland nicht Angst haben müssen. Dafür gebühren ihnen unser Dank, unsere Hochachtung und unsere Unterstützung. Herzlichen Dank. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Sigmar Gabriel (SPD): Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Meine Damen und Herren! Wie alle hier trauern die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und die SPD-Bundestagsfraktion um die verletzten und getöteten deutschen Soldaten, die in den vergangenen Wochen Opfer hinterhältiger Anschläge und Angriffe in Afghanistan wurden. Wir erinnern uns zugleich an die früheren Opfer, übrigens auch unter den zivilen Aufbauhelfern, in Afghanistan. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen und Familien. Und doch - das weiß ich jedenfalls und wissen sicher viele von uns -: Niemand von uns kann das Leid der Angehörigen und Freunde wirklich nachempfinden, und nichts kann den Verlust des Ehemanns, des Lebenspartners, des Freundes, des Vaters, des Sohnes, des Bruders oder des Enkels ungeschehen machen. Auch wenn wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages heute noch einmal und sicher nicht zum letzten Mal über den Sinn des Afghanistan-Einsatzes beraten und ihn begründen: Kein Wort und keine Erklärung von uns werden die Angehörigen, Familien und Freunde wirklich trösten können. Wir debattieren heute erneut eine Regierungserklärung, weil wir zu Recht immer wieder darüber beraten müssen, ob die Gründe, die uns, jedenfalls die übergroße Mehrheit dieses Parlaments, zu diesem Auslandseinsatz der Bundeswehr bewogen haben, wirklich so wichtig, so fundamental und so tragfähig sind, dass wir bereit sind, das Leben anderer zu gefährden. Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sind nicht freiwillig in Afghanistan. (Zuruf von der LINKEN: Genau so ist es!) Sie leisten dort Dienst, weil dieses Parlament es so beschlossen hat. Deshalb haben sie zuallererst Anspruch auf Solidarität, Unterstützung und natürlich auch auf den Respekt vor ihrem Mut und ihrer Tapferkeit in einem ebenso schwierigen wie gefährlichen Einsatz. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Über jeden dieser Einsätze wurde hier im Deutschen Bundestag mit großer Ernsthaftigkeit debattiert, was deutlich macht: Wenn es um Leib und Leben von Menschen geht, die im Auftrag der Bundesregierung und auf Beschluss des Bundestages einen militärischen Einsatz durchführen, dann stehen wir alle als Mitglieder des Parlaments in einer besonderen Verantwortung, die wir nicht delegieren können, weder an dem Tag, an dem wir entscheiden, noch in den Wochen und Monaten und Jahren danach. Aber wir sind als Demokraten zugleich verpflichtet, den Kolleginnen und Kollegen, die einem solchen Einsatz nicht zustimmen können, unseren Respekt nicht zu versagen. Das gilt umgekehrt übrigens genauso. Natürlich kommen vielen von uns angesichts von schwer verwundeten und getöteten Soldaten und Zivilisten in Afghanistan, angesichts des Leids in den betroffenen Familien und unserer Hilflosigkeit ihnen gegenüber immer wieder Zweifel, ob wir eigentlich das Richtige tun. Warum sage ich das zu Beginn? Weil wir gut daran tun, diese Zweifel auch im Deutschen Bundestag zuzulassen. Sie zwingen uns immer wieder dazu, die Frage nach der Rechtfertigung der Gefährdung von Menschenleben, egal ob es Deutsche, Afghanen oder Verbündete sind, zu überprüfen und zu beantworten. Sind unsere Begründungen und die der Vereinten Nationen zutreffend? Sind vor allem unsere gesetzten Ziele in Afghanistan realistisch und erreichbar? Ganz offensichtlich - machen wir uns nichts vor! - überzeugen wir die Mehrheit der Deutschen derzeit nicht von unseren Begründungen und Zielen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!) Wir müssen erkennen: Dieser Afghanistan-Einsatz löst zunehmend Befürchtungen aus, und mit jedem verletzten und getöteten Soldaten schwinden offensichtlich Akzeptanz und Rückhalt in unserer Bevölkerung. Seit ihrer Gründung hat die Bundesrepublik einen tiefen und wirklich umfassenden politischen, kulturellen und sozialen Wandel durchlebt. Unser Land ist durch und durch zivil, dem Frieden verpflichtet, ist eine wirklich zivile Gesellschaft geworden. Auslandseinsätze der Bundeswehr sind zwar seit über 15 Jahren keine Neuheit mehr, aber immer noch keine Selbstverständlichkeit - und ich sage: Das muss auch so bleiben. (Beifall bei der SPD) In Deutschland werden Berichte über getötete und gefallene deutsche Soldaten und Zivilisten nie als Normalität und mit Gleichgültigkeit aufgenommen - auch das muss so bleiben. Wir dürfen uns an getötete Soldaten ebenso wenig gewöhnen wie an die Toten in der Zivilbevölkerung. Die Fähigkeit und die Bereitschaft kollektiver Anteilnahme sind auch eine Lehre aus der deutschen Geschichte. Sie zeichnen unser heutiges Deutschland als Zivilgesellschaft aus. Darauf können wir zuallererst einmal stolz sein. (Beifall bei der SPD) Aber umso mehr ist die Unterstützung der Mehrheit in unserer Bevölkerung das Entscheidende für den Einsatz einer Parlamentsarmee. Denn bleibt es beim schwindenden Zutrauen unserer Bevölkerung in unsere Entscheidungen im Parlament, dann ahnen und wissen doch auch die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan, dass ihr Einsatz am Ende auf wackeligen Füßen steht. Neben allen Solidaritätsbekundungen für die Soldaten der Bundeswehr muss es uns Abgeordneten, die wir den Einsatz beschlossen haben und ihn weiterhin für richtig halten, vor allem darum gehen, die Unterstützung der Mehrheit unserer Bevölkerung für den Einsatz zurückzugewinnen. Das ist für die Soldatinnen und Soldaten die eigentliche Rückendeckung, nicht nur Erklärungen im Parlament. (Beifall bei der SPD) Die SPD - und die sozialdemokratische Bundestagsfraktion - ist in ihrer großen Mehrheit davon überzeugt, dass die Beteiligung Deutschlands am militärischen Einsatz im Auftrag der Vereinten Nationen in Afghanistan weiterhin gerechtfertigt und notwendig ist; (Zuruf von der LINKEN: So kennen wir Sie!) denn unter dem Schutz der radikal-islamischen Taliban hatte das Terrornetzwerk al-Qaida von Afghanistan aus die monströsen Anschläge mit Tausenden Toten geplant und durchgeführt. Nach nicht einmal drei Monaten waren das Taliban-Regime gestürzt, die Al-Quaida-Terroristen vertrieben und die Ausbildungslager zerstört. Jetzt geht es darum, Afghanistan eben nicht wieder zu einem Rückzugsgebiet für international operierende Terroristen werden zu lassen. Fest steht: In den ersten Jahren des Einsatzes hat es unbestritten große Erfolge beim Wiederaufbau gegeben. (Zuruf von der LINKEN: Welche?) Fest steht aber auch: Spätestens seit 2006 hat sich die Situation in Afghanistan deutlich verändert. Die Taliban sind wieder erstarkt, ihr Rückhalt in der Bevölkerung wächst. Sie beherrschen weite Teile des Landes, sie verwickeln die internationalen Truppen in einen asymmetrischen Konflikt mit Selbstmordattentaten, Sprengfallen und Hinterhalten. Nicht nur in Deutschland - das ist wichtig, auch bei uns zu registrieren -, auch in den USA und anderen Staaten, die Truppen nach Afghanistan entsandt haben, macht sich eine wachsende Skepsis breit, ob denn der militärische Einsatz wirklich die gewünschte Sicherheit und Stabilität in Afghanistan bewirken kann. Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes wollen von uns wissen, wie es in Afghanistan weitergehen soll, welche Ziele wir dort eigentlich verfolgen, warum deutsche Soldaten dort immer noch eingesetzt werden, wofür sie ihr Leben riskieren und 43 von ihnen bereits ihr Leben verloren haben. Wir Sozialdemokraten haben mit großer Mehrheit dem neuen Bundestagsmandat zugestimmt, weil wir der Überzeugung sind, dass ein Abbruch des UN-Einsatzes mit weit mehr Gefahren und Menschenleben bezahlt werden würde, als das im aktuellen Einsatz der Fall ist und sein kann. Nicht nur die durchaus in vielen Bereichen erreichte Freiheit und das Leben vieler Afghanen würden wieder gefährdet; die Rückkehr des Terrornetzwerkes in ein weiter destabilisiertes Afghanistan würde am Ende natürlich auch viele andere Länder der Welt, auch die Menschen in Deutschland, erneut und zusätzlich bedrohen. Man muss nun wirklich kein allzu großer Pessimist sein, um sich dramatische Sorgen um die Entwicklung in Pakistan zu machen, einem Land, das bereits heute unter enormen Druck steht und in dem sich Atomwaffen befinden. Es geht also bei dem Einsatz der Vereinten Nationen - wir tun in der öffentlichen Debatte manchmal so, als sei es ein Einsatz der Bundeswehr - weiterhin um die Verhinderung der Destabilisierung des Weltfriedens. Das ist die Begründung für den Einsatz der Vereinten Nationen. Wir sind gebeten worden, uns daran zu beteiligen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Man kann nicht öffentlich die Forderung erheben, militärische Gewalt zum Schutz von Menschen dürfe nur durch die Vereinten Nationen eingesetzt werden, sich dann aber der Debatte entziehen, wenn die Vereinten Nationen das tun. Deswegen stehen wir zu diesem Auftrag der Vereinten Nationen. Aber wir haben in dem Beschluss auch dafür gesorgt, dass es in Afghanistan zu einem Strategiewechsel kommt. Die Bundesregierung ist dem gefolgt. Deshalb haben wir zugestimmt. Der Einstieg in eine verantwortungsvolle Perspektive für den Abzug aus Afghanistan, der 2011 beginnen soll und im Zeitraum 2013 bis 2015 die Sicherheitslage in Afghanistan durch afghanische Kräfte, nicht durch internationale Truppen sicherstellen soll, die Verdopplung des zivilen Engagements in Afghanistan, mehr Ausbildung für die afghanischen Sicherheitskräfte, die stärkere Unterstützung des innerafghanischen Versöhnungsprozesses und noch mehr Sorgfalt beim Schutz der zivilen Bevölkerung - das waren und sind die zentralen Gründe, warum wir Sozialdemokraten der Mandatsverlängerung vor wenigen Wochen zugestimmt haben und zu dieser Zustimmung stehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Eine Bundesregierung, Frau Bundeskanzlerin, die sich diesem Mandat und der damit verbundenen verantwortungsvollen Abzugsperspektive verpflichtet fühlt, kann sich auf unsere Zustimmung verlassen. Was uns eher Sorge macht, ist, ob die Bundesregierung eine gemeinsame Vorstellung von dem hat, was die Bundeswehr dort leisten soll. Frau Bundeskanzlerin, genauso wie Sie verstehe und akzeptiere ich, dass Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan und auch die Menschen in unserer Bevölkerung angesichts der dramatischen Lage in weiten Teilen Afghanistans nichts von politischer Semantik halten. Ich verstehe, dass die Menschen mit dem technokratischen Begriff "nicht internationaler bewaffneter Konflikt" nichts anfangen können, wenn sie den Alltag beschreiben sollen. Aber so sehr ich Emotionen respektiere, gerade auch die der Soldatinnen und Soldaten, die dort täglich mutig ihren Dienst tun: In einer so elementaren Frage müssen wir Politiker mehr sein als ein Echolot öffentlicher Gefühle. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU]) Ich verlange von einer Bundesregierung, dass sie mit einer verantwortungsvollen und klaren Stimme spricht und nicht Außen- und Verteidigungsminister für unterschiedliche Interpretationen sorgen. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben vorhin den Begriff "Krieg" erläutert. Ich lese Ihnen einmal vor, was Ihr Außenminister zu den Aufforderungen Ihres Verteidigungsministers, diesen Einsatz "Krieg" zu nennen, am letzten Wochenende wörtlich gesagt hat. Auf die Frage: Aber warum reden dann so viele in Berlin von Krieg - bis hin zur Kanzlerin? antwortet Herr Westerwelle: ... Krieg ist traditionell eine militärische Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehr Staaten mit der Absicht der Eroberung oder Unterdrückung. Das ist in Afghanistan erkennbar nicht der Fall. (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Da hat er recht!) Ich stimme Ihrem Außenminister zu. Er hat recht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP) Aber wenn er recht hat, dann passen Sie angesichts Ihrer Kriegsrhetorik bei der Benutzung des Begriffes "Krieg" auf. Ihre eigenen Leute kommen auf wirklich absurde Gedanken, zum Beispiel wenn dazu aufgefordert wird, wir sollten Leopard-Kampfpanzer nach Afghanistan schicken, damit die Taliban einmal in diese furchterregenden Rohre schauen. (Beifall bei der SPD - Widerspruch bei der FDP) - Ich kann nichts dafür, dass in Ihrer Koalition solche Debatten geführt werden. Ich stimme dem Bundesaußenminister ausdrücklich zu. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Außerdem dürfen wir der Delegitimierung des Afghanistan-Einsatzes nicht dadurch Vorschub leisten, dass wir so tun, als hätten wir den Einsatz bislang unterschätzt und würden nun auf einmal feststellen, dass er gefährlich und lebensbedrohlich ist. Wer meint, er könne die Soldaten und die Bevölkerung durch die Kriegsrhetorik vom eigenen Realitätssinn überzeugen, dem sei gesagt: Wir Sozialdemokraten sind bei unseren Mandatsentscheidungen für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan nie davon ausgegangen, dass es sich eigentlich um einen Einsatz von Bausoldaten zum Brunnen- und Häuserbau handelt. Wir haben immer gesagt, dass dieser Einsatz gefährlich ist und dass unsere Soldaten einem Auftrag folgen, bei dem die Vereinten Nationen militärische Gewalt nicht nur zur Selbstverteidigung angefordert haben, sondern auch zur Durchsetzung ihres Auftrages. Wer also heute so tut, als habe sich ein ursprünglich friedlicher Auftrag zum Krieg entwickelt, der muss sich nicht wundern, wenn diejenigen, die den eigentlichen Stabilisierungsauftrag der UN nie wahrhaben und akzeptieren, sondern immer nur delegitimieren wollten, auf einmal die Bundesregierung zum Kronzeugen für ihre ursprüngliche Position erklären. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In Wahrheit löst der Kriegsbegriff keines unserer Probleme. Er hilft nicht bei der dringenden Begründung des Einsatzes und übrigens auch nicht bei der Rechtssicherheit für die Soldaten. Wer meint, dass die Bundeswehr in Afghanistan Krieg führen soll, der muss sagen, ob er damit etwas konkret anderes meint, als wir das heute tun. Wenn der Verteidigungsminister von Krieg redet und der Außenminister nicht, dann muss die Frage erlaubt sein, ob die Bundesregierung ein gemeinsames Verständnis vom Einsatz hat. Heißt für den Verteidigungsminister "Krieg", dass das Schwergewicht nun doch auf militärischer Gewalt und nicht auf Ausbildung und zivilen Aufbau gelegt werden soll (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP) - Sie können diese Frage nachher beantworten -, oder sind Sie der Überzeugung, dass mehr zivile Opfer in Kauf genommen werden müssen? Wenn das so wäre, wäre es das Gegenteil dessen, was gestern der ISAF-Kommandeur, General McChrystal, uns und der Öffentlichkeit hier erklärt hat. Er räumt dem Schutz der Zivilbevölkerung absolute Priorität ein. Er will die militärische Schwächung der Taliban, um Verhandlungen und politische Lösungen zu erreichen. Das wäre also das Gegenteil unseres Mandatsbeschlusses. Wer das will, der muss das Mandat ändern. Wir wollen das Mandat nicht ändern, weder semantisch noch faktisch. (Beifall bei der SPD) Frau Bundeskanzlerin, wenn ich Sie richtig verstanden haben, wollen Sie das alles nicht ändern. Deswegen habe ich die Bitte: Sorgen Sie dafür, dass Ihr Verteidigungsminister und Ihr Außenminister in Zukunft eine gemeinsame Sprache für das finden, was dort stattfindet, am besten die des Außenministers. Ein anderer Punkt macht mir zusehends Sorgen: Wie gehen das Bundesverteidigungsministerium und die Bundeswehrverwaltung eigentlich mit den im Einsatz an Körper und Seele verwundeten und verletzten Soldatinnen und Soldaten um? Der Wehrbeauftragte des Parlaments hat dazu einige skandalöse Fälle geschildert, die mich wirklich betroffen und in Teilen sprachlos machen. (Elke Hoff [FDP]: Jetzt erst?) Da wurde von einem Zeitsoldaten, der in Afghanistan schwer verwundet wurde, der Auslandsverwendungszuschlag zurückgefordert, weil er im Voraus gezahlt wurde. Nach seiner vierjährigen Dienstzeit wurde der Soldat entlassen, weil er keine dauerhafte Erwerbsminderung von 50 Prozent nachweisen konnte. Die Fürsorgepflicht gegenüber Soldatinnen und Soldaten, die ihr Leben in einem hochgefährlichen Einsatz riskieren, müssen wir ernster nehmen als bisher. (Beifall bei der SPD) Wenn eine gesetzliche Lücke existiert, müssen wir sie schließen. Unsere Soldatinnen und Soldaten müssen sich darauf verlassen können, dass sie nicht nur bei ihrem lebensgefährlichen Einsatz geschützt werden, sondern auch, dass die Fürsorgepflicht ihres Dienstherrn nicht endet, wenn sie nach dem Einsatz verletzt oder traumatisiert zurückkehren. Die Bilanz des Afghanistan-Einsatzes ist höchst ambivalent. Fest steht: Bislang hat sich die Hoffnung nicht erfüllt, dass die Fortschritte bei der Bekämpfung der Taliban, beim Aufbau der Sicherheitskräfte und beim zivilen Aufbau so vorankommen, wie wir uns das vorstellen. Diese Entwicklung dürfen wir nicht ignorieren. Wir brauchen nach einem eingeleiteten Strategiewechsel im Zuge des aktuellen Mandates, das wir mit großer Mehrheit beschlossen haben, zur weiteren Beurteilung der Lage in Afghanistan zwei Elemente: Erstens. Wir brauchen eine unabhängige, systematische und wissenschaftlich gestützte Überprüfung des bisherigen Engagements, um wissen zu können, ob wir unsere Ziele wirklich erreichen. Zweitens. Wir brauchen mehr denn je eine internationale Debatte darüber, wie wir den innerafghanischen Versöhnungsprozess vorantreiben können. Lassen Sie mich abschließend noch einmal etwas zu den Soldatinnen und Soldaten sagen: Wir bekennen uns - das sage ich nochmals - zur internationalen Verantwortung für den Einsatz. Aber wir müssen und wollen auch die Erreichbarkeit der Ziele überprüfen; denn sie sind keineswegs sicher zu erreichen. Das sind wir den Soldatinnen und Soldaten am allermeisten schuldig. Nur so lange, wie wir selbst die Erreichbarkeit der Ziele für möglich halten, dürfen wir Soldaten in den Einsatz schicken. Nur so lange, wie eine klare und unmissverständliche Grundlage für unsere Entscheidungen besteht und diese vor uns selbst zu rechtfertigen ist, können wir es anderen zumuten, in lebensgefährliche Situationen zu geraten. Das ist der Grund, warum die SPD eine solche Überprüfung einfordert, bevor wir das nächste Mal, in circa einem Jahr, über das Mandat entscheiden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Anhaltender Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Birgit Homburger (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag trauert um die in Afghanistan gefallenen Bundeswehrsoldaten. Unsere Gedanken sind bei den Familien, Freunden und Kameraden der Gefallenen. Ihnen gelten unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme in diesen schweren Stunden. Und den verwundeten Soldaten wünschen wir schnelle und vollständige Genesung. Das Geschehene hat in Deutschland zu Recht erneut zu einer öffentlichen Debatte über den Afghanistan-Einsatz geführt. Die FDP-Bundestagsfraktion steht fest an der Seite der Soldatinnen und Soldaten. Wir stehen zu diesem Einsatz und halten das im Februar beschlossene Mandat unverändert weiterhin für eine gute und auch rechtlich vollständig tragfähige Grundlage. Dieses Mandat hat keine Veränderung nötig. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Mit diesem Mandat sind erstmals eine Neubewertung der Sicherheitslage in Afghanistan und ein Strategiewechsel hin zu mehr Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte und zu zivilem Wiederaufbau verbunden. Endlich wird in Deutschland mit großer Offenheit über die tatsächliche Lage in Afghanistan und die Gefährlichkeit des Einsatzes gesprochen. (Zuruf von der LINKEN: Warum eigentlich nicht früher?) Wer die Unterstützung der Menschen für diesen Einsatz will, muss sich der Debatte stellen. Wir tun dies hier im Deutschen Bundestag immer wieder. Aber es ist auch unsere Aufgabe, diesen Einsatz öffentlich noch offensiver zu erklären. Wer die Unterstützung der Menschen für diesen Einsatz will, muss die Wahrheit sagen. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja! Fangen Sie einmal an!) Ich kann verstehen - ich sage das ausdrücklich auch an die Adresse von Herrn Gabriel -, dass sich unsere Soldaten in Afghanistan wie in einem Krieg fühlen angesichts dessen, dass sie immer wieder in Gefechte geraten und es immer wieder Kampfhandlungen gibt. Diese Gefühle müssen wir ernst nehmen, und man muss sie auch zum Ausdruck bringen. Das ist in der Vergangenheit zu lange ignoriert worden. Deshalb finde ich es gut, dass sich die Bundesregierung dem Alltag der Soldatinnen und Soldaten stellt und übereinstimmend deutlich macht, dass sie die tägliche Realität der Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan wahrgenommen hat und ihnen zur Seite stehen will. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es war deshalb überfällig, dass der Bundesaußenminister bei der Debatte über das Afghanistan-Mandat für die Bundesregierung eine rechtliche Neueinschätzung der Sicherheitslage im Norden Afghanistans vorgenommen und den Einsatz als bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts charakterisiert hat. Dieses Mandat hat niemanden in diesem Hohen Hause im Unklaren gelassen. Damit sind nämlich eine realistische Einordnung der Lage in Afghanistan und eine höhere Rechtssicherheit für die Soldatinnen und Soldaten verbunden. Diese neue rechtliche Qualifizierung hat Folgen für die Handlungsbefugnisse der Soldatinnen und Soldaten und die Beurteilung ihres Verhaltens. Das hat sich gerade am Montag bei der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Oberst Klein gezeigt. Wir begrüßen ausdrücklich, dass dieses Ermittlungsverfahren eingestellt wurde. Wir begrüßen ausdrücklich die höhere Rechtssicherheit für unsere Soldatinnen und Soldaten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Diese Debatte hat auch dazu geführt, dass wir uns neuerlich mit der Frage der Ausrüstung und Ausstattung unserer Soldatinnen und Soldaten auseinandersetzen. Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist. Das garantiert eine öffentliche Debatte und eine ständige Überprüfung des Handelns. Genau das sind wir denen, die wir in den Einsatz schicken, schuldig. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mit dem Mandat ist ausdrücklich ein Strategiewechsel verbunden. Das haben wir hier beschlossen; das ist Bestandteil der Begründung des Mandats. Das Leitmotiv ist die Übergabe der Verantwortung an die Afghanen. Ich wiederhole hier ausdrücklich, dass niemand länger als nötig in Afghanistan bleiben will. Wir wollen eine Abzugsperspektive erarbeiten. Deshalb ist es richtig, dass die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte so verstärkt wird, dass die Afghanen selbst für Sicherheit und Ordnung sorgen können. Außerdem gibt es eine völlige Neuorientierung des Mandats in Richtung des zivilen Wiederaufbaus. Präsident Karzai hat angekündigt, innerhalb der nächsten fünf Jahre die Sicherheitsverantwortung für sein Land zu übernehmen. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg; aber erstmals ist eine Abzugsperspektive erkennbar. Ich möchte vor diesem Hintergrund auch für meine Fraktion deutlich sagen: Wer jetzt kopflos abzieht, wer jetzt die Afghanen in einer Situation alleine lässt, in der sie noch nicht selbst für Sicherheit und Ordnung sorgen können, der trägt Mitverantwortung dafür, wenn das, was erreicht wurde, zunichtegemacht wird und Afghanistan wieder zum Zentrum des internationalen Terrorismus wird. Das wollen wir ausdrücklich nicht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Eine weitere Voraussetzung für den Abzug ist ein ziviler Wiederaufbau. Ich habe bei Besuchen in Afghanistan oder bei Gesprächen mit Afghanen hier in Deutschland oft genug erlebt, dass wir gebeten wurden, zu bleiben. Die Menschen dort wollen eine Perspektive für sich und ihre Familien. Deshalb haben wir beschlossen, dass das zivile Engagement nahezu verdoppelt wird. Allein im Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung stehen 250 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung, das heißt in dieser Legislaturperiode 1 Milliarde Euro. Der Vergleich mit den Ausgaben im Zeitraum von 2002 bis 2010 - es war insgesamt 1 Milliarde Euro - zeigt, wie ich finde, eindrucksvoll, dass ein Strategiewechsel an dieser Stelle herbeigeführt wurde. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zurufe von der LINKEN) Wir haben klare Ziele: Wir wollen den Menschen eine verlässliche Energie- und Wasserversorgung geben. Wir wollen, dass mehr Kinder in die Schule gehen können und eine qualitativ gute Ausbildung erhalten. Wir wollen auch helfen, die wirtschaftliche Entwicklung überhaupt erst in Gang zu setzen. Das wollen wir nicht gegen, sondern gemeinsam mit den teils gewählten, teils traditionellen lokalen Autoritäten durchsetzen. Deshalb muss die Diskussion über nötige Reformmaßnahmen der afghanischen Regierung im Zentrum der geplanten Afghanistan-Konferenz im Juli in Kabul stehen. Das bedeutet, dass die Zusagen, die hinsichtlich guter Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung und Verwaltungsreform, hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit und Garantie der Menschenrechte gemacht wurden, von Präsident Karzai und seiner Regierung eingehalten werden müssen. Ich glaube, es ist wichtig, dass die internationale Gemeinschaft immer wieder genau die Einlösung dieser Zusagen einfordert. Wir wissen um die Gefährlichkeit des Einsatzes. Ich will deshalb zum Schluss hier auch noch mal sehr deutlich sagen: Jeder Abgeordnete ist sich seiner persönlichen Verantwortung bewusst. Wir machen uns die Entscheidung nicht leicht, und wir begleiten die Umsetzung des Mandats durch die Regierung intensiv. Unser Dank gilt allen, die sich in Afghanistan engagieren: Soldatinnen und Soldaten, Polizisten und zivilen Aufbauhelfern. Durch sie wird erst die Umsetzung der politischen Konzepte möglich. Für ihre Leistungen unter schwierigsten Bedingungen gebühren ihnen Anerkennung, Respekt und Hochachtung. Sie sollen wissen, dass sie sich auf die Unterstützung des Deutschen Bundestages verlassen können. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich vertrete hier die Fraktion, die von Beginn an gesagt hat: Dieser Krieg ist falsch, er führt in ein Fiasko. Und es wird deutlich, täglich deutlicher, dass wir leider in jeder Hinsicht recht hatten. (Beifall bei der LINKEN) Neu an der Situation ist, dass jetzt neue Vorwürfe auch gegen uns erhoben werden. Zum Beispiel sagt Herr Wolffsohn von der Bundeswehrhochschule: Wer gegen den Krieg ist, hilft indirekt den Taliban. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zuruf von der FDP: Da hat er recht!) - Passen Sie auf, was Sie da sagen. Die SPD, die Grünen, die Linken und andere haben erklärt, dass Deutschland nicht am Irakkrieg teilnimmt. Wenn Sie daraus schlussfolgern, dass wir Hussein unterstützt hätten, ist das eine Unverschämtheit. Ich will das ganz klar sagen. (Beifall bei der LINKEN - Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist nicht das Thema! - Günter Baumann [CDU/CSU]: Das ist eine Zumutung!) Es geht auch um die Frage, ob man Respekt vor Soldaten hat. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Kommen Sie einmal mit zur Bundeswehr, Herr Gysi!) Der Respekt vor Soldaten wird denen abgesprochen, die für Frieden kämpfen. Ich halte das für absurd. (Beifall bei der LINKEN) Diejenigen, die gegen den Krieg waren, haben keine einzige Soldatin und keinen einzigen Soldaten je gefährdet und haben das auch nicht gewollt. Wenn unserer Forderung nach dem sofortigen Abzug stattgegeben würde, würden weitere Verletzte und Tote auf allen Seiten verhindert. (Beifall bei der LINKEN - Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das glauben Sie doch selbst nicht!) Dabei geht es uns auch um die afghanischen Zivilisten, die hier überhaupt noch nicht erwähnt worden sind. (Beifall bei der LINKEN - Jörg van Essen [FDP]: Die sind erwähnt worden!) Eine Grüne hat zu mir gesagt: Wenn deutsche Soldaten sterben, dann sollte ich doch wenigstens schweigen und nicht in diesem Zusammenhang die Beendigung des Krieges fordern. Warum eigentlich nicht? Ich finde, gerade wenn Soldaten sterben, muss der Aufschrei groß werden, dieses Fiasko zu beenden. (Beifall bei der LINKEN) Außerdem hat die grüne Abgeordnete selbst sofort bei dem Tod der über 100 Zivilisten gesprochen. Wieso soll man in dem einem Fall reden dürfen und in dem anderen Fall nicht? Nein, es geht nicht um verschiedene Regelungen, sondern es geht darum, eine Lösung zu finden. Und die Lösung sehen wir ausschließlich im sofortigen, im unverzüglichen Abzug der Bundeswehr. (Beifall bei der LINKEN - Zuruf des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]) Ich sage Ihnen: Die Mehrheit des Bundestages und die Bundesregierung sollten auch vorsichtig sein, anderen Respekt abzusprechen. Sie schicken die Soldatinnen und Soldaten in den Krieg, und zwar, wie wir jetzt erfahren, ohne ausreichende Ausbildung und Ausrüstung. Sie planen jetzt mit dem US-General und ISAF-Kommandeur McChrystal die Beteiligung der Bundeswehr an einer geplanten Großoffensive. Das bringt doch wohl auch eine große Gefährdung für alle Beteiligten mit sich. Sie haben für 4 500 Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan einen einzigen Facharzt für Psychiatrie zur Verfügung gestellt. Es war der Wehrbeauftragte, nicht wir, der darauf hingewiesen hat, dass die Versorgung der zurückkehrenden Soldatinnen und Soldaten bei seelischen Traumatisierungen unzureichend ist. Er bemängelte auch, dass es zu wenig Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie hier in Deutschland bei der Bundeswehr gebe. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie brauchen auch einen! - Widerspruch und Zurufe von der LINKEN) - Herr Lindner, Sie können mich ruhig als geistig gestört betrachten, aber das sagt etwas über Ihr Niveau aus, nicht über mein Niveau, um das auch einmal ganz klar zu sagen. (Beifall bei der LINKEN) Wer für all das die Verantwortung trägt, ist nicht im Geringsten berechtigt, den Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegnern mangelnden Respekt vor den Frauen und Männer der Bundeswehr in Afghanistan vorzuwerfen. Im Unterschied zu Ihnen sind wir nicht bereit, uns mit verletzten und toten afghanischen Zivilisten, mit verletzten und toten deutschen Soldaten und mit verletzten und toten Soldaten afghanischer und anderer Streitkräfte abzufinden. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das unterstellen Sie!) Wer die sofortige Beendigung des Krieges fordert, will die Gesundheit und das Leben aller Beteiligten schützen. (Beifall bei der LINKEN) Herr Bundestagspräsident, ich fand es sehr richtig, und Sie haben meine volle Zustimmung, dass Sie heute der toten deutschen Soldaten gedacht haben. Dass wir dafür aufstehen, ist eine Selbstverständlichkeit. Dass wir das alle tun, ist ebenfalls eine Selbstverständlichkeit. Aber ich füge hinzu: Einen Teil Ihrer Begründung teilen meine Fraktion und ich nicht. Das muss ich deutlich sagen. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte darauf hinweisen, dass es gut für den Bundestag gewesen wäre, wenn wir auch für die über 100 toten afghanischen Zivilisten aufgestanden wären und ihrer gedacht hätten. (Beifall bei der LINKEN) Frau Bundeskanzlerin, wir haben es mit einer schwierigen Situation zu tun, weil die Begründung der Bundesregierung für den Krieg ständig wechselt. Ich darf Sie erinnern: Am Anfang hieß es - das war Ihre erste Begründung -, der Krieg müsse geführt werden, um den Terrorismus zu bekämpfen. Aber wir alle wissen: Man kann mittels Krieg Terrorismus nicht bekämpfen, man erzeugt nur neuen. (Beifall bei der LINKEN) Wir wissen, dass die Taliban nicht direkt Terroristen waren, sondern dass sie den al-Qaida-Terroristen die Ausbildung etc. ermöglicht haben. Das Problem ist nur, dass die al-Qaida nicht mehr in Afghanistan, sondern jetzt in Pakistan und anderen Ländern ist. Wenn die Begründung stimmte, dass man Terrorismus bekämpfen müsste, wo er existiert, wo es Lager und Ausbildung gibt, dann müssten wir inzwischen in Pakistan, im Jemen, im Sudan und in Somalia einmarschieren. Das fordert zu Recht niemand. Also ist die Begründung falsch; denn al-Qaida sitzt nicht mehr in Afghanistan. (Beifall bei der LINKEN) Ich sage Ihnen noch einmal: Wenn man Terrorismus wirksam bekämpfen will, dann braucht man eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung, einen neuen Dialog zwischen unterschiedlichen Kulturen und Religionen, uneigennützige Entwicklungshilfe und zivilen Aufbau. Ihre zweite Begründung lautet: Man braucht den militärischen Schutz für den Aufbau einer zivilen Ordnung. Bundesinnenminister de Maizière hat aber festgestellt, die Polizeiausbildung in Afghanistan sei keine Erfolgsgeschichte. Wie wollen Sie erklären, dass Sie das, was Ihnen in fast neun Jahren nicht gelungen ist, jetzt in ein paar Monaten erledigt bekommen? Wer soll das glauben? Die UNO berichtete, dass nach fast neun Jahren Krieg neben einigen Fortschritten Folgendes festzustellen ist: Die Zahl der Menschen, die in Afghanistan in Armut lebt, ist von 33 auf 42 Prozent gestiegen. Unterernährt sind nicht mehr 30 Prozent, sondern 39 Prozent der Afghaninnen und Afghanen. Zugang zu sanitären Einrichtungen haben nicht mehr 12 Prozent der Bevölkerung, sondern nur noch 5,2 Prozent der Bevölkerung. In Slums leben nicht mehr 2,4 Millionen, sondern 4,5 Millionen Menschen. All das belegen die Zahlen der UNO. Von den Jugendlichen sind nicht mehr nur 26 Prozent, sondern 47 Prozent arbeitslos. Mohnfelder zur Gewinnung von Rauschgift umfassen nicht mehr 131 000, sondern 193 000 Hektar. Warlords, also die Rauschgift- und Waffenhändler, regieren wie vor neun Jahren. Wo ist denn der zivile Fortschritt, den Sie dort angeblich seit acht Jahren mithilfe der Bundeswehr organisieren? (Beifall bei der LINKEN) Zivile Helfer berichten, dass der zivile Aufbau ohne Militär erfolgreicher verläuft als mit Militär. Frau Merkel, Herr Gabriel und Frau Homburger, ich sage Ihnen: Ziviler Aufbau setzt Waffenstillstand und Verhandlungen zwischen den verfeindeten Parteien voraus. (Beifall des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Krieg dagegen schürt Hass und bereichert die Möglichkeiten der Bin Ladens, neue Terroristinnen und Terroristen zu rekrutieren. Für den zivilen Aufbau braucht man ergo Frieden und nicht Krieg. (Beifall bei der LINKEN) Wir geben für die Bundeswehr in Afghanistan jährlich 1 Milliarde Euro aus. Wenn wir nur einen Teil dieses Geldes für den zivilen Aufbau ausgegeben hätten, wären wir dort deutlich weiter. (Beifall bei der LINKEN) Also trifft auch diese Begründung nicht zu. Als dritte Begründung haben Sie vorgebracht, die Taliban-Herrschaft müsse ausgeschlossen werden, es gehe um die Herstellung einer Art demokratischer Verhältnisse, nicht gerade unserer, aber immerhin. Ich bitte Sie, das ist doch kein Kriegsgrund. Es wird jetzt behauptet, wenn wir abzögen, würden die Taliban wieder herrschen wie früher. Wenn das stimmt, Frau Bundeskanzlerin, wozu waren wir denn dann fast neun Jahre dort? Haben wir nichts anderes erreicht als die Gewissheit, dass die alten Zustände wiederhergestellt werden, wenn wir gehen? (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Darf ich Sie erinnern? Wenn das oben Genannte der Maßstab für Kriege ist, dann müssten wir doch wohl in Uganda einmarschieren wegen der Kindersoldaten, in Bangladesch wegen der Säureattentate auf junge Frauen, in Kenia wegen der Genitalverstümmelung von Mädchen, im Iran wegen der Hinrichtung von Oppositionellen, in Saudi-Arabien wegen der Verweigerung demokratischer Rechte, insbesondere für Frauen, und in viele andere Länder auch. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Die Begründung sticht überhaupt nicht. Niemand will dort einmarschieren, und das ist auch keine Begründung für Krieg in Afghanistan. (Beifall bei der LINKEN) Jetzt kommt die vierte Begründung. Bundesminister Niebel erklärte bei Frau Will im Fernsehen und Sie, Frau Bundeskanzlerin, sagten es heute auch, es gehe darum, zu verhindern, dass Terroristen Zugriff auf Atomwaffen bekommen. Ich bitte Sie, Frau Bundeskanzlerin, in Afghanistan gibt es keine Atomwaffen. Wenn, dann gibt es die in Pakistan. Das wäre eine Begründung, wenn Sie in Pakistan einmarschieren würden, aber nicht für einen Einsatz in Afghanistan. (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU) Abgesehen davon sollen, wie jetzt festgestellt worden ist, die Atomwaffen in Pakistan genauso sicher sein wie die in anderen Ländern, sodass selbst das keine Begründung wäre. Nein, ich sage Ihnen, was das Problem ist: Das Problem ist, dass Sie genau wissen, dass keine Begründung überzeugt. Deshalb lassen Sie sich jeden Tag eine neue einfallen. Das ist das, womit wir uns auseinandersetzen müssen. (Beifall bei der LINKEN) Frau Bundeskanzlerin, dann haben Sie auch heute wieder gesagt, ein Abzug sei unverantwortlich gegenüber den Bündnispartnern, weil man die nicht alleine lassen könne etc. Erstens ist dazu zu sagen: Wir sind ein souveräner Staat. Wir konnten doch auch beim Irakkrieg Nein sagen. Warum können wir hier nicht Nein sagen? Zweitens. Kanada und die Niederlande haben beschlossen, ihre Truppen abzuziehen. Was werfen Sie denen denn vor? Das sind doch auch souveräne Länder. Sie gehen nur einen anderen Weg als wir. (Beifall bei der LINKEN) Es kommt noch etwas hinzu: Präsident Obama hat erklärt, dass er die amerikanischen Truppen ab Mitte 2011 abziehen will. Herr Niebel wurde im Fernsehen von Frau Will gefragt, ob man denn damit rechnen könne, dass dann auch die deutschen Truppen abgezogen würden. Er war zu keiner Antwort fähig. Sie haben heute auch nichts dazu gesagt. Ich bitte Sie, Sie wollen dort doch nicht noch alleine bleiben. Also sagen Sie doch wenigstens, dass Sie diesen Weg dann mitgehen. Das ist doch wohl das Mindeste, was man hier erwarten kann. (Beifall bei der LINKEN) Herr Gabriel, ich habe Ihnen genau zugehört. Was haben Sie denn gesagt? Sie haben gesagt, der Krieg ist richtig, aber Sie wollen ihn nicht so nennen. Das ist doch keine sozialdemokratische Politik. Ich bitte Sie! (Beifall bei der LINKEN - Widerspruch der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD]) Vollziehen Sie doch einmal den Wechsel und kämpfen Sie endlich für den Abzug. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Gysi! Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. - Ich sage es ganz klar, Frau Homburger: Wir wollen nicht kopflos raus. Sie sind kopflos reingegangen. Das ist das Problem, mit dem wir es zu tun haben. (Beifall bei der LINKEN) Ich sage Ihnen deshalb zum Schluss: Ich bin davon überzeugt, dass auch die Mitglieder der Bundesregierung und viele Mitglieder des Bundestages - weit mehr als die Mitglieder unserer Fraktion - wissen: Dieser Krieg war, ist und bleibt falsch. Frau Merkel, Ihnen fehlt nur der Mut, dies einzuräumen, die Bundeswehr so schnell wie möglich aus Afghanistan abzuziehen und endlich entsprechend dem Willen der großen Mehrheit der Bevölkerung unseres Landes zu handeln. (Anhaltender Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Volker Kauder für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Kein Ordnungsruf?) - Darf ich zu den Aufforderungen aus dem Plenum kurz etwas sagen: Zwischenrufe, die ich nicht gehört habe, pflege ich mir im Protokoll anzusehen, bevor ich dazu Stellung nehme. (Zurufe von der LINKEN: Das haben wir sogar hier hinten gehört!) Aber ich nutze gerne die Gelegenheit, allgemein darauf hinzuweisen, dass man die Ernsthaftigkeit dieses Themas nicht durch Temperamentwettbewerbe auf allen Seiten unterstreichen muss. Im Übrigen komme ich auf den Vorgang zurück, sobald ich mich damit vertraut gemacht habe. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das ging manchmal schon schneller! Wir sind wohl nur die falsche Fraktion!) Volker Kauder (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir trauern um die toten Soldaten der letzten Tage und Wochen. Wir werden am kommenden Samstag wieder toter Soldaten gedenken. Unsere Gedanken und unsere Gebete sind bei den Angehörigen, bei den Familien dieser Soldaten. Wir drücken ihnen unsere Anteilnahme aus. Wir wissen, was wir jungen Menschen, die im Dienste unseres Landes unterwegs sind, zumuten, ja, auch zumuten müssen im Interesse der Verteidigung unserer Sicherheit und Freiheit. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nach diesen tragischen Vorgängen ist es völlig richtig, dass wir uns heute noch einmal fragen: Ist der Einsatz in Afghanistan richtig, und ist er notwendig? Ich finde, die Bundeskanzlerin hat in beeindruckender Weise deutlich gemacht, warum dieser Einsatz notwendig ist, nicht nur konkret der Einsatz in Afghanistan, sondern auch den Zusammenhang mit der strategischen Lage dieses Landes. Peter Struck hat 2002 bei der Neuformierung der Bundeswehr gesagt, dass die Sicherheit unseres Landes am Hindukusch verteidigt wird. Er hat in einer Regierungserklärung im Jahr 2004 noch einmal präzisiert, was - das müssen wir uns immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen - der Ausgangspunkt des Einsatzes der Bundeswehr war: Wir verteidigen die Sicherheit unseres Landes am Hindukusch, vor allem dann, wenn sich in diesem Land eine Bedrohung wie der Terrorismus formiert. Das ist die erste Begründung dafür, dass wir sagen: Wir dürfen nicht zulassen, dass von Afghanistan wieder große und hohe Gefahren für unser Land, für die Menschen in unserem Land ausgehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist der entscheidende Punkt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Bundeswehr als eine Armee, die vom Deutschen Bundestag eingesetzt wird, hat Anspruch darauf, dass wir, wenn wir sie einsetzen, auch zu ihr stehen. Deswegen haben wir allen Grund, zu sagen: Wir haben das letzte Mandat in klarer Kenntnis dessen, was wir von der Bundeswehr erwarten, erteilt und hier im Deutschen Bundestag mit großer Mehrheit beschlossen. Wir haben es so formuliert, dass wir einmal dafür sorgen wollen, dass dieses Land nicht mehr Aufmarschgebiet von Terroristen ist, zugleich aber auch dafür sorgen wollen, dass dieses Land seine Sicherheit und damit auch unsere Sicherheit selbst garantieren kann. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, das betrifft sowohl unsere Sicherheit als auch die Sicherheit der Menschen in Afghanistan. Sehr geehrter Herr Kollege Gysi, ich hätte mir von Ihnen an diesem Tag inhaltlich, aber auch von der Form her einen anderen Auftritt gewünscht; das ist jedoch Ihre Sache. Ich will nur eines sagen: Wir haben eine Perspektive für den Rückzug aus Afghanistan mit der Aussage verbunden, dass die Sicherheitskräfte in Afghanistan die Sicherheit dort selbst gewährleisten können. Ich sage Ihnen: Das war zwingend notwendig. Herr Gysi, wenn wir dies nicht machen würden, sondern schlicht und ergreifend sagen würden: "Irgendwann, morgen, übermorgen, heute, ziehen wir aus Afghanistan ab", dann würden wir die Menschen in großer Sorge und Unsicherheit zurücklassen, Menschen, die nicht wissen, auf wen sie sich verlassen können, und die damit rechnen müssen, dass die Taliban zurückkommen und sie sich nicht wehren können. Wir wissen doch - davon haben Sie keinen Ton gesagt -, dass Taliban-Kämpfer nachts Dörfer überfallen und Menschen hinmetzeln. Das darf nicht mehr passieren. Deswegen muss die Sicherheit in Afghanistan für die Menschen dort und für uns in unserem Land gewährleistet werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutschland ist an einer Aktion beteiligt - dies hat Herr Gabriel völlig richtig gesagt -, die von der UNO beschlossen worden ist. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind an einem Krieg beteiligt!) Nach den bitteren Erfahrungen im vergangenen Jahrhundert mit Weltkriegen war eine der zentralen Forderungen, eine Einrichtung zu schaffen, die Terror, Ungerechtigkeit und Kriege verhindern kann. Diese haben wir in der UNO gefunden. Die UNO selber hat aber kein einziges Instrument, um das, was sie beschließt, auch durchzuführen und umzusetzen. Deswegen ist die UNO darauf angewiesen, dass ihre Mitglieder das, was dort beschlossen worden ist, auch vollziehen. Die Bundeswehr macht im Verein mit 40 anderen Armeen nichts anderes als das, was in der UNO beschlossen worden ist - dafür zu sorgen, dass kein Terror mehr von Afghanistan ausgeht -, umzusetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben in Afghanistan, wie ich finde, viel erreicht. Es bleiben aber noch Fragen offen; darauf hat die Bundeskanzlerin hingewiesen. Afghanistan hat Grenzen zu Pakistan und zum Iran. Es ist, wie ich glaube, unbestritten - wahrscheinlich auch bei Ihnen, Herr Gysi; das möchte ich Ihnen unterstellen -, dass vom Iran eine Gefahr für die Sicherheit in Europa und in Deutschland ausgeht, wenn dieses Land Atomwaffen hat. Wir sehen jetzt, wie schwer es ist, mit den Mitteln der Diplomatie und der Verhandlung das Ziel zu erreichen, das die UNO formuliert hat: dass der Iran auf Atomwaffen verzichtet. Wir sehen, wie schwer das ist, obwohl alle in der Welt sagen: Wir wollen nicht, dass der Iran Atomwaffen hat. - Wenn wir sehen, wie schwer dies ist, haben wir allen Grund, zu verhindern, dass sich in Afghanistan etwas etabliert, was diese Gefahr, die vom Iran ausgeht, vergrößert und nicht verkleinert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deswegen würde ich dringend raten, die Sache ein bisschen strategischer und auch unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit der eigenen Bevölkerung zu sehen. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben in Afghanistan keine Ausbildungslager mehr. Von diesen Ausbildungslagern ging aber die Gefahr aus. Wir haben jetzt das eine oder andere Ausbildungslager noch im benachbarten Pakistan, aber bei weitem nicht mehr in dieser Dichte und Qualität. Trotzdem haben wir noch immer Wanderungsbewegungen von Europa in Ausbildungslager nach Pakistan. Dies ist eine Bedrohung für unser Land. Nicht umsonst haben wir unter Strafe gestellt, wenn jemand bewusst in ein solches Lager geht, um sich ausbilden zu lassen und dann terroristische Anschläge auszuführen. Dies alles würde sich weiter verstärken, wenn wir in Afghanistan nicht eine Regierung hätten, die dies unterbindet, sondern eine Regierung, die dies zulässt und fördert. Die Taliban sind im Augenblick vielleicht nicht die Gefahr, aber al-Qaida ist von der Terrorlandkarte nicht verschwunden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dass al-Qaida nur darauf wartet, dass sie wieder bessere Möglichkeiten bekommen, ihre "terroristischen Aufgaben" zu erfüllen, ist doch völlig klar. Deswegen muss noch einmal klar und deutlich formuliert werden, worum es geht und was die jungen Menschen als Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan machen. Es geht darum, Sicherheit herzustellen, zu verhindern, dass der Terrorismus eine neue Aufmarschbasis und einen neuen Nährboden bekommt. Es geht schlicht und ergreifend darum, dass diese jungen Menschen einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass wir uns in unserem Land sicher fühlen und sicher bewegen können, Herr Gysi. Darum geht es: um die Sicherheit der Menschen in unserem Land. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich bin sicher, dass wir mit unserer Arbeit zusammen mit den 40 anderen Nationen erreichen können, dass eine demokratisch gewählte Regierung in Afghanistan Sicherheit herstellt. Junge Menschen bei der Polizei auszubilden, braucht auch bei uns mehr als ein Jahr. Wir bilden in Afghanistan mit großer Intensität Polizeibeamte aus. Wir bilden aber auch Soldatinnen und Soldaten aus, damit sie ihrer Aufgabe gewachsen sind. Wenn dies gelingt, wenn eine gut ausgebildete und gut ausgerüstete afghanische Armee dem Land Sicherheit bringen und aufrechterhalten kann, dann haben Terroristen in Afghanistan keine Chance mehr. Genau das ist das Ziel. Wenn wir das erreicht haben - wir gehen mit ganzer Kraft heran -, dann können wir die Aufgabe der Sicherheit verantwortungsvoll in die Hand der afghanischen Sicherheitskräfte legen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die afghanische Bevölkerung soll wissen: Wir lassen sie nicht im Stich. Wenn die Sicherheit gewährleistet ist und die Bevölkerung keine Angst davor haben muss, dass die Taliban mit ganzer Macht und Brutalität wie vor diesem Einsatz wieder zurückkommen, dann haben wir unser Ziel erreicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, klar ist auch, dass wir alles zur Verfügung stellen müssen, was unsere Soldatinnen und Soldaten brauchen, um ihre gefährliche Aufgabe zu erfüllen. Deswegen sagen wir als Regierungskoalition zu, dass wir das, was die militärische Führung und der Bundesverteidigungsminister an Ausrüstung für die Soldaten im Einsatz und für die Ausbildung für notwendig halten, auch zur Verfügung stellen werden. Darauf dürfen sich Bundeswehr und unsere Soldatinnen und Soldaten verlassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir können heute feststellen, dass der tragische Tod der Soldaten, der jungen Menschen, die in diesem Einsatz in Afghanistan fallen, für alle Betroffenen, auch für uns, furchtbar ist. Keine Entscheidung im Deutschen Bundestag fällt uns Kolleginnen und Kollegen so schwer wie die Entscheidung, junge Menschen in den Krieg, in den Einsatz nach Afghanistan zu schicken; denn bei dieser Entscheidung sehen wir alle die Gesichter aus unserer Heimat, aus unseren Wahlkreisen, und wir alle hoffen, dass die Soldatinnen und Soldaten wieder aus dem Einsatz zurückkommen. Zur gleichen Zeit müssen wir aber auch sagen: Es dient einem großen Ziel: der Sicherheit der Menschen in unserer Heimat. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir alle hätten es schön gefunden, wenn diese Regierungserklärung aus diesem Anlass nicht nötig gewesen wäre. Unsere Gedanken, unsere Trauer gehören den getöteten und verletzten Soldatinnen und Soldaten und ihren Angehörigen. Vor dem Hintergrund dieser Eskalation, der wir hier ins Auge sehen, wäre es allerdings auch Zeit für eine wahrhaftige Bestandsaufnahme gewesen: Was machen wir in Afghanistan? Haben wir einen Stabilisierungseinsatz, oder machen wir da Aufstandsbekämpfung? Was ist eigentlich jetzt das politische Ziel? Wofür halten unsere Soldatinnen und Soldaten den Kopf hin? Wie lange müssen sie das noch tun? Ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört. Die Antwort auf diese Fragen, Frau Merkel, sind Sie leider weitgehend schuldig geblieben. Sie haben die Tradition fortgesetzt, die Ihre Afghanistan-Politik der letzten Zeit geprägt hat. Sie sind nicht für Transparenz und Wahrhaftigkeit. Sie haben uns hier am 8. September 2009, obwohl Sie es besser wussten, nichts über die zivilen Opfer bei Kunduz gesagt. Ihre Fraktion ist nicht länger gewillt, das, was dort passiert ist, aufzuarbeiten. Sie möchte den Deckel der Akten zumachen. Von einer lückenlosen Aufklärung kann nicht die Rede sein. Manchmal sagen Sie als Bundesregierung schlicht und ergreifend auch die Unwahrheit. Sie dokumentieren das auch. Sie haben in Ihrem Afghanistan-Konzept geschrieben, die neue Afghanistan-Strategie sei eine Schwerpunktverlagerung von einem eher offensiven Vorgehen hin "zu einer grundsätzlich defensiven Ausrichtung". Wir haben gestern im Ausschuss sehr genau zugehört, was General McChrystal gesagt hat. Auf die Frage, was dort in den nächsten Wochen und Monaten passieren soll, hat er trocken gesagt: It's classical counterinsurgency. Also klassische Aufstandsbekämpfung. Das nennen Sie "grundsätzlich defensiv"? Es kann ja sein, dass Sie diese Aufstandsbekämpfung machen müssen, aber dann sollten Sie das auch so benennen. Sie praktizieren aber das Gegenteil. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die übergroße Mehrheit meiner Fraktion hat diesem Mandat nicht zugestimmt, weil wir in dem Partnering, das übrigens in dem Mandat steht, die Gefahr gesehen haben, dass man sich auf die Rutschbahn hin zu einer offensiven Aufstandsbekämpfung begibt. Wir haben davor gewarnt, dass das mit erheblichen Risiken verbunden ist. Was sagte Ihr Bundesverteidigungsminister Herr zu Guttenberg - ich zitiere ihn aus der FAZ vom 25. Januar 2010 -: Dieses Konzept sei nicht automatisch mit mehr Risiken für die Soldaten verbunden. Das ist schon keine Beschönigung mehr, das ist schlicht und ergreifend die Unwahrheit gewesen, die Herr zu Guttenberg da gesagt hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Partnering - auch hier zitiere ich Stanley McChrystal - ist gefährlich und mit extremen Risiken verbunden. - Das kann man heute nachlesen. Er führt weiter aus: Da nützt es nichts, um den heißen Brei he-rumzureden. - Ja, der General hat recht, und ich hätte mir gewünscht, eine Bundesregierung zu haben, die bei ihrer Afghanistan-Politik endlich aufhört, um den heißen Brei herumzureden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Stattdessen klopfen Sie sich selber auf die Schulter, weil Sie sich jetzt trauen, das Wort "Krieg" in den Mund zu nehmen. Als Konsequenz auf Ihre Hilflosigkeit, in die Sie da reingestolpert sind - Sie tun so, als ob Sie hineingestolpert sind -, (Birgit Homburger [FDP]: Wer ist da reingestolpert? Wer hat den Einsatz angefangen? Ich glaube, ich spinne!) fordern Sie jetzt die Ausrüstung mit Haubitzen. Mir muss erst einmal jemand erklären, wie Sie mit Haubitzen die Gefährdung durch Sprengfallen - durch sie sind die Soldaten gestorben - vermindern wollen. Das ist einfach nur Rhetorik, um die Heimatfront zu beruhigen, aber hilft den Soldatinnen und Soldaten überhaupt nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn Sie jetzt das Wort Krieg verwenden, Frau Bundeskanzlerin, dann müssten Sie eigentlich auch den Mut haben, zu sagen, was das Ziel dieses Krieges ist. Sie haben sich dabei etwas leichtfertig, wie ich finde, auf Peter Struck berufen. In Afghanistan sind wir im Auftrag der Vereinten Nationen mit 43 anderen Nationen. Der Auftrag lautet: Unterstützung der gewählten afghanischen Regierung. Was tut diese Regierung zurzeit? Sie bereitet sich intensiv auf die Zeit nach dem Abzug der internationalen Gemeinschaft vor. Dafür sucht sie Verbündete. Das ist verständlich. Ich hätte von Ihnen eine Einschätzung erwartet, was Sie von diesen Bündnisbemühungen halten, die Herr Karzai unternimmt. Herr Karzai hat ja Verbündete gefunden: Indien auf der einen Seite, der Iran auf der anderen Seite und die Nordallianz, die schon heute in seiner Regierung ist. Und er trifft sich mit weiteren potenziellen Unterstützern. Mitten in Kabul trifft er sich mit Hekmatjar, einem von der UN und den USA gesuchten Kriegsverbrecher, um auf diese Weise einen internen Ausgleich in Afghanistan herbeizuführen. Es kann zwar sein, Frau Merkel, dass es eine Befriedung und Stabilisierung Afghanistans nur mit solchen schmutzigen Deals gibt, aber warum haben Sie dann nicht den Mut, zu sagen: "Das ist der Preis für die Stabilisierung Afghanistans"? Warum drücken Sie sich vor diesen unangenehmen Wahrheiten? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie setzen Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan tödlichen Gefahren aus. Sie sollen im Zweifelsfall selber töten. Sollen sie das tun, damit Herr Karzai eine bessere Verhandlungsposition mit Herrn Hekmatjar hat? Das ist doch die Frage, die Sie an dieser Stelle beantworten müssen, und es geht nicht um Kriegsrhetorik. Ich bin sehr vorsichtig mit diesem Wort. Es gibt Regionen in Afghanistan, in denen kriegerische Zustände herrschen. Es gibt andere Regionen, wo dies nicht der Fall ist. Aber eines weiß ich gewiss: Einen Stabilisierungseinsatz führen Sie nicht mit Kriegsrhetorik zu einem Erfolg. Sie führen ihn damit zwangsläufig zu einem Misserfolg. Wenn es das Ziel des Bundeswehreinsatzes ist, eine Verhandlungslösung zu erreichen, dann muss man auch Verhandlungsziele und einen Zeitrahmen haben. Der Bundesaußenminister pflegt bei solchen Gelegenheiten immer zu sagen, man dürfe den Taliban nicht sagen, wann man abzieht. Das haben, glaube ich, weder die Holländer noch die Kanadier gemacht, und auch die USA haben das nicht vor. Die Taliban wissen sehr wohl, dass die Präsenz nicht auf Dauer sein wird. Wir alle wissen, dass die Präsenz in Afghanistan keine weiteren zehn Jahre andauern wird. Aber wenn man das alles weiß und klar ist, dass es eine Verhandlungslösung geben muss, dann muss denen, die verhandeln sollen, auch klar sein, in welchem Rahmen und bis wann sie die Verhandlungen zu Ende zu führen haben und dass sie die Präsenz internationaler Truppen nicht auf Dauer in ihren Verhandlungspoker einkalkulieren können. Auch dazu haben Sie nichts gesagt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich glaube, die Soldatinnen und Soldaten haben Anspruch darauf, zu wissen, für welche Ziele und wie lange sie Leib und Leben zu riskieren haben. Diese Antwort sind Sie heute schuldig geblieben. (Elke Hoff [FDP]: Das ist nicht wahr!) Afghanistan ist aber kein Einzelfall. Globale Risiken wie Aufrüstung, Armut, Klimaentwicklung und Ressourcenwettkampf erzeugen Staatszerfall, Bürgerkriege, das, was Sie zu Recht asymmetrische Konflikte genannt haben. Friedenssicherung in dieser unsicher gewordenen Welt setzt dann handlungsfähige Vereinte Nationen voraus. Staatszerfall entgegenzuwirken, wird auch in Zukunft Stabilisierungseinsätze erfordern. Ich sage in dieser Situation: Deutschland wird sich dem nicht entziehen können. Ich sage auch: Deutschland wird sich dem nicht entziehen dürfen. Aber gerade deshalb müssen wir aus den Erfolgen und aus den Defiziten dieses Einsatzes in Afghanistan lernen. Das ist der Grund, warum wir eine Evaluierung dieses Einsatzes von unabhängiger Stelle brauchen, und zwar eine Evaluierung des gesamten Einsatzes, also der jetzigen Afghanistan-Politik, der Afghanistan-Politik der Großen Koalition und auch der Afghanistan-Politik von Rot-Grün. Die Bereitschaft, sich in dieser Frage überprüfen zu lassen, gehört zu der notwendigen Wahrhaftigkeit aus diesem Hause, auf die die Zivilisten und die Soldatinnen und Soldaten, die sich in Afghanistan um Stabilisierung bemühen, einen Anspruch haben. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, weise ich darauf hin, dass es ausweislich des Stenografischen Protokolls während der Rede des Kollegen Gysi nach seinem Hinweis auf die Notwendigkeit von mehr Fachärzten für Psychiatrie in der Bundeswehr einen Zwischenruf des Kollegen Martin Lindner gegeben hat, den ich ausdrücklich als unparlamentarisch rüge. Ich verbinde dies noch einmal mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass wir auch und gerade bei einer natürlich kritischen Auseinandersetzung auf persönlich herabsetzende, polemische Bemerkungen verzichten sollten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Nun erteile ich der Kollegin Elke Hoff für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP) Elke Hoff (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Trittin, entgegen der Auffassung, die Sie hier vertreten haben, bin ich sehr wohl der Meinung, dass die Bundeskanzlerin heute die Ziele des Afghanistan-Einsatzes sehr klar dargestellt hat. Wenn Sie es aber nicht hören und dem auch nicht Folge leisten wollen, dann kann ich mir vorstellen, dass Sie ein Problem damit haben, dass hier heute angeblich nicht klar über die Ziele dieses Einsatzes berichtet und diskutiert worden ist. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Kollege, ich sehe auch keinen Widerspruch zwischen einem Stabilisierungseinsatz und einer Counterinsurgency, einer Aufstandsbekämpfung. Eine wesentliche Voraussetzung, um eine erfolgreiche Counter-insurgency durchführen zu können, ist natürlich die Stabilisierung der Region. Es gibt keinen militärischen Führer in der NATO, der bisher behauptet hätte, dies könne allein mit militärischen Mitteln gemacht werden. Aber es ist eine Voraussetzung zur Herstellung der Stabilisierung in einem völlig zerstörten Land, in dem sämtliche staatlichen Strukturen vernichtet worden sind. Das ist die Aufgabe, die die Nato und auch die Bundesrepublik Deutschland übernommen haben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, tun wir gut daran, unseren Soldatinnen und Soldaten, die jeden Tag für dieses Ziel und für diesen Auftrag, den wir erteilt haben, ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren, auch an dieser Stelle die größtmögliche Unterstützung zu gewähren. Lieber Herr Kollege Gysi, Sie haben eben mit Recht darauf hingewiesen, dass wir, egal welcher unterschiedlichen politischen Auffassung wir sind, den Soldatinnen und Soldaten den Respekt zollen. Daher bitte ich Sie, in Ihrer Fraktion auch dafür zu sorgen - auch, wenn es sehr junge Kolleginnen sind -, dass im Deutschen Bundestag keine Plakate gezeigt werden, auf denen "Beim Bund ist alles doof" steht und ein Schwein mit einem Stahlhelm abgebildet ist, (Michael Brand [CDU/CSU]: Schlimm!) hinter dessen Rücken Rauchwolken zu sehen sind, als gebe es eine Explosion. So etwas geht einfach nicht. (Michael Brand [CDU/CSU]: Er soll sich entschuldigen!) Wenn Sie sich hier für Respekt aussprechen, dann sorgen Sie bitte in Ihrer Partei dafür, dass der nötige Respekt gezollt wird. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich war bei der Trauerfeier für unsere gefallenen Soldaten anwesend. Ich gebe zu, dass auch ich mich in diesen schweren Stunden gefragt habe, ob der Auftrag, den wir erteilt haben, richtig ist und ob wir diesen Auftrag gegenüber den Angehörigen rechtfertigen können. Die gleiche Frage habe ich mir auch bei der Debatte gestellt, die wir eben geführt haben. Mehr denn je bin ich der Überzeugung, dass es gerade in diesen schweren Zeiten unsere Aufgabe ist, unserer Bevölkerung unsere Entscheidung zu erklären und hier im Parlament den jungen Männern und Frauen, die wir in den Einsatz geschickt haben, deutlich zu machen, dass wir diesen Einsatz mittragen. Ich persönlich habe mir die Frage gestellt, ob wir es im Nachhinein den Angehörigen der Kameradinnen und Kameraden, die bereits jetzt ums Leben gekommen sind, erklären können, wenn wir die Sinnhaftigkeit dieses Einsatzes infrage stellen. Alle Fraktionen in diesem Deutschen Bundestag bis auf eine haben diesen Einsatz gewollt. Selbstverständlich müssen wir die Benchmarks neu setzen. Auch General McChrystal hat sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es notwendig ist, flexibel in diesem schwierigen Umfeld zu sein, militärisch flexibel, aber auch politisch flexibel. Herr Trittin, zu erwarten, dass man in dieser Lage schon heute ein fertiges politisches Drehbuch für eine Lösung hat, wird der Komplexität dieses Konflikts nicht gerecht. Das wissen auch Sie. Dafür sind Sie viel zu sehr mit der Region vertraut. Wir müssen neben der Unterstützung unserer Soldatinnen und Soldaten dafür sorgen, dass die internationale Gemeinschaft auch den zweiten Teil ihrer Verpflichtung erfüllt, nämlich es dem souveränen Staat Afghanistan zu ermöglichen, zu einer politischen Lösung zu kommen, damit wir der afghanischen Bevölkerung, gegenüber der wir uns verpflichtet haben, aber auch der eigenen Bevölkerung am Ende sagen können: Wir haben gemeinsam eine Mission zum Erfolg gebracht. - Dafür kämpfen wir. Ich bitte Sie noch einmal, an dieser Stelle unseren Soldaten die notwendige Rückendeckung nicht zu entziehen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Ströbele das Wort. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke, Herr Präsident. - Mir liegt daran, klarzumachen, dass ich mich nicht für eine verhängnisvolle Kriegspolitik in Afghanistan vereinnahmen lasse. Wenn beispielsweise vonseiten der FDP hier betont wird, der Deutsche Bundestag steht hinter dem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, dann sage ich: Ich stehe nicht hinter diesem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, und, was vielleicht noch wichtiger ist als die Haltung des Abgeordneten Ströbele, die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung steht nicht hinter dem Kriegseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Das müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Die deutsche Bevölkerung hat recht mit ihrer Ablehnung dieses Einsatzes in Afghanistan. Es ist nicht ein Vermittlungsproblem, wie das offenbar aufseiten der Union gedacht wird. Gestern wurde der Herr General McChrystal in der Ausschusssitzung geradezu angefleht, doch zu sagen, wie man der deutschen Bevölkerung die Notwendigkeit des Afghanistan-Einsatzes vermitteln könne. Der General hat dazu gar nichts gesagt, weil es ganz offensichtlich nicht seine Aufgabe ist. Sie können das auch nicht vermitteln, weil die Auffassung der Mehrheit der Bevölkerung richtig ist. Ein Einsatz, der, wie wir inzwischen von General McChrystal, aber auch vom Bundesverteidigungsminister wissen, in diesem Jahr aus Großoffensiven im Süden, im Osten und auch im Norden Afghanistans besteht, aus Großeinsätzen der Bundeswehr und Großeinsätzen der Alliierten, bei denen unzählige Menschen getötet und bei denen unzählige Menschen wie jetzt in Helmand in die Flucht getrieben werden, ist nicht der richtige Weg, um in Afghanistan zu deeskalieren und um Verhandlungen vorzubereiten. Wir können den Soldaten in Afghanistan deshalb guten Gewissens nicht sagen, dass sie im Namen des deutschen Volkes in Afghanistan ihren Dienst tun; vielmehr müssen wir ihnen sagen, dass sie das zwar im Auftrag einer Mehrheit des Deutschen Bundestages tun, aber gegen den erklärten Willen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Zur Erwiderung Frau Kollegin Hoff. Elke Hoff (FDP): Herzlichen Dank, Herr Präsident! - Sehr geehrter Herr Ströbele, sind Sie bereit, anzuerkennen, dass der überwiegende Teil der zivilen Opfer in Afghanistan nicht dem Einsatz von NATO-Soldaten zu schulden ist, sondern den Aufständischen, den Taliban, der al-Qaida, und dass die Zivilbevölkerung in Afghanistan einen Anspruch darauf hat, dass wir ihr, die sich gegen Anschläge nicht wehren kann, weil die Heimtücke dieser Anschläge durch nichts zu überbieten ist, diesen Schutz geben? Ich bin der festen Überzeugung, dass wir uns an der Zivilbevölkerung in Afghanistan genauso schuldig machen, wenn wir ihr diesen Schutz verweigern. Auch Sie wissen, dass General McChrystal gestern sehr klar und deutlich zum Ausdruck gebracht hat, was der Wunsch der afghanischen Zivilbevölkerung ist: Sicherheit, Gerechtigkeit. Dies kann der afghanische Staat zurzeit noch nicht allein gewährleisten. Der überwiegende Teil des Deutschen Bundestages steht Gott sei Dank hinter diesem Einsatz. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Tod unserer Soldaten in Afghanistan in den letzten drei Wochen, aber auch der Tod unserer Soldaten in den letzten Jahren ist ein Beleg dafür, wie gefährlich dieser Einsatz ist. Unsere Gedanken in unserer Trauer sind bei den Angehörigen der Gefallenen; aber sie sind auch bei denen, die tagtäglich den Einsatz dort leisten und wissen, dass die Gefahr stets real ist, auch jetzt, in dieser Stunde, wo wir hier gemeinsam über dieses Thema reden. Jeder, der diesem Mandat zugestimmt hat - es war die große, überwältigende Mehrheit dieses Hauses -, kannte diese Gefahr, kannte dieses Risiko. Wir sehen mit großer Bewunderung, mit Respekt und mit Hochachtung, wie unsere Soldaten vor Ort entschlossen und gewillt sind, ihren Auftrag auszufüllen, was sie in ganz hervorragender Weise tun. Wichtig ist ein Aspekt, auf den heute mehrfach hingewiesen worden ist: Es handelt sich nicht um eine Aktion Deutschlands und der Bundeswehr, sondern um eine Aktion der internationalen Staatengemeinschaft. Die internationale Staatengemeinschaft hat beschlossen, gemeinsam ein Problem, das für alle zur Bedrohung geworden ist, aus der Welt zu schaffen. Deswegen, lieber Herr Gysi, denke ich, sollten Sie sich schon einmal fragen, wer der politische Geisterfahrer ist, ob es die Mehrheit der Staaten rund um den Globus ist oder ob Sie es sind. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: 70 Prozent der Bevölkerung! Alles Geisterfahrer?) Die Mehrheit der Staaten rund um den Globus hat von 2001 bis 2009 in zehn Mandaten der Vereinten Nationen - das letzte ist im Dezember vergangenen Jahres verabschiedet worden - die Grundlage dafür gelegt, dass dieser Einsatz in Afghanistan stattfinden kann. 16 Nationen stehen im Norden Afghanistans zusammen mit unseren deutschen Soldaten. Insgesamt sind 44 Nationen in Afghanistan vertreten. Die Staatengemeinschaft hat sich darauf verständigt, ein Problem zu lösen, das alle bedroht. Dieses Problem heißt: Fanatiker haben sich auf den Weg gemacht, unsere Kultur, unsere Freiheit, unsere Lebensart zu zerstören. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Bundeswehr hat sich auf den Weg gemacht! - Unruhe bei der CDU/CSU) Der 11. September 2001 ist das Symbol für den Kampf dieser Terroristen und dieser Fanatiker. Sie wollen eine Welt zerstören, die ihren Bürgern Toleranz, Lebensfreude, Freiheit, Gleichberechtigung und Menschenwürde gibt. (Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Sie wollen eine Welt zerstören, die nicht in ihr persönliches Weltbild passt. Deswegen haben vor acht Jahren die Völker dieser Erde beschlossen, daran etwas zu ändern. Deshalb, Herr Trittin, wundert es mich, dass Sie als ehemaliges Mitglied einer Regierung, die damals dieses Mandat mitgetragen und mit auf den Weg gebracht hat, jetzt sagen, man sei da hineingestolpert. Man ist mit dem klaren Auftrag nach Afghanistan gegangen, dort mitzuhelfen, ein Regime zu beseitigen, Terroristen zu entwaffnen und mitzuhelfen, dass dieses Land in einen stabilen Zustand gebracht wird. Nun ist dieser Zustand in der Kürze der Zeit nicht so stabil geworden, wie man sich das vorgestellt hat. Man hat sich vorgestellt, dass das schneller gehen könnte. Meine Damen und Herren, aber ist das Ziel, auch wenn man es nicht kurzfristig erreichen konnte, deshalb falsch? Nein, das Ziel der Weltgemeinschaft bleibt richtig, einen neuen Aufmarschraum für Terrorismus und Gewalt zu verhindern. Nur, den Preis dafür zahlen die Soldaten: unsere Soldaten, die Soldaten unserer Verbündeten. Das ist der Preis, den sie zahlen, um eine Region zu stabilisieren. Ich bin dankbar dafür, dass die Frau Bundeskanzlerin heute sehr ausführlich auf diesen Aspekt hingewiesen hat. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Krieg hat man noch nie stabilisiert!) Es geht darum, eine Region zu stabilisieren, in der es Atomwaffen gibt. Es geht nicht nur um Afghanistan, sondern es geht um die Stabilität einer gesamten Region. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn es al-Qaida gelingen würde, Macht - sei es direkt, sei es nur indirekt - über atomare Sprengköpfe in dieser Region zu erlangen. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, es ist das Ziel, in Afghanistan eine sich selbsttragende Ordnung zu schaffen, eine Stabilität, die es auch möglich macht, dass man dort einen Ansprechpartner hat, der für das ganze Volk, für den ganzen Staat sprechen kann, eine Ordnung, die eine gewisse Rechtsstaatlichkeit gewährleistet, eine Ordnung, die es ermöglicht, dass es Schulen gibt, dass die Bevölkerung versorgt wird. Natürlich wissen wir, dass man all das auch mit zivilen Kräften erreichen muss. Aber, Herr Gysi, glauben Sie allen Ernstes, dass es möglich sein könnte, dass diese zivilen Kräfte nach einem sofortigen Abzug der internationalen Soldaten weiterarbeiten? Wir alle wissen doch, was passieren würde, wenn die Soldaten sofort abziehen würden. Die zivilen Aufbauhelfer hätten keine Chance. Überall dort, wo die Lage unsicher geworden ist, wo die militärischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, ist bisher die zivile Hilfe der staatlichen und nichtstaatlichen Hilfsorganisationen zusammengebrochen. Deswegen ist es heuchlerisch, zu sagen: Wir sind zwar für den zivilen Aufbau, aber wir sind gegen einen militärischen Einsatz. - Es wird und es kann keinen zivilen Aufbau ohne eine militärische Absicherung geben. Das ist die Lage. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Unsinn!) Die Bundesregierung hat eine klare Strategie - nicht sich selbst und allein ausgedacht, sondern wesentlich mitgestaltet - zusammen mit den Verbündeten, eine Strategie, die seit der Londoner Konferenz unter dem Titel "Übergabe in Verantwortung" zusammengefasst wird. Sie setzt voraus, dass wir die Sicherheitskräfte der Afghanen handlungsfähig und kampffähig machen. Auch dafür müssen unsere Soldaten ausgebildet und ausgerüstet sein. Ich bin dem Bundesverteidigungsminister sehr dankbar dafür, dass er persönlich vor Ort das Gespräch mit den Soldaten sucht, auf ihre Wünsche, auch was Ausrüstung betrifft, eingeht und sofort anordnet, dass das eine oder andere, was aus ihrer Sicht notwendig ist, auch sogleich erfolgt. Wir alle wissen allerdings, dass es in einer solchen Auseinandersetzung keine hundertprozentige Sicherheit geben kann. Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben der Ausrüstung brauchen die Soldaten aber etwas anderes ebenso dringend, nämlich die klare Rückendeckung des Deutschen Bundestages und die klare Rückendeckung der Menschen in unserem Lande. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die haben sie nicht!) Die jungen Soldatinnen und Soldaten stehen jeden Morgen auf und riskieren Leib und Leben. Jeden Tag laufen sie Gefahr, ihr Leben zu verlieren. Sie befinden sich in einer psychischen Ausnahmesituation. Sie brauchen die Gewissheit, dass wir an ihrer Seite stehen und zumindest erahnen können, was täglich von früh bis spät in ihnen vorgeht. Wenn wir hier über Begriffe streiten, über den Begriff "Krieg" und wer wo was gesagt und interpretiert hat, dann wird das dem nicht gerecht, was unsere Soldaten fühlen. Es gibt für jeden Begriff eine juristische Dimension. Es gibt auch eine umgangssprachliche Dimension. Aber es gibt für den Begriff "Krieg" vor allem eine emotionale Dimension. Richtig ist natürlich, dass "Krieg" im klassischen völkerrechtlichen Sinn traditionell für die Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehreren Staaten steht. Aber emotional ist "Krieg" das Synonym für Zerstörung, für Tod und für den Kampf ums nackte Überleben. Die Frau Bundeskanzlerin hat in einem Beispiel sehr plastisch geschildert, welche Situation allzu oft vorkommt: Er oder ich - wer wird überleben? In dieser Situation fühlen viele, dass es sich um Krieg handelt. Wie oft wurde nach dem 11. September 2001 gesagt: "Die Terroristen haben uns den Krieg erklärt"? Ja, die Terroristen haben der klassischen Definition von Krieg eine neue Bedeutung hinzugefügt. Sie haben unserer freien Welt den Krieg erklärt. Deswegen haben wir Soldaten geschickt, die wir jetzt nicht allein lassen dürfen. Es ist richtig, dass dieser Staat Oberst Klein in diesem Krieg nicht allein gelassen hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Unsere Hochachtung und unser Respekt gilt dem Mut der Soldaten, ihrem Können, ihrer Professionalität. Es ist ein gefährlicher Einsatz, den die Soldaten an der Seite unserer Verbündeten führen. Es ist ein Einsatz für unsere Freiheit. Wir danken ihnen dafür. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Ruprecht Polenz für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ruprecht Polenz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als die erste Entscheidung über einen Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan fiel, waren Sie, Herr Trittin, genauso Minister einer Bundesregierung wie Sie, Frau Künast. Einer der wesentlichen Gründe, der damals in der Debatte angeführt wurde, war: Wir dürfen den Fehler, den die internationale Staatengemeinschaft nach dem Abzug der Sowjetunion 1989 gemacht hat, nämlich Afghanistan sich selbst zu überlassen, im Jahre 2001/02 nicht wiederholen. Wir haben in den 90er-Jahren gesehen - rückblickend hat es sich als ein Fehler herausgestellt -, dass es nach dem Abzug der Sowjetunion zum Bürgerkrieg kam. Die Taliban haben sich durchgesetzt und in weiten Teilen des Landes eine Schreckensherrschaft errichtet. Sie haben al-Qaida die Zufluchtsräume ermöglicht, die diese Terrororganisation brauchte, um die Anschläge auf das World Trade Center, auf das Pentagon und auch in anderen Teilen der Welt vorzubereiten und durchzuführen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie waren auch in Hamburg!) Wegen der Einschätzung, wir dürfen Afghanistan nicht sich selbst überlassen, weil das eine Gefahr für die internationale Sicherheit ist, beteiligen sich seitdem über 40 Nationen an dem ISAF-Einsatz. Die Gedanken, die wir heute zum Ausdruck gebracht haben - beginnend mit der Würdigung durch den Bundestagspräsidenten am Anfang unserer Sitzung -, machen sich doch auch die Angehörigen von 1 550 Soldaten aus Australien, von 220 Soldaten aus Neuseeland sowie auch beispielsweise Angehörige von Soldaten aus Norwegen, Dänemark und Schweden. Natürlich wäre die Entscheidung in diesen Ländern für einen solchen Einsatz nicht gefallen, wenn die Politiker in Singapur, in den Arabischen Emiraten und in Aserbaidschan - ich will jetzt nicht die über 40 Länder alle aufzählen - nicht zu der gleichen Einschätzung gekommen wären, die heute die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung wiederholt hat. Es ist die internationale Sicherheit, die in Afghanistan auf dem Spiel steht. In einer globalisierten Welt heißt das: Es ist auch die deutsche Sicherheit, die dort auf dem Spiel steht. Deshalb ist der Satz von Peter Struck, dass unsere Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt wird, nach wie vor richtig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Volker Kauder [CDU/CSU], an die SPD gewandt: Wollt ihr nicht klatschen? - Gegenruf des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wir nicken!) Wir sind in Afghanistan, um Schlimmeres für die Menschen dort, insbesondere für die Frauen, zu verhüten. Ich empfehle Ihnen, einmal auf Google unter den Stichwörtern "Taliban" und "Frauen" nachzuschauen. Herr Ströbele, Sie finden dann Listen afghanischer Frauenorganisationen, in denen aufgeführt wird, was den Frauen alles verboten war und welche Strafen sie zu erleiden hatten, wenn sie gegen die Bekleidungsvorschriften oder etwa gegen die Vorschrift, sich nicht die Fingernägel zu lackieren, verstoßen hatten. In diesen Fällen wurden ihnen unter Umständen die Finger abgeschnitten. Auch daran müssen wir erinnern. Das ist ein wichtiger Aspekt in Bezug auf diesen Einsatz. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele? Ruprecht Polenz (CDU/CSU): Ja. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Muss das sein?) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Polenz, Sie haben mich angesprochen und gefragt, ob mir das bekannt sei. Mir ist das bekannt. Es ist schrecklich. Ich will auch viel dafür tun, dass das nie wieder passiert. (Lachen bei der CDU/CSU - Jörg van Essen [FDP]: Wie denn? Dann sagen Sie mal, wie Sie es machen wollen!) Aber man darf keinen Krieg führen. Denn die Frauen sind diejenigen, die am allermeisten unter dem Krieg leiden. Herr Kollege, ich habe vorgestern mit zwei Organisationen, mit dem Afghanischen Frauenverein und mit Medica Mondiale, gesprochen. Diese sagten mir: Die Situation der Frauen ist heute unter der Regierung Karzai und unter dem Schutz der internationalen Gemeinschaft in weiten Teilen des Landes noch so schlecht, dass sich jedes Jahr 200 Frauen verbrennen. Diese Frauen können den Zustand der Erniedrigung und der körperlichen Qualen - des Geschlagenwerdens usw. - nicht ertragen. Das heißt, wir haben es leider überhaupt nicht geschafft, diese Strukturen, in denen diese schlimme Gewalt gegenüber Frauen vorkommt und zur Tagesordnung gehört, zu beseitigen - auch unter dieser Regierung nicht. Es ist also nicht schwarz-weiß, wie Sie versuchen es darzustellen. Ruprecht Polenz (CDU/CSU): Herr Ströbele, jedem, der sich mit Afghanistan und der Entwicklung dort beschäftigt, ist bekannt, dass es nach wie vor erschreckende Ausmaße häuslicher Gewalt gibt und dass die patriarchalischen Strukturen der afghanischen Gesellschaft in vielen Teilen vor allen Dingen im ländlichen Raum nach wie vor zu einer sehr schlimmen Situation für Frauen führen. Aber jedem ist auch bekannt, dass seit dem internationalen Einsatz Mädchen in die Schulen gehen können, Frauen studieren können und Berufschancen haben und dass sich, ausgehend von den städtischen Zentren, die Lage der Frauen im Land verbessert. Wenn Sie sagen, Sie wollten etwas in dieser Richtung beitragen, dann müssen Sie von Ihrer Rhetorik bei der Kritik des Mandats etwas Abstand nehmen. Denn die von mir genannten Effekte hätten Sie nicht, wenn die Taliban in Kabul wieder herrschen würden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich möchte noch etwas zu den Zielen der Taliban sagen. In dem Strategiepapier von McChrystal ist das sehr präzise beschrieben: The insurgents have two primary objectives: controlling the Afghan people and breaking the coalition's will. Their aim is to expel international forces ... Den Willen der Koalition zu brechen, ist also das Ziel. Deshalb ist es wichtig, wie wir nach solchen schrecklichen Anschlägen diskutieren. Wenn wir den Eindruck erwecken, es brauche vielleicht nur noch fünf oder zehn weitere Anschläge und dann sei unser Wille gebrochen und dann würden wir uns aus Afghanistan zurückziehen, gefährden wir die Sicherheitslage unserer Soldaten und laden geradezu zu weiteren Anschlägen ein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Uta Zapf [SPD]) Wir dürfen im Hinblick auf einen Taliban nicht nur die Assoziation "Turban, langer Mantel, barfuß oder mit Sandalen, Kalaschnikow" haben, sondern müssen auch an den Laptop denken. Über diesen Laptop erfährt Spiegel Online zehn Minuten nach einem Anschlag, welche Ziele die Taliban zur Brechung des Willens der deutschen Bevölkerung und der deutschen Politiker verfolgen. Das müssen wir in unsere Diskussion einbeziehen. Deshalb ist auch der eine oder andere Vorwurf an die Art und Weise zu richten, wie die Linke in Deutschland die Diskussion führt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, die Soldaten dürfen sicherlich erwarten, dass wir uns ein realistisches Bild von der Gefährlichkeit ihres Einsatzes machen und dieses Bild auch in unseren Reden vermitteln. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr Wort in Guttenbergs Ohr!) Deshalb ist es richtig, wenn die Bundeskanzlerin, der Außenminister und der Verteidigungsminister - sie alle tun es in der gleichen Weise - von kriegsähnlichen Zuständen oder von Krieg sprechen, um das Geschehen zu charakterisieren. Damit ändert sich aber die völkerrechtliche Lage nicht; das ist damit auch nicht intendiert. Es ist und bleibt, Herr Ströbele, ein Einsatz nach Kapi-tel VII der Charta der Vereinten Nationen. Sie vermischen diese beiden kommunikativen Ebenen absichtsvoll, (Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) um gegen einen Krieg zu polemisieren, den Sie als völkerrechtlichen Krieg darstellen, wobei Sie genau wissen, dass Deutschland diese Art der Kriegsführung verboten wäre. Auch Herr Trittin hat in seinen Beiträgen leider Ähnliches anklingen lassen, Herr Gysi sowieso. Wir müssen uns also gegen diese absichtsvolle Vermengung der beiden Ebenen wehren. Eine realistische Beschreibung der Zustände muss erfolgen. Aber wir müssen klar festhalten: Es bleibt ein völkerrechtlicher Einsatz nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen. Die Vereinten Nationen führen, völkerrechtlich gesehen, keinen Krieg. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Noch eine Bemerkung zur Politik. Herr Trittin, Sie haben kritisiert, dass zu wenig zum innerafghanischen Aussöhnungsprozess gesagt worden sei. Ich stimme Ihnen zu; das ist ein ganz wichtiger Punkt. Denn wenn wir uns im Rahmen der Strategie der Übergabe in Verantwortung zurückziehen wollen, dann muss nach 30 Jahren Krieg und Bürgerkrieg, die in Afghanistan geherrscht haben, ein Zustand erreicht werden, in dem die afghanischen Stämme ihre Interessengegensätze möglichst gewaltfrei austragen und auf das Faustrecht verzichten. Sie wissen aber sehr genau - deshalb war Ihr Vorwurf unredlich -, dass bei den Gesprächen, die Karzai führt, und angesichts der Grenzen, die er versucht einzuhalten, Voraussetzung für diesen Versöhnungsprozess und die Beteiligung daran ist, dass erstens die afghanische Verfassung die Grundlage dessen sein soll, worauf man sich zu verständigen hat, zweitens auf Gewalt verzichtet wird und drittens eine scharfe Abgrenzung gegenüber al-Qaida erfolgt. Das sind die drei roten Linien, innerhalb deren sich der Versöhnungsprozess abspielen muss. Eine letzte kurze - meine Redezeit ist gleich zu Ende - Bemerkung zur Einbeziehung der Nachbarn. Wir sprechen meines Erachtens zu wenig darüber, dass wir Afghanistan nicht dauerhaft stabilisieren können, wenn wir die Nachbarn nicht in diesen Prozess einbeziehen. Über Pakistan wird inzwischen glücklicherweise mehr geredet. Wir reden aber zu wenig über den Iran. Ohne den Iran wird es nicht gehen. Wir haben ebenso wie der Iran ein Interesse an einem stabilen Afghanistan ohne Drogenanbau. Nur bei Stabilität können die Iraner die Flüchtlinge wieder nach Afghanistan zurückschicken; es sind über 1 Million im Iran. Die Iraner sind keine Freunde der Taliban, und sie bekämpfen auch al-Qaida. Es gäbe also genügend Anknüpfungspunkte. Derzeit haben wir natürlich mit dem Iran das Nuklearproblem zu lösen. Ich glaube aber, dass sich das Nuklearproblem möglicherweise leichter besprechen und lösen lassen würde, wenn wir das Spielfeld im Zusammenhang mit einer konstruktiven Zusammenarbeit mit dem Iran im Hinblick auf Afghanistan erweitern würden und dem Iran zeigen würden, welche Rolle wir ihm in der Region zubilligen. (Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN] - Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie recht!) Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Ernst, Jutta Krellmann, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Mit guter Arbeit aus der Krise - Drucksache 17/1396 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Klaus Ernst (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erneut müssen wir uns hier aufgrund der Realitäten in unserem Land über die Frage unterhalten, wie es um die Arbeitsbedingungen, die Löhne, die Situation der Menschen, die ihr Geld durch Arbeit verdienen müssen, steht. Vor allen Dingen weil es veränderte Gewinnerwartungen der Unternehmen gab, die von der Politik entsprechend unterstützt wurden, war die Situation in den letzten Jahren von einer sinkenden Lohnquote geprägt, verbunden mit drastischen Veränderungen in der Arbeitswelt. Ich erinnere an das Zitat von Gerhard Schröder vom Februar 1999: Wir müssen einen Niedriglohnsektor schaffen, der die Menschen, die jetzt Transfer-Einkommen beziehen, wieder in Arbeit und Brot bringt. Ich möchte dazu feststellen: Das mit der Arbeit hat im Einzelfall geklappt; allerdings ist das Brot ausgeblieben. (Beifall bei der LINKEN) Menschen müssen zunehmend in Beschäftigungsverhältnissen arbeiten - Sie wissen das -, von denen man nicht mehr leben kann. Die Politik hat die Voraussetzungen dafür geschaffen: für die Erosion der regulären und gut abgesicherten Beschäftigung in den Unternehmen unseres Landes. Das Ergebnis sind Leiharbeit, Minijobs, die Befristung von Arbeitsverhältnissen und der Abbau des Kündigungsschutzes. Hartz IV und Leiharbeit haben bei den Löhnen und bei der Zahl der regulären Arbeitsverhältnisse zu einem Erdrutsch geführt. Der Steuerzahler ist in der Situation, dass er dies jährlich mit Zuschüssen in Milliardenhöhe finanzieren muss, um die Menschen überhaupt am Leben zu halten. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Vorher hat der Steuerzahler die Arbeitslosigkeit finanziert!) - Herr Kollege, das mag aus Ihrer Sicht so sein. Ich weiß, dass Ihr Satz immer ist: Sozial ist, was Arbeit schafft. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Jawohl!) Ich sage Ihnen: Die Arbeitsplätze, die Sie geschaffen haben, sind unsozial. Deshalb ist es falsch, zu sagen: Sozial ist, was Arbeit schafft. Herr Kollege, Sie müssen schon ein bisschen hinschauen, um zu sehen, wie die Menschen wirklich arbeiten. (Beifall bei der LINKEN - Max Straubinger [CDU/CSU]: Ein Arbeitsplatz ist nie unsozial!) Ich sage Ihnen: Die Situation der Frauen, der jungen Menschen und der Menschen mit Migrationshintergrund - das mag nicht Ihre Klientel sein - ist dramatisch. Wir müssen uns den Fakten zuwenden. Wir müssen uns der Realität zuwenden, dass die Menschen nach einer Umfrage des DGB zu 92 Prozent ein verlässliches und festes Einkommen wünschen. Für sie ist genau das entscheidend, was von Ihnen zunehmend infrage gestellt worden ist, auch durch Ihre Politik. Es ist Fakt: 2008 waren 7,7 Millionen Menschen entweder in Teilzeit oder in befristeten Arbeitsverhältnissen oder als Leiharbeitnehmer beschäftigt. Es ist auch Fakt, dass 6,5 Millionen Arbeitnehmer - das ist fast ein Viertel der Beschäftigten in unserem Lande - nur noch mit Niedriglöhnen abgespeist werden und kein vernünftiges Einkommen mehr bekommen. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!) - Wenn Sie glauben, dass das nicht stimmt, müssen Sie die Statistik lesen. Ich weiß nicht, wie Sie die Statistik fälschen; das sind jedenfalls Zahlen der Bundesagentur für Arbeit aus dem Jahr 2009. 1,37 Millionen Menschen müssen ihr Gehalt aufstocken lassen, weil es nicht mehr ausreicht, um ihr Leben zu bedienen. In der Altersgruppe der 15- bis 20-Jährigen haben nur noch 40,7 Prozent der Beschäftigten eine unbefristete Stelle, in der Altersgruppe der 20- bis 25-Jährigen sind es nur noch 25 Prozent. Mit diesem Zustand dürfen wir uns nicht abfinden. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte, weil es der eine oder andere vielleicht nicht den Linken glaubt, zur Kenntnis geben, was die Süddeutsche Zeitung am 14. April 2010 dazu geschrieben hat. Die Überschrift des Artikels lautete: "Teilzeit und Leiharbeit fressen Demokratie auf". In dem Artikel über die veränderten Arbeitsbedingungen heißt es: Es ändert sich zum Beispiel die Art, in der die solchermaßen Beschäftigten ihr Leben planen können (oder auch nicht). Es ändert sich das Maß, in dem Arbeitnehmer ihre Rechte in Anspruch nehmen - und, um es leicht pathetisch zu formulieren: Mit den Beschäftigungsverhältnissen erodieren auch Institutionen, die einst in der Erkenntnis eingeführt wurden, dass es Demokratie nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft geben muss. In dem Artikel heißt es weiter - das finde ich nun wirklich sehr bemerkenswert -: Wer nur für sechs oder zwölf Monate beschäftigt ist, wird auf die Gründung einer Familie vorerst verzichten. Frau von der Leyen ist bei diesem Thema nicht mehr anwesend. Es ist zwar nett und schön, dass sich Frau von der Leyen um die Fortpflanzungsmöglichkeiten in der Bundesrepublik sorgt und die Familien in den Vordergrund stellen will; das ist richtig. Aber man muss auch in den Vordergrund stellen, wie es denn einem 25-Jährigen oder 22-Jährigen überhaupt noch möglich sein soll, eine Familie zu gründen, wenn er weiß, dass er seinen Job bloß noch einen Monat hat, oder wenn er als Leiharbeiter beschäftigt ist und weiß, dass er in einer Krise als Erster seinen Job verliert. Das ist der Ansatz für Familienpolitik. (Beifall bei der LINKEN) Der Artikel von Herrn Detlef Esslinger ist auch aus folgendem Grund so interessant: Wer auf einen Anschlussvertrag hofft, wird auf der Bezahlung von Überstunden keinesfalls bestehen. Kündigungsschutz kennt ein befristet Beschäftigter allenfalls als Vokabel. Er wird keinen Betriebsrat konsultieren, und schon gar nicht wird er (oder sie) auf die Idee kommen, selber dafür zu kandidieren. Angesichts der realen Arbeitsbedingungen in unserem Land geht es nicht nur um einen Abbau der unmittelbaren Leistungen und um eine Verschlechterung der unmittelbaren Situation der Beschäftigten. Es geht auch um einen Abbau von Demokratie in den Betrieben. Den müssen wir doch wohl gemeinsam verhindern. (Beifall bei der LINKEN) Wir sind nicht damit einverstanden, wenn Sie ausweislich Ihres Koalitionsvertrages nichts gegen Leiharbeit unternehmen wollen; denn wir wissen, dass Leiharbeit eben nicht dem Abbau von Spitzen dient, sondern letztendlich eine Methode ist, vernünftige Arbeitsplätze abzubauen und schlecht bezahlte Jobs in den Betrieben zu schaffen. Wir sind nicht damit einverstanden, dass Sie in Ihrem Koalitionsvertrag schreiben: Wir werden die Möglichkeit einer Befristung von Arbeitsverträgen so umgestalten, dass die sachgrundlose Befristung nach einer Wartezeit von einem Jahr auch dann möglich wird, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein Arbeitsverhältnis bestanden hat. Sie sagen, Sie wollten den Kündigungsschutz nicht verschlechtern. Faktisch machen Sie mit dem, was Sie im Koalitionsvertrag schreiben, den Kündigungsschutz obsolet. Den Menschen muss gar nicht mehr gekündigt werden, weil ihr Vertrag ausläuft und sie dann aus den Betrieben entfernt werden. Wir fordern deshalb: Wir brauchen eine klare Regelung für die Leiharbeit. Es muss gelten: gleicher Lohn bei gleicher Arbeit. (Beifall bei der LINKEN - Zuruf von der FDP: Das steht im Gesetz!) - Richtig, das steht im Gesetz. Aber Sie wissen genauso gut wie ich, dass dieses Gesetz umgangen wird, unter anderem durch gelbe Gewerkschaften, die niedrige Tarife abschließen. Wir brauchen einen Ausschluss der Möglichkeit, von diesem Prinzip abzuweichen. Dem muss sich die FDP anschließen. (Beifall bei der LINKEN) Wenn Sie dauernd die Einführung eines Mindestlohns verweigern und gleichzeitig sagen, Leistung müsse sich lohnen, dann belügen Sie die Leute. Das ist die Realität, Herr Kolb; der sollten Sie sich zuwenden. (Beifall bei der LINKEN) Ich fahre fort. Wir brauchen eine klare Regelung, dass befristete Arbeitsverhältnisse nicht in der Weise verwendet werden, wie es gegenwärtig geschieht. Ein Arbeitsvertrag darf nur wegen eines Sachgrundes befristet werden. Es kann nicht sein, dass Regelungen, die der Schaffung vernünftiger Arbeitsbedingungen dienen, ausgehebelt werden. In unserem Antrag fordern wir unter anderem, dass der Kündigungsschutz gestärkt wird und dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf dadurch verbessert wird, dass zum Beispiel Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die im Schichtbetrieb arbeiten müssen, die Möglichkeit haben, aus dem Schichtsystem herauszukommen, wenn sie kleinere Kinder haben. Oft arbeiten beide Elternteile im Schichtbetrieb und müssen sich abwechselnd um ihre Kinder kümmern. Da schaut das Familienleben so aus, dass der eine auf einen Zettel schreibt: Ich komme heute Abend später. - Wenn er wiederkommt, hat seine Partnerin auf dem Zettel geschrieben: Ja, ich habe es gemerkt. - Das ist nicht der Zustand, den wir wollen. Wir wollen, dass Familie und Beruf besser vereinbart werden können. (Beifall bei der LINKEN) Ich komme zum Schluss. Ich möchte, dass die in unserem Antrag formulierte Forderung, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I auf 24 Monate zu verlängern, realisiert wird, weil wir wissen, dass Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer besonders von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Die Verlängerung der Geltungsdauer der Kurzarbeitsregelungen hat nicht geholfen. Wenn die Betroffenen keine Arbeit mehr haben, müssen sie von Arbeitslosengeld II leben. Das müssen wir ändern. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Johann Wadephul. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesrepublik Deutschland ist gemäß Art. 20 ihrer Verfassung ein sozialer Rechtsstaat. Die soziale Marktwirtschaft ist wahrscheinlich unser bester Exportartikel. Deswegen ist es in der Tat richtig, dass wir immer wieder - besonders in Zeiten einer Wirtschaftskrise, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben - über die Neujustierung unserer Sozialpolitik diskutieren, dass wir Fehlentwicklungen aufgreifen und überlegen, ob es in der Tat Missbrauch oder ein Überhandnehmen der Befristung von Arbeitsverhältnissen gibt. Gibt es zu viel Leiharbeit? Gibt es Missbrauch von Leiharbeit? Über den Fall Schlecker haben wir bereits kritisch diskutiert. All das ist notwendig. Herr Kollege Ernst, zu Ihrer Rede und zu dem Antrag Ihrer Fraktion muss ich sagen: Wir brauchen kein sozialistisches Wünsch-dir-was. Was Ihrer Partei eingefallen ist, lässt Maß und Mitte völlig vermissen. Es wird versucht, das sozialpolitische Miteinander, das wir in Deutschland zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften haben, zu diskreditieren. Das haben weder die Tarifvertragsparteien noch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verdient. Das leistet auch keinen Beitrag dazu, dass das soziale Klima in Deutschland besser wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bemerkenswerterweise sind Sie auf viele Punkte Ihres Antrags nicht eingegangen. Vielleicht sind sie Ihnen peinlich gewesen; vielleicht waren Sie auch etwas zu schnell. Als Porschefahrer lieben Sie die Geschwindigkeit. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich möchte mich zunächst kurz mit den Punkten befassen, die Sie angesprochen haben, insbesondere mit dem Befristungsrecht. Wir werden das genau prüfen. Falls wir auf der Grundlage des Koalitionsvertrages gesetzlich nachsteuern müssen, dann werden wir das maßvoll tun. Die Forderung, die Sie aufstellen - in Ihrer Rede war das etwas missverständlich; im Antrag ist es eindeutig -, die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen völlig abzuschaffen, macht das Übermaß deutlich, das ich eingangs kritisiert habe. Betriebe brauchen in bestimmten Situationen die Möglichkeit, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem Sachgrund - damit haben Sie recht - befristet einzustellen. Klassische Fälle sind eine Schwangerschaftsvertretung, ein hoher Auftragseingang mit der Folge, dass die Aufträge schnell abgearbeitet werden müssen, oder der Fall, dass man eine besonders qualifizierte Arbeitskraft nur für ein bestimmtes Projekt braucht, danach aber nicht mehr. Das alles sind Fälle, in denen wir den Betrieben ermöglichen müssen, befristet einzustellen. Man würde das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn man auch die sachgrundlose Befristung völlig abschaffen würde. Das hilft den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht, Herr Kollege Ernst. Deswegen lehnen wir das schlicht und ergreifend ab. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? - Herr Kollege Ernst möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Was hat er nicht verstanden?) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Bitte. Klaus Ernst (DIE LINKE): Danke für die Möglichkeit, nachzufragen. - Sie haben verschiedene Gründe für eine Befristung genannt. Sie haben erklärt, warum eine Befristung für einen Betrieb möglicherweise sinnvoll sein kann. Am Ende Ihrer Ausführungen kommen Sie zu dem Ergebnis, dass man eine sachgrundlose Befristung braucht. Es tut mir leid, aber das kann ich nicht nachvollziehen. Können Sie mir bitte erklären, warum Sie trotz der vorgetragenen Sachgründe, die möglicherweise richtig sind, zu dem Ergebnis kommen, dass der Arbeitgeber die Möglichkeit haben muss, ohne jeden Grund befristet einzustellen? Können Sie meiner Behauptung zustimmen, dass die Möglichkeit, sachgrundlose Befristungen in den Betrieben durchzuführen, zu dem Ergebnis geführt hat - ich habe es vorhin angesprochen -, dass inzwischen fast die Hälfte der jungen Menschen ohne festen Arbeitsvertrag in den Betrieben eingestellt wird? Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Herr Kollege Ernst, Ihre Rede war an dieser Stelle missverständlicher als der Antrag. In Ihrer Rede haben Sie auch die Sachgrundbefristung infrage gestellt. Deshalb habe ich dazu etwas gesagt. Das ist der erste Punkt. Zweitens. Die Betriebe haben seit Mitte der 80er-Jahre, eingeführt durch Norbert Blüm, die Möglichkeit, ohne einen Sachgrund für maximal zwei Jahre befristet einzustellen. Das ist ein Erfolgsmodell. Aus vielen befristeten Verträgen sind Dauerarbeitsverhältnisse geworden. Weil man den Arbeitnehmer kennengelernt hat, weil man gemerkt hat, was er kann, hat man ihn dauerhaft übernommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ein solches Erfolgsmodell werden wir nicht infrage stellen. Diese Regelung ist seit 1986 im deutschen Recht verankert. Dabei bleiben wir. In der Sache bin ich mit Ihnen vielleicht sogar einer Meinung: Das darf natürlich nicht der Regelfall sein. Der Regelfall soll natürlich ein unbefristetes Arbeitsverhältnis sein. Deshalb habe ich gesagt: Wenn wir hier modifizieren, schauen wir uns ganz genau an, was wir modifizieren. Ich möchte zu einem weiteren Punkt kommen, der mich wirklich umtreibt, zu dem Sie aber gar nichts gesagt haben, nämlich zu den massiven Eingriffen in die Tarifautonomie. Diese ist Ihnen - das wissen wir aus der Mindestlohndebatte - ohnehin nicht so wahnsinnig viel wert. Jetzt wollen Sie in das Tarifvertragsgesetz eingreifen. Sie wollen vorschreiben, dass Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern hergestellt wird. Mit einer gewissen Empörung stelle ich fest, dass Sie den Gewerkschaften unterstellen, dass sie genau darauf nicht schon seit Jahrzehnten achten. Das geschieht. Zeigen Sie mir einen Tarifvertrag, den Gewerkschaften, die dem DGB angehören, unterschrieben haben, in dem von vornherein eine Diskriminierung von Frauen stattfindet! So etwas gibt es nicht. Das möchte ich im Namen der Einzelgewerkschaften des DGB zurückweisen. Das ist das Erste. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Zweite ist: In Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes ist die Tarifautonomie verankert. Sie ist eines der Erfolgsmodelle der Bundesrepublik Deutschland und der Nachkriegszeit. Manch einer in Ihrer Fraktion kennt das aus FDGB-Zeiten noch etwas anders. Das mag einigen als Modell der Zukunft vorgeschwebt haben. Ich sage Ihnen nur: Das ist ein Holzweg. Wir wollen freie Gewerkschaften und freie Arbeitgeberverbände, die im freien Spiel der Kräfte miteinander das Beste für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für die Betriebe aushandeln. Da greift der Gesetzgeber nicht ein. Das ist nicht Aufgabe des Staates. Das ist die Lehre, die wir aus Fehlentwicklungen in der Weimarer Republik und der DDR ziehen. Dabei bleiben wir. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mein dritter Punkt ist: Der Antrag zeigt, dass die Linken teilweise noch in einer utopischen politischen Welt leben und noch immer nicht begriffen haben, dass die DDR nicht nur finanz- und wirtschaftspolitisch, sondern auch sozialpolitisch gescheitert ist. (Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) - Vieles von dem, was Sie vorschlagen, stammt möglicherweise nicht aus Ihrer Feder. Sie müssen das aber vertreten, weil Sie Vorsitzender werden wollen. Das müssen Sie miteinander aushandeln. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Er ist es noch nicht!) Das weiß ich nicht so genau. Aber vieles von dem, was Sie vorschlagen - auf einige Einzelregelungen werden die nachfolgenden Redner noch zu sprechen kommen -, lehnt sich an das Wirtschaftssystem an, das im ehemals unfreien Teil Deutschlands gescheitert ist. Das darf kein Zukunftsmodell für Gesamtdeutschland sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das bedeutet im Ergebnis - das möchte ich Ihnen klar sagen -: Ich sehe hier einige Gefahren. Sie nutzen das soziale Klima - Sie sprechen von sozialer Kälte - für eine populistische öffentliche Propaganda, die gefährlich ist. Der Kollege Hunko hat schon im vergangenen Sommer in Nordrhein-Westfalen Unruhen wie in Frankreich heraufbeschworen und für sinnvoll gehalten. Das ist in der Tat eine Entwicklung - das sage ich insbesondere im Hinblick auf den Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen -, die wir mit Sorge sehen. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Wollen Sie, dass der deutsch-französische Motor stottert?) - Wenn Sie ernsthaft suggerieren wollen, dass die Unruhen der Jugendlichen in den französischen Vorstädten ein Vorbild für Deutschland sind, dann kann ich nur sagen: Das zeigt ganz klar, wohin Sie wollen. Sie wollen nicht sozialen Frieden, sondern sozialen Unfrieden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dass das in der Debatte deutlich wird, ist vielleicht ganz gut. Das heißt im Ergebnis: Die Linke darf keine politische Verantwortung tragen, erst recht nicht in Nordrhein-Westfalen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Möglicherweise dient der Antrag der Profilierung vor der dortigen Wahl. Wir brauchen klare Entscheidungen der Bürgerinnen und Bürger. Sie müssen wissen, worum es geht und vor welchen Alternativen sie stehen. Wir brauchen keine sibyllinischen Auskünfte, insbesondere von Frau Kraft nicht, die in einem Slogan ihren Vor- und Nachnamen wiederholen lässt. Wir brauchen klare Aussagen, nicht von einer Sibylle Kraft, sondern von einer Frau Kraft. Sie muss klar sagen, welche politische Konstellation sie anstrebt und welche sie definitiv - hoffentlich mit einem größeren Aussagewert und mit Glaubwürdigkeit - ausschließt. Ich ziehe daraus den Schluss, dass vernünftige Sozialpolitik in einer sozialen Marktwirtschaft dann gemacht wird, wenn die Union Verantwortung trägt. Jürgen Rüttgers ist dafür der beste Garant. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Zuruf von der LINKEN: Um Himmels willen!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Ottmar Schreiner für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Ottmar Schreiner (SPD): Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Wadephul, ich weiß nicht genau, was der Antrag der Linkspartei mit Jürgen Rüttgers zu tun hat. Sie haben da einen sehr weiten Bogen gespannt. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es war aber interessant!) Sie haben zunächst - wie ich finde: zu Recht - kritisiert, dass der Antrag der Linkspartei eine sehr breite Palette von unterschiedlichsten Vorstellungen enthält. Man könnte auch sagen: Er ist ein Sammelsurium, über das man in der kurzen Debattenzeit nicht seriös diskutieren kann. Sie haben insgesamt circa 40, 45 Vorschläge unterschiedlichster Art zusammengeschrieben. Das macht eine vernünftige parlamentarische Debatte fast unmöglich. Deshalb werde ich versuchen, mich auf einige wenige Punkte zu konzentrieren, die jedenfalls ich für besonders wichtig halte. Zunächst einmal wird im Antrag gefordert, gute Arbeit zu fördern. Das ist auch zentrales Anliegen der Sozialdemokraten. Wir wollen gute Arbeit fördern. Viele Arbeitnehmer wurden gefragt, was für sie gute Arbeit sei. Die Ergebnisse sind eindeutig. Alle Befragungen zeigen, dass der überwiegende Teil der bundesdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter guter Arbeit ein auf Dauer angelegtes, stabiles sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis versteht, von dem die Menschen einigermaßen vernünftig leben können. (Beifall bei der SPD) Das ist das zentrale Anliegen bei guter Arbeit. Wenn ich dies als Messlatte nehme, dann lässt sich überhaupt nicht bestreiten, dass wir es in Deutschland mit mindestens zwei zentralen Fehlentwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zu tun haben, die es in diesem Ausmaß möglicherweise in keinem anderen europäischen Land gibt. Diese Fehlentwicklungen sind teilweise von der Politik gefördert und befördert worden. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Von der SPD sogar!) Also können sie von der Politik auch wieder korrigiert werden. Ich sage in aller Deutlichkeit, dass ich es für eine Schande halte, dass in einem der reichsten Länder der Erde immer mehr Menschen so wenig verdienen, dass sie von ihrem Einkommen nicht mehr leben können. Das ist nicht christlich. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: SPD wollte Niedriglohnsektor! Die SPD!) Das mag liberal sein; aber christlich ist es nicht. Die schlecht bezahlten Jobs werden immer mehr zum Armutsrisiko. Inzwischen ist die Entwicklung so, dass auf zehn Arbeitslose im Hartz-IV-System bereits sechs Hartz-IV-Empfänger kommen, die erwerbstätig sind, von ihrem Lohn aber nicht leben können und über Hartz-IV-Leistungen aufstocken müssen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aufstockung wurde auch von der SPD eingeführt!) - Es geht jetzt im Wesentlichen nicht darum, darüber zu diskutieren, woher es kommt, sondern darum, wie wir es ändern wollen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Uns interessiert auch, wo es herkommt!) - Lieber Kollege von der FDP, Sie haben all den Regelungen, die Sie kritisieren, zugestimmt und zu erheblichen Teilen weitere Verschärfungen hier im Deutschen Bundestag angestrebt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Längst nicht allen!) Wenn Sie sich jetzt hier als Rächer der Enterbten darstellen, ist das pure Heuchelei. Sie sollten den Mund halten, zumindest für die nächste halbe Stunde; danach sehen wir weiter. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Von Ihnen sollten bei diesen Themen nun wirklich keine Zwischenrufe gemacht werden. (Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) - Sind Sie immer noch nicht ruhig? Reicht es nicht? (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das Problem ist, dass die Koalition diese Entwicklung noch verschärfen will. Sie überlegen, die Hinzuverdienstgrenzen für Hartz-IV-Empfänger noch großzügiger auszugestalten. Das heißt, dass die Armutslohnproblematik weiter zunehmen wird. Es ist meine feste Überzeugung und die feste Überzeugung der SPD-Fraktion, dass es nicht Aufgabe der Steuerzahler ist, Unternehmen, die Armutslöhne zahlen, zu subventionieren, (Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie sollten kein verzerrtes Bild von der Wirklichkeit zeichnen!) dass es aber Aufgabe der Politik ist, die Steuerzahler davor zu schützen, Armutslöhne subventionieren zu müssen. Wir wollen kein staatlich subventioniertes Lohndumping. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deshalb fordern wir die Koalition auf, entsprechende Bestrebungen unverzüglich einzustellen und sich unseren Überlegungen zum Thema Mindestlohn anzuschließen. Herr Kollege Wadephul, ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie den Mindestlohn in Verbindung mit einer möglichen Beschädigung der Tariffreiheit bringen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat auf seinem letzten Bundeskongress vor vier Jahren mit einer Mehrheit von 96 Prozent die Forderung nach der Einführung gesetzlicher Mindestlöhne beschlossen. Die Gewerkschaften sind eine zentrale Säule des Tarifsystems. Wenn die Gewerkschaften der Auffassung sind, dass es der politischen Unterstützung bedarf, um zu gewährleisten, dass zumindest im untersten Einkommensbereich halbwegs menschenwürdige Löhne gezahlt werden, dann sollte sich die Politik diesem Ansinnen nicht verweigern. Das hat mit Eingriffen in die Tarifautonomie überhaupt nichts zu tun. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Was die Höhe des Mindestlohns betrifft, wird man debattieren müssen, ob der Vorschlag der Linkspartei - 10 Euro brutto die Stunde - angemessen ist. Ich plädiere sehr dafür, die Kirche im Dorf zu lassen. Dieser Vorschlag ist meiner Meinung nach ein bisschen arg populistisch. Es gibt vernünftige, objektive Kriterien, anhand derer man eine Mindestlohngrenze festlegen kann. Man könnte zum Beispiel die Pfändungsfreigrenze, die Arbeitnehmern im Fall der Überschuldung einen angemessenen Lebensunterhalt sichert, heranziehen. Dann hätten wir einen Mindestlohn von etwa 1 000 Euro netto bei Vollzeitbeschäftigung. Das würde ungefähr unseren Vorstellungen von einem Einstiegsmindestlohn in Höhe von 8,50 Euro brutto die Stunde entsprechen. Ich bin einigermaßen sicher, dass die Gewerkschaften auf ihrem anstehenden Bundeskongress ähnliche Überlegungen anstellen werden. Ich plädiere sehr nachdrücklich dafür, in dieser Frage einen möglichst engen Schulterschluss mit den Gewerkschaften zu suchen, weil sie in besonderem Maße betroffen sind. Die zweite zentrale Fehlentwicklung auf dem Arbeitsmarkt ist die systematische Ausbreitung ungeschützter, prekärer oder atypischer Beschäftigungsverhältnisse. Die Arbeitsmarktflexibilisierung zielt, was die Instrumente betrifft, in die völlig falsche Richtung. Es geht in vielen Bereichen nicht mehr um die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, sondern um den nackten Missbrauch der Instrumente zum Zweck des Lohndumpings. Dem muss ein Riegel vorgeschoben werden. Die Koalition tut auch hier das Gegenteil. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Was?) Sie wollen die Regelungen betreffend die zeitliche Befristung noch stärker lockern. Das ist ein Schritt in die falsche Richtung. (Beifall bei der SPD) 2009 waren fast 50 Prozent der mit jungen Leuten neu geschlossenen Arbeitsverträge zeitlich befristet. Die Union behauptet von sich, eine Familienpartei zu sein. Ich sage Ihnen: Diese Entwicklung ist extrem familien- und kinderfeindlich. Wenn ein 28-jähriger Mann oder eine 30-jährige Frau - das ist übrigens unabhängig von der Ausbildung; es gibt auch sehr viele hochqualifizierte und sehr gut ausgebildete junge Menschen, denen Sie den Start ins Berufsleben massiv vermiesen - nicht wissen, ob sie ein Kind nach zwei Jahren zeitlicher Befristung noch angemessen kleiden und ernähren können, dann entscheiden sie sich nicht für ein Kind. Wir brauchen eine Wiederbelebung des Normalarbeitsverhältnisses. Auch junge Menschen müssen ihr Leben halbwegs vernünftig planen können. Wir brauchen also eine Stärkung und Ausweitung normaler, stabiler, auf Dauer angelegter Arbeitsverhältnisse und eine massive Eindämmung prekärer, sozial ungeschützter Beschäftigung. Alles andere wäre die Rückkehr in das 19. Jahrhundert im modernen Gewand der Tagelöhnerei. Das können Sie als christliche Partei nicht ernsthaft wollen. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Es gibt Alternativen zu dieser Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Es ist von einem Jobwunder in Deutschland die Rede, und es heißt, dass Deutschland bisher die tiefste Wirtschafts- und Finanzkrise seit über 80 Jahren jedenfalls auf dem Arbeitsmarkt einigermaßen gut überstanden hat. Das hat im Wesentlichen mit zwei Flexibilisierungsinstrumenten zu tun: zum einen mit der zeitgemäßen Ausgestaltung der Kurzarbeit in Verbindung mit Qualifizierung und zum anderen mit dem sehr verantwortungsvollen Umgang mit Arbeitszeitkonten. Das sind Flexibilisierungsinstrumente, die sowohl dem Arbeitnehmer als auch dem Unternehmen nutzen. Angesichts des anstehenden demografischen Wandels - ein Facharbeitermangel wird vorausgesagt - wäre es grottenfalsch, hochqualifizierte Arbeitskräfte zu entlassen. Es kommt jetzt darauf an - das ist die zentrale Aufgabe der Politik in der nächsten Zeit -, dass diese bewährten internen Flexibilisierungsinstrumente so ausgestaltet werden, dass sie auch dann zur Anwendung kommen, wenn die tiefe Wirtschafts- und Finanzkrise vorbei ist, und dazu beitragen, die eben genannten arbeitnehmerfeindlichen Flexibilisierungsinstrumente - Leiharbeit, zeitliche Befristung, Praktikantenunwesen usw. usf. - zurückzudrängen. Eine weitere Bemerkung zu dem Antrag der Linken, weil ich finde, dass auch da die Auslassungen des Kollegen Wadephul von der CDU/CSU zumindest unverständlich waren. Herr Kollege Wadephul, wir wissen aus Untersuchungen, dass Frauen in Deutschland trotz gleicher oder gleichwertiger Arbeit im Durchschnitt 23 Pro-zent weniger verdienen als Männer. Wenn das keine gigantische Diskriminierung von Frauen ist! (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Da muss der Gesetzgeber handeln. Er muss einen rechtlichen Rahmen schaffen, auf den sich Frauen, die beim Lohn diskriminiert werden, berufen können. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit. Ottmar Schreiner (SPD): Ich will noch einen letzten Punkt kurz ansprechen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Sie sind am Ende Ihrer Redezeit. Ottmar Schreiner (SPD): Wenn ich diesen Punkt angesprochen habe, ist die Redezeit zu Ende, Frau Präsidentin. (Heiterkeit) Es geht - diesen Punkt werden Sie nachher wahrscheinlich noch angreifen - um die Positionierung zu politischen Streiks. Ich will dazu ganz kurz Klaus Wiesehügel zitieren, der lange Jahre Mitglied dieses Hohen Hauses gewesen ist und Vorsitzender der IG Bauen-Agrar-Umwelt ist. Klaus Wiesehügel hat auf dem Bundeskongress seiner Gewerkschaft ausgeführt: Es ist völlig richtig, dieses Thema innerhalb der Gewerkschaften zu diskutieren. Völlig richtig wäre aber ein Antrag an den Deutschen Gewerkschaftsbund, dafür zu kämpfen ..., dass in der Bundesrepublik Deutschland genau wie in den anderen europäischen Ländern auch der politische Streik eine Selbstverständlichkeit ist. Das wäre völlig richtig ... Wir haben 2004 mit Hunderttausenden in verschiedenen Städten - Köln, Berlin und anderen - gestanden und gegen den Sozialabbau dieser Republik demonstriert. Da ging es ja auch um eine politische Demonstration. Das war ja nicht nur ein Streik. Der Streik kann ja auch durch eine Demonstration an einem bestimmten Tag herbeigeführt werden. Es hat niemand gesagt: Das dürft ihr nicht, das ist verboten. Ich hoffe sehr, dass das auch weiterhin gilt, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Reiner Deutschmann für die FDP-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Reiner Deutschmann (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem großen Sündenfall von Adam und Eva begann die Vertreibung aus dem Paradies. Die Einzelheiten dieser Geschichte kennen Sie; ich muss sie wohl nicht wiederholen. Ich will mir auch nicht den Zorn der Obstproduzenten zuziehen, indem ich die Rolle des Apfels in diesem Drama näher beschreibe. Fakt bleibt: Das Paradies war verloren. Adam und Eva waren fortan gezwungen, zu arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. So weit, so biblisch. Paradiesische Zustände scheinen die Linken im Blick zu haben. (Zuruf von der LINKEN: Jeder muss einen Apfel haben!) Diesen Eindruck muss man jedenfalls gewinnen, wenn man ihren Antrag betrachtet. Allein der Titel "Mit guter Arbeit aus der Krise" bietet eine Steilvorlage für viele philosophische Diskussionen bei toskanischem Rotwein. Von deutschem Rotwein rede ich vorsichtshalber nicht; das würden Sie wahrscheinlich wieder Klientelpolitik nennen. Aber zum Thema: Wo es gute Arbeit gibt, muss es der Logik nach zwangsläufig auch schlechte Arbeit geben. Was ist gute Arbeit? Was ist schlechte Arbeit? Wenn es nur mit guter Arbeit einen Weg aus der Krise gibt: Wer macht dann die schlechte? Der Fraktion Die Linke reichen ein bisschen mehr als sechs Seiten, um die Formel der Arbeitswelt quasi neu zu erfinden. Man fühlt sich wie bei einem der allseits beliebten Best-of-Alben der Musikbranche: Am Ende der Rockkarriere wird noch einmal ein zünftiges Album mit allen Hits aufgelegt. Genauso lesen sich die Evergreens dieses Antrags, die Sie wie mit einem Füllhorn über uns ausgießen. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Es gibt allerdings einen Unterschied: Das waren nie Hits. Es ist also wieder einmal Bescherung bei den Linken, und das mitten im Frühling. Schade ist nur, dass sie uns wieder verschweigen, woher das Geld für diese Wohltaten kommen soll. Selbst die SED-Millionen dürften dafür nicht ausreichen. (Zuruf von der LINKEN: Oh!) Schauen wir uns das einmal genauer an. Wenn man Ihren Antrag liest, könnte man den Eindruck bekommen, in Deutschland herrschten katastrophale soziale Zustände, die ein Fall für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wären. Sie sprechen von Erpressung gegenüber Erwerbslosen und Beschäftigten. Sie sprechen davon, dass auf Arbeitsuchende der Zwang ausgeübt wird, Arbeitsverhältnisse auch zu schlechteren Bedingungen als vorher anzunehmen. Sie sprechen von einem Klima der Angst, das in Deutschland herrscht. In Wahrheit spielen die Linken selbst mit den durchaus vorhandenen Sorgen der Menschen. Die Linken wollen keine Anreize für Erwerbslose, sich um Arbeit zu bemühen. Sie setzen stattdessen auf den immer weiteren Ausbau staatlicher Sozialleistungen. Sie sind gegen die geringfügige Beschäftigung, ohne zu berücksichtigen, dass Tausende Menschen in Deutschland gerade auch diese Beschäftigungsform aus ganz unterschiedlichen Motiven heraus und ganz bewusst gewählt haben, und Sie verteufeln befristete Arbeitsverhältnisse und Zeitarbeitsfirmen mit der Folge, dass die Arbeitgeber dann überhaupt nicht einstellen und viele Arbeitsuchende weiter arbeitslos bleiben würden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Linken, es ist schon erstaunlich, wie Sie versuchen, den Eindruck zu vermitteln, der Staat unternehme nicht genug für in Not geratene Bürgerinnen und Bürger. Dabei hilft eigentlich schon ein kurzer Blick in den Haushalt 2010, um zu erkennen, dass fast die Hälfte unserer Ausgaben für Sozialausgaben aufgewendet wird. Wir haben eines der besten Sozialsysteme der Welt. Gerade gestern hat das Kabinett noch einmal Verbesserungen zum Schutz von Arbeitsplätzen und bei den Hinzuverdienstgrenzen von Hartz-IV-Empfängern beschlossen. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Woher haben Sie eigentlich das Geld?) Durch das Kurzarbeitergeld konnten wir in der Wirtschaftskrise den Anstieg der Arbeitslosigkeit, den andere Länder erleben mussten, vermeiden. Jetzt verlängert die christlich-liberale Koalition diese Maßnahme noch einmal bis zum 31. März 2012. Wir werden den Schülerinnen und Schülern, die in einer SGB-II-Bedarfsgemeinschaft leben, ermöglichen, durch Sommerferienjobs 1 200 Euro anrechnungsfrei hinzuzuverdienen. Das sind nur einige unserer Maßnahmen. Wir tun etwas für die Menschen in diesem Land, statt nur leere Versprechungen zu machen. Anders als den Linken ist es uns wichtig, dass sich Leistung wieder lohnen muss, anstatt Wohltaten bedingungslos mit der Gießkanne über diesem Land auszuschütten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wie war das mit dem Paradies?) Für uns ist es ganz selbstverständlich, dass jeder, der dazu in der Lage ist, seinen Beitrag für die Gemeinschaft leistet, auch, indem er sich aktiv um Arbeit bemüht, anstatt darauf zu warten, dass der Staat kommt und ihm den Arbeitsplatz vor die Tür stellt, wie die Linken es gerne hätten. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wieder diese Hartz-IV-Hetze!) Wir leben in einer Gesellschaft, die die Bereitschaft zur Leistung noch stärker honorieren muss. Die Abkehr vom Leistungsprinzip war einer der Sargnägel für die DDR-Wirtschaft und hat zu ihrem Niedergang geführt. Diese sollte hier heute nicht unser Maßstab sein. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich kann es immer nur wiederholen: Solidarität ist keine Einbahnstraße. Mit nicht finanzierbaren Plänen mindern die Linken die Leistungsbereitschaft der Menschen. Sie gefährden die Solidarbereitschaft derjenigen, die die Steuereinnahmen aufbringen, die Sie so großzügig verteilen wollen. Durch die Verschärfung des Kündigungsschutzes und die Einführung eines Mindestlohnes werden keine neuen Arbeitsplätze entstehen. Das Gegenteil wäre vielmehr der Fall. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Den Mindestlohn zahlt der Unternehmer, nicht der Staat!) Wir können nicht die Augen vor der globalisierten Welt verschließen, wir dürfen bestehende Arbeitsplätze nicht mit massiven Eingriffen in den Arbeitsmarkt gefährden, und wir können nicht mit Steuergeldern Millionen neuer Arbeitsplätze an der Realität vorbei schaffen. Die paradiesische Arbeitswelt, die die Linken den Menschen vorgaukeln, ist ein einziges "Wünsch dir was". (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Mindestlohn!) Dagegen sind die Märchen der Gebrüder Grimm ein reines Sachbuch. Deshalb sagen wir ein klares Nein zur Umverteilungspolitik der Linken, die auch in diesem vorliegenden Antrag wieder zum Ausdruck kommt. Das ist kein Konzept, mit dem man unser Land zukunftstauglich aus der Krise führen kann. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Bitte setzen! Das war das Niveau einer 4. Klasse!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke das Wort. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Wandel in der Erwerbsarbeit ist unübersehbar, und der Trend ist eindeutig. Die Vollzeitbeschäftigung nimmt ab, und sowohl die atypische als auch die prekäre Beschäftigung nimmt zu. In der Folge reichen die Angst und die Unsicherheit vor sozialem Abstieg bis weit in die Mitte unserer Gesellschaft. Die FDP und Teile der CDU/CSU wollen den Nied-riglohnsektor dennoch noch weiter ausbauen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Den Sie erst geschaffen haben, Frau Müller-Gemmeke!) Argumentiert wird ja wieder mit den Arbeitsplätzen. Ob die Beschäftigten von ihrem Lohn leben können oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Parallel gibt es auch noch die unsägliche Sozialstaatsdebatte der FDP. Die Ärmsten werden gegen die Armen ausgespielt. Dieser Weg kann nicht funktionieren, ohne den sozialen Frieden in unserer Gesellschaft aufs Spiel zu setzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das Thema heute ist also richtig und wichtig. Was macht die Linke? Sie legen ein als Antrag getarntes Positionspapier mit einem wilden Sammelsurium an radikalen Forderungen aus Ihrem Programm vor. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das sagen Sie nur, weil Sie es nicht verstehen!) Dazu kann ich nur sagen: Die NRW-Wahl lässt grüßen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die wollen mit Ihnen über Rot-Rot-Grün verhandeln, Frau Müller-Gemmeke!) Mit diesem Antrag versprechen Sie ein Märchenland, das es so nicht geben wird und das auch linksorientierte Bürgerinnen und Bürger so nicht wollen. Wir brauchen eine verlässliche sozialökologische Marktwirtschaft. Ich finde, Sie gaukeln den Menschen etwas vor. Das macht mich wütend; denn ich nehme das Thema wirklich ernst. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das merkt man aber gar nicht!) So werden Sie ihm nicht gerecht. Wir Grünen wollen Fairness in der Arbeitswelt und treten im Interesse der Beschäftigten für gerechte Löhne und gute Arbeitsbedingungen ein. In diesem Sinne gibt es in Ihrem Antrag viele Forderungen, die berechtigt sind und die wir auch unterstützen. Wir fordern eine stärkere Regulierung der Leiharbeit, damit die "Schleckerisierung" in unserer Arbeitswelt ein Ende hat. Wir wollen Mindestlöhne und eine Entfristung der Beschäftigung. Wir halten am Kündigungsschutz fest und wollen eine echte Mitbestimmung. Wir fordern die Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Was für ein Sammelsurium!) Genau bei diesen Themen sehe ich sehr starken Handlungsbedarf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich finde, die Linke überzieht aber viele wichtige Forderungen. Damit werden Sie die Regierung nicht in Bedrängnis bringen. Sie differenzieren auch nicht. Beispielsweise reden Sie immer von "der Wirtschaft". Damit werden Sie vielen Betrieben und vor allem dem Handwerk nicht gerecht. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das Handwerk profitiert doch davon!) Dort gibt es durchaus gute Arbeit. Die Probleme liegen häufig woanders. Teilweise fehlt ein Konzept. Beispielsweise sollen die Minijobs nicht mehr subventioniert werden. Das fordern wir auch. Wir haben aber ein Konzept dafür, nämlich unser Progressivmodell. In Ihrem Antrag werden einfach alle möglichen Forderungen aneinandergereiht. Ich finde das schwach. Ich habe einen höheren Anspruch an unsere parlamentarische Arbeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP - Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das merkt man Ihrer Rede aber gar nicht an!) An einer anderen Stelle sind Sie übrigens ziemlich unehrlich, und zwar bei den Zumutbarkeitskriterien. Leider schaffen Sie es nicht, Tacheles zu reden. Statt eine Arbeitsvermittlung auf freiwilliger Basis zu fordern, schrauben Sie die Hürden derart hoch, dass eine auf Zwang beruhende Arbeitsvermittlung quasi unmöglich wird. Fordern Sie doch einfach das Sanktionsmoratorium! Das fordern etliche Abgeordnete, darunter auch ich, ebenso wie die Initiative für ein Sanktionsmoratorium. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wir auch!) Das wäre ein klares und eindeutiges Zeichen an die Regierung, wenn die Opposition gemeinsam Verschärfungen bei den Sanktionen kritisiert und Veränderungen anmahnt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nun komme ich zu den Punkten in Ihrem Antrag, die ich durchaus als populistisch bezeichnen kann. Sie wollen die paritätische Unternehmensmitbestimmung auf alle Unternehmen ab 100 Beschäftigte ausdehnen und fordern, dass bei erheblichen Entscheidungen auch zwei Drittel des Aufsichtsrates zustimmen müssen. Mit dieser Forderung schießen Sie über das Ziel hinaus. Würden Ihre Forderungen umgesetzt, befände sich die Bundesrepublik im Stillstand. Unternehmerische Entscheidungen wären dann nicht mehr möglich. Sie können mir glauben, dass ich hinter der Mitbestimmung stehe und noch mehr echte Mitbestimmung fordere. Sie sollte aber konstruktiv sein. Mir geht es um gleiche Augenhöhe und um den Interessenausgleich zwischen den Beschäftigten und den Unternehmen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? Frau Kollegin Kipping möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie sie? Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja. Katja Kipping (DIE LINKE): Liebe Kollegin, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie Ihre Redezeit genutzt haben, um auf das Bündnis für ein Sanktionsmoratorium hinzuweisen und darüber zu informieren. Vor dem Hintergrund, dass mit dem Verweis auf das Bündnis ein bisschen der Eindruck erweckt wird, als ob ein Gegensatz zwischen dem Bündnis und unserem Antrag bestünde, frage ich Sie, ob Ihnen bekannt ist, dass sich die Linke bereits in einem früheren Antrag konkret für die Streichung des Sanktionsparagrafen ausgesprochen hat und dass wir alle unsere Vorschläge zu guter Arbeit nicht als Gegenmaßnahme zu dem Sanktionsmoratorium verstehen, sondern dass es im Gegenteil Hand in Hand geht? Denn alle unsere Vorschläge für gute Arbeit erfordern, dass die Erpressbarkeit von Erwerbslosen ein Ende hat. Darauf wollte ich an dieser Stelle gerne hinweisen. (Beifall bei der LINKEN) Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Kollegin Kipping, als ich Ihren Antrag und den Absatz über die Zumutbarkeitskriterien gelesen habe, habe ich mich gewundert. Es ist wirklich ein Herumeiern. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Bei den Zumutbarkeitskriterien geht es auch um das Arbeitslosengeld I!) - Ja, aber ich finde es trotzdem unehrlich, wenn man herumeiert und über Zumutbarkeitskriterien redet, wenn man die Abschaffung der Sanktionen oder zusammen mit der bereits erwähnten Initiative ein Sanktionsmoratorium fordern kann. Dann braucht man Ihre ganzen anderen Forderungen einfach nicht. Eine Arbeitsvermittlung, die auf Freiwilligkeit beruht, reicht aus, und man muss keine anderen Forderungen stellen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die Kollegin möchte erneut nachfragen. - Sie erlauben es? - Frau Kipping. Katja Kipping (DIE LINKE): Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass Sie sich jetzt auch für die komplette Abschaffung der Sanktionen aussprechen. Wie Sie wissen, ist dies noch nicht einmal bei den Grünen eine mehrheitlich vertretene Position. Die Linke ist bisher die einzige Fraktion, die sich eindeutig für die Abschaffung der Sanktionen ausgesprochen hat. Insofern halte ich es schon für sehr angemessen, dass man sich über weitere Zumutbarkeitskriterien vor dem Hintergrund verständigt, dass man auch Teilschritte auf dem Weg dahin braucht, bis der Sanktionsparagraf abgeschafft sein wird. Daher frage ich Sie, ob Ihnen bewusst ist, dass es Sanktionen nicht nur im SGB II gibt, sondern auch im SGB III - das heißt dann Sperrzeiten -, und dass es auch für diesen Bereich sehr sinnvoll ist, dass es geregelte Zumutbarkeitskriterien gibt. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich muss noch einmal sagen, dass in dem Wahlprogramm der Grünen durchaus steht, dass wir ein Sanktionsmoratorium wollen und dass die Vermittlung in Arbeit bzw. in Maßnahmen natürlich den Wünschen, Fähigkeiten und Interessen der Menschen entsprechen soll. Von daher sind Sie nicht die einzige Partei, sondern es steht auch in unserem Wahlprogramm. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie verstehen die Frage nicht!) - Wie bitte? (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mach einfach weiter, Beate! - Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wir geben Ihnen das noch einmal schriftlich!) - Okay, machen Sie das. Ich komme nun zu Ihrer Forderung nach politischem Streik. Dazu hat Kollege Schreiner schon etliches gesagt. Für das Land Berlin, in dem Sie ja an der Regierung beteiligt sind, wäre ein solches Streikrecht natürlich schon eine Katastrophe. Auch Sie haben etliche unpopuläre Dinge durchgedrückt, sodass politische Streiks gerechtfertigt gewesen wären. Ich kann hier nur Kollegen Schreiner unterstützen: Wir können jederzeit streiken und politische Demonstrationen machen. Daher braucht man so etwas in einem solchen Antrag nicht zu fordern. Positiv in Ihrem Antrag ist aber, dass Sie wieder einmal gesetzliche bzw. branchenspezifische Mindestlöhne fordern. Wir wollen sie ja auch. Als sich Ihre Partei noch in den Kinderschuhen befand, haben wir schon einen gesetzlichen Mindestlohn gefordert. Ich kritisiere aber, dass Sie alle, auch die Gewerkschaften, mit der Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro überbieten. Nehmen Sie doch endlich zur Kenntnis, dass wir uns nicht in einem Wettrennen um den höchsten Mindestlohn befinden. Viel wichtiger wäre es, dass wir alle gemeinsam an einem Strang ziehen, weil dieses Thema momentan das wichtigste ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In Richtung Regierungsfraktionen sage ich: Stellen Sie sich endlich dem Thema Mindestlohn. Alle Menschen haben das Recht, dass sie für ihre Arbeit gerecht und fair entlohnt werden. Ein letzter Punkt in Richtung der Linken ist mir jetzt noch wichtig: Sie gaukeln den Menschen vor, dass Sie in der Lage seien, schnell mal 2 Millionen Arbeitsplätze zu installieren. Wie Sie das schaffen und finanzieren wollen, sagen Sie aber nicht. Ich halte dies für unredlich, zumal Sie mit den Emotionen der Menschen spielen, die sich natürlich so schnell wie möglich einen sicheren und gut bezahlten Arbeitsplatz wünschen. Vor allem zeigt es einmal mehr, dass Sie das mit den Arbeitsplätzen nicht richtig verstanden haben, wie im Übrigen die Regierungsfraktionen auch. Sie versprechen die 2 Millionen Arbeitsplätze, aber Sie verbinden dies nicht mit Ihrem Spiegelstrich i). Hier fordern Sie zwar einen ökologischen Umbau der Wirtschaft, aber Sie führen nicht aus, dass überall im Land neue Arbeitsplätze geschaffen können, wenn man den Energiebedarf ausschließlich aus erneuerbaren Energien deckt und auf Atomkraft und Kohle verzichtet. Vielleicht sollten Sie endlich einmal innerhalb Ihrer Partei die Kohlediskussion führen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich komme zum Schluss und appelliere an die Regierungsfraktionen: Denken Sie endlich an die Beschäftigten, denken Sie endlich an die soziale Balance in unserer Gesellschaft, und beschäftigen Sie sich endlich ernsthaft mit dem Thema "gute Arbeit". In Richtung der Linken kann ich nur noch einmal sagen: Mich ärgert dieser Antrag; das haben Sie sehr wahrscheinlich auch gemerkt. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Gemerkt haben wir gar nichts!) Mir ist dieses Thema wirklich wichtig. Ihr Antrag ist für mich zu überzogen; damit macht er dieses Thema kaputt. Es darf nicht nur um Profilierung gehen, und es macht auch keinen Sinn, einen Wettbewerb in allen Bereichen zu veranstalten. Vielmehr sollten wir gemeinsam diese wichtigen Themen aufgreifen und uns hier in diesem Hause ernsthaft mit dem Thema "gute Arbeit" auseinandersetzen, und zwar im Interesse der Menschen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun die Kollegin Mechthild Heil für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Mechthild Heil (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei dem Antrag der Linken "Mit guter Arbeit aus der Krise" trügt schon die Überschrift. Sie müsste eigentlich heißen: Mit primitivem Opportunismus immer weiter in die Krise. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Glauben Sie, dass das Volk das nicht merkt? Wenn sich der Sozialismus nicht offen zeigt, dann zieht er im Kleid des Neides durch die Gesellschaft. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Pascal Kober [FDP] - Zuruf von der LINKEN: Plumper geht es nicht mehr!) Unter dem Punkt "Zumutbarkeit verbessern, Qualität von Arbeit in den Mittelpunkt rücken" fordern Sie zum Beispiel, politische und religiöse Gewissensfreiheit müsste gewährleistet werden. Ein Blick in das Grundgesetz würde Ihnen diesbezüglich sicherlich Auskunft geben. Daran sehen Sie, dass Ihr Antrag rein populistisch ist. Es gibt keine Forderung von Ihnen, ohne dass Sie vorher in den dunkelsten Farben ausmalen, in welch schlechtem Zustand sich unser Land und der Arbeitsmarkt vermeintlich befinden. Ihr Blick auf die Welt ist grau in grau vernebelt. Das mag in Berlin so sein, wo Sie mitregieren. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wissen Sie, wie viele Millionen mittlerweile in prekärer Beschäftigung sind?) Aber die Realität ist anders. Unser Konzept der Kurzarbeit ist zwischenzeitlich ein Exportschlager. Die Menschen im Betrieb können sofort durchstarten, wenn die Konjunktur anspringt. Das führt zu wirklich guter Arbeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die werden von der IG Metall gezwungen, das zu tun!) Sie von der Linken beziehen sich heute auf Angaben des Statistischen Bundesamts, wonach die Reallöhne um 0,4 Prozent gesunken sind. Keine Frage, die Zahl stimmt. Sie ist korrekt. Die Verdienstentwicklung in 2009 hat unter dem Einfluss der Weltwirtschafts- und Finanzkrise gelitten. Ja, das ist in Ordnung. Nicht in Ordnung sind aber die Schlüsse, die Sie daraus ziehen. Sie verschweigen, dass die Statistiker festgestellt haben, der Rückgang um 0,4 Prozent bei den Reallöhnen hänge vor allem von den starken Einbrüchen bei den Sonderzahlungen ab. Besonders hohe Verluste bei Sonderzahlungen mussten zum Beispiel Beschäftigte des Bankensektors, der Versicherungen oder der Automobilindustrie hinnehmen. Die ganze Wahrheit ist also: Die Grundvergütungen, also die Bruttoverdienste ohne die Sonderzulagen, sind letztes Jahr sogar um 1,2 Prozentpunkte gestiegen. Es ist traurig, dass Sie nicht die Kraft haben, das positiv zu kommentieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Einen weiteren Zusammenhang verschweigen Sie. Der Rückgang der Reallöhne um 0,4 Prozent liegt neben dem Einbruch bei den Sonderzahlungen für Banker vor allem an der Kurzarbeit. Sie drückt den statistischen Schnitt, weil nur der reduzierte Lohn in dieser Statistik erfasst wird, nicht aber das gesamte tatsächliche Einkommen der von Kurzarbeit Betroffenen. Also: Die Reallöhne sanken geringfügig um 0,4 Prozent, weil hier das allseits für gut befundene Mittel des Kurzarbeitergeldes statistisch durchschlägt, aber die Grundvergütung stieg um 1,2 Prozent. Ihre Methoden der Verdrehungen haben Väter, von denen Deutschland mit dem Abriss der Mauer befreit wurde. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich finde es unerträglich, dass Sie keine Verantwortung für die unterschiedlichen Gruppen in unserer Gesellschaft übernehmen. Sie säen Misstrauen und Hass unter den verschiedenen sozialen Gruppen. Sie ziehen falsche Schlüsse und blenden einen Teil der Wahrheit aus. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Widerspruch bei der LINKEN) Arbeitgeber und Arbeitnehmer stehen für Sie unversöhnlich gegeneinander. Meine Wirklichkeit ist da wirklich eine andere. (Zurufe von der LINKEN) - Herr Ernst hat schon genug für Sie geschrien. - Vielleicht empfinde ich dies nicht so sehr als Gegensätze, weil ich in meinem Leben schon sowohl auf der Arbeitgeber- als auch auf der Arbeitnehmerseite gestanden habe. Sie schreiben weiter in Ihrem Antrag, dass nur 12 Prozent der Beschäftigten ihre Arbeit als eine gute Arbeit bezeichnen. 55 Prozent bezeichneten ihre Arbeit als mittelmäßig und 33 Prozent sogar als schlecht. Ich kenne diese Zahlen; sie stammen aus dem ersten Quartal 2009. Ich kenne aber auch den aktuellen Arbeitsmarktindex des Emnid-Instituts. Die Daten wurden ganz aktuell, im Januar und Februar dieses Jahres, erhoben, und sie sprechen eine ganz andere Sprache: Die Befragten fühlen sich an ihrem Arbeitsplatz wohl. Der ermittelte Zufriedenheitsindex von 7,5 ist ein guter Wert. Er ist zuletzt sogar gestiegen, zum ersten Mal seit 2008 - trotz der von Ihnen als "katastrophal" bezeichneten Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Mein Fazit: Sie haben das Ohr nicht bei unseren Arbeitnehmern, sondern frönen ideologischer Fiktion. (Ottmar Schreiner [SPD]: Was ist denn eine ideologische Fiktion? Ich habe das nicht verstanden, Frau Kollegin!) Bemerkenswert finde ich insbesondere, dass diejenigen, die am wenigsten in der von Ihnen geforderten Weise vom Staat abgesichert werden, also die Selbstständigen, die Freiberufler oder die Landwirte, mit einem Wert von 8,6 ganz besonders zufrieden sind. Auch das passt nicht in Ihr Weltbild; ich weiß. Sie sollten einmal über Folgendes nachdenken: Auf dem Höhepunkt der Krise gingen einige Experten sogar von einem Anstieg der Arbeitslosenzahl auf 4,5 Millionen aus. Dies hat sich nicht bewahrheitet, zum Glück. Die Forschungsinstitute gehen für dieses Jahr von 3,4 bis 3,5 Millionen Erwerbslosen aus. Das wäre ungefähr das Niveau des vergangenen Jahres. Das sind immer noch viel zu viele Arbeitslose. Um jeden einzelnen wollen und müssen wir uns kümmern. Das ist Teil unseres christlich-liberalen Selbstverständnisses. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir sind durch die Krise noch nicht durch. Wir als Regierungskoalition verschließen nicht die Augen vor der Realität. Wir sind uns der demografischen Herausforderung bewusst. Wir wissen, dass ein Schlüssel zur positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt darin liegt, wie es uns gelingen wird, Ältere länger in das Arbeitsleben zu integrieren, Alleinerziehenden einen besseren Zugang zur Arbeit zu ermöglichen und Menschen mit Migrationshintergrund in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wir führen so die Menschen zum Einstieg in gute Arbeit. Schreiben Sie weiter Anträge voller Textbausteine. Wir packen die Probleme an. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Josip Juratovic für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Josip Juratovic (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Unsere Gesellschaft befindet sich in einer Krise, und das ist eine viel tiefere Krise als nur eine Wirtschafts- und Finanzkrise. Wir befinden uns in einer tiefgreifenden Gesellschaftskrise. Die Menschen haben den Wunsch nach Zielen und Orientierung. Das spiegelt sich wider in Familien, in der Freizeit und in der Arbeitswelt. Das Fundament der fortschrittlichen Entwicklung unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft waren lange Jahre unsere Werte und Tugenden. Wir fuhren auf der Hauptstraße der Werte und Tugenden. Von dieser Hauptstraße des Erfolgs sind wir irgendwann rechts in eine Sackgasse abgebogen. (Pascal Kober [FDP]: Rechts ist nicht wahr!) Diese Sackgasse heißt: reine Wachstumslogik. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Und Agenda 2010!) Wenn wir uns einmal anschauen, wie unsere heutige Wirtschaft funktioniert, wird diese Sackgasse deutlich: Unsere Wirtschaft ist gekennzeichnet vom Kampf um die Eroberung der Märkte und von einem knallharten Wettbewerb, der nicht auf Innovation, sondern auf Produktionskostensenkung beruht. Es gibt vor allem zwei betriebswirtschaftliche Herangehensweisen, wie die Kosten zu senken sind: Erstens. Es bestehen komplizierte Zusammenhänge zwischen dem Stammunternehmen, den Zulieferern, Subunternehmen und Auslandsverlagerungen der Firmen. Das ist die sogenannte Mischkalkulation. Es wird großer Druck aufgebaut, und von jedem Teil dieses Systems werden Kostensenkungen erwartet. Zweitens. Die Arbeit in diesen Unternehmen ist geprägt durch eine Leistungsverdichtung an jedem Arbeitsplatz sowie durch Leiharbeit, Befristungen und Minijobs. Der übertriebene Wettbewerb wird auf die Arbeitnehmer übertragen. Alle leiden unter der Leistungsverdichtung, auch ältere Arbeitnehmer müssen oft olympiareife Leistungen vollbringen. Daher haben wir bei den Arbeitnehmern, aber auch bei den Arbeitgebern eine steigende Unzufriedenheit, eine Entsolidarisierung und eine steigende Zahl psychischer Erkrankungen. In den Betrieben ist nur noch Platz für die Menschen, die bei der Leistungsoptimierung mithalten können. Menschen, die diese Normen nicht erfüllen können, fallen hinten runter oder erhalten einen Armutslohn. Zum Schluss werden die von den Arbeitnehmern mühsam erwirtschafteten Gewinne, die durch die Leistungsverdichtung eingefahren werden, auf dem Finanzmarkt Spekulationen ausgesetzt und vernichtet. Unsere heutige Wirtschaft ist durch dieses System rein wachstums- und gewinnorientiert. Das geht völlig an den Bedürfnissen der Menschen vorbei. (Beifall bei der SPD) Wenn ich mich mit den Menschen in meinem Wahlkreis unterhalte, dann spüre ich eine tiefe Ratlosigkeit. Zahlreiche Menschen, die Probleme mit ihrer Arbeit haben, kommen in meine Sprechstunden. Zu mir kommen Familienväter, die es entwürdigend finden, dass sie, obwohl sie Vollzeit arbeiten, Probleme haben, ihren Kindern die Teilnahme an einer Klassenreise zu ermöglichen. Zu mir kommen alleinerziehende Mütter, die so viel es geht arbeiten und nebenher ihre Kinder betreuen. Sie erzählen mir, wie schwierig es ist, als junge Mutter überhaupt einen Arbeitsplatz zu bekommen. Ich unterhalte mich mit den Hauptschülern, die zahlreiche Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz abschicken. Sie zeigen ein hohes Maß an Engagement und kümmern sich um ihre Zukunft. Trotzdem flattern immer nur Absagen ins Haus, wenn sie überhaupt eine Antwort bekommen. Die Menschen haben die Orientierung verloren. Niemand weiß, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt. Niemand weiß, wie unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem in zwei, in fünf oder in zehn Jahren aussieht. Die Menschen interessieren sich nicht nur für das Hier und Jetzt, sondern vor allem für die entscheidende Frage: Wie geht es weiter? Wie kommen wir aus dieser Sackgasse wieder heraus? Meine Kolleginnen und Kollegen, es wird zwar fraktionsübergreifend gesagt, dass es nach der Krise kein "Weiter so" geben darf. In den Sonntagsreden sprechen alle von Ethik in der Wirtschaft. Leider finden unsere Sitzungen nicht sonntags, sondern donnerstags oder freitags statt, und unter der Woche zählen die schönen Reden vom Sonntag, die man allerorten hört, leider nicht viel. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir müssen eine Antwort auf die Frage finden, wie wir aus dieser Sackgasse herauskommen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land wieder wissen, wohin die Reise geht. Derzeit suchen wir den Ausweg am Ende der Sackgasse. Aus der Sackgasse kommen wir aber nicht vorwärts heraus. Wir müssen umdrehen, um zurück auf die Hauptstraße der Werte und Tugenden zu kommen. Wir müssen Einsicht üben: Ein Schritt zurück von der Wachstumslogik ist kein Rückschritt! Er bietet vielmehr die Grundlage dafür, danach wieder volle Fahrt aufzunehmen und dabei alle in unserer Gesellschaft mitzunehmen. (Beifall bei der SPD) Eine neue Kultur des Anstands in der Arbeitswelt, eine Ethik in der Wirtschaft, hilft allen. Sie hilft nicht nur den Arbeitnehmern, sondern auch vielen, vor allem kleinen und mittleren Unternehmen in unserem Land, die sich dem System der Kostensenkung und der Leistungsoptimierung nicht beugen wollen. Diese anständigen Unternehmer haben recht. Wir müssen sie darin unterstützen, wir müssen zu ihrem Schutz in diesem knallharten Wettbewerb die für sie richtigen Rahmenbedingungen schaffen. In der gesamten Diskussion müssen wir weiter denken als in unseren bisherigen Debatten. Wir müssen über den Gegensatz zwischen Gewinnmaximierung und Umverteilung hinausdenken. Wir brauchen ein neues Konzept, in dem die Lebensqualität an erster Stelle steht und bei dem diejenigen, die Arbeit verrichten, an der Wertschöpfung beteiligt werden. Faire Arbeitsbedingungen müssen Grundlage unseres Wirtschaftserfolges sein und nicht Lohndrückerei und Spekulationen. Eine neue Ethik und Qualität in der Wirtschaft schaffen wir Politiker nicht alleine. Dazu brauchen wir unsere ganze Gesellschaft. Wir müssen gemeinsam mit Gewerkschaften und Unternehmen, Kirchen und vielen weiteren Menschen aus der Gesellschaft zusammenkommen. Wir müssen unseren Anspruch und unser Verhalten grundlegend auf den Prüfstand stellen mit dem Ziel, wieder eine gemeinsame Orientierung und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schaffen. Deswegen brauchen wir Einrichtungen wie die Fortschritts-Enquete-Kommission, die SPD und Grüne diese Woche vorgestellt haben. Eine solche Kommission dient uns als Stadtplan, den wir in die Hand nehmen, um den Weg aus der Sackgasse zu finden. Wir beraten hier den Antrag der Linken: "Mit guter Arbeit aus der Krise". Meine Kolleginnen und Kollegen von der Linken, das, was Sie mit diesem Antrag vorlegen, zeugt nicht davon, dass Sie tatsächlich verstanden haben, wo die gegenwärtigen Probleme liegen. (Beifall der Abg. Anette Kramme [SPD]) Sie verharren beim Gegensatz von Umverteilung und Gewinnmaximierung. Mit Ihren geballten Forderungen zeigen Sie keinen Ausweg aus der Sackgasse auf. Ich frage mich bei Ihrem Antrag: Wollen Sie dabei helfen, ein Zukunftskonzept mit gesellschaftlicher Tragfähigkeit zu schaffen, oder wollen Sie diesen Antrag kurz vor dem 1. Mai nur einbringen, um dafür billigen Applaus zu bekommen? Wir müssen den Menschen in unserem Land nicht nur am 1. Mai zeigen: Wir nehmen ihre Sorgen und Probleme ernst. Wir müssen ihnen zeigen, welchen Weg wir in unsere gemeinsame Zukunft gehen wollen: einen Weg, der uns aus der Krise herausführt und ein lebenswertes Leben für alle ermöglicht. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun der Kollege Pascal Kober für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Pascal Kober (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast auf den Tag genau vor einem Jahr, am 23. April 2009, haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, einen Antrag in den Deutschen Bundestag mit dem vielversprechenden Titel eingebracht: "Gute Arbeit - Gutes Leben". Auch wenn Sie in Ihrem heutigen Antrag mit der Formulierung Ihres Titels nicht mehr ganz so anmaßend auftreten, als könne die Politik ein gutes Leben garantieren, haben Sie sich inhaltlich überhaupt nicht fortentwickelt. Nüchternen und sachlich gebotenen Realismus sucht man in Ihrem Antrag vergeblich. Der Titel mag sich geändert haben, der Geist ist bedauerlicherweise noch immer derselbe. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der Duktus Ihrer Analyse der Wirtschafts- und Arbeitsmarktsituation in Ihrem Antrag - darauf haben sogar Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsparteien hingewiesen - zielt allein darauf ab, ein Zerrbild der Wirklichkeit zu formulieren und die Menschen zu verunsichern. Wenn Sie, lieber Herr Ernst, von einem erdrutschartigen Einbruch bei der Lohnhöhe durch Hartz IV sprechen, konstruieren Sie ein Zerrbild der Wirklichkeit, das allein darauf abzielt, die Menschen zu verunsichern. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meiner Auffassung nach aber steht Politik in der Verantwortung, Probleme nüchtern zu benennen, die Ursachen zu klären, den Menschen Probleme zu erklären und Lösungen für Probleme zu suchen, die Menschen auf Herausforderungen vorzubereiten und ihnen Mut für die Zukunft zu machen. Verunsicherung und Angstpädagogik sind nicht der Stil einer verantwortungsvollen Politik. (Beifall bei der FDP) Inhaltlich, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, versprechen Sie den Menschen wieder einmal das Blaue vom Himmel. Darauf im Einzelnen einzugehen, dafür fehlt an dieser Stelle leider die Zeit. Aber auf einer grundsätzlichen und allgemeinen Ebene möchte ich doch einige Anmerkungen machen, damit die unterschiedliche Geisteshaltung zwischen Ihnen und dieser christlich-liberalen Koalition deutlich wird. Im Kern beruhen all Ihre Forderungen auf der Idee eines Idealarbeitsverhältnisses: angestellt, gewerkschaftlich organisiert, sozialversicherungspflichtig, hoch entlohnt. Dass das erstrebenswert ist, ist auch für uns keine Frage, wobei wir die selbstständige und unternehmerische Tätigkeit in keiner Weise geringschätzen. Der Unterschied zwischen uns und Ihnen ist: Wir wissen, dass diese Arbeitsverhältnisse am effektivsten und stabilsten im System der sozialen Marktwirtschaft entstehen und glücklicherweise für die überwiegende Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegenwärtig Wirklichkeit sind, ganz egal, was Sie dagegen sagen. Sie versuchen - das ist ein weiterer Unterschied -, diese Arbeitsverhältnisse per Gesetz festzulegen. Dabei übersehen Sie, dass Sie zugleich um diese Arbeitsverhältnisse herum eine Mauer errichten, die gerade für diejenigen, die draußen sind, die keine Arbeit haben, also die Arbeitslosen, unüberwindbar ist. (Beifall bei der FDP) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, was wir aber brauchen, um auch denjenigen Menschen gerecht zu werden, die einen Arbeitsplatz suchen, sind stabile und gangbare Brücken in den Arbeitsmarkt. Wir als christlich-liberale Regierungskoalition wollen diese gangbaren und stabilen Brücken für diese Menschen bauen. Wir werden verhindern, dass Langzeitarbeitslose dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt herausgehalten werden. Das wäre nämlich die Konsequenz aus den Forderungen Ihres Antrages. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich möchte aus Zeitgründen nur ein Beispiel für das herausgreifen, was Sie in Ihrem Antrag formulieren. Sie fordern, dass Eltern von Kindern unter zwölf Jahren auf Verlangen von Schichtarbeit befreit werden können, ohne dass der Arbeitgeber dagegen betriebliche Gründe geltend machen kann. Auch hier ist deutlich zu erkennen, dass Sie die Folgen Ihrer Politik nicht im Blick haben. Wäre es denn dann nicht so, dass Unternehmen, in denen in Schichten gearbeitet wird, weniger oder keine Arbeitnehmer mit Kindern mehr einstellen würden? Ist das Ihr Ziel? (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Genau so ist es!) Ihren Lösungsvorschlag auf dieses Problem kann ich mir leicht vorstellen: Er wäre bestimmt, eine Quote von Beschäftigten mit Kindern festzulegen, die die Unternehmen dann erfüllen müssten. (Beifall bei der FDP) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, es ist doch bemerkenswert - das sollte zum Nachdenken anregen -, dass gerade in denjenigen Bundesländern die Anzahl an Arbeitsplätzen und an Ausbildungsplätzen am höchsten ist, wo man sich am hartnäckigsten einer solchen Politik, wie Sie sie hier vorschlagen, enthalten hat. (Beifall bei der FDP - Ottmar Schreiner [SPD]: Dass Sie als Pfarrer so gegen die Kinder argumentieren, ist wirklich erschütternd!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst? - Das Wort hat der Kollege Ernst. Klaus Ernst (DIE LINKE): Herr Kollege Kober, vielleicht freuen Sie sich über die Verlängerung Ihrer Redezeit. - Menschen mit kleinen Kindern fällt es schwerer, ihre Kinder vernünftig zu betreuen, wenn beide Elternteile in Schichtarbeit eingesetzt werden. Sie haben aber Folgendes gesagt: Wenn diese Menschen das Recht hätten, vorübergehend aus der Schichtarbeit auszusteigen, dann würde das dazu führen, dass sie von Betrieben im Schichtbetrieb nicht mehr eingestellt würden. Glauben Sie tatsächlich, dass Menschen auf Kinder gänzlich verzichten würden, nur um eingestellt zu werden? Oder glauben Sie nicht, dass die Arbeitgeber, wenn wir eine solche Regelung hätten, gezwungen wären, Eltern mit Kindern einzustellen, weil es sonst keine anderen Bewerber mehr gibt? (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gut gemeint ist nicht immer gut, Herr Ernst!) Ich muss Ihnen auch noch diese Frage stellen: Was ist denn das für eine Herangehensweise, wenn man nicht akzeptiert, dass es gerade Eltern, die sich in Schichtarbeit befinden, massiv erschwert wird, ihre Kindererziehung vernünftig zu organisieren und Familie und Beruf zu verbinden? Sind Sie tatsächlich der Auffassung, dass man dies dem freien Spiel der Kräfte überlassen sollte, was dazu führen würde, dass viele Menschen auf Kinder verzichten? Es gibt doch schon jetzt einen Geburtenrückgang, weil es sich Menschen unter diesen Voraussetzungen organisatorisch und finanziell nicht mehr leisten können, Kinder zu haben. Pascal Kober (FDP): Lieber Herr Ernst, ich glaube vor allen Dingen, dass wir die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf verbessern müssen. Wir können als Gesetzgeber und als Politiker auf allen Ebenen etwas dafür tun, die Betreuung von Kindern zu verbessern. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Wenn die Forderung aus Ihrem Antrag per Gesetz umgesetzt würde, dann würde es dazu führen, dass sich Unternehmen bei der Einstellung von Menschen mit Kindern zurückhalten würden. Damit würde auf die Menschen ein zusätzlicher Druck ausgeübt werden, keine Kinder mehr zu bekommen. Deshalb glaube ich, dass diese Forderung in der Tat nicht richtig ist. Deshalb wehre ich mich dagegen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Ulrich Lange. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ulrich Lange (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Schreiner, ich muss Ihnen zum ersten Mal recht geben - aber nur in folgendem Punkt -: Worüber wir heute diskutieren, ist ein unseriöses Sammelsurium. (Beifall bei der CDU/CSU) Dies ist eine Tatsache. Wir haben es gehört: Dies ist populistisch der NRW-Wahl geschuldet. Der vorliegende Antrag ist eine Verkürzung des sogenannten Parteiprogramms der Linken, besser ausgedrückt und zusammengefasst unter dem Stichwort: Lafontaine'sches Manifest. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Nur nicht neidisch sein!) Er ist zum Glück bloße Theorie. Würde Ernst daraus, würden wir ihn umsetzen, wir hätten eine beispiellose Rezession in Deutschland. Es gäbe sehr viele Arbeitslose mehr, und Sie hätten Probleme, sie zu zählen. Das muss man ganz deutlich sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn diese Bundesregierung - ich nehme die Vorgängerregierung hinzu - etwas bewiesen hat, dann ist es das, dass wir seit Beginn der Krise erfolgreiche Arbeitsmarktstrategien gefunden haben. Wir hatten in der Spitze fast 5 Millionen Arbeitslose und liegen jetzt trotz Krise aufgrund der eingeführten Mechanismen bei circa 3,5 Millionen. (Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) - Herr Ernst, jetzt bin ich an der Reihe. Sie haben heute genug gebrüllt. Jetzt darf ich das. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie können es aber nicht so gut!) - Das werden wir schon sehen. Ihr Antrag ist letztlich nichts anderes als eine Jobvernichtung. Die Konjunkturlokomotive Deutschland in Europa würde zum Bremser. Nachdem Sie mit Ihrer letzten Wahlkampfparole "Reichtum für alle" bei der Bundestagswahl gescheitert sind, versuchen Sie es jetzt mit einem neuen Antrag. Herr Ernst, Kollegen von der Linken, die Bevölkerung ist viel zu intelligent, um auf diese Thesen hereinzufallen und zu glauben, dass man in Deutschland damit wirklich weiterkommt. (Beifall bei der CDU/CSU - Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Im Gegensatz zu Ihnen haben wir zugelegt! - Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie haben verloren, wir haben gewonnen!) - Wir werden sehen, worauf es am 9. Mai hinausläuft. Ich bin mir sicher, dass die christlich-liberale Koalition in Nordrhein-Westfalen ein gutes Ergebnis erhalten und weiterregieren wird, damit wir die Krise erfolgreich meistern können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Anette Kramme [SPD]: Die Hoffnung stirbt zuletzt!) Lassen Sie mich noch zu einigen Punkten in Ihrem Antrag etwas sagen. Im vorliegenden Antrag sehen Sie letztlich vor, die Zeitarbeit zu beenden. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja!) - Dann geben Sie es endlich zu und schreiben Sie nicht irgendetwas von Equal Pay usw. Sagen Sie einfach, dass Sie sie beenden wollen. - Sie ignorieren den 11. AÜG-Bericht. Sie ignorieren den Bericht der Bundesagentur, in dem dargelegt wurde, dass Zeitarbeit inzwischen ein erheblicher Faktor ist. Über deren Brückenfunktion und die damit verbundene Flexibilisierung haben wir in diesem Hause schon mehrfach gesprochen. Zu Ihrer Forderung eines Kündigungsschutzes für alle. Populistischer geht es nicht mehr. Ihnen sollte klar sein, dass Sie damit gerade kleinen Familienbetrieben bzw. Handwerksbetrieben jeglichen Handlungsspielraum nehmen. Das ist das Ende solcher Betriebe. Ich kann nur sagen: Sie wollen das wohl so. Diese Forderung ist schlicht und ergreifend nicht realistisch. Zu Ihrer Forderung eines Mindestlohns. Über die Höhe rede ich gar nicht. Nehmen wir uns ein Beispiel am Pflegedienst. Dies ist eine Sache der Tarifparteien. Sie wollen die Höchstarbeitszeit auf 40 Stunden begrenzen. Wir haben ein sehr gutes Arbeitszeitgesetz. Weniger Flexibilität bei der Arbeitszeit können wir uns mit Sicherheit nicht leisten. Sie schreiben in Ihrem Parteiprogramm, dass Sie am Ende eine Wochenarbeitszeit von 30 Stunden bei vollem Lohnausgleich wollen. Wie soll das funktionieren? Ich sage ganz offen: Das ist unseriös. Zur sachgrundlosen Befristung. Ich habe heute eines gelernt: Die sachgrundlose Befristung hängt mit Fortpflanzung zusammen. Über dieses Wort, Herr Ernst, bin ich ein bisschen erschrocken. Ich freue mich jeden Tag an meinen Kindern. Ich empfinde sie nicht als Fortpflanzung, sondern als ein ganz großes Glück; das muss ich Ihnen in dieser Deutlichkeit sagen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wenn man Kinder nur in einen finanziellen Kontext stellt, dann zeigt das - - (Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage) - Ich lasse keine Zwischenfrage zu, auch wenn Sie sich fünfmal melden. Sie bekommen von mir keine Redezeit mehr. Da können Sie machen, was Sie wollen. Wir halten an der sachgrundlosen Befristung fest. Sie hat eine positive Wirkung und ist Türöffner für dauerhafte Arbeitsplätze in den Betrieben. Sie ist - darum geht es in diesem Zusammenhang - im Teilzeit- und Befristungsgesetz geregelt. Das Gesetz beinhaltet den Rechtsanspruch auf Teilzeitbeschäftigung, der die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert. Zum politischen Streikrecht kann ich nur sagen: Wir haben eine hervorragend funktionierende Sozialpartnerschaft, die wir nicht riskieren sollten. Belegschaftsabstimmungen über wesentliche Betriebsentscheidungen bedeuten letztendlich Enteignung. Ich möchte an dieser Stelle klar festhalten: Das ist mit wahren Demokraten nicht zu machen. (Zurufe von der LINKEN) Sie wollen mithilfe von Förderprogrammen insgesamt 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen. Sagen Sie doch einmal, wo Sie das Geld hernehmen wollen! Frau Kollegin, Sie haben mir wirklich aus der Seele gesprochen - das kommt nicht allzu oft vor -: Es ist wirklich ärgerlich, dass wir uns heute mit Ihren unrealistischen Forderungen beschäftigen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Herr Ernst, Sie haben vorhin die Süddeutsche Zeitung zitiert; auch ich möchte das tun. Dort heißt es über den Entwurf Ihres neuen Parteiprogramms, er sei "Sozialismus in Neuauflage". Letztendlich geht es in Ihrem Programm um nichts anderes. Sie polarisieren: hier der ausgebeutete Arbeitnehmer, dort der böse Arbeitgeber. So ist jedoch die Realität nicht. Wir haben Unternehmergeist, Ideen, Mut, das Eigentum der Unternehmer, das sie zusammen mit engagierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in fairer Partnerschaft einbringen. Genau das wollen wir: soziale Marktwirtschaft. Sie ist ein Erfolg für gute Arbeit, nichts anderes. Daran wollen wir festhalten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Zuruf von der LINKEN) Nehmen Sie sich ein Beispiel: Nehmen Sie Nachhilfeunterricht bei unserer Bundesarbeitsministerin! Ich nenne nur den Titel des Gesetzentwurfes, der gestern vom Kabinett verabschiedet wurde: Gesetz für bessere Beschäftigungschancen am Arbeitsmarkt - Beschäftigungschancengesetz. Es geht hier letztlich um die Grundsatzfrage: soziale Marktwirtschaft oder Sozialismus? Sie wollen den Sozialismus. Damit haben Sie einen Teil Deutschlands schon einmal vor die Mauer gefahren. Wir werden uns dagegenstellen. Wir glauben an das Miteinander von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Wir stehen zur sozialen Marktwirtschaft, die ein Erfolgskonzept für gute Arbeit ist. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Ernst. Klaus Ernst (DIE LINKE): Herr Kollege Lange, Sie sagen, es sei ärgerlich, dass wir uns mit diesem Thema beschäftigen. Ich kann mir vorstellen, dass das für Sie ärgerlich ist; denn dabei werden die Defizite dieser Regierung deutlich vor Augen geführt. Ich möchte auf das Beispiel der Menschen mit Kindern eingehen. Können Sie sich vorstellen, dass sich ein junger Mensch, der nach der Ausbildung nur befristet übernommen wird, tatsächlich überlegt, ob er zusammen mit seiner Partnerin Kinder in die Welt setzt oder ob er es angesichts der Tatsache, dass er bei einem befristeten Arbeitsplatz möglicherweise nur ein halbes Jahr oder ein Jahr beschäftigt ist, vielleicht gar nicht verantworten kann, weil er gegebenenfalls Probleme hat, seine Familie zu ernähren? Herr Lange, können Sie sich vorstellen, dass sich jemand, der sich in einem Leiharbeitsverhältnis befindet, angesichts der Tatsache, dass Leiharbeitnehmer die ersten sind, die aus den Betrieben entfernt werden - das war auch in dieser Krise so -, überlegt, ob er Kinder in die Welt setzt, weil er sie kaum noch ernähren kann, wenn er den Job verliert und auf Sozialleistungen dieses Staates angewiesen ist? Können Sie sich vorstellen, dass die Familienpolitik auch Ihrer früheren Familienministerin unter diesen Umständen konterkariert wird? Sie sollte dazu führen, dass man lustvoll dazu beiträgt, dass dieses Land nicht ausstirbt. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Lustvoll! Darum geht es! Da spielen ganz andere Fragen eine Rolle!) Können Sie sich vorstellen, dass wir unter diesen Bedingungen tatsächlich darüber nachdenken müssen, ob wir Regelungen wieder einführen, die wir in diesem Land schon gehabt haben? Die Regelungen galten im Westteil, nicht im Ostteil des Landes; es handelte sich also nicht um irgendeine Form des Sozialismus. Herr Lange, wenn Sie all das verneinen, dann kann ich Ihnen sagen: Sie haben sich von der Realität der Menschen, insbesondere der jungen Menschen und der Menschen, die in schlechten Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind, vollkommen verabschiedet. Das werden wir den Menschen auch sagen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Zur Erwiderung Herr Kollege Lange. (Ottmar Schreiner [SPD]: Aber lustvoll!) Ulrich Lange (CDU/CSU): - Gut, also ich antworte lustvoll. Herr Kollege Ernst, ja, ich kann mir das vorstellen, weil ich nicht davon ausgehe, dass ein Kinderwunsch einzig und allein an der materiellen Situation einer Familie, einer Partnerschaft, der Mütter und Väter hängt. Das ist mir zu wenig. Ich kenne viele damalige Kommilitoninnen und Kommilitonen, die mitten im Studium Kinder bekommen haben. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wahnsinnig viele!) - Das gab es, und das gibt es natürlich heute noch. Ich kenne viele Familien, die Hartz IV empfangen und interessanterweise auch viele Kinder haben. Ich kenne viele Familien von Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern, die sehr wohl Kinder haben. Herr Ernst, Kinder sind etwas anderes, Kinder sind ein Glück und nicht nur eine Frage des Geldbeutels. So sollten wir wieder denken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Dass Kinder ein Armutsrisiko sind, wissen Sie nicht!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach diesem beinahe lustvollen und - zumindest von einer Seite des Hauses - an die Grenze des Kabarettistischen gehenden Austausches über die Familienpolitik fällt es schwer, sich wieder in die Niederungen dessen zu begeben, was wir in dem Antrag der Linken vor uns liegen haben. Der Antrag versammelt alles, was es an Monstrositäten und Skurrilitäten aus dem linken Lager so gibt, Herr Ernst, eine beachtenswerte Gesamtschau sozialistischer Irrungen und Wirrungen, ein Kompendium wirtschaftlichen und sozialpolitischen Kompetenzdefizits. (Pascal Kober [FDP]: So ist es!) Ich will es mir ersparen, auf die einzelnen Vorschläge einzugehen. Da ist viel Richtiges gesagt worden. Aber ich will einige Punkte hervorheben, an denen sich die Differenz zwischen unseren politischen Ordnungsvorstellungen sehr deutlich konkretisiert. Da ist zunächst einmal der Begriff der Solidarität. Der wird ja in der Geschichte - auch der Arbeiterbewegung - groß geschrieben, auch wenn diese Solidarität zunächst einmal transnational organisiert werden sollte. Solidarität bedeutet gegenseitiges Einstehen in einer Rechtsgemeinschaft, also ein gegenseitiges Hilfeversprechen. Dieser Anspruch auf gegenseitige Hilfe entsteht auf der Grundlage von Leistung und Gegenleistung. Davon ist bei Ihnen aber nichts zu spüren, denn der solidarischen Leistung der Unterstützung bei Arbeitslosigkeit entspricht bei Ihnen keine Gegenleistung. (Beifall bei der CDU/CSU) Das machen Sie dadurch deutlich, dass Sie sagen: Wir wollen eine sanktionsfreie Mindestsicherung. Das heißt nichts anderes als ein Abschied vom Prinzip der Solidarität. Die sanktionsfreie Mindestsicherung ist die dauerhafte Subventionierung der Arbeitsunwilligen durch die Arbeitswilligen. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist der Abschied vom Prinzip der Solidarität zugunsten einer Alimentierung der Privatisierung Einzelner auf Kosten der Allgemeinheit. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Logisch zu Ende gedacht führt aber dieser Abschied von der Solidarität nicht zum allgemeinen gesellschaftlichen Reichtum, sondern zu einer Entsolidarisierung in der Gesellschaft und zu einer materiellen und geistigen Verarmung. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Und Demotivation!) Aber mit der materiellen und geistigen Verarmung haben Sie ja historisch schon Ihre eigenen Erfahrungen gemacht. (Beifall bei der CDU/CSU) Herbert Wehner hat vor 40 Jahren gesagt: Das sozialistische Experiment in der DDR kann nur in einem großen Katzenjammer enden. Und das ist noch das Höflichste, was sich darüber sagen ließ. (Beifall bei der CDU/CSU - Klaus Ernst [DIE LINKE]: Über was reden Sie eigentlich hier?) Der zweite Punkt: Ich habe den Eindruck, dass Sie den Arbeitsmarkt mit Ansprüchen auf gesellschaftliche Änderungen überlasten. Sie begehen damit etwas, was André Comte-Sponville in einem sehr lesenswerten Buch über die Frage, ob der Kapitalismus moralisch sein kann, als Verwechslung der Ordnungen bezeichnet - also etwa das Koalitionsrecht in einem Generalstreik zur Durchsetzung politischer Forderungen zu missbrauchen oder die Auftragsvergabe der öffentlichen Hand an gesellschaftliche Reformziele zu koppeln, die an sich für den Zweck der Auftragsvergabe systemfremd sind. Mit diesen teilweise massiven Eingriffen in das Wirtschaftsleben wird die Wirtschaft zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele feingesteuert. André Comte-Sponville nennt das die Tyrannei der höheren Ordnung. Wir meinen allerdings: Der Staat soll einen Ordnungsrahmen für die Wirtschaft setzen, aber nicht versuchen, gesellschaftliche Utopien durch wirtschaftliche Prozesse zu verwirklichen. Mit dieser Zurückhaltung sind wir in den 60 Jahren der sozialen Marktwirtschaft gut gefahren, mehr noch: Wir haben das konkurrierende Modell einer sozialistischen Planwirtschaft abgehängt. Wir brauchten es weder einzuholen noch zu überholen, wir haben es einfach abgehängt. Es ist zu Recht in der Asservatenkammer der Geschichte gelandet. Dass Sie als Verlierer der Geschichte die Stirn haben, uns zu sagen, dass wir ein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem brauchen, (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ungeheuerlich!) zeigt nur eines: Aus der Geschichte haben Sie nichts gelernt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ein dritter Punkt. Für Sie kommt alles Heil vom Staat. Für uns ist es zunächst der Einzelne, der in Freiheit und Selbstverantwortung handelt. Für uns gilt der Grundsatz der Subsidiarität, der gesellschaftlichen Selbstorganisation. Deshalb ist auch der Staat subsidiär, also nachrangig gegenüber der Selbstverantwortung des Einzelnen und der Selbstorganisation der Gesellschaft. Dass Sie mit diesem Konzept Probleme haben, erstaunt mich nicht. Ihre Tradition ist die Tradition staatlicher Gängelung, staatlicher Bevormundung und staatlicher Planung. Damit haben Ihre geistigen und politischen Ahnen die Biografien von Millionen Menschen zerstört. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Klaus Ernst [DIE LINKE]: Bayern war wirklich ein schlimmes Land!) In einem seltenen Anfall von partieller Selbsterkenntnis schreiben Sie in Ihrem Programm über die DDR: Die Demokratie blieb auf der Strecke, und eine ökologische Orientierung hatte keine Chance. Die Zentralisation der ökonomischen Entscheidungen und die bürokratisierte Form der Planung und Leitung der Volkswirtschaft sowie die weitgehende Einschränkung betrieblicher Selbstständigkeit führten langfristig zu einem Zurückbleiben der Innovations- und Leistungsfähigkeit. Das ist alles richtig. Ich frage mich, wie Sie mit dem alten Wein der Denkungsart, den Sie lediglich in einen neuen Schlauch einer Partei gegossen haben, eine Wiederholung dieses nationalen Unglücks verhindern wollen. Die Probe aufs Exempel will ich nicht machen, weil ich der Meinung bin: Es gilt, den Anfängen zu wehren. Mit ihrem Konzept der guten Arbeit wird kein Weg aus der Krise gewiesen. Im Gegenteil: Das Konzept zeigt nur auf, wie die Krise politisch verstärkt werden kann. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Über den Antrag haben Sie gar nicht geredet! Ihre Begründung war äußerst dünn!) Wir werden Ihr Konzept ablehnen, was Sie sicherlich nicht überraschen wird. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1396 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 g sowie Zusatzpunkte 4 a bis 4 f auf: 28 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung krankenversicherungsrechtlicher und anderer Vorschriften - Drucksache 17/1297 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Filmförderungsgesetzes - Drucksache 17/1292 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Rechtsausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2010 (ERP-Wirtschaftsplangesetz 2010) - Drucksache 17/1294 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Finanzausschuss Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 2. Oktober 2008 des Übereinkommens vom 3. September 1976 über die Internationale Organisation für mobile Satellitenkommunikation (International Mobile Satellite Organization - IMSO) - Drucksache 17/1295 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie auf dem Gebiet des Umweltrechts sowie zur Änderung umweltrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/1393 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Musterwiderrufsinformation für Verbraucherdarlehensverträge, zur Änderung der Vorschriften über das Widerrufsrecht bei Verbraucherdarlehensverträgen und zur Änderung des Darlehensvermittlungsrechts - Drucksache 17/1394 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Frauenhäuser ausreichend zur Verfügung stellen und deren Finanzierung sichern - Drucksache 17/1409 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO ZP 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Lisa Paus, Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Finanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einführen - Drucksache 17/1422 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der Forschungsinstitute für die Gemeinschaftsdiagnose gewährleisten - Drucksache 17/1424 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Umweltberichterstattung in die Gemeinschaftsdiagnose aufnehmen - Drucksache 17/1423 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Schlecht, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der Forschungsinstitute für die Gemeinschaftsdiagnose gewährleisten - Drucksache 17/1405 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gentechnisch veränderte Amflora-Kartoffel zuverlässig aus der Lebensmittel- und Futtermittelkette fernhalten - Drucksache 17/1410 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hilde Mattheis, Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Qualität und Transparenz in der Pflege konsequent weiterentwickeln - Pflege-Transparenzkriterien optimieren - Drucksache 17/1427 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Es handelt sich dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/1409, das betrifft den Tagesordnungspunkt 28 g, soll dem Haushaltsausschuss ausschließlich zur Mitberatung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Auch das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes - Drucksachen 17/717, 17/1209 - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) - Drucksache 17/1463 - Berichterstattung: Abgeordnete Patricia Lips Ingrid Arndt-Brauer Dr. Birgit Reinemund Richard Pitterle Lisa Paus Dabei handelt es sich um eine Beschlussfassung zu einer Vorlage, zu der keine Aussprache vorgesehen ist. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1463, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/717 und 17/1209 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (21. Ausschuss) - zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zum Beitrittsantrag der Republik Island zur Europäischen Union und zur Empfehlung der EU-Kommission vom 24. Februar 2010 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 GG i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Verhandlungen über die Aufnahme Islands in die Europäische Union eröffnen - zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Dietmar Nietan, Michael Roth (Heringen), Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel - zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel - Drucksachen 17/1190, 17/1059, 17/1191, 17/1172, 17/1464 - Berichterstattung: Abgeordnete Michael Stübgen Michael Roth (Heringen) Dr. Stefan Ruppert Andrej Konstantin Hunko Manuel Sarrazin Der Ausschuss hat in diese Beschlussempfehlung den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/260 mit einbezogen. Über diese Vorlage soll jetzt ebenfalls abschließend beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann können wir so verfahren. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Michael Link für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Michael Link (Heilbronn) (FDP): Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heutigen Antrag wollen wir Einvernehmen mit der Bundesregierung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Island herstellen. Die FDP unterstützt ebenso wie die Bundesregierung das Ziel einer Vollmitgliedschaft Islands in der Europäischen Union. Deutschland und die EU haben allergrößtes Interesse an der Unterstützung dieses Beitrittsantrags und an dem Gelingen des Beitrittsprozesses mit Island. Mit Island würde eine stabile parlamentarische Demokratie der EU beitreten, die Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte garantiert. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Island kann als funktionierende Marktwirtschaft angesehen werden, auch wenn mit der Bankenkrise deutlich geworden ist, wohin es führt, wenn wir in einem Markt keine klaren Aufsichtsregeln haben. Island war eine funktionierende Marktwirtschaft. Wir sind auch sicher, dass es wieder eine funktionierende Marktwirtschaft sein wird. Am Beispiel Island kann man aber, wie gesagt, sehr gut sehen, wohin es führt, wenn keine starke Finanzmarktaufsicht vorhanden ist. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) In der Öffentlichkeit wird teilweise der Eindruck vermittelt - er ist falsch -, dass es Island nur um den Beitritt zur Euro-Zone geht, quasi als Rettungsmechanismus. Natürlich geht es Island auch um den Beitritt zur Euro-Zone. Aber der Beitritt zur Euro-Zone und der Beitritt zur Europäischen Union sind und bleiben für uns zweierlei Paar Stiefel. Wir reden jetzt über den Beitritt zur Europäischen Union. Der Weg zum Beitritt zur Euro-Zone wird für Island ein sehr viel längerer sein; denn er hängt - ich glaube, da sind wir uns alle einig - mit der strikten Einhaltung der Maastricht-Kriterien zusammen. Hier können wir keine Abstriche machen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber auch die EU kann vom Wissen und den Erfahrungen Islands profitieren. Island verfügt im Bereich der erneuerbaren Energiequellen, auch im Bereich der Fischereiwirtschaft über sehr wichtige Erkenntnisse. Island hat es geschafft, eine nachhaltige Fischereiwirtschaft aufzubauen, übrigens ohne öffentliche Beihilfen, ohne Subventionen aus öffentlichen Kassen. Wir sollten darauf achten, dass wir Island im Beitrittsprozess nicht ohne Not ein überarbeitungsbedürftiges Regime der Europäischen Union an diesem Punkt überstülpen, da Island mit nachhaltiger Fischerei selbst bereits weiter ist. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Klar muss allerdings auch sein, dass beim kommerziellen Walfangverbot keine Abstriche, keine Kompromisse gemacht werden können. Dankbar sind wir auch für das, was Island uns Neues bringen kann, insbesondere in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Island wird an der Nordwestflanke der Europäischen Union eine ganz wichtige Bereicherung sein. Wir alle wissen, dass der arktische Raum in Zukunft an strategischer Bedeutung hinzugewinnen wird. Mit Blick auf das, was Island für die NATO, das atlantische Bündnis, bereits geleistet hat, ist es selbstverständlich, dass wir diesen Beitrag sehr schätzen und uns deshalb freuen würden, wenn wir Island bald als Mitglied willkommen heißen könnten. Island ist im Übrigen bereits lange in der EFTA und im Europäischen Wirtschaftsraum vertreten. Es ist seit 2001 Mitglied des Schengener Abkommens. Insofern glaube ich - da können wir über die Fraktionsgrenzen hinweg vermutlich eine Gemeinsamkeit feststellen -: Island wird mit Sicherheit nicht 10 oder 20 Jahre über seinen Beitritt verhandeln müssen. Wenn es aber so ist, dass die Verhandlungen in einem relativ überschaubaren Zeitraum abgeschlossen werden können, dann muss auch klar sein, dass die heutige Stellungnahme des Bundestages bereits sehr substanziiert sein muss. Der relativ kurze Zeitraum von wenigen Jahren für Beitrittsverhandlungen mit Island, den wir vor uns haben, erfordert eine umso genauere Begleitung des Prozesses durch den Bundestag von Anfang an. Deshalb haben wir von den Koalitionsfraktionen uns sehr viel Mühe gemacht, um in diesem Antrag sehr viele inhaltlich angereicherte Punkte des EU-Ausschusses genauso wie der mitberatenden Ausschüsse unterzubringen. Ich habe gerade das Thema Walfangverbot erwähnt. Den Prozess, die Verhandlungen, die die Bundesregierung durchführt, werden wir sehr genau begleiten. Wichtig ist uns als FDP auch, deutlich zu machen, dass man das isländische Beitrittsgesuch keinesfalls in den Ruch stellen sollte, es sei lediglich erfolgt, weil Island jetzt in einer Krise ist und deshalb unter den Schirm der EU möchte. So einfach ist das nicht. Wir wissen, dass viele Parteien in Island, insbesondere die Sozialdemokraten, schon lange für den isländischen Beitritt kämpfen. (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sehr wahr!) Die Idee des isländischen Beitritts ist also weit mehr als eine Flucht unter den EU-Rettungsschirm. Sie ist auch ein Bekenntnis zu gemeinsamen europäischen Werten. Das respektiert die FDP. Auch deshalb setzen wir uns für den Beitrittsantrag Islands ein. Zu guter Letzt: Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass, anders als in der Vergangenheit - ich betone das bewusst für meine Fraktion -, nur und ausschließlich die strikte Erfüllung der Kopenhagener Kriterien die Voraussetzung für den Beitritt sein kann, also die Beitrittsfähigkeit des Kandidaten und die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union. Wir sollten uns davor hüten, zur Unzeit Zeitpunkte zu nennen oder gar Pakete zu schnüren. Ich glaube, das muss die Lehre aus den großen Erweiterungswellen der Vergangenheit sein. Die Beitritte waren in jedem Einzelfall richtig. Vielleicht hätte man aber darauf verzichten sollen, früh und zur Unzeit ein Beitrittsdatum zu nennen, und vielleicht hätte man auch nicht jedes Paket so schnüren sollen, wie es geschnürt worden ist. Denn dadurch wird verkannt, welche individuellen Chancen, aber teilweise auch Risiken und Probleme jedes neue Mitglied uns in der Union bringt. Wir sind mehr als ein politischer Klub; wir sind ein Staatenverbund. Dementsprechend sollten wir Aufnahmen im Einzelfall sehr genau prüfen und uns immer die notwendige Zeit dazu nehmen. Die FDP unterstützt die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Island zur Europäischen Union. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Roth von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Michael Roth (Heringen) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gehöre - wie viele andere auch - zu den Leidtragenden dieses isländischen Vulkans, dessen Namen ich immer noch nicht auszusprechen vermag. Dennoch sollten wir vor dem Hintergrund des Ascheregens nicht die falschen Schlussfolgerungen ziehen und deutlich machen: Wir freuen uns darauf, Beitrittsverhandlungen mit Island führen zu können. Wir hoffen, Island baldmöglichst in der Europäischen Union willkommen heißen zu dürfen. Wir fänden es gut, wenn der Deutsche Bundestag sich in diese Beitrittsverhandlungen aktiv einbringen würde. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Bundesregierung!) Ich kann mich der Kritik meines geschätzten Vorredners an Bundeskanzler Helmut Kohl hinsichtlich der Nennung eines konkreten Datums nur anschließen; da haben Sie völlig recht, Herr Kollege Link. (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das war 2004, Herr Kollege!) - Meines Wissens hatte der Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl das Datum 2000 in die Diskussion eingebracht. (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: 2007 war es, und es wurde 2004!) Herr Schockenhoff, wir sollten hier keine Geschichtsklitterung beitreiben. (Veronika Bellmann [CDU/CSU]: Nachlesen hilft!) Ich stimme Ihnen auch zu, Herr Kollege Link, wenn Sie sagen, dass wir die richtigen Schlussfolgerungen aus den bisherigen Beitrittsverhandlungen ziehen müssen. Beitrittsverhandlungen sind nicht nur eine Chance für Island, sondern auch für die Europäische Union und Deutschland. In den vergangenen Jahren ist es uns nicht ausreichend gelungen, deutlich zu machen, dass es bei einem Beitritt zur Europäischen Union nicht vordergründig um den Binnenmarkt, um den Euro und um ökonomische Kriterien geht. Wir sind in erster Linie eine Wertegemeinschaft. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir sind eine politische Union. Insofern lautet meine Bitte an die isländischen Partner, von Anfang an die isländische Zivilgesellschaft einzubeziehen und deutlich zu machen, dass es sich um eine Win-win-Situation handelt: nicht nur für die Europäische Union, die ein weiteres Mitgliedsland bekommt, sondern auch für die Bürgerinnen und Bürger, für die Zivilgesellschaft. Es geht nicht allein um Vorteile für die isländische Wirtschaft. Denn eine Devise gilt nach wie vor: Kleine Länder ganz groß. Die Größe eines Landes bemisst sich nicht vorrangig an der Einwohnerzahl. Länder wie Luxemburg, die sich immer als Speerspitze der europäischen Integration gesehen haben, haben sich so unendlich viele Verdienste um das Projekt der europäischen Integration erworben. Man sollte daher den Isländern Mut machen und ihnen deutlich sagen: Euer Land ist zwar klein, was die Einwohnerzahl anbelangt, aber ihr habt, was euren Beitrag zur Demokratie und zum Parlamentarismus in Europa betrifft, große Verdienste. Bringt diesen demokratischen Geist und diesen Mut zur Autonomie offensiv ein! Das sind Werte, auf die die Europäische Union zwingend angewiesen ist. Insofern kann dieses Angebot durchaus ein Beitrag dazu sein, die vielen, die den Beitritt Islands immer noch ablehnen, zu überzeugen. Wenn man sich die politische Landschaft in Island ansieht, muss man feststellen: Die Sozialdemokraten in Island sind in dieser Hinsicht eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen. Sie konsequent und frühzeitig für den Beitritt eingetreten. Das Fundament derer, die den Beitritt Islands positiv sehen, muss nach Möglichkeit verbreitert werden. (Beifall bei der SPD) Das ist auch ein Auftrag an uns. Wir dürfen nicht beim Vertrag von Lissabon stehen bleiben. Ich weiß, dass das in den vergangenen Jahren für uns alle sehr schwierig, sehr mühselig und manchmal auch nervig war. Aber jetzt muss eine Debatte über die Fragen geführt werden: Was für eine Europäische Union wollen wir eigentlich? Welche sind die richtigen Konsequenzen aus der Wirtschafts- und Finanzkrise? Wo müssen wir vor allem in finanz- und wirtschaftspolitischen und in umweltpolitischen Angelegenheiten noch enger zusammenarbeiten? Wo ist ehrliche und wahrhaftige Solidarität gefragt? Ich bin von der Bundesregierung, insbesondere von der Bundeskanzlerin und vom Bundesaußenminister, enttäuscht, weil diese wichtigen europäischen Impulse "Wo wollen wir hin?" und "Was ist unser europapolitisches Konzept?" bislang sträflich vernachlässigt worden sind. Ich fordere alle dazu auf, diese Diskussion zu führen. Möglicherweise können die Beitrittsverhandlungen auch für uns ein Impuls sein, etwas nachzuholen, was wir sträflich vernachlässigt haben. (Beifall bei der SPD) Die Beitrittsverhandlungen sind eine Zweibahn-, keine Einbahnstraße. Island wäre eine Bereicherung. Ich möchte das an dieser Stelle nur auf einen einzigen Punkt fokussieren: die Fischereipolitik. Auch dieser Politikbereich ist mühselig und ärgerlich. Denken wir nur an die Quotendiskussion innerhalb der Europäischen Union. Aber wenn Island der Europäischen Union beiträte, wäre Island die größte Fischereination in der Europäischen Union. Auf diesem Gebiet können wir von Island eine Menge lernen. Der Aspekt der Nachhaltigkeit ist ein ganz wesentlicher Bestandteil der isländischen Fischereipolitik. Insofern sollten wir die isländischen Erfahrungen in die Diskussion über eine Reform der gemeinsamen Fischereipolitik in der Europäischen Union einbeziehen. Möglicherweise kann auch dies dazu beitragen, die Ängste, die gerade die Fischer in Island vor einem Beitritt zur Europäischen Union haben, abzubauen. (Beifall bei der SPD) Ich möchte noch einen bundestagsinternen Punkt ansprechen, über den wir gestritten haben, bei dem wir also nicht einer Meinung waren. Die SPD-Bundestagsfraktion hat schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt den Antrag eingebracht, der Bundesregierung eine Stellungnahme mit auf den Weg zu geben. Wir hätten uns gewünscht, dass schon mit Blick auf den Europäischen Rat am 25. März dieses Jahres eine parlamentarische Initiative eingeleitet worden wäre. Ich will mich mit Vorwürfen zurückhalten. Aber ich meine, dass wir den Niederländern und den Briten, die in Bezug auf die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Island ihre eigenen Spielchen getrieben haben, hier in die Hände gespielt haben. Wir hätten deutlich machen müssen: Der Deutsche Bundestag ist in der Lage und bereit, trotz sehr enger Fristen eine Stellungnahme abzugeben. Wir sind selbstbewusst, bereit und in der Lage, die Aufgaben und Pflichten, die uns das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die Umsetzung des Vertrages von Lissabon aufgetragen hat - hier geht es ja um eine stärkere Beteiligung des Deutschen Bundestages -, vollumfänglich zu erfüllen. Da hätte ich mir von der CDU/CSU, aber auch von der FDP ein bisschen mehr Engagement und ein bisschen mehr Kooperationsbereitschaft gewünscht. Das sollte kein schlechtes Beispiel sein dafür, welche Rolle Stellungnahmen spielen. Für mich sind Stellungnahmen eine zwingende Voraussetzung dafür, Einvernehmen zwischen Bundesregierung und Bundestag herzustellen. Wir dürfen nicht nur abstrakt darüber reden, wir müssen konkret handeln. Insofern finde ich den Antrag, den die Koalitionsfraktionen eingebracht haben, in einem Punkt kleinkariert: Ausgerechnet im Hinblick auf einen Beitritt Islands eine Diskussion über die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union führen zu wollen, das hätten Sie sich, ehrlich gesagt, sparen können. (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Nein, nein, nein!) Wir begrüßen Beitrittsverhandlungen mit Island, wir freuen uns darauf, und wir bitten die Bundesregierung, diese Verhandlungen mit aller Sorgfalt und mit aller Ernsthaftigkeit, aber auch mit konstruktivem Wohlwollen zu begleiten. Die SPD wird aufpassen, ob dieser Weg so, wie wir es erwarten, beschritten wird. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die heutige Aussprache ist ein besonderes Ereignis; denn zum ersten Mal in seiner Geschichte entscheidet der Deutsche Bundestag darüber, ob mit einem Kandidatenland Verhandlungen über einen Beitritt zur Europäischen Union aufgenommen werden. Es ist eine Folge des Lissabonner Vertrages, dass Einvernehmen mit dem Deutschen Bundestag erforderlich ist, ehe die Bundesregierung im Rat der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zustimmen kann. Der Deutsche Bundestag hat damit ein starkes Recht erhalten; er übernimmt damit aber auch eine große Verantwortung. Es geht in der Frage einer Aufnahme von Beitragsverhandlungen nicht nur um ein Ja oder ein Noch-nicht, es geht vor allem darum, dass wir gegenüber dem Kandidatenland schon vor Beginn der Verhandlungen unsere Erwartungen an den Verhandlungsprozess deutlich zum Ausdruck bringen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Die schlechten Erfahrungen, die wir noch heute mit den verfrühten Beitritten Bulgariens und Rumäniens machen müssen, sind eine deutliche Ermahnung an uns, diese Aufgabe anspruchsvoll anzugehen. Wir dürfen nicht noch einmal in die Situation kommen, dass wir am Ende nur noch das Verhandlungsergebnis abnicken können. Wir müssen am Ende der Verhandlungen über den Beitritt des Kandidaten begründet "Ja" oder "Jetzt noch nicht" sagen können. Um dies begründet sagen zu können, müssen wir vor Beginn der Verhandlungen klar formulieren, welches unsere Erwartungen an den Verhandlungsprozess sind, vor allem, in welchen Bereichen des Acquis communautaire der Kandidat noch Anstrengungen unternehmen muss, um beitrittsfähig zu werden. Das betrifft bei vielen Ländern, die eine EU-Perspektive haben - Island nehme ich dabei ausdrücklich aus -, Problemthemen wie Rechtsstaatlichkeit und Bekämpfung von Korruption und Kriminalität. Wenn wir vor allem in diesen, aber auch in anderen Fragen vor Beginn von Verhandlungen unsere Erwartungen deutlich formulieren, haben wir eine wichtige Grundlage, um gegenüber dem Kandidatenland, vor allem aber gegenüber unseren Bürgern zu begründen, warum wir am Ende der Verhandlungen für ein Ja oder für ein Jetzt-noch-nicht votieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Es wird immer wichtiger, dass wir besser als bisher begründen, warum wir es für richtig, notwendig und verantwortbar halten, ein neues Mitglied aufzunehmen - oder eben nicht aufzunehmen. Das alles erfordert, dass wir uns schon vor dem Beginn von Verhandlungen ein eigenes genaues Bild über den Stand der Vorbereitungen des Kandidatenlandes machen. Mit Blick auf den Beitrittsantrag Islands denke ich, für uns alle sagen zu können: Wir haben dies so sorgfältig wie möglich getan. Es wurden Anhörungen durchgeführt, viele Gespräche fanden statt. Einige von uns haben sich vor Ort, in Island, ein genaues Bild gemacht. Vor wenigen Tagen - ganz kurz bevor der Vulkan problematisch wurde - (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Kaum waren Sie da, und schon ist ein Vulkanausbruch!) haben der Vorsitzende des EU-Ausschusses der französischen Nationalversammlung, Pierre Lequiller, und ich in Reykjavík gemeinsame Gespräche mit der Regierung Islands und mit Vertretern der isländischen Zivilgesellschaft geführt. Dies wurde dort im Übrigen als ein Zeichen einer engen Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen den nationalen Parlamenten in europapolitischen Fragen verstanden. Ich denke, es gehört auch zur Wahrnehmung der neuen Rechte, die die nationalen Parlamente durch den Lissabonner Vertrag erhalten haben, dass wir uns gemeinsam mit Parlamentskollegen anderer EU-Länder ein Bild verschaffen, um darauf aufbauend zu einer gemeinsamen Bewertung zu kommen. Mein französischer Kollege und ich haben am Ende der Gespräche in Reykjavík fünf Punkte zum Ausdruck gebracht: Erstens. Wir unterstützen das Ziel einer Vollmitgliedschaft Islands. Wir haben ein Interesse am Gelingen des Beitrittsprozesses, und wir sagen dies auch und gerade angesichts von Umfragezahlen, die derzeit nur eine Zustimmung von rund 30 Prozent der isländischen Bevölkerung für einen EU-Beitritt widerspiegeln. Deshalb hoffe ich, dass die Zustimmung zur EU nach Beantwortung der Fragen im Zusammenhang mit Icesave wieder deutlich zunimmt. Denn - das ist unser zweiter Punkt -: Ein Beitritt Islands wäre für die EU ein Gewinn. Mit Island würde nicht nur eine stabile parlamentarische Demokratie beitreten, die Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte garantiert, sondern die EU könnte auch - das haben die Vorredner schon gesagt - von Islands Wissen auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien profitieren. Nicht zuletzt ist Island für die EU von strategischem Interesse als Tor zur Arktis mit Blick auf Rohstoffe und Energieversorgung. Die Bedeutung des Nordatlantiks wird in den kommenden Jahren weiter wachsen. Deshalb sollte die EU in diesem Gebiet direkt präsent sein. Island ist also für uns strategisch wichtig. Drittens. Allerdings erwarten wir, dass Island bei einem Beitritt die politischen und wirtschaftlichen Kriterien umfassend erfüllt. Das betrifft insbesondere - auch das ist schon gesagt worden - die Überwindung der Finanzkrise. Wir wissen, dass die weitere Haushaltskonsolidierung und die Gewährleistung tragfähiger öffentlicher Finanzen besondere Herausforderungen darstellen. Diese Anstrengungen müssen aber konsequent fortgesetzt werden, um Vertrauen wiederherzustellen und eine strikte Einhaltung der Kopenhagener Kriterien sicherzustellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Übrigens haben uns unsere isländischen Gesprächspartner gesagt, dass sie für die angestrebte Einführung des Euro selbst eine Zeitperspektive von rund zehn und mehr Jahren sehen. Ich erwähne das, um deutlich zu machen, dass es hierzu in Island keinerlei unrealistische Perspektiven und Erwartungen gibt. Sichergestellt werden müssen auch das kommerzielle Wahlfangverbot und eine Einigung bei den Fischereifragen. Diese Fischereifragen seien so schwierig, wurde uns von isländischer Seite gesagt, dass sie kaum innerhalb von 12 bis 18 Monaten beantwortet werden könnten. Ein Beitritt wird eher im Jahre 2014 als früher erfolgen, wenn er die Zustimmung der isländischen Bevölkerung findet. Viertens. Wir erwarten, dass Island nicht nur aus finanziellen Gründen unter das Dach der EU kommen möchte. Neben der Erfüllung der vertraglich vereinbarten Beitrittskriterien ist es für uns wichtig, dass Island die Grundidee einer immer tieferen Integration mitträgt. Wie weit Island dazu bereit ist, kann nicht anhand der Wirtschaftskriterien oder durch Gesetzestexte geklärt werden. Das müssen wir durch den Kontakt zu den Partnern in Regierung, Parlament und Zivilgesellschaft herausspüren. Deshalb wird die Beurteilung der Integrationsbereitschaft Islands eine unserer wichtigsten und schwierigsten Aufgaben bei der Begleitung des Verhandlungsprozesses sein. Wir haben auch schon die Erfahrung gemacht, dass ein Land Mitglied der Europäischen Union werden wollte, um anschließend die weitere Integration eher zu behindern als zu befördern. Auch das müssen wir bei der Beurteilung künftiger Beitrittsgesuche berücksichtigen. Fünftens haben mein französischer Kollege und ich in Island in einer gemeinsamen Presseerklärung zum Ausdruck gebracht, dass wir vom Europäischen Rat die schnellstmögliche Entscheidung über die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen erwarten. Durch die offenen Fragen hinsichtlich des Icesave-Abkommens darf eine solche Entscheidung nicht noch länger verzögert werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion spricht sich aus den genannten Gründen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Island aus. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Andrej Hunko von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Andrej Konstantin Hunko (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir neigen dazu, die Vorgänge in Island zu unterschätzen. Ich rede nicht nur von dem Vulkan Eyjafjalla, dessen Aschewolke wir gerade in ganz Europa zu spüren bekamen. (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Franz Thönnes [SPD]: Jökull!) - Jökull ist der Gletscher. Eyjafjalla ist der Vulkan. (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Experten unter sich! - Iris Gleicke [SPD]: Reisen bildet!) Auch die Wellen der gesellschaftlichen Ereignisse infolge der Finanzkrise sind hier zu spüren. Die Tatsache, dass wir heute über die Aufnahme von Verhandlungen über einen Beitritt Islands zur Europäischen Union diskutieren, ist auch eine Folge der sozialen Unruhen des Winters 2008/2009, der sogenannten Kochtopfrevolution. Sie fegte die konservativ geführte Regierung unter Geir Haarde weg und brachte zum ersten Mal in Island eine sozialdemokratisch-linksgrüne Koalition an die Regierung. Diese Regierung stellte im Juli vergangenen Jahres ein Beitrittsgesuch zur Europäischen Union. Selbstverständlich unterstützen wir als Linke die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen. (Beifall bei der LINKEN) Das Interesse an Island ist aber auch deshalb so groß, weil sich hier die Entwicklungen der letzten beiden Jahrzehnte besonders konzentrierten. Nach Jahren der Privatisierung, der Deregulierung und des Aufbaus eines gigantischen Spekulationssystems brach der isländische Bankensektor im Herbst 2008 komplett zusammen. Genau wie hier und in anderen europäischen Ländern soll die Bevölkerung die Zeche für die Party der Reichen bezahlen. Der Unterschied ist allerdings, dass Island als älteste Demokratie Europas über eine höhere demokratische Kultur verfügt: Am 6. März lehnten 94 Prozent der Isländerinnen und Isländer die Übernahme der Icesave-Schulden, der Schulden einer privaten Internetbank, ab. (Beifall bei der LINKEN) Ich kann dem isländischen Präsidenten Olafur Grimsson nur zustimmen, der dazu sagte: Wenn Demokratie und Finanzmärkte in Widerspruch zueinander geraten, muss man sich für die Demokratie entscheiden. (Beifall bei der LINKEN - Michael Stübgen [CDU/CSU]: Das Gesetz haben doch die Linken vorgelegt!) Vor wenigen Tagen ist in Island ein umfangreicher Untersuchungsbericht über den Finanzkollaps erschienen, der im Land für sehr viel Aufsehen gesorgt hat. Auf 2 383 Seiten werden die Verantwortlichen des neoliberalen Umbaus, der schließlich zum Zusammenbruch führte, und die unheilvolle Verquickung von Finanzkonzernen und Politik detailliert benannt. Wer hier meint, das alles gehe ihn nichts an, dem sage ich: "De te fabula narratur" - von dir ist hier die Rede; denn diese Verquickung gibt es genauso auch in Deutschland. (Beifall bei der LINKEN) Ich wünsche mir, dass das auch hier einmal so transparent aufgearbeitet würde wie in Island. (Beifall bei der LINKEN) Island hat im Juli 2009 den Antrag zur Aufnahme in die EU gestellt. Die isländische Regierung hatte die Hoffnung, dass der Europäische Rat noch im Dezember unter schwedischer Ratspräsidentschaft über die Aufnahme von Gesprächen entscheidet. Im Februar 2010 hat die Europäische Kommission schließlich die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen empfohlen. Leider wurden die Beitrittsgespräche von der niederländischen und britischen Regierung verzögert, um Island in der Icesave-Frage unter Druck zu setzen. Es ist gut, dass die Mitwirkungsrechte des Bundestages unter anderem durch unsere Klage beim Bundesverfassungsgericht in dieser Frage gestärkt wurden. (Beifall bei der LINKEN - Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist jetzt Geschichtsklitterung!) Aber es wäre möglich gewesen, das Einvernehmen mit dem Bundestag schon vor dem Ratsgipfel Ende März herzustellen. Das war offensichtlich von der Bundesregierung nicht gewollt. Jetzt geht es darum, dass sich die Bundesregierung wenigstens für die Zustimmung zur Eröffnung der Beitrittsgespräche auf dem Gipfel des Europäischen Rates am 17./18. Juni einsetzt. Eine Forderung der Europäischen Kommission an Island in dem Bericht vom Februar ist, den freien Kapitalverkehr wiederherzustellen. Wörtlich heißt es im Kommissionsbericht: Derzeit unterliegen Finanzgeschäfte zwischen Island und dem Ausland umfassenden Devisenkontrollen. ... Hier muss Island durch Liberalisierungsmaßnahmen die Vereinbarkeit mit dem Grundsatz des freien Kapitalverkehrs gewährleisten. Die Kapitalsverkehrskontrollen der isländischen Regierung waren die richtige Reaktion auf den Zusammenbruch der Finanzmärkte, (Beifall bei der LINKEN) wie auch der Internationale Währungsfonds, IWF, erkannte. Sie waren mit dem IWF abgesprochen, der Island Kredite gewährte. Der IWF ist zu Recht umstritten, weil er häufig Staaten neoliberale Strukturanpassungsprogramme aufgezwungen hat. Aber immerhin ermöglichen die Statuten des IWF Kapitalverkehrskontrollen, während der Lissabonner Vertrag diese verbietet. Die EU ist hier neoliberaler und marktradikaler als der IWF. Es kann doch nicht sein, dass Island im Zuge der Beitrittsverhandlungen gezwungen wird, den Zustand von vor der Krise wiederherzustellen. Hier sind dringend entsprechende Änderungen am Lissabonner Vertrag einzuleiten. (Beifall bei der LINKEN) Ein weiterer Punkt im Zusammenhang mit dem Beitritt Islands ist der Zugang zur Arktis; dies ist eben auch von Herrn Schockenhoff angesprochen worden. In der Arktis liegen die größten bisher nicht erschlossenen Rohstoffvorkommen. Bislang war die EU hier weitgehend abwesend vom sogenannten großen Spiel. Islands Mitgliedschaft im Arktischen Rat und seine geostrategische Lage würden der EU ermöglichen, am Run auf diese letzten Rohstoffvorkommen teilzunehmen. Im Dezember 2009 wurden im Rat der Europäischen Union für Auswärtige Angelegenheiten die Schlussfolgerungen zur Arktis beschlossen. Dort ist die Rede von "den neuen Möglichkeiten, die sich im Zusammenhang mit dem Schmelzen des Meereises und den sonstigen Auswirkungen des Klimawandels für den Verkehr, die Gewinnung natürlicher Ressourcen und sonstige unternehmerische Tätigkeiten ergeben". Das ist doch an Zynismus nicht mehr zu überbieten. (Beifall bei der LINKEN) Anstatt alles Menschenmögliche in Bewegung zu setzen, um den Klimawandel zu stoppen, ist hier von den unternehmerischen Möglichkeiten, die sich hieraus ergeben, die Rede. Statt solcher Spekulationen sollten endlich der Ausstieg aus der fossilen Energieversorgung eingeleitet und die vollständige Energiewende durchgesetzt werden. (Beifall bei der LINKEN - Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fangen Sie in Brandenburg damit an!) Im Hinblick auf die Arktis wollen wir keinen imperialen Wettlauf um die Region. Hier wäre analog zur Antarktis ein Moratorium zur Ressourcenausbeutung die beste Regelung. (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Die Linke spricht sich für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Island aus. Wir fordern die Trennung der Beitrittsgespräche von der Frage der Icesave-Schulden. In mancher Hinsicht, etwa beim Walfang, muss sich Island ändern. Vor allem muss sich aber die EU ändern, etwa in der Frage der Kapitalverkehrskontrollen. Eine imperiale Verwendung Islands für einen Wettlauf um die Arktis lehnen wir ab. Wir begrüßen es, dass am Ende in Island der Souverän über den Beitritt entscheidet, die isländische Bevölkerung. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Manuel Sarrazin von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann leider den Namen des Vulkans nicht aussprechen. Ich kann Ihnen aber unsere Anteilnahme dadurch versichern, dass die Grünen ihren Länderrat am Sonntag in Köln in der Vulkanhalle durchführen. Vielleicht ist das immerhin ein Zeichen der Anteilnahme an diesem Ereignis. Herr Hunko und auch die anderen Vorredner haben schon die besondere Bedeutung dieser Debatte dargestellt. Zum ersten Mal wird das Einvernehmen nach § 10 des EUZBBG zur Anwendung kommen. Sie haben recht, wenn Sie davon sprechen, dass wir als Bundestag eine besondere Verantwortung tragen, wenn wir die Vorbeitrittsverhandlungsprozesse und auch die Verhandlungsprozesse begleiten. Dadurch, dass wir uns jetzt ein Bild machen, uns einmischen und am Ende des Prozesses den Wählerinnen und Wählern in Deutschland sagen können, dass wir uns von Anfang an damit auseinandergesetzt haben, entstehen Chancen, die für beide Seiten gut sind: Einerseits erreichen wir ein größeres Verständnis für Erweiterungen. Andererseits wissen vielleicht die beitretenden Partner, was uns wichtig ist. - Ich begrüße deswegen, dass alle Fraktionen hier Anträge eingebracht haben, und ich begrüße es auch, dass diese Debatte stattfindet. Ich glaube, das ist ein wichtiges Signal in dieses Haus und in die Öffentlichkeit. Wir Grünen glauben weiterhin an die positive Kraft, die sowohl politisch als auch im konstruktiv-strategischen Sinne von Erweiterungen ausgeht. Wir sind weiterhin davon überzeugt, dass der Erweiterungsprozess fortgehen muss. Das heißt nicht, dass wir nicht auch Dinge in der Vergangenheit anders bewerten. Wir halten die Kopenhagener Kriterien für wichtiger denn je. Wir denken auch, dass das verfrühte politische Setzen von Beitrittsdaten kein kluger Schachzug ist, ganz egal, welche konkreten Interessen jeweils einzelne Partner dazu bewegen könnten, zu sagen, ein bestimmter Partner solle schneller oder besonders berücksichtigt werden. Wir denken auch, dass bilaterale Konflikte, die plötzlich zu Vetogründen erhoben werden, nicht europäisiert werden dürfen. Ein solcher Konflikt hat auch bei Island eine Rolle gespielt, was von Herrn Hunko, von Herrn Roth und auch von Herrn Schockenhoff - Stichwort Icesave - erwähnt wurde. Es darf auch keine Erweiterung erster und zweiter Klasse geben. Jedes Land ist an den Kopenhagener Kriterien zu messen und nicht daran, ob man ihm näher oder ferner steht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Dabei sind natürlich besondere Fortschritte, die schon vorhanden sind, zu bewerten. Wir freuen uns, dass sich Island auf den Weg gemacht hat. Island ist gut für die EU. Island ist in vielen Bereichen vorbildlich und kann uns ein Beispiel geben. Der Beitritt Islands wäre im deutschen Interesse, weil der Beitritt eine Stärkung der Zusammenarbeit der Ostseeanrainerländer und der nördlichen Länder in der EU bedeuten würde. Das sind Bereiche, die für Deutschland von strategischem Interesse sind. Darüber hinaus hat Island in kultureller Hinsicht eine lange Verbindung gerade auch zu Deutschland. Wenn Island beitreten will, dann sind die Türen offen. Dieses Signal geht von allen Fraktionen dieses Hauses aus. Der Beitritt ist aber auch im isländischen Interesse; denn in der Europäischen Union können auch relativ kleine Mitgliedsländer eine vergleichsweise große Bedeutung erreichen, wenn sie aktiv und besonders integrationsfreundlich agieren. Das Beispiel Luxemburgs ist oft genannt worden, und das ist sicherlich richtig. Es ist daher richtig, dass wir in unserem Antrag die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ohne Vorbedingungen unterstützen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]) Wir formulieren Maßgaben für den Weg; aber diese Maßgaben sind keine Vorbedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen. Das Thema Walfang ist wichtig. Zugeständnisse oder Übergangsfristen zum Stand des Acquis halten wir für nicht akzeptabel. In der Europäischen Union ist vor allem durch die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie ein hohes Schutzniveau für Wale eingeführt worden. Daran darf nicht gerüttelt werden. Die Wiederaufnahme des Walfangs im Jahr 2003 ist aus meiner Sicht weder ökonomisch noch aus anderen Gründen gerechtfertigt. Deswegen sollte es der isländischen Seite nicht so schwerfallen, sich auf den Acquis zuzubewegen. Zur Fischerei wurde viel Richtiges gesagt. Die oberste Priorität muss auf der Nachhaltigkeit der isländischen Fischereiwirtschaft und der Erhaltung des Fischbestandes liegen. Diese Priorität muss aber auch für die gemeinsame Fischereipolitik der Europäischen Union gelten. Alle isländischen Rechtsnormen, die jetzt schon diesem Ziel dienen, sollten in die Verhandlungen über die Reform der gemeinsamen Fischereipolitik einbezogen werden. Zum Finanzmarkt. Sie haben recht, Herr Hunko: Island braucht eine stabilitätsorientierte Neuausrichtung des Finanzmarkts. Das ist eine Maßgabe, die wir für beide Seiten formulieren wollen, für die isländische Seite und für die Europäische Union. Ich denke, der Grundsatz der Kapitalverkehrsfreiheit, der in den Verträgen im Primärrecht festgelegt ist, ist wichtig und richtig, aber er darf nicht dazu führen, dass die Fehler, die Island einmal gemacht hat, wiederholt werden. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Nicht nur Island!) - Nicht nur Island, auch das ist richtig. Was mir wichtig ist - das sage ich an die Adresse des Auswärtigen Amts, dessen Vertreter nicht mehr da sein kann; er musste rechtzeitig den Flieger nach Brüssel erwischen, was auch in Ordnung ist -: Das politische Signal auf dem Juni-Gipfel ist noch nicht gesichert. Wir haben gestern im Ausschuss die Information bekommen, dass es keinen neuen Sachstand bezüglich der Frage gibt, ob die Verhandlungseröffnung auf dem Rat ein Thema sein wird. Wir sollten gemeinsam unsere Bundesregierung dazu auffordern, ihren Teil dazu beizutragen, dass die Verhandlungen eröffnet werden, damit wir im Juni einen Beschluss fassen können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Verzögerungen, die stattgefunden haben, sind Geschichte. Man kann das so oder so bewerten. Jetzt geht es darum, ein positives Signal zu senden. Wir Grüne wollen Verhandlungen mit dem Ziel des erfolgreichen Beitritts. Die Aufnahme von Verhandlungen ist für uns ganz klar mit dem Ziel des Beitritts verbunden. Auch die isländische Politik muss das Signal aussenden, dass sie am Ende den Beitritt möchte. Das Voranschreiten in den Verhandlungen ist jetzt besonders wichtig, damit wir, um in einem Bild der letzten Tage zu sprechen, wegkommen vom Sichtflug - Ratsgipfel - und hinkommen zum Instrumentenflug - Eröffnung von Kapiteln, Benchmarks, Closure Benchmarks und Schließung von Kapiteln -, damit Island rechtzeitig Mitglied der Europäischen Union wird und nicht noch länger - wie wir letzte Woche am Flughafen - warten muss, obwohl es schon mehr machen möchte. Danke sehr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Michael Link [Heilbronn] [FDP]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Stefan Ruppert von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Stefan Ruppert (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein Wort vorweg zum Verfahren, das hier zumindest von dem Vertreter der Linken und dem der SPD angesprochen worden ist: Man stelle sich einmal vor, was passiert wäre, wenn in einem beschleunigten Verfahren die neuen Mitwirkungsrechte des Bundestags nicht so ernst genommen worden wären, wie wir es in diesem Fall getan haben. Wir wären kritisiert worden, etwas durchpeitschen zu wollen und die neu erworbenen Rechte nicht ausreichend ernst zu nehmen. Insofern bin ich froh, dass der Kollege Sarrazin gesagt hat, dieser Punkt gehöre eher der Vergangenheit als der aktuellen politischen Debatte an. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Ruppert, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sarrazin von Bündnis 90/Die Grünen? Dr. Stefan Ruppert (FDP): Gerne, ja. - Gerade habe ich ihn noch gelobt. Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege, wir hätten Ihnen nicht vorgeworfen, es durchzupeitschen, weil wir ebenso wie die Koalitionsfraktionen der Erstansetzung der Voten der mitberatenden Ausschüsse am Tag vor der Zusammenkunft des Rats zugestimmt haben; insofern hätten wir dieses Verfahren ganz in Ordnung gefunden. Als Frage formuliert: Sehen Sie das auch so? Dr. Stefan Ruppert (FDP): Herr Kollege Sarrazin, Sie wissen, dass es durchaus Wünsche der einzelnen Ausschüsse gab, ausführlich zu beraten. Wenn der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union gesagt hätte: "Beeilt euch bitte ein bisschen; es muss schneller gehen", dann hätte es sicherlich den von mir hier beschriebenen Reflex gegeben, man lasse sich nicht drängen, sondern müsse die Sachen sorgfältig und in aller Ruhe beraten. Wie man es auch macht, im Ergebnis kann man es Ihnen doch nicht recht machen. Ich will diese Unterschiede aber gar nicht zu sehr betonen; schließlich sind wir uns im Ergebnis einig, und das finde ich sehr erfreulich. Island ist eine uralte und stabile parlamentarische Demokratie. Rechtsstaatlichkeit und die Achtung von Menschenrechten sind dort seit langer Zeit fest verankert. Man sieht, wie sehr es den Zusammenhalt, die Architektur einer Gesellschaft erschüttert, wenn ein so kleines Land eine solche Finanzkrise erlebt. Mir ist wichtig, dass wir als deutsches Parlament hier klar sagen: Wir stehen diesem Prozess positiv gegenüber. Wir sehen die Sorgen und Nöte des isländischen Volkes. - Wir können nämlich viel von ihm lernen; das wurde hier schon mehrfach gesagt. Ich hätte gern eine Fischereiwirtschaft in der Europäischen Union, die so auf ökonomischen Sachverstand und ökologische Nachhaltigkeit setzt, die ohne Subventionen auskommt und insofern Vorbild für uns ist. Ich hoffe nicht, dass wir die Isländer mit den Segnungen unserer Fischereipolitik überziehen. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das hört sich doch schon mal gut an!) Die Banken- und Finanzkrise hat dieses Land, wie gesagt, nachhaltig erschüttert; aber Island wird diese Krise bewältigen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es ist klar, dass dieses Land mit seinem gegenwärtigen hohen Haushaltsdefizit die Konvergenzkriterien der Euro-Zone im Moment nicht erfüllt. Doch die Regierung in Reykjavik hat wichtige finanzpolitische Maßnahmen ergriffen, um die immense Staatsverschuldung zu senken und die Konjunktur wieder anzukurbeln. Ich bin deshalb vorsichtig optimistisch. Dies ist eine Einschätzung, die auch der Chef des Internationalen Währungsfonds teilt. Wir dürfen dieses Beitrittsgesuch nicht auf wirtschaftspolitische Fragen reduzieren. Die Kopenhagener Kriterien müssen vollständig erfüllt werden. Das haben wir in unserem Antrag deutlich gemacht. Fischerei, Landwirtschaft, Walfang und Finanzkontrolle in Island waren bereits in der Vergangenheit Bereiche, über die ernsthaft verhandelt werden musste. Gerade was die Finanzkontrolle angeht, kann es nicht sein, dass eine zu laxe Finanzmarktaufsicht dazu führt, dass sich Krisen gegebenenfalls wiederholen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Auch der Beitritt zur EU kann kein Selbstläufer sein; vielmehr müssen die Konvergenzkriterien nachhaltig erfüllt werden. Eine langfristige Einhaltung des EU-Stabilitätspaktes muss gewährleistet werden. Das sind die Lehren, die wir aus aktuellen Krisen zu ziehen haben. Wir ermutigen die isländische Regierung, den Dialog mit Großbritannien und den Niederlanden fortzuführen, um einen fairen Interessenausgleich auch in der Icesave-Problematik zu finden. Island ist sehr wohl bereit - das kommt in der deutschen Öffentlichkeit nicht immer an -, die angelaufenen Schulden zurückzuzahlen. Es geht dabei nur um die Konditionen. Wir wünschen uns, dass die niederländischen und britischen Partner dies auch würdigen und man sich bald auf einen fairen Interessenausgleich einigen kann. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Am Ende sei gesagt: Wir begrüßen das Beitrittsgesuch der Isländer. Wer dort war, spürt, dass dieses Land zur Wertegemeinschaft der Europäischen Union gehört. Es ist eine Bereicherung. Es ist ein Land in einer Krise; aber es wird aus dieser Krise herauskommen. Ich glaube, am Ende steht ein positives Ergebnis. Als Liberale wäre uns das eine große Freude. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Franz Thönnes von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Franz Thönnes (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser Eruption, die wir in der letzten Woche am Eyjafjallajökull (Beifall bei der SPD und der LINKEN) in Island erlebt haben, weiß jeder - auch der, der diesen Namen nicht aussprechen kann -, wo dieses Land liegt. Wir alle haben gemerkt, wie stark wir doch von der Natur abhängig sind, wie sie unsere Zivilisation beeinflussen und welche Folgen das haben kann. Rechtzeitig vor der heutigen Debatte hat der Vulkan seine Aktivitäten etwas eingestellt, damit wir wohlgesonnener werden. Aber eine Eruption ist geblieben - die ist immer noch da -, nämlich die Eruption, die ein ungezügelter Finanzkapitalismus in Island in der westlichen Welt, ja nahezu in allen Ländern dieser Erde hervorgerufen hat. Diese Betroffenheit macht deutlich, was durch ungezügelte Finanzmärkte passieren kann. Deshalb ist es notwendig, aus der Geschichte, in die Island hineingeraten ist, den Schluss zu ziehen: Eine Finanzpolitik, die nur auf Zaster und Zinsen, Rendite und Reibach ausgerichtet ist, kann ganze Länder in den Abgrund führen und zerstört Gesellschaften. Das darf nie wieder passieren. (Beifall bei der SPD und des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir brauchen daher eine klare Politik, die hier zügelt, die hier regelt, die auch diesen Teil der freien Wirtschaft ein Stück weit an die Leine legt. Das ist eine Herausforderung für diese Bundesregierung, aber auch für die Entscheidungen auf europäischer Ebene, die zu treffen sind. Der europäische Gedanke in Island ist nicht erst in der oder durch die Krise entstanden. Island ist uns schon viel länger verbunden. Halldor Laxness, der isländische Literaturnobelpreisträger, der morgen 108 Jahre alt geworden wäre, sagte einmal: Was die Menschen trennt, ist gering, gemessen an dem, was sie einen könnte. 2 344 Kilometer trennen den Deutschen Bundestag vom isländischen Parlament, vom Althing. Dazwischen liegen ein breites Meer und unterschiedliche Auffassungen. Es gibt unterschiedliche Auffassungen, wie man mit den schützenswerten Walen umgeht. Es gibt in Island aber auch eine andere Fischereipolitik, von der die Europäische Union meines Erachtens nach etwas lernen könnte; sie ist dort nämlich schon seit langem ökologisch und nachhaltig orientiert. Es gibt dort eine Nutzung regenerativer Energien für die Energieversorgung von nahezu 100 Prozent. Es gibt dort auch eine Tradition der Demokratie, die im Jahr 930 in Thingvellir begonnen hat und die auf ihrer Wegstrecke - ich sage das auch für die jungen Frauen, die heute im Rahmen des Girls' Day zu Gast bei der SPD-Fraktion sind - seit 1915 das Frauenwahlrecht hat. (Beifall bei der SPD) Was uns in Europa eint, das ist, dass Island zur europäischen Familie gehört. Die langjährige Mitgliedschaft in vielen Gremien ist von meinen Vorrednern schon genannt worden. Die nahezu vollständige Übernahme vieler europäischer Regelungen in Island ist allgemein bekannt. Island ist Gründungsmitglied der NATO, aktiver Mitstreiter bei der OSZE, arbeitet mit uns im Polizei- und Justizbereich zusammen und ist, gerade was Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit angeht, ein Vorbild. Island ist aber auch bei der Sozialstaatlichkeit ein Vorbild. Island kann Motor für ein soziales Europa werden. Die Gewerkschaften in Island haben 2008 auf ihrem Kongress mit einer Mehrheit von 290 zu 6 Stimmen beschlossen, Mitglied in der EU werden zu wollen und auch den Euro einzuführen; denn sie wissen, dass nur in einem gemeinsamen Markt soziale Sicherheit gestaltet werden kann. Ich sage Ihnen eines: Europa wird wirklich nur sein, wenn es auch ein soziales Europa ist. (Beifall bei der SPD) Es ist ebenso wichtig, auch auf die tausendjährigen kulturellen Beziehungen hinzuweisen. Die ersten Bischöfe Islands haben ihre Ausbildung vor gut 1 000 Jahren im Bistum Bremen erhalten. Das, was uns bis heute kulturell miteinander verbindet, ist das große Interesse der Isländer an der germanischen Sprache und ist das große Interesse der Deutschen an der Edda und den Sagas. Im nächsten Jahr wird Island das Gastland auf der Frankfurter Buchmesse sein. Dort werden die engen kulturellen Bindungen nochmals deutlich. Die Perspektiven sind gut - sie sind bereits genannt worden -: Wir müssen die arktische Region nachhaltig und erhaltend gestalten und dürfen nicht nur allein ökonomische Prinzipien herrschen lassen. Auch über außen- und sicherheitspolitische Fragen muss gemeinsam diskutiert werden. Das soziale Europa - ich habe es gesagt - bekäme durch einen Beitritt Islands einen Schub. Deutschland ist aus isländischer Sicht ein guter und verlässlicher Partner. Man fand es sehr sensibel - das habe ich in Island erfahren können -, wie Deutschland in der internationalen Finanzkrise gehandelt hat. Island ist von uns nicht, wie in Großbritannien unter Bezugnahme auf ein Anti-Terror-Gesetz, zu Zahlungen verpflichtet worden. Nein, wir sind hier anders vorgegangen. Was man bei Island beachten und verstehen muss, ist, dass Island erst seit 1944 eine freie Republik ist. Man muss also auch das Selbstbewusstsein respektieren und die Menschen so annehmen, wie sie sind. Ich glaube, für uns in Deutschland ist es gut, wenn Island in die Familie der europäischen Mitgliedstaaten aufgenommen wird und wir dann gemeinsam eine werteorientierte Außenpolitik betreiben, auf die so oft hingewiesen wird. Man muss einmal die Frage stellen: Was ist hierbei die Schlussfolgerung? Die Schlussfolgerung ist: Märkte brauchen Regeln. Sozialstaatlichkeit hält die Gesellschaft zusammen. Freiheit kann nur dann entstehen, wenn aus guter Arbeit auch gutes Einkommen erwächst. Bildung muss frei und für alle zugänglich sein, egal aus welchem Elternhaus man kommt. Der Zugang zu Bildung darf nicht vom Einkommen der Eltern, von der Ethnie oder von der Rasse abhängen. Hier kann man sehr viel von Island lernen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) Wie die anderen Kolleginnen und Kollegen will auch ich mit einem Appell an Sie schließen. Da die Zustimmung zu einem Beitritt Islands auf der Wegstrecke der offenen Entscheidungsphase in der Europäischen Union abgenommen hat, müssen wir Mut machen und über die Europa-Union helfen, damit wir bald zu einer mehrheitlichen positiven Einschätzung des EU-Beitritts in der isländischen Gesellschaft kommen; denn so darf es nicht weitergehen. Dabei müssen auch die Kontakte der Parteien und Fraktionen hier in diesem Haus mit denen aus dem isländischen Parlament verbessert werden. Man wundert sich, warum die eine oder andere Partei in Island gegen einen Beitritt ist. Ich will daher mit einem Zitat aus der Edda von Snorri Sturluson aus dem 13. Jahrhundert - ein alter Skalde - schließen: "Hast du einen Freund, dem du fest vertraust, geh oft, ihn aufzusuchen, denn Gesträuch wächst und starkes Gras auf dem Weg, den kein Wanderer geht." - Deswegen ist es wichtig, als Parlamentarier gerade in diesen Fragen in Kontakt zu treten und die Kontakte auszubauen. Abschließend will ich die Bundesregierung auffordern, im Europäischen Rat Motor dafür zu sein, dass die Verhandlungen schnell aufgenommen werden können und dass Island nicht mehr nur zur europäischen Familie gehört, sondern baldmöglichst Vollmitglied in der Europäischen Union ist. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Silberhorn von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wenn wir heute darüber reden, so entscheiden wir doch nicht über die Aufnahme Islands in die Europäische Union. Wir entscheiden aber sehr wohl über die Aufnahme von Verhandlungen über einen Beitritt. Das ist eine echte Premiere. Bisher waren wir erst nach Abschluss der Verhandlungen beteiligt und durften Beitrittsakten zustimmen, an deren Verhandlungen wir nicht beteiligt waren und deren Ergebnis wir nicht ändern konnten. Jetzt sind wir erstmals vor Beginn der Verhandlungen beteiligt. Noch bevor die Bundesregierung im Europäischen Rat der Aufnahme von Verhandlungen zustimmt, muss der Bundestag um Einvernehmen gebeten werden. Das wollen wir heute im Sinne einer Aufnahme der Verhandlungen erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Es zeigt sich, dass unsere Begleitgesetzgebung zum Vertrag von Lissabon, die wir im letzten Jahr beschlossen haben, wirkt. Ich will der historischen Wahrheit Genüge tun und betonen, dass diese Initiative einst von der CDU/CSU ausgegangen ist. Wir haben bereits zwei Legislaturperioden zuvor, nämlich im Januar 2005, einen entsprechenden Antrag vorgelegt. Ich freue mich, dass unsere Position im Zuge des Lissabon-Vertrages eine Mehrheit in diesem Hause gefunden hat. Nicht ganz zustimmen kann ich der Kritik, die hier vor allem vonseiten der SPD geäußert worden ist, dass man schneller hätte beraten müssen. Die Kommission hat ihre Stellungnahme, mit der sie die Aufnahme von Verhandlungen empfiehlt, am 24. Februar vorgelegt. Gerade einmal zwei Monate später verabschieden wir im Bundestag eine substanziierte Stellungnahme, mit der wir der Aufnahme von Verhandlungen zustimmen. Was wollen Sie eigentlich mehr? Entweder will man schnelle Entscheidungen, dann darf man im Zweifel die Abgeordneten nicht fragen; oder man will parlamentarische Mitwirkung, dann muss man dafür auch Zeit einräumen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir sind der Meinung: Parlamentarische Beratung braucht Zeit; Demokratie insgesamt braucht Zeit. Auch ein Europa der Bürger braucht Zeit. Wir nehmen uns diese Zeit. Das ist richtig so. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe den Eindruck, dass auch die isländische Bevölkerung durchaus Zeit braucht für diesen Verhandlungsprozess. Es gibt dort zwar eine Mehrheit für die Einführung des Euro. Aber 70 Prozent der Bevölkerung lehnen derzeit einen Beitritt zur Europäischen Union ab. Es hat sich in den letzten Monaten in Island erst noch herumsprechen müssen, dass man nicht Ja zum Euro, aber Nein zur Europäischen Union sagen kann. Es zeigt sich, dass in Island unter dem Eindruck der Finanzkrise und eines wachsenden Haushaltsdefizits sowie angesichts von Bankeninsolvenzen kurzfristig die Überzeugung entstanden ist, man könne sich mit dem Euro stabiler aufstellen. Dies zeigt auch der Blick nach Irland, das als Mitglied der Euro-Zone deutlich besser aus der Wirtschafts- und Finanzkrise herausgekommen ist. Der Beitritt selbst erfordert natürlich eine langfristige Bindung an die Europäische Union. Da sind einige Fragen neu zu beantworten. Gleichwohl gilt: Island ist seit Jahrzehnten auf das Engste mit der Europäischen Union verbunden. Wir unterstützen das Ziel einer EU-Mitgliedschaft Islands. Die politischen Kriterien sind zweifellos erfüllt. Island ist eine der ältesten Demokratien der Welt. Fragen nach Rechtsstaatlichkeit oder Menschenrechten stellen sich nicht. Auch der gemeinschaftliche Besitzstand ist in weiten Teilen bereits übernommen. Island gehört nach dem Beitritt im Jahr 1970 der Europäischen Freihandelszone seit nunmehr 40 Jahren an. Island ist Gründungsmitglied des Europäischen Wirtschaftsraumes, der 1994 geschaffen wurde. Auch die Zusammenarbeit von Polizei und Justiz funktioniert seit vielen Jahren völlig reibungslos. Viele Fragen, die Gegenstand der Verhandlungen sein werden, werden sich also sehr schnell beantworten lassen. Island ist ohne Zweifel eine funktionierende Marktwirtschaft. Aber wie wir in unserem Koalitionsantrag ganz bewusst formulieren: Vor der Bankenkrise hatte Island die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften im Europäischen Wirtschaftsraum standzuhalten. Nach der Bankenkrise ist es erforderlich, dass die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften standzuhalten, auch in Bezug auf die Europäische Union als Ganzes möglich wird. Hier gibt es Defizite. Die Staatsverschuldung ist im letzten Jahr auf 125 Prozent gewaltig gestiegen. Das Haushaltsdefizit liegt derzeit bei 14,4 Prozent. Das bedeutet, dass Island gewaltige wirtschaftliche Anstrengungen vor sich hat. Es ist aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Kriterien für die Konvergenz in der Euro-Zone nur dann relevant werden, wenn es um den Beitritt zur Euro-Zone geht. Es sind keine expliziten Kriterien für die Aufnahme in die Europäische Union. Natürlich muss die offene Frage, wie der Schaden der niederländischen und der britischen Sparer reguliert wird, beantwortet werden. Sehen Sie es mir nach, dass ich mir folgenden Kalauer heute nicht verkneifen kann: Bislang haben die Geschädigten nur Asche bekommen; aber sie wollen natürlich Kohle sehen. Wichtig ist allerdings, dass die wirtschaftlichen Kriterien erst zum Zeitpunkt des Beitritts erfüllt sein müssen. Deswegen sind die noch offenen Fragen kein Hindernis für die Aufnahme von Verhandlungen. Im Gegenteil: Der Prozess der Beitrittsverhandlungen kann zur wirtschaftlichen Stabilisierung Islands selbst beitragen. Die wichtigsten Fragen in diesem Beitrittsprozess umfassen sicherlich die Fischereipolitik bis hin zum Walfangverbot. Ich kann die Position Islands gut nachvollziehen, da es hier um erhebliche Kompetenzübertragungen auf die Europäische Union in Bereichen geht, die für Island von existenzieller Bedeutung sind. Umso wichtiger ist es, deutlich zu machen, dass Behörden der Europäischen Union in der Alltagspolitik keine anonymen und autokratischen Entscheidungen treffen. Hierfür muss aber im Alltagsgeschäft der Europäischen Union Transparenz herrschen, Bürgernähe praktiziert und das Prinzip der Subsidiarität ernst genommen werden. Ich meine, das würde es den Isländern erleichtern, bei den schwierigen Themen "Fischerei" und "Walfangverbot" Zugeständnisse zu machen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich halte es für richtig, dass wir diese Debatte über die Aufnahme von Verhandlungen mit Island über einen Beitritt zur Europäischen Union zum Anlass nehmen, die Erweiterungsstrategie der Europäischen Union insgesamt auf den Prüfstand zu stellen. Es ist hier schon angesprochen worden: Es gab immer wieder politische Rabatte. Deswegen war es notwendig, in unserem Antrag darauf hinzuweisen, dass erst die Beitrittskriterien strikt erfüllt sein müssen, bevor man über einen Beitrittstermin sprechen kann. Es gibt insoweit keinen Automatismus. Island selbst wird das Tempo der Verhandlungen bestimmen. Die Europäische Union wird die Fortschritte bewerten. Ich stimme zu, Herr Kollege Link, dass wir keine Koppelungsgeschäfte mit der Aufnahme Islands verbinden dürfen. Wir müssen jeden Staat gesondert behandeln. Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit der Europäischen Union, dass wir ein Kandidatenland nicht in Haftung für die Erfüllung sonstiger Zwecke der Europäischen Union, für die Vornahme bestimmter Vertragsänderungen oder für andere Kandidatenländer nehmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir unterstützen die Aufnahme von Verhandlungen. Ich setze darauf, dass die Bundesregierung bereit ist, eine enge Abstimmung mit dem Deutschen Bundestag über die Fortschritte und über den weiteren Zeitplan der Verhandlungen zu pflegen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das Wort die Kollegin Veronika Bellmann von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Veronika Bellmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Aus Überlieferungen ist bekannt, dass die isländische Hauptstadt Reykjavik übersetzt so viel wie "rauchende Bucht" heißt und die Isländer ihre Vulkane als "Eingänge zur Hölle" bezeichnen. So weit muss man nicht gehen; aber es sind in den letzten Tagen nun wirklich viele mehr oder weniger gut gelungene Sprachbilder in Bezug auf Island gebraucht worden. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Damit meinten Sie den Kollegen Silberhorn!) Es ist uns jedoch allen klar geworden, dass die Bezeichnung "Naturgewalten" wohl ihre Berechtigung hat. Denn die Natur hat europäisch, ja sogar global Gewalt ausgeübt. Eine ganz andere Form der Gewalt, nämlich die gesetzgeberische, ist das, was uns hier in unserem Hause beschäftigt und was auch Mittelpunkt der heutigen Debatte ist. Der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen wurde von den Fraktionen und den Facharbeitsgruppen sehr intensiv beraten und ist eine gute Arbeitsgrundlage. Insofern brauchen wir uns gerade von Herrn Roth kein zu geringes Engagement vorwerfen zu lassen. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ehrt mich aber jetzt!) Ganz im Gegenteil: Wir haben uns sehr zeitig und sehr intensiv damit befasst. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Michael Roth [Heringen] [SPD]: Danke, Frau Kollegin, für diese Bemerkung!) - Ich lobe Sie gleich noch, Herr Roth. Also nehmen Sie sich mal wieder zurück. Aber auch die Anträge der anderen Fraktionen sind von der gleichen Grundintention geprägt, nämlich sich positiv in Richtung Island zu artikulieren. Deshalb habe ich auch keine Zweifel, dass wir heute ein Einvernehmen zur Aufnahme von Verhandlungen mit Island über den Beitritt zur EU herstellen können. Damit hat die Bundesregierung rechtzeitig - ich betone: rechtzeitig - den notwendigen parlamentarischen Rückhalt, um im Europäischen Rat ihre Zustimmung zu den Verhandlungen über die Aufnahme Islands in die EU zu geben. Insofern verstehe ich nicht, warum die Opposition in den letzten Tagen und Wochen sozusagen im Galopp durch diese Vorberatungen hindurch wollte. Für meine Begriffe ist es besser, einen kleinen Schritt zu gehen und voranzukommen, als durch zu große Schritte ins Stolpern zu geraten. Wir haben nun wirklich lange genug um die Mitspracherechte in den Angelegenheiten der Europäischen Union gerungen; meine Vorredner haben es sehr oft betont. Jetzt haben wir sie, und wir wollen verantwortlich damit umgehen, weil genau das für die Akzeptanz europapolitischer Entscheidungen bei den Bürgern wichtig ist. Keiner, aber auch wirklich keiner hätte etwas davon gehabt, wenn wir nur durch die Thematik gehastet wären und irgendetwas erzwungen hätten. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Nach Hast sehen Sie ja nun gerade nicht aus!) Ich bin davon überzeugt, dass es der Würde eines Beitrittslandes - sei es auch noch so klein - nicht gerecht würde, wenn wir uns nicht ausreichend mit ihm befassen würden. Zudem entspricht es nicht der Würde unseres Hauses, die Ausschüsse, die noch Beratungsbedarf haben, (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Ausschüsse waren das denn? Keiner hat was mitgeteilt!) unter Druck zu setzen und ihnen zu sagen: Geht nicht! Wir haben bis zum Fristablauf und zur Befassung des Europäischen Rates zwar noch ausreichend Zeit, aber wir wollen - vor wem auch immer - glänzen und müssen dafür eure parlamentarischen Rechte leider ein wenig einschränken. Diese Hast und auch diese in der Vergangenheit so oft vorgetragene blinde Europa-Euphorie war gestern. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Ich sehe noch sehr gut!) Heute sind gerade bei geplanten Beitritten Realitätssinn und ein ganzes Stück Entschleunigung gefragt. Übereilte Zusagen entziehen den Verhandlungspartnern nur Sicherheit. Für ein kleines beitrittswilliges Land bedeutet es Sicherheit, wenn es auf Grundlage eines einstimmigen Ratsbeschlusses, der auf stabilen Fundamenten entsprechender Beschlüsse in den Nationalstaaten steht, auf gleicher Augenhöhe mit der großen EU über den Beitritt verhandelt. Zu dieser sehr ehrlichen und offenen Aussage habe ich bei unseren Gesprächen in Island absolut keinen Widerspruch gehört. Island kann Europa bereichern, Europa kann Island bereichern. Das Land gilt als sehr umweltfreundlich. Wir können gerade im Hinblick auf erneuerbare Energien, eine moderne Fischereipolitik und nachhaltiges Wirtschaften unheimlich viel von ihm lernen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist richtig! Da können wir viel lernen!) Island ist bereits heute weitgehend in den Wirtschafts- und Rechtsraum der EU integriert. Das Land gehört zum Anwendungsbereich des Schengener Abkommens und nimmt am EU-Binnenmarkt teil. Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft sind gesetzt, ebenso die Achtung der Menschenrechte. Herr Thönnes hat es schon angesprochen: Wenn man sich ein wenig mit der Geschichte Islands beschäftigt, dann erfährt man, dass dort bereits seit dem Jahr 930 Parlamente gewählt wurden. Damit hat das Land eine sehr tief verwurzelte demokratische Tradition. Wir trauen diesem Land auch zu - das verlangen wir auch, wenn es zum Beitritt kommt -, dass es die Ziele und Verpflichtungen der politischen Union, also den gemeinschaftlichen Besitzstand, übernimmt. Deshalb sind Anpassungen in den Bereichen Fischerei, kommerzieller Walfang - darüber wurde schon viel gesprochen -, Landwirtschaft, Regionalpolitik, Kapitalverkehr und Finanzdienstleistungen notwendig. Damit werden die Kopenhagener Kriterien erfüllt; so sieht es zumindest die Kommission. Auf die Konvergenzkriterien trifft das allerdings nicht zu - Herr Silberhorn hat es schon angesprochen -: Mit einer Schuldenstandsquote von 125 Prozent und einem Haushaltsdefizit von 14,4 Prozent ist das Land weit vom Euro-Raum entfernt. Deutschland hat den Ausbau der Beziehungen zwischen Island und der EU bis hin zu einer Vollmitgliedschaft immer begrüßt, nur waren die Isländer bisher sehr zurückhaltend. Diese Zurückhaltung löste sich erst mit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise, die Island in ziemliche Turbulenzen gestürzt hat. Lieber gestern als heute wäre man dem Euro-Raum beigetreten und erst dann der EU. Als klar wurde, dass der Mechanismus genau andersherum verläuft - erst der Beitritt zur EU, dann zur Währungsunion -, dass für Island im Beitrittsprozess trotz Krise dieselben Kriterien, Bedingungen und Verfahren wie für jeden anderen beitrittswilligen Staat gelten, dass es keinen Beitrittsautomatismus geben würde, ebbte die Euphorie erheblich ab. Hinzu kamen schwierige Verhandlungen über Rückzahlungsforderungen Großbritanniens und der Niederlande; dabei ging es um Schulden der isländischen Direktbank Icesave bei diesen Ländern in Höhe von immerhin 3,9 Milliarden Euro. Die Isländer sind beim Thema EU-Beitritt zwischen Pro und Kontra hin und her gerissen. Deshalb kommt es nicht nur auf die Verhandlungsweise der EU an, sondern auch darauf, ob und wie gut der isländischen Regierung die Argumentation für einen EU-Beitritt in der Öffentlichkeit gelingt. Ich denke, dass die isländische Ministerpräsidentin nicht unbedingt schlagende Argumente anwendet, wenn sie auf solche Darstellungen wie auf einem Wandteppich im Kabinettssaal der isländischen Regierung zurückgreift: Hier hat sie einen Knüppel in der Hand und drischt dem Finanzminister - ich glaube, er ist von den Grünen - so lange auf den Kopf ein, bis sich bei ihm zwölf Europasterne um den Kopf drehen. (Franz Thönnes [SPD]: So ähnlich wie hier in der Koalition!) Die Isländer werden in ein paar Jahren nach Ablauf der Verhandlungen in einem Referendum beweisen können, wie sie den EU-Beitritt sehen. Dann werden wir sehen, ob wir mit der heutigen Einvernehmenserklärung hinsichtlich der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen die Grundlage für einen gemeinsamen europäischen Weg gelegt haben oder ob das alles - jetzt nutze ich doch ein Sprachbild mit dem Vulkan - ein Tanz auf dem Vulkan gewesen ist. Ich hoffe es nicht. Ich hoffe vielmehr, dass die Isländer auch hier neue Wege gehen und an ihre wichtigste Industrie denken, an die Fischereiindustrie. Denn die Fischer - so sagt ein altes Sprichwort - suchen ihre Fische dort, wo sie sind, und nehmen jeden Tag einen neuen Weg, um sie ausfindig zu machen. So kann es sein, dass der Weg von gestern nicht der Weg zu den Fischen von heute ist. Jeden Tag einen neuen Weg gehen und Mut zum Beitritt - das wünsche ich den Isländern und auch uns. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das waren aber mehr als sieben Minuten!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 17/1464. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/1190 mit dem Titel "Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zum Beitrittsantrag der Republik Island zur Europäischen Union und zur Empfehlung der EU-Kommission vom 24. Februar 2010 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Entschließungsantrages der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1191 zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1059 mit dem Titel "Verhandlungen über die Aufnahme Islands in die Europäische Union eröffnen". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Entschließungsantrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1172 zu der bereits genannten Regierungserklärung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta-be e seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/260 mit dem Titel "Rechte des Bundestags nach den Begleitgesetzen zum Vertrag von Lissabon wahren - hier: Einvernehmen mit dem Bundestag vor der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Island herstellen" für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Lauterbach, Dr. Marlies Volkmer, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Effektivere Arzneimittelversorgung - Drucksache 17/1201 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin Vogler, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Faire Preise für wirksame und sichere Arzneimittel - Einfluss der Pharmaindustrie begrenzen - Drucksache 17/1206 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt Bender, Fritz Kuhn, Maria Anna Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Qualität und Sicherheit der Arzneimittelversorgung verbessern - Positivliste einführen - Arzneimittelpreise begrenzen - Drucksache 17/1418 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die dieser Aussprache nicht bewohnen wollen, den Saal zu verlassen, damit die anderen ungestört folgen können. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Karl Lauterbach von der SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dr. Karl Lauterbach (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir tragen heute unsere Vorschläge zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung vor. Was ist der Hintergrund unserer Vorschläge? Der Hintergrund ist der, dass es in der Gesundheitspolitik in den letzten Wochen zu einem völligen Stillstand gekommen ist. In den letzten Wochen ist viel geredet worden, zum Teil auch sehr aufgeregt. Aber de facto ist seitdem nichts passiert. (Ulrike Flach [FDP]: Wo waren Sie denn, Herr Lauterbach?) Sie haben von einer großen Kopfpauschale gesprochen, aber es gab kein Konzept. Frau Merkel hat Minister Rösler gebeten, dieses Thema nicht immer wieder zu erwähnen. Herr Schäuble hat darauf hingewiesen, dass kein Geld da ist. Herr Söder hat ebenso wie Herr Seehofer darauf hingewiesen, dass kein politisches Mandat vorhanden ist. Was ist übrig geblieben? Es gibt kein Geld, kein Konzept und keinen politischen Willen. Es ist schlicht nichts übrig geblieben. (Heinz Lanfermann [FDP]: Nicht einmal eine Opposition ist übrig geblieben! - Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Widerspruch bei der SPD) - Keine Sorge, zu Ihnen komme ich gleich. Sie haben dann über eine kleine Kopfpauschale philosophiert. Es war von einem Betrag in Höhe von 29 Euro die Rede. Herr Rösler hat das halbherzig dementiert. Auch hierfür gilt: Es gab nie ein Konzept, es gab kein Geld und keine Einigkeit, gar nichts. (Ulrike Flach [FDP]: Wo waren Sie denn?) Das Einzige, was in der Diskussion übrig geblieben ist: Man hört aus Kreisen der Regierungskommission bzw. von Herrn de Maizière, dass der Beitragssatz nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen angehoben werden soll. (Widerspruch des Abg. Jens Spahn [CDU/CSU]) Eine Beitragssatzerhöhung ist alles, was nach diesem Buhei übrig geblieben ist. Das ist zu wenig. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Heinz Lanfermann [FDP]: Blühende Fantasie! Das wird jede Woche doller!) Ich fasse dies, wie ich glaube, fair zusammen - auch wenn das eine Enttäuschung für jedermann und jede Frau ist -, wenn ich sage: Es ist nichts passiert. Welche Strategie könnte dahinterstecken? Die Strategie - sofern man überhaupt eine erkennt - könnte allenfalls die sein, dass man versucht, sich über die Wahl in Nordrhein-Westfalen zu retten, um dann unbeliebte Vorschläge zur kleinen, mittelgroßen oder großen Kopfpauschale zu bringen. Sollte dies die Strategie sein, dann ist sie nicht aufgegangen. Denn zu dem Zeitpunkt, zu dem man eine solche Pauschale hätte beschließen können, hat man es nicht gewagt. Demnächst ist die schwarz-gelbe Regierung in Nordrhein-Westfalen weg, dann kann man sie nicht mehr beschließen. (Beifall bei der SPD) In der Summe: Als man sie hätte beschließen können, hat man es nicht gewagt. Jetzt, da man möglicherweise den Mut aufbringt, ist die Zeit abgelaufen. Hat es eine Strategie gegeben, so ist sie nicht aufgegangen. (Ulrike Flach [FDP]: Noch nicht einmal Ihre eigenen Leute wollen sich das anhören! - Heinz Lanfermann [FDP]: Jetzt lächelt er schon selber!) Ich komme zum Handwerk: Es ist ja viel über das gesundheitspolitische Handwerkszeug der schwarz-gelben Koalition geschrieben worden. Ich gehe einmal kurz auf den Vorschlag der kleinen Kopfpauschale ein, der halbherzig dementiert wurde. Frau Flach, was käme dabei heraus? (Ulrike Flach [FDP]: Sie sollten Ihre eigenen Vorschläge durchrechnen!) - Frau Flach, das ist auch für Sie lehrreich. Konzentrieren Sie sich. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN - Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) Was hätten wir dann? Wir hätten einen Arbeitgeberbeitrag, wir hätten einen Arbeitnehmerbeitrag, wir hätten eine kleine Prämie, wir hätten einen Finanzausgleich zum Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitrag, wir hätten einen allgemeinen Steuerzuschuss, und wir hätten einen Finanzausgleich für die Prämie. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wer will denn so etwas?) Wir hätten im Prinzip sieben Elemente auf der Einnahmeseite. Das wäre dann das komplizierteste Gesundheitssystem in Europa. Das gesamte Buhei hätte nur den Hintergrund, dass man den Arbeitgeberbeitrag festfrieren will. Es wäre ein reines Umlagesystem. (Ulrike Flach [FDP]: Ist Ihnen eigentlich klar, wozu Sie reden sollen?) Ich bringe in Erinnerung: Die FDP hat uns über Jahre hinweg mit dem Hinweis genervt, dass die Gesundheitspolitik nur überleben könnte, wenn ein kapitalgedecktes System eingeführt würde. Davon ist jetzt keine Rede mehr. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Kamelle!) Ich habe das immer für falsch gehalten. Alles, was wir jetzt hören, ist: Beitragssatzerhöhung. Außerdem kommt es vielleicht zu einem Umstieg von einem relativ einfachen und gerechten Umlagesystem zu einem komplizierten und ungerechten Umlagesystem. Das ist alles, was Sie uns bisher hier anbieten können. (Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist die falsche Rede! Heute geht es um Arzneimittel!) - Herr Lanfermann, überlassen Sie es bitte uns, die Dinge vorzubringen, die wir für relevant halten. Ich komme gleich zu den Arzneimitteln. (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Ah! - Jens Spahn [CDU/CSU]: Sie haben keine Zeit mehr! Die Zeit ist abgelaufen!) Wenn wir hier Handwerk und Stillstand beklagen, dann tut Ihnen das weh. Sonst würden Sie sich nicht beschweren, Herr Lanfermann. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir klagen nicht über das Handwerk! Niemals!) Nun zur Pharmaindustrie: Der einzige brauchbare Vorschlag ist die Einführung eines Zwangsrabattes von 16 Prozent. Der kommt aber zu spät. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wieso? Viel schneller geht es nicht!) So werden die Preiserhöhungen, die wir derzeit beobachten, einen Teil dieses Rabattes wegfressen. Das gilt übrigens auch, wenn er rückwirkend eingeführt wird. (Ulrike Flach [FDP]: Sie hätten es ja schon letztes Jahr machen können! Dann wäre er da! - Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Was wäre denn rechtzeitig?) Wir erwarten, dass es zu Preisverhandlungen für neue Arzneimittel kommt. Der Weg über IQWiG wäre ein kompliziertes, bürokratisches Verfahren ohne Einsparpotenzial. Was hören wir also auch in diesem Bereich? Bürokratie pur ohne eine relevante Einsparung. Ihnen laufen die Beiträge quasi davon. Im nächsten Jahr werden 15 Mil-liarden Euro fehlen. Wir hören nicht einen einzigen Vorschlag, wie diese Deckungslücke geschlossen werden soll. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Freilich! Mit den Arzneimitteln!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Lauterbach, darf ich Sie kurz unterbrechen? Der Kollege Lanfermann würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. Dr. Karl Lauterbach (SPD): Sehr gerne, Herr Lanfermann. Heinz Lanfermann (FDP): Vielen Dank. - Herr Kollege Lauterbach, ich gehe ein wenig zurück: Sie haben gesagt, die Erhöhung des Rabatts auf 16 Prozent käme zu spät, weil wir gerade Preis-erhöhungen erlebt hätten. Man hätte das stattdessen irgendwie rückwirkend festsetzen müssen. Ist Ihnen bekannt, dass in unserem Eckpunktepapier, das mittlerweile sehr weit verbreitet ist, mit der Einführung einer Rabatterhöhung zum 1. August 2010, wie angekündigt, auch ein Preismoratorium festgelegt wird, das auf die Preissituation am 1. August 2009 zurückgeht, weil es insbesondere in den Monaten August und Sep-tember 2009 eine Reihe von Preiserhöhungen gegeben hat? (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das kann man mit Ja beantworten!) Dr. Karl Lauterbach (SPD): Das ist durchaus bekannt. Meine Belehrung bestand lediglich darin, (Jens Spahn [CDU/CSU]: "Belehrung" ist das richtige Wort!) dass zu Jahresbeginn infolge Ihrer Ankündigung Preiserhöhungen stattgefunden haben und derzeit von den Krankenkassen die erhöhten Preise bezahlt werden, dieses Geld also weg ist und gemäß Ihrem Vorschlag nicht zurückgefordert werden soll. Bevor ich Ihnen Ihren eigenen Vorschlag erkläre, Herr Lanfermann, frage ich Sie: Ist Ihnen klar, dass das Geld, das die Kassen in dieser Periode aufgrund der Erhöhung in den Monaten Januar und Februar mehr haben zahlen müssen, für die Kassen verloren ist? Ist Ihnen klar, dass dieses Geld durch Ihren Vorschlag nicht zurückgefordert werden kann? Dieses Geld ist schlicht weg. Das läuft Ihnen durch die Hand. Dieses Geld können Sie auch durch eine rückwirkende Festlegung und ein Preismoratorium nicht festhalten. Das sage ich dazu. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das nennt sich Rechtsstaat!) - Ich habe den Vorschlag ja verstanden, wie auch Sie, Herr Spahn. Die Rückfrage kam ja von Herrn Lanfermann, der Probleme hat. (Ulrike Flach [FDP]: Die Probleme haben wir, weil Sie die Kostendämpfung nicht letztes Jahr gemacht haben!) Herr Lanfermann hat ja Probleme. (Lachen bei der LINKEN) Es ist richtig, wir machen den gleichen Vorschlag. Ich sage nur, dass selbst dieser Vorschlag - das ist der einzige Vorschlag, den Sie bisher gemacht haben; daher können wir nicht viel diskutieren - Ihnen nicht viel Geld bringt. Sie stehen nachher mit leeren Händen da. Ich komme zum Abschluss. Ich bringe noch ein letztes Beispiel zum Handwerk. Da wird der Vorschlag gemacht, die Mangelversorgung bei Hausärzten dadurch zu verbessern - das müssen Sie sich einmal vorstellen! -, dass der Numerus clausus für Medizinstudenten abgeschafft wird. Was zeigt das? Das zeigt die Vorurteile des Ministers. Der Minister scheint zu denken, dass man für die Hausarzttätigkeit nicht so schlau sein muss. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Jetzt müsste ich nach Ihrem Numerus clausus fragen!) Darüber hinaus scheint er zu denken, dass diejenigen, die einen guten Numerus clausus haben, keine guten Hausärzte sein können. (Ulrike Flach [FDP]: Das trifft vielleicht auf Sie zu, Herr Lauterbach!) Das sind die Vorurteile, die sich hier zeigen. Kein einziger zusätzlicher Hausarzt wird aufs Land kommen. Die Zahl der Medizinstudenten bleibt gleich. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Jetzt kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege Lauterbach. Dr. Karl Lauterbach (SPD): Ich komme zum Schluss. - Die Vorschläge, die wir bisher gehört haben, bringen allesamt nichts. Bisher herrscht Stillstand auf hohem Niveau. Man kann nur abwarten, bis sich die FDP wieder aus dieser wichtigen sozialpolitischen Disziplin zurückzieht. (Beifall bei der SPD - Ulrike Flach [FDP]: Hauptsächlich ist es Ihr Stillstand!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Jens Spahn von der CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jens Spahn (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lauterbach, bei aller Wertschätzung, Sie haben es jetzt geschafft, Ihre ganze Redezeit zu dem Thema "Effektivere Arzneimittelversorgung", das Sie hier beantragt haben, mit Belehrungen, zugegebenermaßen professoraler Art, zu füllen und dabei das Wort "Arzneimittel" nur zweimal zu benutzen; ansonsten haben Sie nichts, aber auch gar nichts zum Inhalt des Antrags, den Sie gestellt haben und den wir hier beraten, gesagt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich glaube, Sie wissen auch, warum Sie Ihren eigenen Antrag nicht erwähnen: Er ist nämlich längst überholt (Ulrike Flach [FDP]: So ist es!) durch Regierungshandeln. (Lachen bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN - Harald Weinberg [DIE LINKE]: Handeln? - Zurufe von der SPD: Wo?) - Ja, Handeln. (Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist, wenn man etwas tut! - Ulrike Flach [FDP]: Im Gegensatz zu Ihnen!) - Vor allem ist das mehr, als elf Jahre lang nur irgendetwas zu erzählen. Sie von Rot-Grün haben elf Jahre lang nacheinander die Gesundheitsministerin gestellt (Zuruf der Abg. Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) und immer davon geredet, dass Sie jenseits von kurzfristigen Strukturveränderungen die Preisbildung von Arzneimitteln in Deutschland langfristig verändern wollen, aber das haben Sie in elf Jahren nicht geschafft. Jetzt sind Sie in der Opposition insgesamt, insbesondere SPD und Grüne, erschrocken, dass es nun gerade eine bürgerliche Koalition ist, die das, was Sie elf Jahre lang angekündigt, aber nicht geschafft haben, nun wenige Monate nach Regierungsantritt schafft. (Ulrike Flach [FDP]: So ist es!) Das ist Ihr eigentliches Problem. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Widerspruch der Abg. Birgitt Bender [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]) Was werden wir tun? Erstens. Wir werden - darüber haben Sie gesprochen; auch das wird in Ihren Anträgen erwähnt - kurzfristig Sparmaßnahmen ergreifen; das ist nichts Neues, das hat es auch bei früheren Regierungen gegeben. Sie haben das Defizit der gesetzlichen Krankenversicherung erwähnt: Im nächsten Jahr werden zwischen 10 und 15 Milliarden Euro erwartet. Das ist das größte Defizit in der Geschichte der Krankenversicherung. Natürlich muss die Pharmaindustrie da einen Solidaritätsbeitrag leisten. Das werden wir in Form eines gesetzlich vorgeschriebenen Herstellerrabattes bewirken, der mit allen anderen Maßnahmen zusammen mindestens 1,5 bis 2 Milliarden Euro Sparwirkung allein für das nächste Jahr bringen wird; diese Sparwirkung wird es auch in den Jahren darauf geben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist ein erster wichtiger Beitrag zu Einsparungen bei den Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung. Zweitens - jetzt kommt das Entscheidende, was bei vergangenen Reformen auf dem Arzneimittelmarkt nicht gelungen ist - werden wir langfristig die Strukturen so verändern, dass nicht der Arzneimittelhersteller nach Zulassung einseitig die Preise festlegt, die dann auch gezahlt werden müssen - so ist es bisher in Deutschland üblich -, sondern die Preise in Zukunft an den tatsächlich wissenschaftlich nachgewiesenen Zusatznutzen von Arzneimitteln gekoppelt sein werden. Es wird nur für tatsächlich bewiesenen Zusatznutzen in Zukunft mehr Geld geben. (Mechthild Rawert [SPD]: Warum wurde Herr Sawicki dann abgesetzt?) Das ist das eigentlich Neue. Davon haben Sie elf Jahre geredet. Das werden wir jetzt tun. Sie stört, dass wir es tun und nicht Sie, nachdem Sie dazu nicht die Kraft hatten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zurufe der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Wir haben zudem eine Verhandlungslösung vorgesehen. Das heißt, die Hersteller verhandeln mit den Krankenkassen, und zwar in genau vorgegebenen Zeitabläufen von maximal 15 Monaten mit einer Schiedsamtslösung. Sie werfen uns vor, dass wir solche Instrumente ergreifen. Ich halte das unter den gegebenen Umständen für die beste Lösung. Wir wollen nämlich keine staatliche Preisfestsetzung. Das ist nicht unsere Vorstellung vom Gesundheitswesen. Wir wollen Verhandlungslösungen, bei denen die Partner jeweils begründen müssen, welche Vorstellung sie haben. Wir wollen aber auch nicht, dass sich die Verhandlungen unendlich in die Länge ziehen. Deswegen haben wir klare zeitliche Rahmen vorgegeben. Es ist doch ein großer Unterschied, ob nach spätestens 15 Monaten tatsächlich ein Verhandlungsergebnis vorliegt oder ob es - so ist es heute - nach oben offene Preisfestsetzungen für die ganze Zeit des Patentes gibt. Eins ist uns dabei ganz wichtig, nachdem hier immer wieder von der sogenannten vierten Hürde bei der Zulassung die Rede ist: Wir in der christlich-liberalen Koalition legen großen Wert darauf, dass es dabei bleibt, dass Patientinnen und Patienten - auch in der gesetzlichen Krankenversicherung und nicht nur in der privaten Krankenversicherung - einen direkten Zugang zu neuen Medikamenten bekommen; (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) denn mit neuen Medikamenten ist auch die Hoffnung etwa von Krebspatienten, von MS- oder Parkinson-Patienten - stellen Sie sich vor, es gäbe endlich ein Medikament gegen die Geißel Demenz - auf Leidminderung verbunden. Deswegen wollen wir weiterhin ab Zulassung, zum frühestmöglichen Zeitpunkt, einen Zugang der Patientinnen und Patienten zu dieser Versorgung. Auch das ist für uns ein wichtiger Punkt bei dieser anstehenden Reform. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Im Übrigen - ich bin gespannt auf die weiteren Reden, auch auf die der Opposition - (Heinz Lanfermann [FDP]: Wir nicht!) fand ich es bemerkenswert, Herr Kollege Lauterbach, wie sprachlos Sie im Grunde in Bezug auf Ihren eigenen Antrag gerade sechs Minuten lang gewesen sind. Sie haben über alles Mögliche geredet, über alles, was Ihnen eingefallen ist, bis hin zur ärztlichen Versorgung im ländlichen Raum. Das ist ein wichtiges Thema. Aber ich weiß nicht, was das in einer Debatte zur effektiven Arzneimittelversorgung, die Sie selbst beantragt haben, eigentlich soll. Sie wissen ganz genau - das gilt im Übrigen auch für die Anträge der übrigen Oppositionsfraktionen; ich bin schon gespannt auf Ihre Reden -, (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Danke schön!) dass wir vieles von dem, was Sie fordern - zum Teil richtigerweise -, nicht nur in Worten vor uns hertragen, sondern auch in Taten umsetzen werden. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Da ist doch nichts passiert!) Die ersten Dinge werden zum 1. August in Kraft treten; wir bringen sie jetzt in den Gesetzgebungsprozess ein. Der zweite Teil des Gesetzes, in dem es um die Eckpunkte geht, wird zur Sommerpause hin beraten und zum 1. Januar nächsten Jahres in Kraft treten. Genauso wie wir im Bereich der Arzneimittelpreisfindung langfristige Lösungen angestrebt haben und jetzt auch finden werden - nicht nur kurzfristige, wie in der Vergangenheit, sondern langfristige, nachhaltige Lösungen -, werden wir Lösungen bei der ärztlichen Versorgung suchen und finden - es ist gut, dass die Debatte darüber begonnen hat -, und genauso nachhaltig werden wir eine Lösung für die dauerhafte, breitere, gerechtere Finanzierung des Gesundheitswesens finden. (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das darf man bei eurem "Kopfgeld" aber bezweifeln!) Wir machen das Schritt für Schritt. Wir machen es fundiert. Wir werden vieles von dem, was Sie über Jahre erzählt haben, jetzt mit christlich-liberalem Geist, auf christlich-liberaler Basis umsetzen, (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sie haben doch alles blockiert! Ich bitte Sie! Sie waren doch der Bremsklotz!) und zwar schneller, als es Ihnen lieb ist, weil damit die ganzen Überschriften, die Sie gerne in der Gegend herumposaunen, und damit wahrscheinlich auch manche der vielen Debatten, die Sie hier Woche für Woche beantragen, ohne substanziell wirklich Neues vorzutragen, überflüssig werden. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sie haben doch alles blockiert!) Das ist das eigentliche Problem, Herr Kollege Lauterbach: Sie reden, wir handeln. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sie handeln nicht! Sie waren bisher der Bremsklotz!) Aber Sie wollen jede Woche aufs Neue reden und das Gleiche erzählen. Unsere Taten werden Ihren Worten - - (Bärbel Bas [SPD]: Folgen! - Heiterkeit) - Immerhin haben alle aufgepasst. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da verschlägt es ihm die Sprache! Das war entlarvend!) Jetzt habe ich es: Unsere Taten werden Ihre Worte Lügen strafen. So wollte ich es sagen. (Heiterkeit) Alles Gute. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Kathrin Vogler (DIE LINKE): Herr Präsident, vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach so viel Humor will ich versuchen, wieder ein bisschen Ernst in diese Debatte zu bringen. Vor Ostern ist es ja laut durch den Blätterwald gerauscht: Der FDP-Gesundheitsminister will die Pharmakonzerne entmachten, hieß es. Die Branche jaulte natürlich zunächst auf. Aber der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie hat nur trocken kommentiert, da wolle der Minister die Unternehmen wohl zu etwas zwingen, was sie sich selbst ausgedacht haben, (Ulrike Flach [FDP]: Na, na!) weil das Verhandlungskonzept in weiten Teilen von den Verbänden vorgelegt worden war. (Heinz Lanfermann [FDP]: Ja, ja! Deswegen sind die ja auch so begeistert! - Heiterkeit bei der FDP) Uns als Parlament liegt das Konzept der Bundesregierung noch nicht vor. Aber nach dem, was bisher so durchgesickert ist, lieber Kollege Spahn, scheint es für uns in einigen Punkten tatsächlich zustimmungsfähig zu sein. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Oh! - Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Dann müssen wir allerdings aufpassen!) Das gilt insbesondere für die Kosten-Nutzen-Bewertung und die Orientierung an internationalen Vergleichspreisen; das steht auch in unserem Antrag. Diese Schritte sind alleine aber keineswegs ausreichend, um den Selbstbedienungsladen für die Pharmaindustrie zu schließen. (Beifall bei der LINKEN) Solange die Pharmaunternehmen selbst die Preise festlegen und über die Studien entscheiden, mit denen Nutzen und Risiken belegt werden, so lange werden wir die Arzneimittelausgaben nicht in den Griff bekommen. Ihr Preisstopp in Kombination mit einem zusätzlichen Zwangsrabatt von 10 Prozent schafft zwar kurzfristig etwas Luft, aber dann setzen die Hersteller zukünftig die Preise für neue Produkte entsprechend höher an, zumal Sie ihnen ja weiterhin für das erste Jahr oder für 15 Monate gestatten wollen, diese Mondpreise zu kassieren. Außerdem - das haben wir gelernt - werden die Unternehmen dafür zu sorgen wissen, dass dann entsprechend mehr Medikamente verordnet werden. Dem müssen wir im Interesse der Versicherten einen Riegel vorschieben. (Beifall bei der LINKEN) Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, IQWiG, hat vor zwei Jahren in einer Studie festgestellt, dass nirgends in Europa so viel für Medikamente ausgegeben wird wie bei uns, gleichzeitig deutsche Ärzte weniger Zeit für die Patienten aufwenden als ihre Kollegen im Ausland. Zwischen diesen beiden Fakten gibt es einen Zusammenhang: Viele Patienten erleben, dass sie im Wartezimmer sitzen müssen, während die freundliche Dame oder der freundliche Herr von der Pharmaindustrie dem Doktor gerade die neuesten Medikamente vorstellt. Ärzte berichten, dass dies keine Informationsgespräche sind, sondern dass es um knallhartes Marketing geht. Die Erfolge dieses Marketings zahlen die Kassen mit jährlich steigenden Arzneimittelausgaben. In Polen zum Beispiel dürfen Pharmareferenten nicht mehr während der Sprechstunden in die Arztpraxen. Warum regeln wir das nicht ähnlich? (Beifall bei der LINKEN) Das Deutsche Ärzteblatt stellt fest, dass die Pharmaindustrie in großem Stil Studien vortäuscht, manipuliert oder unterdrückt, um Medikamente von zweifelhafter Wirksamkeit und unzureichender Sicherheit an den Mann oder die Frau zu bringen. Die großartige Innovationskraft der forschenden Pharmaindustrie, der Sie, Kollege Spahn, gerade wieder das Wort geredet haben, (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Er hat doch recht!) ist in Wahrheit allzu oft eine Schimäre, die benutzt wird, um hohe zweistellige Umsatzrenditen zu rechtfertigen. (Ulrike Flach [FDP]: Na, na!) Wirkliche Neuerungen zum Nutzen der Patienten sind viel seltener, als die Lobbyisten uns glauben machen wollen. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Aber es gibt welche, oder?) - Es gibt welche; aber sie sind deutlich seltener, als immer behauptet wird. Wenn sich, wie die FDP sagt, Leistung wieder lohnen soll, dann müssen die Medikamentenpreise konsequent am Nutzen für die Kranken festgemacht werden. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Machen wir doch! - Ulrike Flach [FDP]: Machen wir doch!) Dafür sollten wir uns gemeinsam einsetzen. (Ulrike Flach [FDP]: Lesen Sie, was wir vorschlagen!) Die Linke fordert außerdem ein verbindliches öffentliches Register für Arzneimittelstudien. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Gibt es doch schon!) Damit hätten wir ein Instrument, um Manipulationen in der Bewertung neuer Therapien entgegenzuwirken. Vor weniger als einem Jahr hat ein gewisser Dr. Philipp Rösler, damals niedersächsischer Wirtschaftsminister, einen Beschluss unterzeichnet, in dem die Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln sehr kritisch gesehen und gefordert wird, die Interessen der pharmazeutischen Industrie nicht zu beschädigen. Erleben wir gerade einen echten Perspektivenwechsel, oder ist das eher Wahlkampfhilfe für Ihren Parteifreund Andreas Pinkwart in NRW, auch um die Mehrheit im Bundesrat für die schwarz-gelbe Kopfpauschale nicht zu verlieren? Eine kurze Bemerkung zu dem Antrag der SPD. Wir haben bei dem Beitrag des Kollegen Lauterbach eben gemerkt, dass er dazu wenig zu sagen hatte. (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU und der FDP) Der Vorwurf, die jetzige Bundesregierung sei schuld an den Zusatzbeiträgen etlicher Krankenkassen, wird auch durch Wiederholung nicht wahr. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Richtig!) Erinnern wir uns: Zusatzbeiträge, Praxisgebühr, Sonderbeitrag von 0,9 Prozent, Zuzahlungen, das alles wurde in Ihrer Regierungszeit auf den Weg gebracht. Da können Sie sich nicht aus der Verantwortung stehlen. (Beifall bei der LINKEN) Was Ihnen jetzt zu den Arzneimittelpreisen einfällt, unterscheidet sich leider nur wenig von den Ideen aus dem Ministerium. Ihnen fehlt da wohl der Mut, die untauglichen Konzepte aus der eigenen Regierungszeit über Bord zu werfen und noch einmal ganz neu nachzudenken. Deswegen lade ich Sie dazu ein, den Antrag der Linken zu unterstützen und mitzuhelfen, dass die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten endlich über die Interessen der Aktionäre gestellt werden. Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Daniel Bahr. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Daniel Bahr, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Gesundheit: Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Der Kollege Lauterbach hat den Eindruck erweckt, als ob die steigenden Arzneimittelausgaben allein nach dem Herbst 2009 entstanden seien. Jetzt wollen wir uns einmal kurz daran erinnern, welche Situation die neue Bundesregierung, die neue Koalition im Herbst 2009 vorgefunden hat: Die Ausgaben für Arzneimittel liegen mittlerweile deutlich über den Ausgaben für die ambulante Versorgung. Das ist in den letzten Jahren der Verantwortung der SPD für das Gesundheitsministerium entstanden. (Beifall bei der FDP) Im Herbst 2009 betrug das Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung 8 Milliarden Euro, und auch für 2011 wird ein Milliardendefizit erwartet, das allerdings noch nicht beziffert werden kann. Auch dieses Defizit ist in der Verantwortung der SPD für die Gesundheitspolitik entstanden. Wenn hier der Eindruck erweckt wird, die neue Bundesregierung sei angesichts dieser Milliardenlasten untätig geblieben, sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass der Steuerzahler eine Kraftanstrengung unternehmen musste, damit das Defizit von 8 Milliarden Euro auf unter 4 Milliarden Euro gedrückt werden konnte, auch um einen besonderen Beitrag für den Arbeitsmarkt, für die Sicherung von Arbeitsplätzen in Deutschland zu leisten. Das gerät bei der SPD immer ein bisschen in Vergessenheit. Dabei ist das ein großer Beitrag, der hier zur Stabilität auch der Finanzierung im Gesundheitswesen geleistet wird. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es kommt etwas Zweites hinzu. Die Koalition hat von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass wir im Gesundheitswesen natürlich auch zu Einsparungen kommen und alle Beteiligten im Gesundheitswesen einen Beitrag dazu leisten müssen. Lieber Herr Kollege Lauterbach und Frau Kollegin Bender, die gleich noch das Wort ergreifen darf, was uns von vergangenen Regierungen aber unterscheidet, ist, dass wir nach der Bundestagswahl zu Beginn der Legislaturperiode eben nicht als Erstes ein kurzfristiges Kostendämpfungsgesetz machen, (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, ihr braucht dafür noch länger!) durch das kurzfristig irgendwo Geld eingespart wird und kurzfristig zusätzliche Instrumente eingeführt werden. Stattdessen sorgen wir für einen Dreiklang bei diesem Arzneimittelpaket: Ja, wir brauchen kurzfristig wirksame Maßnahmen, aber wir brauchen sie nicht alleine, sondern wir brauchen auch strukturelle Maßnahmen, die uns helfen, die Arzneimittelausgaben zu begrenzen, und wir brauchen auch deregulierende Maßnahmen. Wir haben mittlerweile einen Instrumentenkasten von über 20 Instrumenten, mit denen der Arzneimittelmarkt reguliert werden soll, und wir stellen doch gemeinsam fest, dass es uns nicht gelingt, die Arzneimittelausgaben so zu begrenzen, dass wir auf ein vergleichbares Niveau wie in anderen Ländern in Europa kommen. Mittlerweile haben wir im Arzneimittelbereich Instrumente, die sich widersprechen und bei denen auch keiner mehr durchblickt. Dadurch wird die Versorgung vor Ort ganz klar belastet. Der Arzt weiß gar nicht mehr, was er verordnen soll, weil er Angst hat, in Regress genommen zu werden. Der Patient blickt bei diesen vielen Instrumenten gar nicht mehr durch und hat die Sorge, dass er das Medikament, das ihm hilft, gar nicht mehr bekommt. Deswegen wollen wir mit diesem Paket dazu beitragen, dass wir erstens kurzfristig zu Einsparungen für die Beitragszahler kommen, dass wir zweitens Strukturelles auf den Weg bringen, um zu einer fairen Preisbildung zu kommen, und dass wir drittens am Ende mit weniger Instrumenten auskommen, die aber natürlich wirksamer als die bisherigen Instrumente sein müssen. Das ist das Ziel, das wir mit dem Arzneimittelpaket verfolgen, das wir vorgelegt haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es sind natürlich einige Vorschläge dabei, die zum Teil auch in Ihren Anträgen stehen, auch wenn Sie, Herr Kollege Lauterbach, dazu anscheinend nicht reden, sondern lieber mit anderen Debatten ablenken wollen. Gemeinhin denkt man ja, dass man, wenn man als Regierung Vorschläge der Opposition aufgreift, Applaus dafür bekommt, aber wahrscheinlich haben Sie lieber verschwiegen, dass der eine oder andere Vorschlag von Ihnen durchaus auch aufgegriffen wurde. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ich habe es doch gesagt!) Schauen Sie sich einmal den kurzfristigen Bereich an. Mit dem erhöhten Herstellerrabatt auf 16 Prozent tragen wir dazu bei, dass das Niveau der Arzneimittelpreise dem Niveau in der Schweiz entspricht und damit kurzfristig auch Einsparungen für die Beitragszahler entstehen. Aber in einem wesentlichen Punkt unterscheiden wir uns: Die christlich-liberale Koalition will erreichen, dass es für Innovationen und neue Medikamente weiterhin einen offenen Zugang zur Versorgung gibt. Wir wollen keine vierte Hürde, das heißt, wir wollen verhindern, dass Arzneimittel, die neu zugelassen und wirksam sind, erst einen aufwendigen Prozess durchlaufen müssen, bis sie in die Anwendung beim Patienten kommen. Wir wollen, dass der offene Zugang für Innovationen erhalten bleibt. Das sehen wir in unseren Vorschlägen auch weiterhin vor. Dieser offene Zugang für neue Medikamente und für Innovationen darf aber kein Freifahrtsschein für die einseitige Preisbildung der Pharmaunternehmen sein, sondern wir wollen, dass die Pharmaunternehmen quasi in einer Bewährungszeit nachweisen sollen und müssen, dass dieses neue Medikament einen wirklichen Fortschritt darstellt und dass deswegen auch ein höherer Preis gerechtfertigt ist. Deswegen schaffen wir mit unserem Weg der fairen Verhandlungen zwischen den Krankenkassen und den Arzneimittelherstellern eine faire Preisbildung, bei der berücksichtigt wird, dass wirkliche Innovationen auch einen entsprechenden Preis verdienen, und gleichzeitig bringen wir die Interessen der Beitragszahler und die Interessen der pharmazeutischen Industrie in Einklang. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deswegen ist es unser Ziel, mit den Eckpunkten im Arzneimittelpaket dafür zu sorgen, dass den Menschen im Krankheitsfall die besten und wirksamsten Arzneimittel zur Verfügung stehen, dass die Preise und die Verordnung von Arzneimitteln wirtschaftlich und kosteneffizient sind und dass verlässliche Rahmenbedingungen für Innovationen, für die Versorgung der Versicherten und für die Sicherung von Arbeitsplätzen entstehen. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl!) Darüber hinaus wollen wir dafür sorgen, dass die Wahlfreiheit des Patienten gewährleistet ist. Sie sagen: Wenn es jetzt zu Rabattverhandlungen zwischen Arzneimittelherstellern und Krankenkassen käme, dann würden die Arzneimittelhersteller Mondpreise bzw. überhöhte Preise verlangen und sich das dann abhandeln lassen. - Herr Lauterbach ist immer wieder mit dem Beispiel des Teppichhändlers durch die Medien gelaufen. Ich hatte eigentlich erwartet, dass Sie dieses auswendig gelernte Beispiel heute wieder vortragen, aber wahrscheinlich reichte die Zeit nicht mehr. Ich wundere mich nun, weil die SPD diese Verhandlungen im Rahmen der Rabattverträge bei Generika einmal selbst mit eingeführt hat. Dabei haben wir festgestellt, dass Verhandlungen zwischen Krankenkassen und Arzneimittelherstellern zu Einsparungen für die Beitragszahler führen. Weil es aber nicht nur einseitig um Preisdrücken geht, wollen wir auch dafür sorgen, dass es einen fairen Rahmen für Arzneimittelhersteller und Krankenkassen gibt. Der beste Rahmen, der faire Bedingungen für Verhandlungen gewährleistet, ist das Wettbewerbs- und Kartellrecht. Das wollen wir auch im Arzneimittelbereich bei den Verhandlungen zwischen Krankenkassen und Arzneimittelherstellern vorrangig anwenden, weil wir faire Bedingungen für Krankenkassen und Arzneimittelhersteller wollen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber wir wollen auch Wahlfreiheit für die Versicherten gewährleisten. Sie haben die Rabattverträge angesprochen. Ich habe in der Praxis, zum Beispiel in der Apotheke oder in vielen Gesprächen, erlebt, dass das Verständnis und die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger groß sind. Sie finden es gut, wenn die Preisverantwortung nicht länger beim verordnenden Arzt, sondern bei den Krankenkassen und Arzneimittelherstellern liegt und wenn Krankenkassen in Verhandlungen mit Arzneimittelherstellern günstigere Preise heraushandeln, wovon sie als Beitragszahler profitieren. Wenn ein Patient bereit ist, die Differenz für ein teureres Arzneimittel zu zahlen, weil ihm dieses Mittel lieber ist - aus welchen Gründen auch immer; es können ganz individuelle Gründe sein, etwa weil man es angenehmer findet oder besser verträgt -, dann wollen wir ihm die Möglichkeit bieten, mit einer Aufzahlung dieses Medikament zu bekommen statt jenes, das die Krankenkasse mit dem Hersteller in einem Rabattvertrag ausgehandelt hat. Das trägt dazu bei, dass die Akzeptanz bei Einsparungen im Arzneimittelbereich auch bei den Patienten und Beitragszahlern erhöht wird. Deswegen wollen wir eine Mehrkostenregelung einführen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Bahr, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Lauterbach? Daniel Bahr, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Gesundheit: Meine Redezeit ist abgelaufen, aber wenn der Präsident mir das gestattet, gerne. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Der Kollege Lauterbach hatte auch anderthalb Minuten mehr. (Heinz Lanfermann [FDP]: Wir dachten, es seien fünf!) Daniel Bahr, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Gesundheit: Anderthalb Minuten? Ich bin gerade bei 20 Sekunden. Dr. Karl Lauterbach (SPD): Herr Bahr, sehen Sie nicht die Gefahr, wenn diese Regelung eingeführt wird und der Patient oder der Kunde, wie Sie ihn sehen, das Medikament wechseln kann, wenn er die Differenz zu dem im Rabattvertrag vorgesehenen Mittel zahlt, dass dann der Apotheker und der Arzt plötzlich einen Anreiz haben, das teuere Medikament anzubieten? Der Patient oder Kunde kann überhaupt nicht bewerten - machen wir uns doch nichts vor -, welcher Hersteller beispielsweise den Wirkstoff Diazepam am besten herstellt. Plötzlich ist der Patient, der ältere Mensch, der auf diese Mittel angewiesen ist, der Kunde. Wir haben mit der Union gemeinsam die Naturalrabatte dichtgemacht, weil wir diese Gefahr einer halblegalen Rückfinanzierung, um es einmal so zu sagen, von Mitteln bei Apothekern und Ärzten vermeiden wollten. Wir wollten als eine Art Verbraucherschutz vermeiden, dass der gleiche Wirkstoff teurer verkauft wird, nur weil der Patient nicht in der Lage ist, zu erkennen, dass es der gleiche Wirkstoff ist und in der Regel keinen Unterschied macht. Damit öffnen wir die Tür für eine Art der Abzocke, die auch ein unethisches Geschäft ist. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte. Daniel Bahr, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Gesundheit: Herr Kollege Lauterbach, das ist der Unterschied in dem Gesellschaftsbild, das wir beide haben, der uns trennt. Wir gehen vom mündigen Patienten aus, (Beifall bei der FDP) der auch im Gesundheitswesen für sich entscheiden kann, was er haben möchte. Der Anreiz besteht übrigens auch für den Patienten wie für den Apotheker und den Arzt. Wenn eine Krankenkasse mit einem Arzneimittelhersteller einen Vertrag geschlossen hat, dann ist es für den Patienten möglich, dieses Medikament ohne Zuzahlung zu bekommen. Er profitiert davon, dass die Krankenkasse mit dem Arzneimittelhersteller günstigere Preise ausgehandelt hat. Nur dann, wenn der Patient ein anderes Medikament haben möchte - aus welchen individuellen Gründen auch immer er es für sich besser findet; wir können nicht immer beurteilen, was besser ist; vielleicht empfindet der Patient es für sich als besser und ist bereit, diese Differenz zu tragen -, soll er nach der Mehrkostenregelung auch die Freiheit haben, das Medikament zu wählen, das er will. Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und unserer Herangehensweise: Wir wollen den Patienten nicht in eine Standardversorgung pressen, die ihm vorgegeben wird, sondern wir wollen dem Patienten die Möglichkeit geben, selbst zu entscheiden, welche Versorgung er wählen möchte. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Der mündige Patient!) Das ist ein unterschiedliches Gesellschaftsbild. Wir lassen uns davon prägen, dass der Patient und Bürger mündig genug ist und selbst die Entscheidung treffen kann, weil er sich informieren und beraten lassen und das, was er für seine Gesundheit braucht, selbst viel besser beurteilen kann. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender von Bündnis 90/Die Grünen. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man die Worte des Staatssekretärs hört und an die Überschriften denkt, die der Minister produziert hat, dann könnte man meinen, der Gesundheitsminister der FDP habe sich vom Beschützer der Pharmaindustrie zum Rambo gewandelt, der das Preismonopol der Pharmaindustrie bricht. Wenn man die Aufschreie der Frau Yzer vom Verband der Forschenden Arzneimittelhersteller hört, die sogleich den Untergang des pharmaunternehmerischen Abendlandes beschwört, dann könnte man fast geneigt sein, dem Minister auf die Schulter zu klopfen und ihm zu sagen: Das machst du schon richtig. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Ja, mach doch mal! - Heiterkeit bei der CDU/CSU) Aber wir halten einmal Folgendes fest: Um die Pharmaindustrie muss man sich keine Sorgen machen. Die Renditen in diesem Bereich sind hoch genug. Wenn der Chef von Boehringer Ingelheim via Interview in der FAZ sagt, die Pläne des Ministers seien absolut unterstützenswert, dann kann dies zweierlei bedeuten: Entweder hat ein Pharmachef begriffen, dass es darauf ankommt, langfristig zu denken und die Forschung tatsächlich auf echte Innovationen auszurichten. (Ulrike Flach [FDP]: Ja, soll es doch geben!) - Das wäre die gute Nachricht, Frau Flach. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es kann aber auch bedeuten - so etwas muss die Opposition immer im Auge haben -, dass er glaubt, dass den starken Worten des Ministers im Gesetz vor allem heiße Luft folgen wird. Genau dies befürchten wir. Was ist denn die Aufgabe, meine Damen und Herren? Gesundheitspolitik muss Rahmenbedingungen setzen, die tatsächlich dazu führen, dass es Innovationen im Gesundheitswesen und insbesondere auf dem Arzneimittelmarkt gibt, nicht aber Mondpreise, die nur dem Solidarsystem schaden und den Menschen nichts nützen. Hier gibt es bei Ihren Eckpunkten einfach weiße Stellen. Ich nenne Ihnen einige Beispiele. Erstens. Bei Ihnen setzen die Arzneimittelhersteller im ersten Jahr weiterhin völlig frei die Preise fest. Danach soll verhandelt werden. Nur, was wird denn ein Hersteller tun, der seinen Aktionären verpflichtet ist? Er wird doch nach wie vor versuchen, im ersten Jahr möglichst viel Gewinn in dem Vertrauen darauf hereinzuscheffeln, dass ihm dies schon bleiben wird. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber keine zehn und zwanzig Jahre mehr!) Dagegen, meine Damen und Herren, braucht man ein Mittel, und zwar eines, das die Grünen gar nicht erfunden haben, weil es dieses Mittel in den Nachbarländern schon gibt: einen Regress. Wenn sich also bei der vollständigen Kosten-Nutzen-Bewertung herausstellt, dass der Preis im Verhältnis zum Mehrnutzen überteuert ist, dann muss der Hersteller regresspflichtig sein. Nur so verhindert man, dass im ersten Jahr nach wie vor Mondpreise genommen werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Außerdem muss die Bewertung des Nutzens bereits parallel zum Zulassungsverfahren durchgeführt werden. Es nützt nichts, wenn man erst danach damit anfängt; denn nur so wird sich auch das Studiendesign in dem Sinne ändern, dass man in der Phase III nicht nur gegen Placebos, sondern auch gegen die Standardtherapie prüft. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das passiert doch, machen wir doch!) Nur damit wird man herausbekommen, was tatsächlich der Mehrnutzen ist. Zweitens. Nach Ihren Eckpunkten sollen die Hersteller jetzt ein Dossier vorlegen. Das ist zwar schön, aber da besteht die Gefahr, dass dies mehr oder weniger Verkaufsbroschüren werden. Ich brauche doch Qualität und echten Nutzen nicht nur für Medikamente, sondern auch für die Unterlagen, die die Unternehmer vorlegen müssen. Dafür brauche ich ein verpflichtendes Studienregister. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen wissen, welche Studien sie überhaupt machen. Außerdem brauchen wir zum Design der vorzulegenden Studie verpflichtende Absprachen mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss bzw. dem IQWiG. Das kann nicht ins Belieben der Hersteller gestellt sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Drittens. Sie wollen auch in Zukunft nicht verhindern, dass es noch nutzlose oder im Vergleich zur Standardtherapie sogar schädlichere Arzneimittel geben kann, die verordnungsfähig sind. Dagegen hilft nur eine Positivliste. Wir brauchen ein solches Instrument für Qualität und Transparenz. Dies nützt den Patientinnen und Patienten; davor dürfen Sie sich nicht drücken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Bender, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Lotter von der FDP-Fraktion? Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bitte. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Lotter. Dr. Erwin Lotter (FDP): Verehrte Frau Kollegin Bender, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es für die Erstellung eines Dossiers durchaus sehr bewährte Verfahren gibt - etwa das sogenannte schottische Verfahren -, die eigentlich sehr treffsicher sind - sie haben eine Treffsicherheit von über 70 Prozent, was die Innovation angeht -, und dass dies eigentlich ein Werkzeug ist, das sehr verlässlich und sehr gut anzuwenden ist? Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Darauf, dass Sie, Herr Kollege, das schottische Verfahren anwenden wollen, werden wir zurückkommen; denn bei der schottischen Entsprechung zum NICE ist es so, dass das Arzneimittel erst dann zulasten des Gesundheitsdienstes verordnungsfähig ist, wenn tatsächlich die Kosten-Nutzen-Bewertung abgeschlossen ist. Wenn Sie das britische System wollen, dann werden Sie unsere Unterstützung finden, allerdings nur dann, wenn Innovationen tatsächlich für alle gleich zugänglich bleiben. Ich glaube, da haben wir in Deutschland einen Vorteil, den wir nicht abschaffen wollen. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Eben!) Wir wollen eine vorläufige Nutzenbewertung, die zur Verordnungsfähigkeit führt, aber eben auch eine endgültige Kosten-Nutzen-Bewertung mit der Möglichkeit des Regresses, wenn der bis dahin vom Hersteller festgelegte Preis überteuert war. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Jetzt sage ich noch etwas zu den Rabattverträgen. Was wir eben vom Staatssekretär gehört haben, hört sich so wunderschön patientenverträglich an. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ist es auch!) Man kann Geld mitbringen, und dann bekommt man ein Arzneimittel, das nicht rabattiert ist. Sagen Sie doch gleich, dass Sie die Rabattverträge abschaffen wollen. (Ulrike Flach [FDP]: So ein Quatsch! Das darf doch nicht wahr sein!) Dann gibt es Arzneimittel erster und zweiter Klasse, und die Patienten können Geld mitbringen. Dann aber nutzt dem Hersteller sein Rabattangebot nichts mehr, weil er die Grundlage dessen, nämlich den breiten Marktzugang, nicht mehr realisieren kann. Weiterhin müssen Patienten, die ein bestimmtes Arzneimittel wollen, Geld mitbringen. Das ist Zweiklassenmedizin. Das setzt die Rabattverträge de facto außer Kraft. Dazu müssen Sie stehen, und dann werden wir darüber streiten. Aber wenn Sie in Sachen Rabattverträgen etwas tun wollen, dann können Sie das tun. Da gibt es durchaus Handlungsbedarf. Ich meine diejenigen Rabattverträge, die von Originalherstellern über die Dauer der Patentlaufzeit hinaus geschlossen werden, um den Wettbewerb durch Generikahersteller zu verhindern. Da ist Handlungsbedarf, und dafür würden Sie unsere Unterstützung haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich sage: Zu Risiken und Nebenwirkungen Ihrer Vorschläge schauen Sie in die Nachbarländer oder fragen Sie uns, die Opposition. Wir haben gute Vorschläge. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Heinz Lanfermann [FDP]: Es gibt Leute, die wollen keine grünen Pillen schlucken!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Stracke von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Stephan Stracke (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich die Diskussionsbeiträge der Opposition zu den Fragestellungen höre, dann ist Gesundheitspolitik bei der christlich-liberalen Koalition am besten aufgehoben. Dafür brauchen wir Sie und Ihre Ratschläge nur bedingt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Gesundheitspolitik ist eine der wichtigsten gesellschafts- und sozialpolitischen Herausforderungen der Zukunft. Ist gerade in der ersten Hälfte des Lebens die Bildungspolitik von herausragender Bedeutung, so ist es sicherlich die Gesundheitspolitik für die zweite Lebenshälfte. Gerade in einer Situation, in der ein Versicherter zum Patienten wird, also in einer Lebenskrise - das sind häufig extreme Krankheitsfälle -, will jeder von uns die Gewissheit haben, dass ihm geholfen wird, dass alles getan wird, damit er eine Perspektive auf Heilung hat oder zumindest seine Lebenssituation verbessert wird. Dabei spielt die Arzneimittelversorgung eine nicht unerhebliche Rolle. Ich möchte, dass auch in Zukunft jeder von uns Zugang zu den besten und wirksamsten Arzneimitteln hat. Notwendige Voraussetzung hierfür sind leistungsstarke Unternehmen, die in Forschung und Entwicklung investieren; denn exzellente Arzneien setzen exzellente Forschung voraus, und da ist Deutschland Weltspitze. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich will, dass wir hier Weltspitze bleiben. Ich will, dass Forschung und Entwicklung hier stattfinden, und ich will, dass es sich hier in Deutschland auch für Pharmaunternehmen lohnt, zu investieren. Wer neue, gute Ideen und Produkte auf den Markt bringt, soll auch einen größeren Gewinn als derjenige machen können, der althergebrachte Produkte anbietet. Das Bessere soll sich durchsetzen. Das ist der Kernpunkt unserer Arzneimittelpolitik, der Politik der christlich-liberalen Koalition. Wir wollen gute Leistung belohnen und nicht schlechte. Gutes Geld für gute Leistung. So einfach ist das. Wir wollen bei neuen Medikamenten in Zukunft nur noch dann mehr bezahlen, wenn ein echter, tatsächlich bewiesener Zusatznutzen vorliegt, nicht allerdings für einen bloß scheinbaren, behaupteten. Genau diesen Weg beschreiten wir mit der Umsetzung der Eckpunkte, die die christlich-liberale Koalition vorgelegt hat. Entscheidend hierbei ist für mich, dass wir die Balance zwischen Innovation auf der einen Seite, Frau Bender, und Bezahlbarkeit auf der anderen wahren. Dazu sind die Dinge, die Sie ansprechen, etwa die Positivliste, sicherlich nicht geeignet; sie gehören in die Mottenkiste der Staatsmedizin. Sie haben keine sinnvollen Ansätze und schaden insbesondere dem Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Entscheiden sollte nicht der Staat, sondern allein der Arzt im Zusammenwirken mit den Patienten. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir müssen die Kostendynamik im Blick behalten. Nur dadurch schaffen wir es, dass sämtliche Patientinnen und Patienten einen schnellen Zugang zu unseren fortschrittlichen Medikamenten haben. Ich will nicht verschweigen: Natürlich brauchen wir auch kurzfristige Entlastungsmaßnahmen. Dazu dient beispielsweise, den Abschlag für Arzneimittel ohne Festbetrag von derzeit 6 Prozent auf 16 Prozent zu erhöhen. Das kann allerdings gerade bei generikafähigen Arzneimitteln ohne Festbetrag dazu führen, dass es hier zu einer Kumulation von Abschlägen auf 26 Prozent kommt. Das ist sicherlich eine unangemessen hohe Belastung. Da werden wir mit den entsprechenden Regelungen abhelfen. Damit tragen wir auch dem Umstand Rechnung, dass die Preise im generikafähigen Markt im Gegensatz zu den Preisen im patentgeschützten gesunken sind. Dies zeigt: Mit unseren Eckpunkten haben wir eine ausgewogene Lösung gefunden, die den Interessen der Patienten genauso gerecht wird wie denen der Industrie. Diese Eckpunkte werden wir zügig umsetzen. Ich lade alle konstruktiven Kräfte ein, uns in diesem Prozess zu begleiten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Bärbel Bas von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD - Jens Spahn [CDU/CSU]: Vielleicht sagt sie ja was zum Antrag!) Bärbel Bas (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bahr hat vorhin so schön geschildert, in welcher Lage er die Kassen vorgefunden hat. Man kann durchaus sagen, dass die gesetzliche Krankenversicherung in diesem Jahr in eine schwierige Lage kommt. Maßgeblich verantwortlich dafür sind die seit Jahren steigenden Arzneimittelausgaben. Diese Erkenntnis ist wahrlich nicht neu. Das war auch der Stand der Dinge im letzten Jahr. Nicht umsonst haben der Schätzerkreis und die Krankenkassen davor gewarnt und Alarm geschlagen. Schauen wir uns das Ganze einmal an: Allein im Februar sind die Arzneimittelausgaben im Vergleich zum Vorjahr um 5,5 Prozent gestiegen. Sie haben vorhin von Ihren Taten gesprochen. Was hat die Bundesregierung denn getan, seit sie diesen Zustand im letzten Jahr vorgefunden hat? (Jens Spahn [CDU/CSU]: Was haben Sie denn elf Jahre lang getan?) - Ich komme jetzt auf Ihre Taten zu sprechen. - Sie waren erst einmal vollauf damit beschäftigt, Steuergeschenke an Hoteliers zu verteilen; das war die erste Aufgabe, die Sie erledigt haben. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: So ist es! - Stephan Stracke [CDU/CSU]: So ein Blödsinn!) Außerdem haben Sie monatelang über die Kopfpauschale gestritten, anstatt diejenigen Defizite zu beseitigen, die Sie angeblich vorgefunden haben. Was hat das Bundesministerium für Gesundheit im letzten Jahr getan? Man hat mit dem Institutsleiter des IQWiG erst einmal eine pharmakritische Stimme aus dem Weg geräumt. (Beifall bei der SPD) Das war eine der Taten, die Sie im letzten Jahr begangen haben; daran sollte man einmal erinnern. Anschließend sind Sie zu den Arzneimittelherstellern gegangen und haben sich Tipps geholt, wie man die Ausgaben für Arzneimittel senkt. Das finde ich auch sehr interessant. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Können wir mal was zu Ihrem Antrag hören?) Da machen Sie den Bock zum Gärtner. Dabei ist der Minister tatsächlich als - das muss man ihm zugestehen - bissiger Tiger abgesprungen. Ich will an folgenden Satz von ihm erinnern - er hat mich schwer beeindruckt -: "Wir wollen das Preismonopol der Pharmaindustrie brechen." Das Einzige, was Sie brechen, sind Ihre Wahlversprechen; das muss man einmal deutlich sagen. Landen werden Sie mit Ihren derzeitigen Vorschlägen allenfalls als zahnloser Bettvorleger der Pharmaindustrie. Von Ihren Vorschlägen wird nichts übrig bleiben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Ulrike Flach [FDP]: Wir haben gedacht, Sie würden uns einmal erzählen, was die SPD will!) Sie präsentieren uns immer wieder das gleiche Schauspiel: Sie kündigen große Reformen an, und anschließend werden sie von Ihrem Koalitionspartner infrage gestellt. Grundsätzlich könnte man sich an diesem Schauspiel ergötzen, wenn man nicht wertvolle Zeit damit verschwenden würde. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Wir haben elf Jahre verschwendet mit Ihnen!) Schlimmer noch: Sie haben der gesetzlichen Krankenversicherung für das erste Halbjahr 2010 finanziellen Schaden zugefügt. Sie hätten Ihre Vorschläge schon zum Ende des Jahres 2009 umsetzen können. (Ulrike Flach [FDP]: Warum haben Sie denn nichts gemacht?) Sechs Monate später kommen Sie dann mit der Erhöhung des Herstellerrabatts - zugegebenermaßen ein guter kurzfristiger Vorschlag - und einem Preismoratorium. Das hätten Sie schon früher haben können. Sie brauchten aber sechs Monate, um sich das auszudenken. (Lars Lindemann [FDP]: Nein, weil wir da nicht stehenbleiben wollen! Wir machen ja noch mehr! - Zuruf von der CDU/CSU: Die Einarbeitungsphase!) Sie haben damit der gesetzlichen Krankenversicherung einen finanziellen Schaden zugefügt, und der geht auf Ihre Rechnung, den können Sie uns nicht anlasten. (Zuruf von der CDU/CSU: Tun wir auch nicht!) Jetzt sage ich eins: Das passt Ihrer Koalition auch gut in den Kram; denn hinter diesem Zaudern und Zögern steckt eiskaltes Kalkül - wenn Sie mich fragen. Sie wollen das Problem der gesetzlichen Krankenversicherung eskalieren. Sie wollen, dass das umlagefinanzierte System an die Wand fährt, (Zuruf von der CDU/CSU: Was? Ach nee! Das ist unmöglich!) um Ihre fixe Idee einer Kopfpauschale umsetzen zu können. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Kamelle, Kamelle!) Diese wollen Sie dann als Wundermittel für die gesetzliche Krankenversicherung aus dem Hut zaubern. So blind werden die Menschen nicht sein; sie werden auf diese Kopfpauschale nicht hereinfallen. Sie werden spätestens am 9. Mai 2010 in Nordrhein-Westfalen von den Wählerinnen und Wählern die Quittung dafür bekommen. (Ulrike Flach [FDP]: Ich glaube, erst einmal sind Sie dran mit der Quittung! - Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Zur Sache! - Jens Spahn [CDU/CSU]: Da wird über Landespolitik abgestimmt!) Die SPD steht und kämpft auch in der Zukunft für die gesetzliche Krankenversicherung, weil sie uns nicht egal ist. Uns ist auch nicht egal, dass die Ausgaben aus dem Ruder laufen (Ulrike Flach [FDP]: Das ist doch mal was Neues!) oder dass weitere Krankenkassen Zusatzbeiträge erheben müssen. Wir wollen, dass die gesetzliche Krankenversicherung auch in Zukunft ihren Versicherten wirksame und innovative Medikamente bezahlen kann. Deshalb müssen die Qualität und die Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung verbessert werden. Greifen Sie deshalb unsere Vorschläge für eine effektive Arzneimittelversorgung auf. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Welche denn? - Ulrike Flach [FDP]: Welche sind das denn?) Das ist zum einen die Positivliste, das sind zum anderen europäische Durchschnittspreise, und das ist die Teilung des finanziellen Risikos zwischen Krankenkassen und Pharmaindustrie bei innovativen Krebstherapien. Und zur Zulassung von neuen Arzneimitteln gehört eine Kosten-Nutzen-Bewertung. Das ist wichtig, und nur damit werden Sie das Preismonopol tatsächlich brechen. Danke schön. (Beifall bei der SPD - Jens Spahn [CDU/ CSU]: Stückwerk, alles Stückwerk! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Michael Hennrich für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Michael Hennrich (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Weshalb haben wir heute eine Debatte über das Thema Arzneimittelversorgung? Hintergrund: Die Union hat gemeinsam mit der FDP im März 2010 ein Eckpunktepapier zur Arzneimittelversorgung vorgelegt, das bei den Versicherten, bei der Presse und bei den Krankenversicherungen begeisterten Widerhall gefunden hat. (Lachen des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) Frau Nahles kritisiert das Papier als Mogelpackung, taucht in die Versenkung ab und lässt ihre Arbeitsgruppe Gesundheitspolitik damit allein. Hier stellt sich jetzt die Frage: Was machen wir mit dem Eckpunktepapier? Sie schauen sich das scheinbar etwas genauer an, sehen, dass da gar nicht so viel enthalten ist, was Sie kritisieren könnten, übernehmen das in vielen Punkten, garnieren es mit einer Positivliste und denken, irgendwie kämen Sie damit durch. In der Debatte heute haben Sie mehr oder weniger überhaupt nichts Konkretes zu Ihrem Papier gebracht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Heinz Lanfermann [FDP]: Genau so war es!) Es ist schon bezeichnend, dass die Partei der Linken sagt, dass einiges aus unserem Papier zustimmungsfähig sei. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das müsste eher nachdenklich machen!) Sie konnten sich dazu nicht durchringen. Auch die Grünen haben mit unserem Papier Schwierigkeiten gehabt. Sie hatten vier, fünf Wochen Zeit, sich das Papier anzuschauen. Sie haben auch wenig gefunden, was Sie kritisieren können (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Wichtiges!) - das sage ich auch ganz offen -, haben aber zumindest inhaltlich einige Punkte in Ihrem Papier, über die wir hier in der Debatte und bei den Anhörungen sicher sprechen können. Was ist der Hintergrund unseres Eckpunktepapieres? Wichtig ist uns als Union, dass wir eine qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung sicherstellen können, aber zu vernünftigen Preisen, und vor allem, dass wir auch verlässliche Rahmenbedingungen für Innovationen und Arbeitsplätze schaffen. Deshalb haben wir zu einem relativ frühen Zeitpunkt unser Papier vorgelegt. Das werden wir auch konsequent umsetzen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir stecken in einer großen Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Aufträge sind im Maschinenbau teilweise um 50 Prozent zurückgegangen. Wir haben eine hohe Zahl an Kurzarbeitern. Wir sind beim Abbau der Arbeitslosigkeit nicht so weit vorangekommen, wie wir uns das erhofft haben. All das hat unmittelbare Auswirkungen auf das System der gesetzlichen Krankenversicherung. Deswegen dürfen wir die Frage, wie wir die Finanzprobleme lösen, nicht nur im Zusammenhang mit der Einnahmeseite debattieren, sondern wir müssen auch schauen: Was können wir auf der Ausgabenseite tun? Es war und ist vollkommen richtig, zunächst einmal beim Thema Arzneimittel anzusetzen; denn die Arzneimittelindustrie ist im Gegensatz zu vielen anderen relativ gut durch die Krise gekommen. Schließlich liegen die Umsatzrenditen einiger Pharmaunternehmen bei weit über 20 Prozent. Daher ist es richtig, dass die Arzneimittelindustrie ihren Solidarbeitrag leistet. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich will auch ganz klar sagen: Es geht hier nicht um Pharma-Bashing. Es geht nicht darum, dass wir die Arzneimittelindustrie an den Pranger stellen und sagen wollen: Ihr seid an der schwierigen Situation im System der gesetzlichen Krankenversicherung hinsichtlich der Finanzierung schuld. Arzneimittel leisten einen wesentlichen Beitrag bei der Therapie und beim Behandlungserfolg. Ich verstehe nicht, wenn immer wieder kritisiert wird, dass der Arzneimittelblock der zweitgrößte Block bei den Ausgaben im GKV-System ist. Vom Handauflegen alleine ist noch keiner gesund geworden. Wenn wir so weit sind, können wir sicherlich auch die Preise senken. Das sage ich auch ganz klar in Richtung der Ärzte. Die Pakete und Maßnahmen, die wir auf den Weg bringen, sind im Einzelnen schon vorgestellt. Ich möchte darauf gar nicht weiter eingehen. Ich möchte zum Schluss meiner Rede zwei Aspekte ganz gezielt aufgreifen. Bei dem ersten Aspekt geht es um Rabattverträge. Es hat immer geheißen, die Union sei für eine Abschaffung der Rabattverträge. Das war überhaupt nicht der Fall. Wir haben gesagt: Wir wollen, dass die Substitutionspflicht aufgehoben wird. (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann sind sie doch kaputt!) - Das stimmt doch überhaupt nicht. Sie haben doch die Möglichkeit, die Rabattverträge in Selektivverträge, in Versorgungsverträge und Ähnliches zu integrieren. Das wäre durchaus möglich gewesen. Wir aber haben uns mit der FDP geeinigt, (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach so!) dass wir die Rabattverträge weiterentwickeln. Was wir wollen, ist, die Souveränität und Eigenverantwortung der Patienten zu stärken. Das ist ein ganz wesentliches Ziel. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ausnehmen! - Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr macht die Verträge kaputt!) - Darum brauchen Sie sich überhaupt keine Sorgen zu machen. Ich möchte einen zweiten Aspekt anbringen. Wir sollten das Thema Arzneimittelpreise und Arzneimittelkosten nicht nur im Zusammenhang mit der gesetzlichen Krankenversicherung prüfen. Es ist wichtig - das gebe ich an das Ministerium weiter -, zu prüfen, ob es möglich ist, im Bereich der privaten Krankenversicherung Einsparungen zu erreichen. Wir werden uns in den nächsten Tagen und Wochen damit beschäftigen, wie wir das erreichen können. Als Fazit bleibt am Ende übrig: Es gibt Kritik vonseiten der Pharmahersteller, und es gibt Kritik von Herrn Lauterbach. Beides zeigt mir sehr deutlich, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/1201, 17/1206 und 17/1418 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die aufsichtsrechtlichen Anforderungen an die Vergütungssysteme von Instituten und Versicherungsunternehmen - Drucksachen 17/1291, 17/1457 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk. (Beifall bei der CDU/CSU) Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von Anfang an hat die Bundesregierung im Zuge der internationalen Finanzmarktkrise darauf gedrungen, auf internationaler Ebene zu Vereinbarungen zu kommen, mit denen auch die Vergütungssysteme für den Banken- und Versicherungsbereich in Angriff genommen werden. Die Bundesregierung hat auf solche Vereinbarungen gedrungen. Der Finanzstabilitätsrat hat auf internationaler Ebene Ergebnisse vorgelegt, die von den G 20, also den 20 führenden Wirtschaftsnationen dieser Welt, gebilligt worden sind. Mit dem Gesetzentwurf, den wir dem Parlament heute vorlegen, setzt die Bundesregierung diese internationalen Vereinbarungen, auf die sie gedrängt hat, in Rekordzeit in innerdeutsches Recht um. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Darüber sind wir uns im Klaren: Mit der Regulierung der Vergütungspraktiken im Finanzbereich muss eine wesentliche Ursache der Finanzmarktkrise angegangen werden, nämlich die übermäßige Übernahme von Risiken durch die Finanzmarktakteure selbst. Die gängigen Vergütungsstrukturen im Finanzsektor - darüber besteht Einvernehmen - haben zur Verschärfung der Situation auf den internationalen Finanzmärkten beigetragen. Denn eine Vergütungspolitik, die auf kurzfristigen Erfolg ausgerichtet ist und die einseitigen Erfolg belohnt, ohne Misserfolg hinreichend zu sanktionieren, verleitet dazu, den langfristigen und nachhaltigen Unternehmenserfolg aus dem Blick zu verlieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Finanzmarktkrise hat deutlich gezeigt, dass die durch eine verfehlte Vergütungspolitik gesetzten Fehlanreize zu Risiken nicht nur für die Stabilität einzelner Unternehmen, sondern auch für die gesamte internationale Finanzmarktarchitektur führen können. Deshalb setzen wir diesen internationalen Ansatz schnellstmöglich in deutsches Recht um. Bei dem Gesetzentwurf handelt es sich um den letzten Schritt eines dreistufigen Maßnahmenpaketes der Bundesregierung. In einem ersten Schritt haben sich bereits im Dezember 2009 acht große deutsche Banken und die drei größten deutschen Versicherungsunternehmen freiwillig zur Umsetzung dieses internationalen Standards verpflichtet. In einem zweiten Schritt hat ebenfalls im Dezember 2009 die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht durch zwei aufsichtsrechtliche Rundschreiben nachgesteuert und den Instituten diese internationalen Regelungen zur Auflage gemacht. Jetzt geben wir dem Ganzen eine rechtssichere, gesetzgeberische Unterlage. Wir ändern durch das vorliegende Gesetz das Kreditwesengesetz und das Versicherungsaufsichtsgesetz. Banken und Versicherungen werden nun angemessene, transparente und auf eine nachhaltige Entwicklung ausgerichtete Vergütungssysteme vorweisen müssen. Die näheren Einzelheiten werden wir durch zwei Rechtsverordnungen zeitnah regeln. Durch dieses Gesetz schaffen wir jetzt die Möglichkeit, dass aufgrund der wirtschaftlichen Situation eines Finanzinstituts - sei es eine Bank, sei es ein Versicherungsunternehmen - unangemessen hohe Bonuszahlungen unterbunden werden können. Hierzu wird die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht befähigt, im Falle der Unterschreitung von aufsichtsrechtlichen Anforderungen die Auszahlung variabler Vergütungsbestandteile zu untersagen oder auf einen bestimmten Anteil des Jahresergebnisses zu beschränken. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, Deutschland gehört mit der heute vorgelegten Umsetzung internationaler Anforderungen zur führenden Ländergruppe. Dies hat eine Überprüfung durch den Finanzstabilitätsrat ergeben, deren Ergebnisse kürzlich veröffentlicht wurden. Aber ich sage sehr deutlich: Was wir heute als Gesetzentwurf vorlegen, ist nur ein Stein eines Mosaiks, zu dem sehr viele Elemente gehören, die bereits in parlamentarischer Arbeit sind. Auch die Bundesregierung arbeitet daran und wird dem Parlament in Kürze dazu weitere Gesetzentwürfe vorlegen. Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass im Parlament zurzeit über die Neuregelung der Aufsicht über die Ratingagenturen beraten wird. Die Bundesregierung arbeitet an einem Insolvenz- und Restrukturierungsrecht für Banken, das wir mit einer Fondslösung koppeln wollen. Dabei ist eine Bankenabgabe vorgesehen, mit der risikoadjustiert Vorsorge für die Zukunft getroffen werden soll. Mit den Eckpunkten, die wir in diesem Bereich vorgelegt haben, befinden wir uns im Vorfeld der IWF-Tagung in einem bemerkenswerten internationalen Einklang, wie wir feststellen konnten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der IWF wird jetzt erste Vorschläge in Washington vorlegen, die in Richtung Abgabenlösung zielen. Die Bundesregierung hat dazu schon ein Eckpunktepapier vorgelegt. Heute wird ein wichtiger Stein in ein Mosaik eingefügt, zu dem viele weitere Mosaiksteine kommen werden. Ich bitte um zügige Beratung dieses wichtigen Gesetzentwurfs der Bundesregierung, mit dem internationale Standards in Rekordzeit umgesetzt werden sollen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Manfred Zöllmer (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die "chronische Bonitis" der Banker ist noch lange nicht verheilt. Britische Medien haben jetzt berichtet, dass Goldman Sachs für das erste Quartal Boni in Höhe von 3,5 Milliarden Pfund auszahlen will. Zu Risiken und Nebenwirkungen schauen Sie sich einfach einmal an, was die US-Börsenaufsicht SEC ermittelt hat. Die Börsenaufsicht wirft Goldman Sachs vor, Anleger mit einem Finanzprodukt getäuscht und um mehr als 1 Milliarde Dollar gebracht zu haben. (Björn Sänger [FDP]: Was nicht in Ordnung ist!) Wenn das richtig ist, dann war das ein kriminelles Verhalten. (Björn Sänger [FDP]: Richtig!) Investmentbanker werden mit extremen Gehältern eingekauft, um mit extrem riskanten Produkten extreme Gewinne zu erwirtschaften. Das erinnert letztendlich an Drogendealer. Der Unterschied liegt einzig und allein darin, dass deren Geschäft durch Gesetz verboten ist und ihre Gewinnspannen nicht so hoch sind wie die auf dem Finanzsektor. (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Ein kleiner Unterschied ist da schon noch!) Wir müssen feststellen: Die Superboni, die Gehaltsexzesse gehen weiter. Im Jahre 2006 schütteten allein die großen Wall-Street-Banken Boni von umgerechnet rund 25 Milliarden US-Dollar aus. Mit solchen Summen könnte man ein Land wie Griechenland - immerhin ein 10-Millionen-Volk - nachhaltig sanieren. Dies zeigt die Dimension und den Wahnsinn solcher Vergütungssysteme. Die weltweite Finanzkrise, die inzwischen zu einer Wirtschafts- und Staatenkrise wurde, hat nicht nur eine Ursache, sondern ist das Ergebnis verschiedener Faktoren. Ein ganz wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang ist ein vollkommen verfehltes Vergütungs- und Anreizsystem in der Finanzbranche, wie es in den vergangenen Jahren praktiziert wurde. Dies sind Exzesse, die sich in keiner Weise an individueller Leistung, beruflicher Erfahrung, Ausbildung oder Können orientieren. Häufig argumentieren die Banker, geringere Gehälter seien im Kampf um die besseren Köpfe ein Nachteil. Sie würden die Dynamik der Branche bremsen und damit der ganzen Wirtschaft schaden. Eine solche Argumentation ist falsch. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass ein Großteil der besten Universitätsabsolventen in diesen Bereich gehen und nicht dorthin, wo sie gesellschaftlich Nützliches leisten könnten. Dies ist, volkswirtschaftlich gesehen, eine Verschwendung von Humankapital. Es gibt überhaupt keinen ökonomischen Grund, diese Gehaltsexzesse zu akzeptieren. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gier lässt sich ökonomisch nicht legitimieren. Die besonders aggressiven Vergütungssysteme der letzten Jahre haben Banker dazu angespornt, unvertretbar hohe Risiken zum Schaden der Gesamtökonomie einzugehen. Die schnelle Rendite und Superprofite konnten nur durch ganz hohe Risiken im Eigenhandel, bei Verbriefungen und durch exotische Produkte erreicht werden. Die Vergütung setzte an ganz vielen Punkten falsche Anreize, etwa bei den Finanzmarktgurus, die riskante Produkte entwickelten, bei den Ratingagenturen, die umso mehr verdienten, je mehr Papiere sie mit einer möglichst hohen Benotung ausstatteten, bei Anlageberatern, die ihren Kunden die vermeintlich sicheren und guten Produkte untergeschoben haben, letztlich auch deswegen, weil sie hierfür Provisionen bekamen. Bei der G 20 und dem Financial Stability Board hatte man sich auf multilaterale Standards für verantwortungsvolle und transparente Vergütungssysteme geeinigt. Es ist richtig, dies nun verbindlich in Gesetzesform zu gießen und nicht nur auf die vorliegende Selbstverpflichtung der großen deutschen Banken und der größten Versicherungsunternehmen zu vertrauen. Dieses Gesetz ist die Fortführung der neuen Vergütungsregeln für Vorstände, die wir noch in der Großen Koalition mit dem Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung in Kraft gesetzt haben. Es ist grundsätzlich richtig, wenn die Vergütungssysteme angemessen und transparent gestaltet werden sollen und sich an einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung ausrichten, also nicht mehr nur den kurzfristigen Gewinn zum Maßstab der Vergütung machen. Feste Vergütungsbestandteile müssen gestärkt, variable zurückgedrängt werden. Der Gesetzentwurf stärkt die Eingriffsrechte der BaFin. Sie soll die Möglichkeit erhalten, im Falle der Unterschreitung oder der drohenden Unterschreitung bestimmter aufsichtsrechtlicher Kapitalanforderungen die Auszahlung variabler Vergütungsbestandteile zu untersagen, auch bei Rechtsansprüchen aus bestehenden Arbeitsverträgen. Dies ist richtig; denn es kann nicht sein, dass sich im Extremfall einzelne Personen üppige Boni genehmigen, während die Allgemeinheit ein Institut mit Steuermitteln stützen muss. Mit diesem Gesetz wird die wichtige Aufsichtsfunktion der BaFin gestärkt; dies ist richtig so. Wir halten es auch für richtig, Aufsichtsratsmitglieder einzubeziehen. Variable Vergütungsbestandteile für Aufsichtsratsmitglieder vermag ich sowieso nicht nachzuvollziehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich jetzt ein paar Worte zu den Schwachstellen des Gesetzentwurfes sagen. Unserer Meinung nach müssen angemessene Sanktionsmöglichkeiten bestehen, wenn ein Unternehmen gegen das Gebot verstößt, solide Vergütungspraktiken zu implementieren. Sie fehlen aber. Darüber hinaus ist es notwendig, zu überlegen, welcher Personenkreis erfasst werden soll. Problematisch ist es, wenn hier nicht differenziert wird. Das Problem ist nicht der einfache Sachbearbeiter oder der Pförtner. Das Problem sind die Häuptlinge, nicht die Indianer. Hier wird nicht entsprechend differenziert. Außerdem möchte ich daran erinnern, dass wir in Deutschland Tarifautonomie haben. Wir müssen sie entsprechend stärken. Ich bin ferner davon überzeugt, dass sich mancher Anreiz eines abenteuerlichen Bonisystems erübrigen würde, wenn wir deren steuerliche Absetzbarkeit begrenzen und einschränken würden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir Sozialdemokraten haben dies schon in der letzten Legislaturperiode gefordert, sind aber am Veto der Union gescheitert. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das stimmt allerdings! Wohl wahr! Ich erinnere mich genau!) Wenn wir die Absetzbarkeit einschränken würden, würden wir verhindern, dass der normale Steuerzahler diesen Boni-Irrsinn mitfinanziert. Dies ist nicht vorgesehen; das bedauern wir sehr. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Insgesamt ist der vorliegende Gesetzentwurf ein Schritt in die richtige Richtung. Wir sind es der ökonomischen Stabilität unseres Landes schuldig, hinreichende Regeln zu schaffen, die die Finanzbranche ernsthaft an den Kosten der Krise beteiligt, neue wahnwitzige Spekulationen und Krisen verhindert. Wir brauchen deshalb Vergütungssysteme, die nicht einen Irrwitz befördern, bei dem sich wenige auf Kosten von Millionen maßlos bereichern. Wir sollten die Krankheit der "chronischen Bonitis" im Finanzsystem dauerhaft ausrotten. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Björn Sänger für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Björn Sänger (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der italienische Dichter Dante Alighieri hat einmal gesagt: Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun übernimmst. Im Hinblick auf die Bewältigung der Finanzkrise befinden wir uns am Beginn eines solchen Weges, der zu einer neuen Verantwortungskultur führt; sie ist das Ziel dieser christlich-liberalen Koalition. Ich möchte einen Blick auf die tragende Säule der Realwirtschaft werfen. Die tragende Säule der Realwirtschaft ist der Mittelstand. Der Mittelstand arbeitet erfolgreich. Der Mittelstand muss nicht staatlich gestützt werden. Er trägt vielmehr durch seine erfolgreiche Arbeit dazu bei, die Basis für die Stützungsmaßnahmen, die in der Finanzwirtschaft notwendig geworden sind, zu schaffen. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Die Boni aber auch!) Der Mittelstand haftet persönlich, Herr Kollege Binding, und das ist der Unterschied. Ich kenne viele Unternehmen, die in der Rechtsform eines Einzelunternehmens arbeiten, obwohl ihre Mitarbeiterzahl im dreistelligen Bereich liegt. Die Verantwortungskultur, die im Mittelstand, im Kern unserer Wirtschaft, vorhanden ist, gilt es, auf die Finanzbranche zu übertragen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das ist das Ziel dieser Bundesregierung. Sie hat sich auf den Weg dazu gemacht. Das Kabinett hat die Verdopplung der Verjährungsfristen von fünf auf zehn Jahre bei Haftungsfällen in diesem Umfeld beschlossen. Bundesministerin Leutheusser-Schnarrenberger bereitet hier entsprechende Maßnahmen vor. Aber es geht eben nicht nur darum, den Haftungsfall zu regeln, sondern auch darum, dafür zu sorgen, dass der Haftungsfall nach Möglichkeit erst gar nicht eintritt. Dazu haben wir diesen Gesetzentwurf vorgelegt. Es geht noch um etwas anderes. Ich möchte Otto Fürst von Bismarck zitieren, der einmal gesagt hat: "Die Politik hat nicht zu rächen, was geschehen ist, sondern zu sorgen, dass es nicht wieder geschehe." Manchmal habe ich in diesem Haus ein bisschen das Gefühl, dass es ein klein wenig um Rache geht, was natürlich aus der Emotionalität heraus verständlich ist, uns aber nicht weiterbringt. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wiedergutmachung!) Der vorliegende Gesetzentwurf ist - Herr Staatssekretär Koschyk hat es schon gesagt - ein Teil eines gesamten Maßnahmenkataloges, den wir hier einbringen. Ein Gesetzentwurf betreffend das Rating befindet sich in der Beratung. Zur Bankenabgabe liegen Eckpunkte vor. Am Insolvenzrecht wird gearbeitet. Schlussendlich wird der gesamte Finanzmarkt neu reguliert. Der vorliegende Gesetzentwurf zielt auf den nachhaltigen Unternehmenserfolg ab. Da möchte ich wieder an den Mittelstand erinnern. Das sind Familienunternehmen, die in Generationen und nicht in Quartalen denken. Das macht sie so stabil und so erfolgreich. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Mit der vorgesehenen Transparenz bei den Vergütungssystemen sorgen wir dafür, dass die Eigentümer, die Aktionäre der Unternehmen - häufig sind es Aktiengesellschaften -, ihrer Verantwortung nachkommen und genauer schauen können, welches Vergütungssystem es in dem Unternehmen gibt, an dem sie beteiligt sind. Wir wollen positive und negative Vergütungsparameter, weil dort, wo ein Bonus ist, logischerweise auch immer ein Malus sein muss. Es gibt zudem die Eingriffsmöglichkeiten der BaFin, die die Rückzahlung von Boni veranlassen kann, wenn ein Unternehmen in eine Schieflage gerät. Nicht, dass es so läuft wie auf der "Titanic", wo die Musik bis zum Letzten gespielt wurde. Wir schließen mit diesem Gesetzentwurf an die gute Praxis des SoFFin an, durch den bei den Unternehmen, an denen der Staat beteiligt ist bzw. die gestützt wurden, Gehaltsgrenzen eingeführt wurden. Diese Grenzen werden - wir haben das an den Fällen gesehen, die jetzt aufgetreten sind - nachhaltig eingehalten. Wer sich als Manager an diese Grenzen nicht halten möchte, hat auf dem Arbeitsmarkt sicherlich die Möglichkeit, sich einen anderen Arbeitgeber zu suchen. Der Steuerzahler ist jedenfalls nicht dafür verantwortlich, dass hier exzessiv Boni gezahlt werden. Die einzelnen Regelungen dieses Gesetzentwurfs werden wir uns sicherlich im Zuge der Beratungen genau anschauen müssen. Da teile ich das, was der Kollege Zöllmer gesagt hat. Das Problem sind nicht die Indianer, sondern die Häuptlinge. Es geht nicht um den Bankberater, der beispielsweise für den Abschluss einer Lebensversicherung eine Provision erhält. Das Problem ist weiter oben, oberhalb der Schalterhalle, angesiedelt. Wir müssen schauen, dass wir mit dem Gesetz nicht über das Ziel hinausschießen. Unser Ziel ist, die Verantwortungskultur in der Finanzbranche insgesamt zu stärken. Ich möchte mit einem Zitat von Antoine de Saint-Exupéry - Kollegin Kressl mag ihn sehr gerne - schließen: "Mensch sein heißt verantwortlich sein". Wenn alle in der Finanzbranche öfter daran gedacht hätten, gäbe es die bestehenden Probleme wahrscheinlich nicht. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Harald Koch für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Harald Koch (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Entfesselung der Finanzmärkte und die absurd überhöhten Renditeansprüche waren und sind eine zentrale Ursache der momentanen Finanz- und Wirtschaftskrise. Die frei vor sich hin flottierenden Finanzmärkte haben Vermögenden Renditen im zweistelligen Bereich ermöglicht, wodurch die Umverteilung von unten nach oben maßgeblich beschleunigt wurde. Banker wurden durch Bonuszahlungen üppig belohnt, wenn sie die vorgegebenen Renditeziele erreichten, was freilich nur durch hochriskante Geschäfte möglich war. Da wundert es nicht wirklich, dass viele Finanzmarktakteure nur noch von der Tapete bis zur Wand dachten, sprich: sich allein am kurzfristigen Profit orientierten und jegliches Risikomanagement wegdrückten. Das Kasino war eröffnet, der unregulierte Zock an der Tagesordnung. Eine Orientierung am gesamtwirtschaftlichen Interesse war schlichtweg out. Für Manager, Vorstände, Geschäftsleiter und Aufsichtsräte im Finanz- und Versicherungssektor gab es eine reine Win-win-Situation. Gingen ihre Spekulationen auf, wurden sie mit hohen Boni beglückt. Bei Misserfolg wurden sie dadurch belohnt, dass es kaum Sanktionsmöglichkeiten, keine Malusregelungen gab. Die Zeche müssen wieder einmal die Bürgerinnen und Bürger zahlen. Dies war und ist von dieser Regierung und der Vorgängerregierung genauso gewollt. Dieser Zustand ist aber schon seit langem unhaltbar. (Beifall bei der LINKEN) Denn so, wie es bislang läuft, ist es doch kein Wunder, dass langfristiges, soziales und nachhaltiges Wirtschaften aus dem Blick gerät. Auch im Gesetzentwurf dominiert trotz gegenteiliger Behauptungen die einzelwirtschaftliche Betrachtung und nicht nachhaltiges volkswirtschaftliches Handeln. Was wird sich durch dieses Gesetz konkret ändern? Eine Bank, zu deren Geschäftsmodell es zum Beispiel gehört, auf den Niedergang anderer Unternehmen Wetten abzuschließen, wird wohl nicht daran gehindert, so zu agieren wie bisher. Die Bank ist nun höchstens ein bisschen mehr vor ihren eigenen Managern geschützt. In der Öffentlichkeit glänzt sie im schönsten Lichte. Immerhin darf sie sich jetzt als "nachhaltig ausgerichtet" bezeichnen. Das zieht Kunden und damit frisches Geld an. Wir werden uns bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten. Wir warten gespannt auf die konkrete Ausgestaltung mittels zweier Rechtsverordnungen. Ich zweifle aber daran, dass die kommenden Einzelregelungen für klare Einschnitte sorgen und so die Verursacher der Krise nachhaltig zur Verantwortung gezogen werden. Für mich gilt: Das Festgehalt muss die Grundlage jeder Entlohnung sein. Boni müssen strikt begrenzt werden, zum Beispiel auf 10 Prozent vom Festgehalt. Die Linke betont: Die Vergütung höherer Lohngruppen darf nie zum Nachteil anderer Lohngruppen erfolgen und nie durch Personalabbau gegenfinanziert werden. (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, meine Fraktion und ich vermissen bei Ihnen alles in allem ein schlüssiges Gesamtkonzept zur Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das müssen Sie gerade sagen! - Björn Sänger [FDP]: Das ist an den Haaren herbeigezogen!) Was Sie anbieten, sind kleine Mosaiksteinchen, mehr nicht. Die strukturellen Probleme, die vor allem durch die Verselbstständigung der Finanzsphäre ausgelöst wurden, lösen Sie damit allein jedenfalls nicht. Vielmehr brauchen wir ein Gesamtpaket, das von der strikten Regulierung des Finanzsektors und seiner Unterwerfung unter gesellschaftliche Kontrolle über ein dauerhaftes Zukunftsprogramm für Bildung, Verkehr und die Energiewende sowie zwei Millionen neuer Jobs bis hin zu einer viel gerechteren Verteilung von Einkommen und Vermögen reicht. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frage nach den Boni und den Finanzmärkten ist eigentlich ein Aufregerthema. Leute, die vor kurzem ihr Institut in den Sand gesetzt haben und dazu beigetragen haben, dass die Finanzmärkte wackeln, verdienen daran teilweise Millionen. Es sieht so aus, als wäre nichts gewesen. Wenn man diese Debatte verfolgt, hat man aber nicht den Eindruck, dass wir es mit einem Aufregerthema zu tun haben. Woran liegt das? Das liegt daran, dass dieser Gesetzentwurf im Endeffekt aus einem Satz besteht bzw. in einem Satz zusammengefasst werden könnte, der relativ nüchtern ist: Die Finanzdienstleistungsaufsichtsbehörde darf die Vergütungsmodelle von Banken und Versicherungen überprüfen. Das ist der Kern. Wesentlich mehr beschließen wir nicht, wenn wir dieses Gesetz verabschieden. (Björn Sänger [FDP]: Wenn es so bleibt, dann ist es so!) Es stellen sich verschiedene Fragen: Erstens. Ist es ausreichend, nur dies zu tun? Der Staatssekretär hat gesagt, dass es auch noch anderes gibt, dass das nur ein Baustein ist. Wichtig aber ist, dass zentrale Bausteine an dieser Stelle von Ihnen nicht vorgesehen sind; Herr Zöllmer sagte das schon. Wir sind der Meinung, dass wir auch steuerrechtlich etwas tun müssen, um Gehaltsexzessen vorzubeugen und zu verhindern, dass die Allgemeinheit daran beteiligt wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zweitens kann man sich fragen: Warum verlagert der Gesetzgeber praktisch alle konkreten Fragen in eine Verordnung und überlässt sie dem Bundesministerium bzw. der Finanzdienstleistungsaufsichtsbehörde? Ich meine, dass wir konkrete Rahmenbedingungen, wie sie auf europäischer Ebene schon vereinbart worden sind, in das Gesetz hineinschreiben sollten und nicht alles auf den Verordnungsgeber übertragen, also dahin auslagern sollten, wo wir als Parlament nichts mehr zu sagen haben. Nachher, wenn es auf den Finanzmärkten wieder kracht, wird es heißen: Wer ist denn verantwortlich? Natürlich haben wir in diesem Parlament eine Verantwortung. Deswegen sollten zentrale Regelungen auch im Gesetz stehen und nicht ausgelagert werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Vom Bundesrat wurden interessante Vorschläge in die Diskussion eingebracht. Ich meine, es lohnt sich, diese aufzugreifen. Der erste Vorschlag ist, dass wir uns nicht nur der Frage der Stabilität widmen - sorgen die Boni dafür, dass viel zu riskant gewirtschaftet wird? -, sondern auch mit der Frage befassen, ob die Vergütungssysteme - es geht also um das, was Einzelne in den Banken verdienen - dazu beitragen, dass den Kunden die falschen Produkte verkauft werden und die Beratung falsch läuft. Ich finde diesen Vorschlag sehr gut. Wir sollten ihn dringend aufgreifen; denn wir wissen, dass nicht nur Verkaufslisten, sondern manchmal auch Anreizsysteme dazu führen, dass ein Bank- oder Versicherungsberater falsch berät und die Kunden auf die falschen Produkte zurückgreifen. Deswegen sollten wir diesen Vorschlag des Bundesrates unbedingt aufgreifen. Der Bundesrat führt interessanterweise noch zwei andere Punkte an, die ich wichtig finde. Ich möchte anregen, auch diese aufzugreifen. Der eine Punkt ist, dass wir nicht-finanzielle Aspekte bei der Vergütung in den Vordergrund stellen sollten, zum Beispiel die Kundenzufriedenheit und die Mitarbeiterzufriedenheit. Der andere Punkt, den der Bundesrat anführt, ist die Frage: Bekommen Männer und Frauen eigentlich gleich viel Geld für gleiche Arbeit? Dass das nicht so ist, ärgert uns Grüne schon seit langem, und zwar bei uns nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer; das ist der Unterschied. (Manfred Zöllmer [SPD]: Zu wem ist das der Unterschied?) Ich finde den Vorschlag, dieses Thema aufzugreifen, gut. Ich finde es sehr interessant, dass der Bundesrat vorschlägt, das im Rahmen dieses Gesetzentwurfs zu behandeln. Da sind offensichtlich auch ein paar unionsgeführte Länder dabei gewesen. Vielleicht gab es an der Regierung beteiligte Grüne, die sie dazu ermutigt haben. Das werden wir uns noch einmal anschauen. Auf jeden Fall sollten wir die Aspekte, die der Bundesrat angeführt hat, aufgreifen und uns die Fragen stellen: Reicht das Geplante aus? Wollen wir als Gesetzgeber wirklich die gesamte Verantwortung für die wichtige Frage der Vergütungssysteme auf den Verordnungsgeber, das heißt auf die Administration, auslagern? Ich meine: Nein. Das ist etwas, das wir als Parlament selbst zu leisten haben. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Ralph Brinkhaus für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Gesetz, dessen Entwurf der Staatssekretär gerade vorgelegt hat, verpflichtet die Finanzdienstleister und die Versicherungen dazu, angemessene Vergütungsstrukturen vorzuhalten. Es ermächtigt die Aufsichtsbehörden, in Schieflagen die Auszahlung von variablen Vergütungen zu verbieten oder zumindest zu begrenzen. Wie Sie schon erwähnt haben, werden damit Regeln zügig umgesetzt, die vom Financial Stability Board erlassen worden sind. Das ist zu begrüßen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Es ist - auch das hat der Staatssekretär gesagt - ein Teil eines größeren Projektes zur Sicherung der Regulierung des Finanzmarktes, mit dem wir alle uns hier befassen. Wir können das jetzt beliebig ausführen. Wir können über die Regulierung des Derivatemarkts, die Regulierung von Hedgefonds, die Neuordnung der Aufsichtsstrukturen oder verschiedene Eigenkapitalregelungen debattieren. Aber Ihr Vorwurf greift ins Leere; denn es wird eine Menge getan. Das alles ist nicht immer in nur einem Satz zu erklären. Ich denke, dass es uns gut tun würde, ein bisschen Seriosität in dieser Debatte zu haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben wir doch!) Dieser Gesetzentwurf ist notwendig, weil die Erfahrungen in den letzten Jahren gezeigt haben, dass Unternehmenspolitik teilweise zu sehr auf kurzfristige Anreize gesetzt hat und dass Bonusstrukturen - im Übrigen für Manager und Mitarbeiter - dazu geführt haben, dass eine erhöhte Risikobereitschaft in der Finanzdienstleistungsbranche bestand. Diese Risikobereitschaft war letztlich ein Grund für die Krise. Deswegen ist es richtig, dass wir trotz der Selbstverpflichtung der Finanzdienstleister, zumindest der großen Finanzdienstleister, gesetzliche Regelungen schaffen und für die Ermächtigung sorgen, die Einhaltung dieser Regelungen zu beaufsichtigen. Wir nehmen mit Freude zur Kenntnis, dass dieser Gesetzentwurf einhellig auf Zustimmung stößt. Wir nehmen aber auch die Kritik zur Kenntnis. Dies ist die erste Lesung; wir werden die Kritik ernst nehmen und aufgreifen. Natürlich müssen wir uns fragen, inwieweit das einen Eingriff in die Tarifautonomie oder die Vertragsfreiheit darstellt. Aber wir sind der Meinung, dass dieser Eingriff aufgrund des volkswirtschaftlichen Schadenpotenzials durch falsche Vergütungssysteme gerechtfertigt ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Natürlich müssen wir fragen, ob es richtig ist, dass die Versicherungen einbezogen werden. Wir sagen Ja, weil die Versicherungen auf ähnlichen Feldern wie die Finanzdienstleister im Bankenbereich operieren. Wir sagen Ja, weil auch große Versicherungen wie AIG, die systemisch sind, in den USA in Schieflage geraten sind. Wir sagen Ja, weil wir an der Diskussion über die Einmalbeträge bei den Lebensversicherungen sehen, dass die Grenze zwischen Banken- und Versicherungsaktivitäten durchaus fließend ist. Wir nehmen auch die Kritik der Menschen ernst, die sagen, dass es zu viel oder zu wenig Regulierung gibt. Ich glaube, im vorliegenden Gesetzentwurf ist ein guter Maßstab gesetzt worden, indem man die Begriffe "Nachhaltigkeit" und "Angemessenheit" definiert hat. Diese werden in Form von Rechtsverordnungen noch umgesetzt werden müssen. Sie werden durch das Handeln der Aufsichtsbehörden gelebt werden müssen. Wir als Union werden das eng begleiten. Insofern ist alles erst einmal gut. Die eigentliche Frage wird durch diesen Gesetzentwurf aber nicht beantwortet. Sie lautet: Warum verdienen einige Banken so viel Geld, dass sie solche enormen Vergütungen zahlen können? Warum hat die Deutsche Bank letztes Jahr einen Gewinn von rund 5 Milliarden Euro gemacht hat, während Daimler einen Verlust von über 2 Milliarden Euro gemacht hat? Warum beträgt das Durchschnittsgehalt bei der Deutschen Bank 150 000 Euro und bei Daimler 54 000 Euro? Welches ist der Grund dafür, dass Spitzenleistungen im Technologiebereich anscheinend geringer bewertet werden als im Finanzdienstleistungsbereich? Diese Frage sollten wir uns stellen. Ich weiß, dass diese Vergleiche nicht ganz fair und nicht ganz richtig sind. (Zurufe von der SPD: Doch!) Aber wir müssen uns diese Frage stellen. Ich möchte versuchen - wohlgemerkt versuchen -, diese Frage zu beantworten. Der erste Versuch einer Antwort lautet - das ist uns allen bekannt -: Es gibt eine Entkopplung von Risiko und Haftung. Es ist so, dass bestimmte Risiken letztendlich vom Staat zu tragen sind, aber die Chancen bei den Instituten, insbesondere bei Fonds und Hedgefonds, bleiben. Ich möchte auf einen weiteren Punkt eingehen und eine weitere Frage stellen, über die wir bisher nicht genügend diskutiert haben. Das ist die Frage nach dem Wettbewerb. Wettbewerb kann nur funktionieren, wenn es mehrere bzw. viele Marktteilnehmer gibt. Ist das im Investmentbankingbereich der Fall, oder ist es nicht vielmehr so, dass es nur wenige Marktteilnehmer gibt, die den Markt unter sich aufteilen? Ganz ehrlich: Wer ist denn überhaupt noch in der Lage, hier in Deutschland bzw. in Europa eine internationale Finanzierung, einen Börsengang oder eine Anleihe zu organisieren? Ganz ehrlich: Wie viele Akteure gibt es noch, die auf dem Derivatemarkt tätig sind und dort tatsächlich Marktmacht ausüben? Ich sage: Wettbewerb ist wichtig. Wettbewerb braucht vernünftige Strukturen. Wettbewerb führt zu fairen Preisen. Wettbewerb führt zu fairen Gewinnen, und Wettbewerb führt auch zu fairen Vergütungsstrukturen. Das ist ein Punkt, den wir bedenken müssen. Das ist auch deswegen ein wichtiger Punkt, weil dann, wenn es nur weinige Marktteilnehmer gibt, dies immer dazu führt, dass wir in die Too-big-to-fail-Problematik hineinkommen. Ich kann uns nur aufrufen, diesen Gesetzentwurf zum Anlass zu nehmen, ergebnisoffen - ich habe noch keine Lösung und bin noch nicht zu einem Ergebnis gekommen - darüber zu diskutieren, ob die Wettbewerbsstrukturen im Bereich des Investmentbankings vernünftig sind. Den Bereich der Privatkunden und der kleinen Geschäftskunden nehme ich davon ausdrücklich aus. In Deutschland gibt es im Gegensatz zu anderen Staaten nämlich zwei zusätzliche Säulen: die Volksbanken und die Sparkassen. Ich glaube, hier ist der Wettbewerb einigermaßen vernünftig organisiert. Zusammenfassend kann man sagen: Das Gesetz, dessen Entwurf vorliegt, ist kein Allheilmittel. Es wird nicht verhindern, dass eine Finanzkrise 2.0 ausbricht. Wir wissen genau, dass wir viele Bausteine brauchen. Ich denke, dieses Gesetz ist ein solcher Baustein, ein vernünftiger Baustein. Die Regulierung in diesem Bereich wird dazu beitragen, dass der Finanzmarkt ein wenig sicherer wird, nicht nur für die Anleger, sondern auch für den Steuerzahler. Deswegen wird die Union dieses Gesetzesvorhaben konstruktiv und zügig vorantreiben. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 17/1291 und 17/1457 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Teilhabe und Perspektiven für Langzeitarbeitslose mit einem verlässlichen Sozialen Arbeitsmarkt schaffen - Drucksache 17/1205 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gute öffentlich geförderte Beschäftigung - Eine Alternative zu Langzeiterwerbslosigkeit und Ein-Euro-Jobs - Drucksache 17/1397 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie alle werden sich daran erinnern, dass sich die Arbeitsuchenden in den letzten Monaten eine Menge haben bieten lassen müssen. Sie mussten sich als faule und dekadente Sozialschmarotzer beschimpfen lassen. Ich finde es wirklich unerträglich, dass sowohl Ministerpräsident Koch als auch Vizekanzler Westerwelle ihre gesammelten Vorurteile ausgebreitet haben, um Arbeitslosengeld-II-Bezieher zu diffamieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Aber um das gleich zu sagen: Auch die Eingebung einer Berliner Grünen-Abgeordneten finde ich hundsmiserabel. Grundsätzlich muss klar sein, dass eines gilt: Der soziale Arbeitsmarkt ist ausdrücklich nicht dafür da, vermeintlich faule Arbeitsuchende auf Trab zu bringen. Wer hier diesen Zungenschlag hineinbringt, dem geht es um alles Mögliche, aber nicht um die Betroffenen. Wenn es darum geht, Zwangsdienste zu etablieren, damit Menschen davon abgehalten werden, in einer Notsituation ihre Rechte und Ansprüche geltend zu machen, dann kann ich nur sagen: Das ist eine infame Strategie. Diese Strategie werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Fakt ist erstens: Derzeit fehlen in Deutschland ungefähr 5 Millionen Vollzeitarbeitsplätze. Fakt ist zweitens: Fast alle Arbeitslosen sind absolut erpicht darauf, einen Job zu finden und so schnell wie möglich aus dem Arbeitslosengeld-II-Bezug herauszukommen. Fakt ist drittens - das sage ich denjenigen, die immer von Zwangsmaßnahmen sprechen -: Es gibt derzeit bei weitem nicht genügend Arbeitsplätze im sogenannten gemeinnützigen Sektor. Die Nachfrage ist um ein Mehrfaches höher als das Angebot. In genau dem Moment, als der Vizekanzler lautstark dafür plädiert hat, jeden Arbeitslosen zu irgendeinem gemeinnützigen Job zu zwingen, hat die Bundesarbeits-ministerin die wenigen Programme, die es für Langzeitarbeitslose im gemeinnützigen Sektor überhaupt gibt, abgeschafft oder ausgetrocknet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Das Programm "Kommunal-Kombi" ist vollständig abgeschafft worden, und das Programm "JobPerspektive" wird genau bei den Jobcentern beschnitten, bei denen es besonders gut funktioniert hat. Das alles geht bei dieser Bundesregierung zusammen: Der Vizekanzler brüllt laut und fordert einen sozialen Arbeitsmarkt, und die Bundesarbeitsministerin stellt diesen parallel dazu ein. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Wir wissen, dass ungefähr 400 000 Langzeitarbeitslose unter den derzeitigen Bedingungen kaum eine Chance haben, auf dem ersten Arbeitsmarkt Arbeit zu finden. Ich frage Sie: Welchen Sinn soll es machen, diese Menschen immer wieder in das Auf und Ab von Maßnahmekarrieren zu zwingen? Sechs Monate einen 1-Euro-Job, dann wieder arbeitslos, dann vielleicht eine Trainingsmaßnahme, dann wieder arbeitslos, das demotiviert die Betroffenen. Das ist teuer. Das ist schlecht und bringt der Gesellschaft gar nichts. Was wir brauchen, ist ein verlässlicher zweiter Arbeitsmarkt, der den Langzeitarbeitslosen tatsächlich eine Perspektive gibt. Die Grünen haben einen entsprechenden Vorschlag vorgelegt. Es geht um sinnstiftende Beschäftigung. Es geht um zusätzliche Beschäftigung und um Beschäftigung, von der die Gesellschaft profitiert. Das Ganze muss nach dem Prinzip der Freiwilligkeit organisiert sein. Es muss dezentral, kommunal organisiert sein, und es muss sich um sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse handeln. Wir müssen weg von diesem Programm-Hopping. Wir brauchen in diesem Bereich eine verlässliche Basis. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Pothmer, achten Sie bitte auf die Zeit. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ununterbrochen, Frau Präsidentin. Vizepräsidentin Petra Pau: Dann sollten Sie Schlussfolgerungen ziehen. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich komme sofort zum Schluss. - Wir haben Ihnen mit dem Aktiv-Passiv-Transfer einen Vorschlag gemacht, wie man diese Beschäftigungsverhältnisse finanzieren kann. Damit wird die Parole, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren, endlich mit Inhalt gefüllt. Ich finde, die Betroffenen haben einen Anspruch darauf, ihre Motivation, ihre Talente und ihr Engagement einzubringen. Ich hoffe auf Ihre Unterstützung. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Heike Brehmer für die Unionsfraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Heike Brehmer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grünen möchten, wie aus ihrem Antrag hervorgeht, dass für gute öffentlich geförderte Beschäftigung gesorgt wird. Meine Damen und Herren von den Grünen, als Erstes müssen wir feststellen, dass Sie während Ihrer Regierungszeit die Weichen offenbar nicht richtig gestellt haben. Sonst hätte nicht eine ganze Generation mit Langzeitarbeitslosigkeit so viel Erfahrung machen müssen. Sie hätten bei der Gesetzgebung doch die Vorgabe machen können, dass jungen Menschen nach einer bestimmten Frist eine Tätigkeit zugewiesen werden muss. Sie haben das unbestimmt gelassen, mit der Folge, dass viele junge Menschen in der Langzeitarbeitslosigkeit gelandet sind. Wir werden uns verstärkt um die Alleinerziehenden kümmern. Es ist unsere Arbeitsministerin, die die Alleinerziehenden aus der Langzeitarbeitslosigkeit herausholen wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Macht mal! Wir sind gespannt!) - Einzelheiten werden morgen hier im Haus erörtert. Für die christlich-liberale Koalition ist klar: Nach unserem christlichen Menschenbild hat Arbeit einen hohen Stellenwert. Wir wissen, wie wichtig Arbeit für den Menschen ist. Was uns von den Grünen und den Roten jeder Couleur unterscheidet, ist von zentraler Natur: Wir wollen die Menschen an Arbeit heranführen und - wann immer möglich - in den ersten Arbeitsmarkt integrieren. Dabei sind wir uns im Klaren, dass es Menschen gibt, die den gesamten Weg nicht schaffen. Für diesen Personenkreis werden wir Wege finden, dass sie es zumindest in eine öffentliche geförderte Beschäftigung schaffen. Wir wollen die Menschen aber nicht in den Kreislauf zwischen Arbeitslosigkeit und öffentlich geförderter Beschäftigung schicken, nach dem Motto: per Drehtüreffekt von der Arbeitslosigkeit in die nächste öffentliche Beschäftigung und zurück. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nur einmal hinein und dann gleich in Hartz IV!) Diesen Kreislauf wollen wir durchbrechen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nein! - Gegenruf des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Doch! Das machen wir mit oder ohne euch!) Ihnen von den Grünen ist das leider nicht gelungen. Wir wollen nicht so viel Lehrgeld zahlen, wie Sie es mit der Ich-AG getan haben. Sie haben viel Geld, das wir heute bräuchten, ohne gute Ergebnisse verbraten. Seit 2005 sind durch die unionsgeführte Bundesregierung viele Programme zur Förderung der Langzeitarbeitslosen auf den Weg gebracht worden, wie zum Beispiel der Beschäftigungszuschuss für Langzeitarbeitslose, der Jobbonus, die JobPerspektive und der Qualifizierungskombi zur Verbesserung der Qualifizierung von jüngeren Menschen unter 25 Jahren mit Vermittlungshemmnissen. Für den Monat März 2010 hat die Bundesagentur für Arbeit mitgeteilt, dass die Zahl der Arbeitslosen, welche länger als zwei Jahre ohne Job sind, auf circa 405 000 gesunken ist. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sie haben kurzfristig einen 1-Euro-Job bekommen und werden nicht mehr gezählt! Statistische Manipulation!) Das sind im Vergleich zum Vorjahresmonat 12,6 Prozent weniger. Die Wirtschaftsweisen hatten uns angesichts der größten Wirtschafts- und Finanzkrise weitaus schlechtere Prognosen erstellt. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das weiß man doch!) - Das können auch Sie ruhig einmal zur Kenntnis nehmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das zeigt uns, dass die bisherigen Maßnahmenpakete zur Bekämpfung der Krise durch die unionsgeführten Bundesregierungen richtig eingesetzt wurden und Wirkung zeigen. (Beifall bei der CDU/CSU) Mit dem Beschäftigungschancengesetz werden wir jetzt den nächsten Schritt gehen, und wir werden den Mut haben, das Konzept der Bürgerarbeit, das Sie immer in die Ecke gelegt haben und das für Sie immer ein Randthema war, umzusetzen. Wir werden die Bürgerarbeit aktivieren. Ich sage Ihnen voraus: Wenn die Jobcenter nach jahrelangen Unsicherheiten endlich funktionieren, dann werden wir uns mit der Bürgerarbeit hier im Bundestag befassen. Das Instrument der Bürgerarbeit wurde vom sachsen-anhaltinischen Wirtschaftsminister Dr. Reiner Haseloff und der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit Sachsen-Anhalt-Thüringen entwickelt. Die Bürgerarbeit hat sich in Sachsen-Anhalt als ein erfolgreiches Modell zur nachhaltigen Reduzierung der Langzeitarbeitslosigkeit bewährt. Durch das Konzept der Bürgerarbeit sollen vorrangig Langzeitarbeitslose in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vermittelt werden, die auf dem ersten Arbeitsmarkt kaum eine Chance haben. Das alles geht allerdings nicht zum Nulltarif. Daher wird nicht alles sofort gehen, dafür aber seriös. (Katja Mast [SPD]: Wie die Regierung bisher!) Es gibt durchaus auch Erfolgsmodelle, wie zum Beispiel ein kommunales Modell im Landkreis Marburg-Biedenkopf. Im Rahmen des dortigen Modellprojekts mit einem ganzheitlichen Beratungsansatz wurden Langzeitarbeitslose gestärkt und aus der sozialen Isolation heraus und zurück in die Gesellschaft geführt. Zusätzlich wurden arbeitsplatz- und existenzsichernde Beratungsangebote geschaffen, die mittelfristig die Überwindung der Hilfebedürftigkeit zum Ziel haben. Besonders interessant im Hinblick auf Ihre Anträge ist die Erfolgsquote bei den über 50-Jährigen. Viele ältere Arbeitslose konnten in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Pascal Kober [FDP]) Schauen Sie sich an, was es in den letzten Jahren mit den Ferienjobs für Kinder von Arbeitslosengeld-II-Empfängern auf sich hatte. (Katja Mast [SPD]: Dahin mussten wir Sie auch tragen!) Was war das für ein Theater! Nichts ging; in diesem Sommer geht es. So verhindert man eine Hartz-IV-Kultur. (Katja Mast [SPD]: Sie können in der nächsten Sitzung zustimmen!) So stellen wir nun die Weichen im Interesse der Menschen in unserem Land. Dass Ihnen das nicht gefällt, kann ich sehr gut verstehen. (Zuruf von der LINKEN: Uns gefällt das sehr gut!) Mit der Umsetzung des Beschäftigungschancengesetzes werden sich die Arbeitsmarktchancen für Langzeitarbeitslose, für Alleinerziehende und für Ältere über 50 in der nächsten Zeit weitgehend verbessern. Meine lieben Kollegen von den Linken und von den Grünen, es wäre deshalb schön, wenn Sie allein schon aus diesem Grund das Beschäftigungschancengesetz, welches unsere Ministerin morgen hier vorstellen wird, unterstützen würden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Michael Groschek für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Michael Groschek (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn hier angekündigt wird, dass morgen ein Entwurf eines Beschäftigungschancengesetzes eingebracht wird, dann wird uns und den Betroffenen angst und bange. Denn wir erinnern uns an das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Es droht Ungemach, heißt das auf Deutsch gesagt. (Beifall bei der SPD - Paul Lehrieder [CDU/ CSU]: Ja! Mit der Kindergelderhöhung!) Wir sollten uns an den Ausgangspunkt der heutigen Diskussion erinnern. Das war das Rezept "Mit Demagogie gegen Demoskopie". Das war der Versuch des FDP-Vorsitzenden, der im Nebenamt Außenminister ist, den freien Fall in Umfragen umzukehren. In dieser Stunde hätten wir uns im Sinne der Betroffenen sehr gewünscht, liebe Kollegin, wenn ein Sturm der Entrüstung, gesteuert durch Ihr christliches Menschenbild, auch durch die CDU/CSU gegangen wäre. Was aber war? Schweigen im Walde. Das macht uns betroffen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was war unsere Antwort? Unsere Antwort war der soziale Arbeitsmarkt als freiwillige Inanspruchnahme eines sozialen Rechts auf Integration statt als angedrohte Zwangsmaßnahme. Das unterscheidet uns. Ich will Ihnen eines zugutehalten: Viele von Ihnen werden sicherlich Schwielen an den Fingern haben vom vielen bußfertigen Beten mit dem Kruzifix in der Hand, weil Sie so etwas mitmachen, was Ihnen von Ihrem Koalitionspartner serviert wird. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Wie können Sie das beurteilen?) Lassen Sie uns auf den Punkt kommen. Wir glauben, dass das Recht auf Arbeit für alle gelten muss, und zwar auf gute und fair bezahlte Arbeit. Arbeit ist Ausdruck einer Würde im Menschenbild, wie wir es haben. Gute und fair bezahlte Arbeit ist Voraussetzung dafür, dass jemand ein würdevolles und selbstbestimmtes Leben gestalten kann. Deshalb sagen wir, dass gerade diejenigen, die mehrfach benachteiligt sind, nicht als abgeschrieben und abgeschoben gelten dürfen. Sie dürfen nicht deklassiert und demagogisch verfolgt werden. Gerade sie brauchen eine reale Chance. Dazu passt das Aushungern der JobPerspektive und das Abschaffen von Kommunal-Kombi nicht. Das ist der Weg in die Sackgasse und nicht in die soziale Integration. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Der soziale Arbeitsmarkt ist das eine. Mehr soziale Sicherheit am Arbeitsmarkt ist das andere. In der Realität erfolgt jede zweite Neueinstellung befristet. Über 1 Million Menschen sind moderne Tagelöhner mit einem Stundenlohn von weniger als 5 Euro. Wir haben in diesem Land 1,4 Millionen Aufstocker und mehr als 2,5 Millionen Menschen, die auf Zeit- und Leiharbeit angewiesen sind. Wenn man diese Realität sieht, dann müssen Sie das doch als Einladung zur Schaffung von Fairness am Arbeitsmarkt und als Einladung dazu, am Arbeitsmarkt Recht und Ordnung zu schaffen, verstehen. Deshalb halten wir neben der Diskussion um den sozialen Arbeitsmarkt die Überprüfung der vorhandenen arbeitsmarktpolitischen Instrumente für notwendig. Wir haben uns darangemacht, die Überprüfung durchzuführen und Weiterentwicklungen und Korrekturen auf den Weg zu bringen. Das ist ein sehr intensiver Diskussionsprozess in unserer Partei. Wir laden Sie ein, sich vor einer Entscheidungsfindung diesem Diskussionsprozess anzuschließen. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Groschek, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schiewerling? Michael Groschek (SPD): Ja, wenn die Zeit angemessen gestoppt wird. Vizepräsidentin Petra Pau: Das ist doch selbstverständlich. Karl Schiewerling (CDU/CSU): Herr Kollege Groschek, Sie haben gerade behauptet, das arbeitsmarktpolitische Instrument JobPerspektive sei abgeschafft worden. (Anette Kramme [SPD]: Rein tatsächlich ist es so!) Können Sie mir bestätigen, dass dieses arbeitsmarktpolitische Instrument nach wie vor besteht, dass auch in diesem Jahr die Mittel dafür geflossen sind und dass die Absicht besteht, es beizubehalten? Lassen Sie mich die Frage mit einer Feststellung ergänzen: Wenn Sie sozusagen unterschwellig behaupten, man bekomme Schwielen an den Händen, wenn man Kruzifixe festhält und betet, sollten Sie sich bewusst sein, dass Sie damit viele Menschen in Deutschland missachten, die aus ihrer religiösen Grundeinstellung heraus viel konkrete Hilfe für arbeitslose Jugendliche und Erwachsene leisten. Michael Groschek (SPD): Lieber Kollege, lenken Sie nicht ab. Ich denke, Sie wissen, dass ich das zitierte christliche Menschenbild fast jedem von Ihnen und in extenso denen zugestehe, die als christliche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine Gruppe in Ihrer Fraktion sind. Deshalb kann ich das Leid dieser Menschen angesichts der arbeitsmarktfeindlichen und arbeitslosenfeindlichen Demagogie von Westerwelle verstehen, und deshalb glaube ich, dass viele bußfertig sein werden, weil sie trotz ihres christlichen Menschenbildes eine solche Regierung mittragen müssen; denn die Demagogie gegen die Langzeitarbeitslosen war und bleibt nach meiner festen Überzeugung unchristlich, lieber Kollege. Eine zweite Erwiderung auf Ihr Anliegen: Ja, ich weiß, die JobPerspektive gibt es noch. Aber ich weiß auch, dass diese Bundesarbeitsministerin, die ansonsten immer als symbolträchtige Madonna des Arbeitsmarktes durch die politische Landschaft geführt wird, (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das haben Sie schön gesagt!) 900 Millionen Euro bei Arbeitsförderungsmaßnahmen gesperrt hat und die JobPerspektive eben nicht als adäquates Instrument ansieht, sondern sie über den Tag hinaus aushungern will, weil Sie ein anderes Instrumentarium und eine andere Perspektive sehen. Dass wir Sie hier so kritisch beäugen, hängt auch mit Ihrem Chefhaushälter zusammen, der auf die Frage, wo denn die Konsolidierungspakete seien, die er stemmen müsse, antwortete, dass Frau von der Leyen wohl ein Drittel bis 50 Prozent dieser Konsolidierungsmaßnahmen werde stemmen müssen. Angesichts dessen wissen wir doch, wohin die Reise möglicherweise gehen wird. Diese Reise werden wir nicht mitmachen, weil sie sich gegen die Interessen der arbeitslosen Menschen in diesem Lande richtet. (Beifall bei der SPD - Ingrid Fischbach [CDU/ CSU]: Sie sagen wissentlich die Unwahrheit! Das ist nicht gut! Das ist nicht christlich!) Vizepräsidentin Petra Pau: Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Schiewerling? Michael Groschek (SPD): Ja. Karl Schiewerling (CDU/CSU): Sind Sie bereit, mir zuzugestehen, dass die Mittel für die JobPerspektive - jetzt komme ich auf den sachlichen Gehalt zurück und versuche, Sie dahin zu bringen, dass Sie auch sachlich antworten - insgesamt nicht gekürzt, sondern in Deutschland anders verteilt worden sind, und können Sie mir zustimmen, dass 900 Millionen Euro entsperrt worden sind, sodass diese Mittel der Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung stehen? (Anette Kramme [SPD]: Auf unser Drängen!) Michael Groschek (SPD): Lieber Herr Kollege, dass die 900 Millionen Euro entsperrt worden sind, ist doch nicht das Ergebnis Ihrer mutigen christdemokratischen Intervention, sondern Ergebnis einer sozialdemokratischen Ansage. Das ist Fakt eins. (Beifall bei der SPD) Zweiter Punkt: Wir haben ganz aktuell ein Schreiben einer Trägerorganisation aus Aachen bekommen, in dem darauf hingewiesen wird, wie in Nordrhein-Westfalen durch die Umverteilung, die in vielen Regionen Deutschlands einer Kürzung gleichkommt, Benachteiligungen entstehen. Da helfen kein Laumann und auch kein Rüttgers im Blaumann. Nordrhein-Westfalen wird von dieser Bundesregierung sozial- und strukturpolitisch über den Leisten gezogen, lieber Kollege. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Völliger Quatsch! - Zurufe der Abg. Ingrid Fischbach [CDU/CSU]) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat eigentlich der Kollege Groschek. Ich sehe allerdings eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Hubertus Heil. Wenn Sie diese zulassen, Kollege Groschek, füge ich gleich vorsorglich hinzu, dass dies die letzte Frage ist, die ich innerhalb dieses Redebeitrages zulasse, (Anette Kramme [SPD]: Schade!) weil wir eine Verabredung haben, die besagt, dass wir Redebeiträge nicht auf diese Weise verdoppeln oder verdreifachen wollen. Lassen Sie die Frage des Kollegen Heil zu? Michael Groschek (SPD): Gerne. Vizepräsidentin Petra Pau: Bitte. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Es ist nicht üblich, Zwischenfragen bei Abgeordneten der eigenen Fraktion zu stellen. Dies weiß ich sehr wohl, und wir wollen dies auch nicht dauernd machen. Aber die Frage des Kollegen Schiewerling hat mich ein bisschen dazu provoziert, noch einen Aspekt hinzuzufügen. Herr Kollege Groschek, die Entsperrung hat gestern im Haushaltsausschuss stattgefunden, weil wir dies im Rahmen der Jobcenterreform durchgedrückt haben. Aber noch nicht durch ist, wie eigentlich auch verabredet, Herr Schiewerling, die Entfristung von 3 200 Jobvermittlern. Dies muss bis zum 5. Mai im Haushaltsausschuss passieren. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Also hat er doch die Unwahrheit gesagt! Wissentlich die Unwahrheit!) Aber ich frage Sie, Herr Groschek, in Bezug auf den 9. Mai und die Situation danach bei all dem, was wir im Bereich der Arbeitsmarktpolitik diskutieren, wie es denn zu werten ist, wenn der Kollege Barthle, haushaltspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, jetzt schon einmal ankündigt, dass für die Konsolidierung im Jahre 2011 im Rahmen von 10 Milliarden Euro Frau von der Leyen die Hälfte bis ein Drittel, also 3 bis 5 Milliarden Euro, aufbringen soll. Diese Frage treibt uns um. Der Eingliederungstitel umfasst fast 6 Milliarden Euro. Dies wäre in vielen Bereichen das Ende einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, und alles, was über eine Jobvermittlungsoffensive gesagt wird, wäre hohles Geschwätz, wenn es keine Unterlegung gibt. Diesen Aspekt wollte ich Ihnen noch in Frageform mit auf den Weg geben. (Heiterkeit bei der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Michael Groschek (SPD): Danke, Herr Kollege Heil. Ich hatte schon das denkwürdige Vergnügen, im Rahmen meiner Antwort auf eine Frage seitens der CDU darauf hinzuweisen, dass offensichtlich der arbeitsmarktpolitische Heiligenschein von Frau von der Leyen getrübt werden wird. Sie haben sich bislang nicht dazu geäußert. Das wäre interessant gewesen. Aber es gibt sicherlich noch Gelegenheit, darüber zu reden, ob denn gerade die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der große Steinbruch wird, um die Haushaltskonsolidierung à la Bundesregierung zu schultern. Aber kommen wir auf das eigentliche Thema zurück. Wir wollen mehr soziale Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt. Dazu zählen für uns nach wie vor anständige Löhne - auf Deutsch gesagt: gesetzliche Mindestlöhne -, von denen jeder leben kann, der Vollzeit arbeitet. Wir wollen soziale Leitplanken bei der Zeit- und Leiharbeit, weil da ein riesiger Sozialmissbrauch stattfindet. Wir wollen den Anspruch auf Berufsausbildung, statt einer ganzen Generation nur die Perspektive eines Praktikums zu bieten. Wir betonen, dass die Qualifizierung auch in der Arbeitsmarktpolitik eine Schlüsselfunktion hat. Das betrifft auch die Beschäftigten der Bundesagentur für Arbeit. Sie hinkt hinter den Abmachungen, die getroffen wurden, hinterher. Wir brauchen ein besseres Betreuungsverhältnis, sonst wird es keine gescheite Perspektive am Arbeitsmarkt geben, und wir brauchen letztendlich eine Weiterentwicklung der Bundesagentur für Arbeit hin zu einer Arbeitsversicherung mit einem Recht auf bestmögliche individuelle berufliche Qualifizierung und Beratung für jeden. Das wäre unsere Perspektive. (Beifall bei der SPD - Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Dann hätten Sie es doch machen können! Sie haben es nicht hingekriegt, hier nicht und nicht in Nordrhein-Westfalen!) - Es gibt nicht nur Koalitionen mit Ihnen als Hemmschuh. Vielleicht gibt es auch einmal eine Fortschrittskoalition mit einem Partner, der nicht so schwerfällig ist, wie Sie es an unserer Seite gewesen sind. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Wenn man keine Ahnung hat, sollte man den Mund halten!) Zu den beiden vorliegenden Anträgen haben wir Folgendes anzumerken: Wir glauben, dass der Grünen-Antrag eine gute Diskussionsgrundlage für die weiteren Ausschussberatungen ist. Der Antrag der Linkspartei ist sehr stark von der Vorstellung geprägt, man könne Glück und Erfolg mit Methoden von gestern erreichen. Er ist von dem Duktus geprägt: Früher war alles besser. Wir aber haben die Einsicht, dass im Heute und Morgen kein Platz für das Gestern ist. Das ist das große Problem. Wir werden Arbeitsmarktinstrumente weiterentwickeln müssen. Eine pauschale Schuldzuweisung für alle Nöte des Arbeitsmarktes an die Bundesregierung können selbst wir nicht mittragen. Die Zuständigkeit dieser Bundesregierung geht nicht so weit, dass man sie für alles und jedes verantwortlich machen kann. Es reicht, die politische Verantwortung für die Maßnahmen zu betonen, für die die Bundesregierung verantwortlich ist. Frau von der Leyen vertritt nach außen eine fortschrittliche Arbeitsmarktpolitik, trägt aber nach innen dazu bei, dass die Arbeitsmarktförderung zum Steinbruch für die Haushaltskonsolidierung wird. Wir werden die Situation auch nach dem 9. Mai sehr kritisch verfolgen. Wir lassen Sie nicht entkommen. Die Rhetorik vom christlichen Menschenbild korrespondiert eben nicht mit der Demagogie, die der Demoskopie geschuldet ist, und sie nützt nicht den Arbeitslosen in diesem Land. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Pascal Kober (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Koalition hat sich zum Ziel gesetzt, möglichst viele Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Wir möchten dabei niemanden aufgeben, und wir möchten niemanden zurücklassen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mit den beiden Anträgen, die heute zur Beratung vorliegen, soll ein anderer Weg gegangen werden. Ihre Befürworter geben faktisch einen Teil der Menschen auf. Deshalb werden wir diesen beiden Anträgen nicht zustimmen. (Beifall bei der FDP) Hannelore Kraft hat dies Anfang März dieses Jahres im Spiegel deutlich zum Ausdruck gebracht - Zitat -: Wir müssen endlich ehrlich sein: Rund ein Viertel unserer Langzeitarbeitslosen wird nie mehr einen regulären Job finden. Diese Aussage ist ein Schlag ins Gesicht der betroffenen Menschen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!) Sie klassifiziert sie ab, und sie schreibt sie ab. Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen Ihnen und uns. Die empirische Wirklichkeit mag einen zwar zu einer solch bedauernswerten Schlussfolgerung verleiten; das bedeutet aber noch längst nicht, dass man diese empirische Wirklichkeit normativ festschreiben darf. (Beifall bei der FDP) Wir wollen niemanden aufgeben. Wir sind der Überzeugung, dass wir durch kluge Politik im Sinne der Menschen jedem eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt bieten können. Bei der Integration von Langzeitarbeitslosen müssen alle Kräfte auf eine umfassende Vermittlungs-, Qualifizierungs- und Betreuungsoffensive konzentriert werden. Dazu hat das Kabinett gestern wichtige Maßnahmen beschlossen. Diese Bundesregierung nimmt sich jetzt vor allem der Alleinerziehenden sowie der jungen und älteren Arbeitnehmer an. Das - nicht die Ausweitung der öffentlichen Beschäftigung - ist der richtige Schritt in die richtige Richtung. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ohne neues Instrument!) Öffentliche Beschäftigung darf es nur als Ausnahme unter eng definierten Bedingungen geben; denn sie ist nicht nur teuer, sondern sie gefährdet auch reguläre Beschäftigung. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Brigitte Pothmer [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: So wie Westerwelle es sagt: zum Schneeschippen!) So kommt ein im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung erstelltes Gutachten zu dem Ergebnis, dass - ich zitiere - "öffentlich bereitgestellte Beschäftigung zwangsläufig teurer ist als die Subventionierung eines Beschäftigungsverhältnisses am ersten Arbeitsmarkt, denn zusätzlich zum Ausgleich der geringen individuellen Produktivität muss noch die Anpassung der Arbeitsabläufe finanziert werden". Dass ein sogenannter sozialer Arbeitsmarkt, ein Schattenarbeitsmarkt, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung verdrängt, zeigt uns die Erfahrung mit den sogenannten 1-Euro-Jobs. Dies belegt auch der einschlägige Bericht des Bundesrechnungshofes aus dem Jahr 2008. Bei 80 Prozent der 1-Euro-Jobs wurde beanstandet, dass sie nicht zusätzlich, sondern anstelle von Tätigkeiten ausgeübt wurden, die eigentlich durch reguläre Beschäftigung abgedeckt werden müssten, wodurch reguläre Beschäftigungsverhältnisse im ersten Arbeitsmarkt gefährdet wurden bzw. verhindert worden ist, dass dort neue Arbeitsplätze entstanden sind. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Kober, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Pothmer? Pascal Kober (FDP): Gerne, Frau Pothmer. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kober, Sie haben sich hier sehr kritisch über die Wirkung von öffentlich geförderter Beschäftigung geäußert und gesagt, jede öffentlich geförderte Beschäftigung verdränge Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt. Wie stehen Sie zu dem Vorschlag Ihres Parteivorsitzenden Westerwelle, Arbeitslose zum Schneeschippen heranzuziehen? Wie wahrscheinlich auch Sie wissen, finanziert unser Staat normale Arbeitsplätze in der Straßenreinigung. Würde das Konzept, das Herr Westerwelle vorschlägt, Ihren hier vorgeschlagenen Vorstellungen nicht zuwiderlaufen? Pascal Kober (FDP): Liebe Kollegin Pothmer, ich habe mich nicht generell für einen solchen Beschäftigungsmarkt ausgesprochen. Ich habe gesagt: "unter eng definierten Bedingungen". Wir von der FDP sind der Auffassung, dass diese eng definierten Bedingungen vor allen Dingen so gestaltet werden müssen, dass diese Beschäftigungsverhältnisse der Qualifizierung der Menschen dienen. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie qualifiziert denn Schneeschippen?) - In der Tat bin ich der Auffassung, Frau Pothmer, dass es einen eingeschränkten, kleinen Personenkreis gibt, für den Tätigkeiten wie Schneeschippen oder Straßenreinigung als Qualifizierungsmaßnahme dienen können. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darf ich noch eine Zwischenfrage stellen?) Vizepräsidentin Petra Pau: Das entscheidet der Kollege Kober. Das wäre dann aber die letzte Frage, die ich zulasse. Wie Sie wissen, haben Sie in dieser Debatte schon gesprochen. Kollege Kober, lassen Sie noch eine Frage zu? Pascal Kober (FDP): Ja. - Frau Pothmer, bitte. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie erinnern sich aber durchaus auch daran, dass Ihr Parteivorsitzender Westerwelle vorgeschlagen hat, alle Langzeitarbeitslosen unmittelbar zu einer Tätigkeit auf dem sozialen Arbeitsmarkt heranzuziehen? (Widerspruch bei der FDP) Pascal Kober (FDP): Frau Pothmer, daran erinnere ich mich nicht. Ich glaube, selbst in Berlin lag nicht so viel Schnee, dass es notwendig gewesen wäre, alle Langzeitarbeitslosen mit Schneeschippen zu beschäftigen. - Vielen Dank. Ihre Vorschläge, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, sind volkswirtschaftlich schädlich und verdecken, dass Sie Menschen Chancen auf reguläre Arbeit im ersten Arbeitsmarkt vorenthalten. Fachleute stellen fest, dass es fast keine Jobs für einen sozialen Arbeitsmarkt gibt, die nicht reguläre Beschäftigung verdrängen. Straßenreinigung durch öffentlich geförderte Arbeitskräfte verdrängt andere Reinigungsunternehmen vom Markt. Die Übernahme der Pflege von Grünflächen, die einmal Frau Künast vorgeschlagen hat, verdrängt Gärtnereien. Diese Liste ließe sich noch länger fortführen. So wird durch öffentlich geförderte Beschäftigungsmaßnahmen letzten Endes sogar die Arbeitslosigkeit ausgeweitet. Arbeitsgelegenheiten wie 1-Euro-Jobs sollten nach Auffassung der FDP nur dort angeboten werden, wo sie der Qualifizierung und Integration von Langzeitarbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt dienen. Sie müssen der Qualifizierung der Betroffenen dienen. Wir müssen darauf achten, dass Menschen nicht in einen zweiten Arbeitsmarkt abgeschoben werden, sondern dass sie für den ersten Arbeitsmarkt aktiviert und qualifiziert werden. (Beifall bei der FDP) In unserem Konzept des liberalen Bürgergeldes, also eines gesetzlichen Mindesteinkommens, stellen wir sicher, dass auch die Menschen im ersten Arbeitsmarkt ausreichend Einkommen zum Leben haben, deren Fähigkeiten und Begabungen vorübergehend oder auf Dauer nicht auszureichen scheinen, um ein solches durch eigene Kraft vollständig selbst zu erwirtschaften. Hier sind staatliche Mittel viel sinnvoller eingesetzt als in einem sogenannten sozialen Arbeitsmarkt oder in öffentlich geförderter Beschäftigung. Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen, für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Herr Groschek, ich muss Ihnen schon empfehlen, einmal über unseren Antrag nachzudenken. Vielleicht kommen Sie dann doch zu dem Schluss, dass die Hartz-Gesetzgebung menschenunwürdig ist und dass Sie da einen Fehler gemacht haben. Ich empfehle Ihnen das auf jeden Fall. (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, 1990 haben wir mit ABM mit einer Bezahlung in Anlehnung an den damaligen ÖTV-Tarifvertrag angefangen. Dann gab es einige Novellen, und mit Einführung des SGB II gab es dann noch eine Pauschale von 900 Euro. Außerdem wurden diese unsäglichen 1-Euro-Jobs erfunden. Mit diesen 1-Euro-Jobs sind die anderen sinnvollen Maßnahmen mehr und mehr zurückgefahren worden. Die Rutschbahn der Löhne wurde in Gang gesetzt. Das alles wird von der Politik bewusst nicht gestoppt, und das ist unerträglich. (Beifall bei der LINKEN) Ob Menschen Arbeit haben oder nicht, ist eine zutiefst demokratische Frage. Denn es geht hier vor allem um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die Politik hat dieses Problem bisher sträflich vernachlässigt und damit Hunderttausende Menschen ins soziale Abseits gestellt. Die Antwort der Bundesregierung auf das immer weiter wachsende Problem der Langzeiterwerbslosigkeit sind bisher nur Beleidigungen von Herrn Westerwelle und verschärfte Sanktionen für erwerbslose Menschen. Aber wo - das frage ich Sie, meine Damen und Herren - sind denn die Arbeitsplätze, die Sie seit 15 Jahren - egal in welcher Koalition - den Menschen versprochen haben? Das Gegenteil ist der Fall. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen stagniert seit Jahren auf hohem Niveau. Fast 1 Mil-lion Menschen waren im März 2010 seit über einem Jahr ohne reguläre Arbeit. Insbesondere viele Ältere haben wenig Chancen auf eine Rückkehr in den regulären Arbeitsmarkt. Daneben haben wir viele Erwerbslose, die bereits seit mehreren Jahren ohne Arbeit sind. Diese Ausgrenzung hat bei den arbeitslosen Menschen viele körperliche und seelische Spuren hinterlassen. Hier ist der Staat in der Pflicht, zu handeln. (Beifall bei der LINKEN) Die Linke legt dafür das Konzept einer guten öffentlich geförderten Beschäftigung vor. Dieses ist Bestandteil eines Zukunftsprogramms, mit dem wir 2 Millionen reguläre Arbeitsplätze in der Wirtschaft und im öffentlichen Bereich schaffen wollen. Gute öffentlich geförderte Beschäftigung heißt für uns: Wir wollen mit Mitteln der Arbeitsmarktpolitik sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze zu Mindestlohnbedingungen oder mit tariflicher Entlohnung schaffen - und das basierend auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. Die Hartz-Gesetze, die Sie hier in diesem Saal mit Ausnahme der Linken eingeführt haben, sind zuallererst darauf ausgerichtet, Erwerbslose zu disziplinieren. Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind fatal. Es gibt einen Erdrutsch bei der Zahl der regulären sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze und einen Vormarsch von Billigjobs. Das muss gestoppt werden! (Beifall bei der LINKEN) Nun hat Frau von der Leyen unter dem schönen Titel der "Bürgerarbeit" eine Reform der Arbeitsmarktpolitik und eine Vermittlungsoffensive angekündigt. Meine Damen und Herren, das ist nichts Neues. Begreifen Sie doch endlich, dass es zu wenig Arbeitsplätze gibt, von denen die Menschen in Würde leben können! (Beifall bei der LINKEN) Aber natürlich wird die Bundesregierung ihre Pläne erst nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen öffentlich machen. Wir werden ganz genau hinschauen, ob damit durch die Hintertür ein Arbeitszwang eingeführt werden soll, wie das eigentlich schon verschiedene Unionspolitiker in der Vergangenheit gefordert haben. Das stößt auf unseren entschiedenen Protest, und das werden wir nicht hinnehmen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es scheint ja nun doch so zu sein, dass der Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen seine langen Schatten auch auf dieses Haus wirft. Was der Kollege Groschek als Generalsekretär der SPD in Nordrhein-Westfalen hier abgeliefert hat - er ist in Rambo-Manier argumentativ durchgesaust -, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Warten Sie, bis der richtig loslegt!) zeugt von einer gewissen Nervosität, und das, lieber Karl Schiewerling, ist unter dem Strich doch eine ganz positive Botschaft. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kritisiert wurde von Ihnen ein gewisser Mangel an Wahrhaftigkeit. Einen solchen - das will ich der Rede voranstellen - habe ich auch dem Antrag der Linken ein wenig entnommen. Ich will an dieser Stelle nur zwei Beispiele bringen: Sie behaupten in Ihrem Antrag, die falsche Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik dieser und der vergangenen Regierung habe zu der Arbeitslosigkeit beigetragen. Wahr ist: Von 2005 bis 2008 ist die Arbeitslosigkeit von 4,8 Millionen auf 2,9 Millionen gesunken. (Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Langzeitarbeitslosigkeit!) Hätten Sie das in Ihrem Leben irgendwann einmal fertiggebracht, hätte der Kölner Dom dauergeläutet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Die würden heute noch tanzen!) Sie beklagen darüber hinaus, dass Stellen im öffentlichen Dienst abgebaut werden, und erwecken damit so ein bisschen den Eindruck, als ob Sie, wenn Sie es denn könnten, Stellen im öffentlichen Dienst schaffen würden. Ich habe mir das einmal angeschaut. Von 2005 bis 2008 verzeichnet Berlin den höchsten Abbau von Stellen im öffentlichen Dienst, nämlich einen Abbau um 3,8 Prozent. (Zuruf von der CDU/CSU: Da regiert Rot-Rot! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die hatten einfach zu viel aufgebläht!) In Brandenburg, Herr Kollege, wird geplant, 11 000 Stellen im öffentlichen Dienst abzubauen. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die öffentlichen Haushalte sind pleite, durch Ihre Politik!) Ich habe so ein bisschen den Eindruck, dass bei Ihnen ein Realitätsschock eintritt. Das hat mit den Blütenträumen, die Sie hier sonst verkünden, nichts zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Eine Sache war für mich sehr überraschend, als ich mir die Zahlen angeschaut habe. Es gab ein Bundesland, das einen leichten Anstieg der Stellenzahl in der öffentlichen Verwaltung hatte, nämlich Bayern. Das finde ich ganz positiv; denn die Bayern haben gesagt: Wir stellen mehr Lehrer ein. (Michael Groschek [SPD]: Weil die FDP dabei ist!) Das ist angesichts der Tatsache, dass wir die Bildungsrepublik ausbauen wollen, das richtige Signal. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Meine Damen und Herren von den Linken, in Ihrem Antrag ist die Rede davon, dass 500 000 öffentlich geförderte Beschäftigungsstellen zu schaffen sind. Wie Sie auf die Zahl gekommen sind, erschließt sich mir nicht. Vielleicht haben Sie einfach die Zahl von den Grünen genommen und noch 100 000 draufgelegt. Man kann ja eine gewisse Reserve einbauen; das ist wohl nie falsch. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wir hatten das schon 2006 in einem Antrag!) Es ist in Ihrem Antrag in keiner Weise begründet, wie Sie auf die Zahl von 500 000 kommen. Diese Zahl und das, was Sie heute Morgen hier mit Ihrem Antrag zur guten Arbeit vorgelegt haben, scheint mir auf Folgendes hinzudeuten: Sie betrachten den Staat lediglich als eine Art Kuh, die man sowohl melken als auch schlachten kann. Liebe Frau Pothmer, ich will ganz deutlich sagen: Ich teile die Intention in Ihrem Antrag, für Langzeitarbeitslose etwas zu tun, und ich teile auch ausdrücklich Ihre Auffassung, dass die meisten Arbeitsuchenden lieber heute als morgen wieder eine Arbeitsstelle wollen. (Zuruf von der LINKEN: Das war der erste richtige Satz! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sagen Sie das dem Ministerpräsidenten Koch!) Das wollen wir ermöglichen, weil auch wir der Meinung sind, dass Missbrauch kein Volkssport ist - es geht um eine ganz begrenzte Ausnahmesituation - und dass die meisten Menschen arbeiten wollen, weil Arbeit eine Form von Anerkennung mit sich bringt. Auch das wollen wir ermöglichen. Deswegen bin ich der Idee eines öffentlich geförderten Sektors persönlich nicht abgeneigt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich bin aber sehr dafür, diese Förderung an sehr enge Kriterien zu knüpfen. Das erste Kriterium ist die Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Wir wollen keine Zweiklassengesellschaft und keine Stigmatisierung von Arbeitsuchenden, sondern wir wollen, dass die Integration in den ersten Arbeitsmarkt gelingt. Das ist ein Punkt, den ich im Antrag der Linken vermisst habe. Wir wollen keine Dauersubventionierung und Verstetigung dieser Subventionen, sondern eine zeitliche Begrenzung. Wir wollen außerdem eine genaue Eingrenzung der Zielgruppe. Das heißt, wir wollen mit einem öffentlich geförderten Sektor vor allen Dingen diejenigen, die mehrere Vermittlungshemmnisse aufweisen, fördern und nicht, wie es die Linken vorsehen, den Übergang in die Rente unterstützen. Auch das ist sehr wichtig: Wir brauchen eine sehr enge Betreuung. Ich will es einmal mit dem Begriff "fürsorgliche Belagerung" umschreiben. Denn nur das führt dazu, die Qualifikation zu verbessern und die Defizite auszugleichen. Wir wollen eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik, die unter dem Motto "Fordern und Fördern" steht. Am Ende soll nicht der betreute, sondern der selbstständige Mensch stehen. Wir wollen keine Verdrängungseffekte für reguläre Arbeit. Kriterium muss die Zusätzlichkeit sein. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sehr gut!) Wir wollen weiterhin eine sorgfältige und regional differenzierte Auswahl der Beschäftigungsfelder. Das heißt, zusätzliche Beschäftigung müsste beispielsweise in Frankfurt am Main anders aussehen als in Mecklenburg-Vorpommern. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sehr gut! Schade, dass Sie in der falschen Partei sind! - Michael Groschek [SPD]: Bravo!) Gleichwohl muss ich sagen, dass wir an dieser Stelle eine ganze Reihe von Instrumenten haben. Die Laufzeit des Programms "Perspektive 50plus" wurde gestern vom Bundeskabinett verlängert. Alleinerziehende, die Hartz-IV-Leistungen bekommen, würden einen Anspruch auf einen gesonderten Ansprechpartner erhalten. Wir wollen - auch das ist im Koalitionsvertrag festgelegt - das Instrument der Bürgerarbeit in die Arbeitsmarktpolitik zusätzlich einführen. Mit den Modellprojekten haben wir gute Erfahrungen gemacht. Diese Maßnahmen führen nicht zu Mehrkosten, und Verdrängungseffekte sind vermeidbar. Wenn Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds an der Stelle zur Verfügung stehen, dann ist es umso besser. Meine Bitte an das Ministerium ist daher: Neben den Maßnahmen, die bereits beschlossen sind, sollte die Idee der Bürgerarbeit zügig angegangen werden. Noch in diesem Jahr sollte, wenn möglich, ein erster Entwurf vorgelegt werden, damit wir für die Integration der Langzeitarbeitslosen etwas tun können. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Michael Groschek [SPD]: Streckenweise gut!) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/1205 und 17/1397 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) - zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP Gewährleistung der Sicherheit der Eisenbahnen in Deutschland - zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gewährleistung der Sicherheit im Schienenverkehr muss Priorität haben - zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Dr. Gesine Lötzsch, Heidrun Bluhm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Den Schienenverkehr als sichere Verkehrsform erhalten und stärken - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Eisenbahnsicherheit verbessern - Drucksachen 17/1162, 17/655, 17/1016, 17/544, 17/1459 - Berichterstattung: Abgeordneter Uwe Beckmeyer Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Enak Ferlemann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Als Erstes möchte ich mich herzlich dafür bedanken, dass sich die Fraktionen des Hauses so intensiv mit der Sicherheit des Eisenbahnverkehrs in Deutschland und darüber hinaus beschäftigen. Ich möchte direkt an den Anfang stellen, dass für die Bundesregierung die Sicherheit der Eisenbahnen in Deutschland absolute Priorität hat. Daran gibt es keine Abstriche, auch wenn die Oppositionsfraktionen in ihren Anträgen versuchen, hier und da vielleicht ein anderes Bild aufzuzeigen. Wegen der Probleme, die zugegebenermaßen im letzten Jahr stärker als sonst bei der Fahrzeugtechnik auftraten - allerdings europaweit, nicht nur in Deutschland -, jetzt das gesamte System Eisenbahn schlechtzureden, geht am Sachverhalt sicherlich völlig vorbei. Dadurch wird das Verkehrsmittel, das mit weitem Abstand das sicherste Landverkehrsmittel ist, zu Unrecht schlechtgemacht. Unser Land ist auf die Leistungen der Eisenbahnunternehmen, die diese jeden Tag für Millionen Reisende und im Zusammenhang mit dem Transport von Millionen Tonnen Güter erbringen, angewiesen. Wir können mit Recht stolz sein auf die Qualität, mit der diese Leistungen erbracht werden, und auf das hohe technische Niveau, das unsere Eisenbahnunternehmen erreicht haben und gewährleisten. Ein technisches System wie das der Eisenbahn ist aber nichts Statisches. Es lebt von Weiterentwicklung, neuen Erkenntnissen und Innovationen. Deshalb sind das technische Regelwerk und die technischen und betrieblichen Vorschriften so angelegt, dass Weiterentwicklungen berücksichtigt werden. Zurzeit sind wir in einer Phase, in der neue Erkenntnisse zum Verhalten des Materials - ich nenne als Beispiel das Stichwort "Radsatzwellen" - vorliegen und entsprechende Prüfungen erfolgen. Da dies nicht allein ein nationales Thema ist, hat die Europäische Eisenbahnagentur von der Kommission den Auftrag erhalten, gemeinsam mit dem Sektor, das heißt den Eisenbahnunternehmen, der Bahnindustrie und den nationalen Sicherheitsbehörden, diese Aspekte aufzuarbeiten und eine gemeinsame europäische Strategie für die Fahrzeuginstandhaltung zu entwickeln. Ich habe damit aufgezeigt, dass wir uns bei den Eisenbahnen mit der Liberalisierung des europäischen Eisenbahnverkehrsmarktes, die wir sehr begrüßen, und der Harmonisierung der technischen Bedingungen nicht mehr allein im nationalen Bereich, sondern vor allem europaweit bewegen. Dies gilt natürlich für die Leistungen im Verkehrsmarkt, aber zunächst auch für die rechtlichen Grundlagen. Die Europäische Kommission hatte im Zuge der Errichtung eines Binnenmarktes für Eisenbahnverkehrsdienste erkannt, dass ein gemeinsamer Rahmen für die Regelung der Eisbahnsicherheit geschaffen werden muss. Dazu hat sie mit der Richtlinie 2004/ 49/EG vom 29. April 2004 über die Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft europäisches Recht geschaffen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Harmonisierung des Inhalts von Sicherheitsvorschriften, der Sicherheitsbescheinigungen für Eisenbahnunternehmen, der Aufgaben und Funktionen der Sicherheitsbehörden sowie der Untersuchung von Unfällen. Diese Richtlinie wurde in Deutschland am 16. April 2007 mit der Novellierung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes sowie des Gesetzes über die Eisenbahnverkehrsverwaltung in nationales Recht umgesetzt. Diese Novelle bildet nunmehr, aufbauend auf dem im deutschen Eisenbahnrecht bewährten System der Aufgabenabgrenzung zwischen den Eisenbahnunternehmen, den Herstellern, den Haltern und insbesondere den Aufsichtsbehörden, die Grundlage für die Gewährleistung der Sicherheit des Eisenbahnverkehrs in Deutschland. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat sich in den letzten Monaten intensiv mit der Frage auseinandergesetzt: Ist die Sicherheit im Schienenverkehr gewährleistet, und was muss gegebenenfalls verbessert werden? In einer intensiven Aussprache mit der Deutschen Bahn und dem Eisenbahn-Bundesamt im Dezember letzten Jahres sowie in einer Anhörung mit Vertretern der DB AG und des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen, der Bahnindustrie, der Eisenbahnaufsicht und des Konzernbetriebsrats der DB AG am 3. März dieses Jahres sind alle Aspekte ausführlich erörtert worden. Ich kann die Ergebnisse für mich so zusammenfassen: Für die Sicherheit der Eisenbahnen in Deutschland bestehen umfassende Regelungen in den nationalen gesetzlichen Vorschriften auf der Basis des europäischen Rechts zur Sicherheit der Eisenbahnen in der Gemeinschaft. Die Serie von gefährlichen Ereignissen mit Radsatzwellen bei ICE-Zügen und bei Güterwagen sowie die Probleme bei der S-Bahn in Berlin haben gezeigt, dass die Übertragung der Aufgaben der Sicherheitsbehörde auf das Eisenbahn-Bundesamt und auch die Einrichtung einer Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes der richtige und sachgerechte Weg für schnelle und effektive Reaktionen der staatlichen Aufsicht sowohl im nationalen Bereich als auch bei der notwendigen Umsetzung auf europäischer Ebene waren. Ich darf mich an dieser Stelle ganz herzlich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Behörden für die exzellente Arbeit in den vergangenen Monaten bedanken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aber diese Ereignisse sowie die hierzu im Ausschuss durchgeführte öffentliche Expertenanhörung haben einen deutlichen Handlungsbedarf im Bereich der Rechte und Pflichten der Betriebsleiter, im Bereich der Fahrgastrechte, im Bereich der Verantwortung von Eisenbahnunternehmen und Herstellern sowie bei der Harmonisierung der Vorschriften auf europäischer Ebene aufgezeigt. Diese Folgerungen sind im Antrag der Koalitionsfraktionen sehr zutreffend dargestellt. Ich darf mich dafür ausdrücklich bei den Koalitionsfraktionen bedanken. Die Bundesregierung wird den ihr erteilten Auftrag für ein Konzept zur Weiterentwicklung der Sicherheit der Eisenbahnen in Deutschland, wenn er heute so beschlossen wird, zügig erfüllen. Ich denke, dass wir im zweiten Halbjahr dieses Jahres das Gesetzgebungsverfahren dazu durchführen können. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Uwe Beckmeyer. (Beifall bei der SPD) Uwe Beckmeyer (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten hier heute vier Anträge, die sich mit dem Thema Bahnsicherheit beschäftigen. Sie spiegeln ein bisschen wider, welche Diskussionen in den letzten vier Monaten insbesondere in der Fachöffentlichkeit geführt wurden. Es gibt seit langem eine ernst zu nehmende Diskussion über die Achsproblematik bei den verschiedenen Modellreihen des ICE und die im Winter so anfällige Konstruktion der ICE-Fahrzeuge der zweiten und dritten Generation. Wir führen in Deutschland eine generelle Debatte über die häufigen Zugausfälle, die wir in den Wintermonaten erlebt haben und die sowohl die Mobilität als auch das Netz betreffen. Darüber hinaus führen wir eine heftige Diskussion über die chaotischen Verhältnisse bei der Berliner S-Bahn. All das ist die Grundlage, auf der wir aktuell diskutieren. Bahnchef Grube war mehrfach im Verkehrsausschuss zu Gast. Wir haben im Verkehrsausschuss extra ein Expertengespräch zum Thema Bahnsicherheit durchgeführt. Ich denke, allein das zeigt, dass sich alle Fraktionen sehr intensiv darum gekümmert haben. Nachdem alle Oppositionsfraktionen einen Antrag vorgelegt hatten, haben schließlich auch Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Koalition, sich bereit gefunden, einen Antrag vorzulegen. Respekt! In Kenntnis der öffentlichen Debatte, der Anträge der Oppositionsfraktionen und der Forderungen in der Öffentlichkeit meldeten Sie sich Ende März zeitlich als letzte mit Ihrem Antrag zu Wort. Ich habe den Worten des Staatssekretärs entnommen, dass sein Haus möglicherweise Formulierungshilfen gegeben hat; allerdings halte ich das für sehr bedenklich. Wir hatten die Hoffnung, dass der zeitliche Verzug nicht nur mit dem Prozess der Abstimmung in der Koalition zu tun hat, sondern auch mit der Qualität des Antrags. Doch weit gefehlt - ich will es vorsichtig formulieren -: Der Antrag der Koalitionsfraktionen ist leider der mit Abstand nicht beste. Man könnte es auch anders sagen. Weshalb wende ich mich besonders Ihrem Antrag zu? Der gestrige Mehrheitsbeschluss im Ausschuss, der mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen zustande gekommen ist, hat offenbart, dass Ihr Antrag wohl auch heute eine Mehrheit finden wird. Sie wollen ein Konzept zur Weiterentwicklung der Gewährleistung der Sicherheit der Eisenbahn in Deutschland. So weit, so gut. Das wollen wir hier alle. Doch was ist Ihre Top-eins-Forderung zur Lösung der Probleme? Die Forderung nach einer Stärkung der Verantwortung und der Rechte des Betriebsleiters von Eisenbahnverkehrsunternehmen. Alle Achtung! Jetzt ist also die schwache Position des Betriebsleiters in den Eisenbahnverkehrsunternehmen möglicherweise an der Sicherheitsproblematik im gesamten Schienenverkehr schuld. Dazu gibt es in der Fachöffentlichkeit nur ungläubiges Kopfschütteln. Die Betriebsleiter sind Angestellte der Eisenbahnverkehrsunternehmen. Sie haben auch die Wettbewerbsfähigkeit und die wirtschaftlichen Interessen ihrer Unternehmen im Auge zu behalten. Bei den Betriebsleitern anzusetzen, hieße, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Ich vermisse Antworten und Positionen der Koalitionsfraktionen: Was sagen Sie zur Einhaltung der Wartungsintervalle und der Sicherheitsbestimmungen der Hersteller durch die jeweiligen Nutzer? Was sagen Sie zur Stärkung des Eisenbahn-Bundesamtes? Was sagen Sie zu einer raschen Auswertung der Unfallprüfberichte durch das EBA? Was sagen Sie zu einer ausführlichen Unfallstatistik zur Art der Unfälle und deren Folgen? Was sagen Sie zu einer Verpflichtung zur Schadensmeldung an den Hersteller? Was sagen Sie zur Notwendigkeit eines Datentransfers zwischen Hersteller und Nutzer während der Betriebsphase, zum Beispiel bei Wartungsarbeiten? Was sagen Sie zu längeren Garantiezeiten ohne Ausschlussklauseln für Teilprodukte? Was sagen Sie zu alldem? - Nichts. Was wollen Sie politisch durchsetzen? (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nichts!) Beim Bundesverkehrsminister gewinnt man den Eindruck, es habe immer derjenige recht, der zuletzt bei ihm war: Laut Welt vom 8. Februar 2010 waren noch die Hersteller schuld an den ICE-Schäden: Sie hätten nicht die nötige Qualität geliefert und die DB AG habe nichts für die Probleme gekonnt. Laut Frankfurter Rundschau vom 12. März 2010 - ein Monat später - lag der Schwarze Peter auf einmal doch bei der DB AG, weil sie die falschen Fahrzeuge bestellt habe. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, es ist entscheidend, dass man in dieser Frage nicht nur Meinungen hinterherläuft, sondern sich selbst eine Meinung bildet. Der Minister erläuterte einem erstaunten Publikum, dass er beim Besuch der Bahnindustrie etwas dazugelernt habe, nämlich den Unterschied zwischen "dauerfest" und "zeitfest". Das wiederum, meine sehr geehrte Damen und Herren, bringt den Begriff "sattelfest" in die Debatte. Trotzdem gelang es nicht, die Bahnindustrie zu besänftigen. Es gebe keinen Grund für eine Änderung des Eisenbahngesetzes, sagten Sie der Financial Times Deutschland im April. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, diese Strategie des BMVBS ist schlicht falsch. Man kann es nicht jedem recht machen. Allen Beteiligten das Blaue vom Himmel zu versprechen, hilft nicht. Mal sind Sie auf der Seite der Bahnindustrie, dann wieder auf der Seite der DB AG. Es muss ein schlüssiges Konzept her. Ich glaube, das ist das Entscheidende. Ich bitte, einfach einmal unseren Antrag zu lesen. Fest steht doch eines: Seit 1994 ist der Personalbestand in den DB-Instandhaltungswerken halbiert worden. Das Durchschnittsalter der Beschäftigten dort beträgt 45 Jahre. Bei der Wartung im Personenverkehrsbereich besteht eine Auslastung von 100 Prozent. Zusätzlich müssen Zeitarbeitskräfte den jeweiligen Mehrbedarf an Arbeitskräften ausgleichen. Im Expertengespräch des Ausschusses benannte der Vertreter des Konzernbetriebsrates einen weiteren wichtigen Punkt: die Ausdünnung der Fahrzeugflotte bei der DB AG. Die Sicherheitsreserven im Fahrzeugbestand sind in den vergangenen Jahren reduziert worden. Ich glaube, darüber müssen wir gemeinsam reden. Bei Zug-ausfällen infolge von Wartungsarbeiten wie bei den ICE-Zügen fehlt ein ausreichender Ersatzbestand zur reibungslosen Fortführung des Schienenverkehrs. Das ist auch ein wesentliches Problem. Hinzu kommt: Qualitätsstandards werden im DB-Konzern - das haben wir gelernt - unterschiedlich gehandhabt. Während in einzelnen Sparten - Personenfernverkehr, Regionalverkehr - nach ISO-Standards zertifiziert und auf einem hohen Qualitätsniveau geprüft wird, besteht in anderen Sparten eine unzureichende Auditierung. Im Güterverkehr besteht nach wie vor ein geringes Qualifizierungsregime. Bei der S-Bahn hat es jahrelang überhaupt nicht stattgefunden. Meine Damen und Herren, für uns steht fest: Die Sicherheit im Schienenverkehr muss oberste Priorität haben und ist ein nicht verhandelbares Gut. Wir haben in unserem Antrag konkrete Vorschläge unterbreitet, und wir hoffen und erwarten, dass diese auch von den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung aufgenommen und bei ihrer zukünftigen Politik berücksichtigt werden. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Patrick Döring das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Patrick Döring (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat: Die Sicherheit im Schienenverkehr ist nicht verhandelbar, darüber besteht Konsens bei den Beratungen im Ausschuss und auch zwischen den Fraktionen; zumindest habe ich es so empfunden. Aber neben der vorgetragenen Einigkeit gibt es natürlich Unterschiede zwischen den Anträgen der Koalition und den Anträgen der Oppositionsfraktionen. Der entscheidende Unterschied ist, dass wir zwischen dem unterscheiden können, was Unternehmen, die Verkehrsdienstleistungen anbieten und dazu Schienenfahrzeuge verwenden, leisten müssen, was die Unternehmen, die diese Fahrzeuge bauen und warten, leisten müssen und was am Ende über die Aufsicht durch das Eisenbahn-Bundesamt und das Allgemeine Eisenbahngesetz in diesem Hause politisch und gesetzgeberisch gemacht werden muss. Ich habe der Rede von Uwe Beckmeyer aufmerksam zugehört; er sprach als eine Mischung aus Verkehrspolitiker und Vorstand eines Eisenbahnunternehmens. Wir haben hier aber nur die eine Rolle, nämlich die des Gesetzgebers, deshalb wird die Koalition das regeln, was sie regeln kann und muss. Wir werden aber keineswegs versuchen, die Dinge zu regeln, die andere zu regeln haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) In der heutigen Debatte geht es darum, dass niemand die Augen davor verschließt, dass in einigen Teilbereichen von Verkehrsunternehmen, auch bundeseigener Verkehrsunternehmen in der Bundesrepublik Deutschland, beispielsweise bei der S-Bahn Berlin, ganz offensichtlich Führungs- und Verantwortungsversagen vorgelegen hat, dass Menschen, die die Verantwortung hatten, die Wartung der S-Bahn in Berlin regelkonform und nach dem Pflichtenheft des Herstellers und des Eisenbahn-Bundesamtes zu organisieren, dieser Aufgabe nicht nachgekommen sind. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das haben die vergessen!) Dafür wurden sie zur Verantwortung gezogen. Natürlich haften die Mitarbeiter und die Leitung des Unternehmens. Zu glauben, dass der Deutsche Bundestag oder gar der Bundesverkehrsminister in der Lage sein könnte - egal, unter welcher Regierung, zumal der Vorfall bei der S-Bahn Berlin unter einer anderen Koalition stattgefunden hat; insofern müssten andere zur Verantwortung gezogen werden -, jede Entscheidung eines Unternehmens per Gesetz zu regeln, ist weltfremd. Wir wissen inzwischen, dass es bei der S-Bahn Berlin ein solches Führungs- und Verantwortungsversagen gegeben hat. Das Unternehmen trägt dafür die Verantwortung, es hat die Konsequenzen gezogen, was bis in die Führung des Unternehmens zu spüren war. Es gab dort keine gesetzgeberischen Probleme, sondern es ist ein rein operatives Handeln in den Unternehmen gewesen. Wir sollten in diesem Fall klar trennen, wer für was verantwortlich ist. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zum Kern der Sache. In Teilen des Hauses wird behauptet, Versagen bei den Sicherheitsstrukturen eines Eisenbahnunternehmens sei damit zu begründen, dass dieses Unternehmen privatwirtschaftlich geführt wird. Wenn das so ist, dann dürften Sie in kein Flugzeug einer in Deutschland operierenden Fluggesellschaft einsteigen - denn sie sind alle privatwirtschaftlich organisiert -, noch dürften sie sich an vielen anderen Lebensbereichen des öffentlichen Lebens beteiligen. Es gibt in der Sicherheitsphilosophie keinen Unterschied zwischen privaten und staatlichen Unternehmen. Wer das behauptet, handelt fahrlässig gegenüber denjenigen, die sich täglich mit Verkehrsmitteln privater Unternehmen fortbewegen. Es gibt keinen Unterschied. Ganz im Gegenteil: Die Sicherheit im Luftverkehr ist nicht den Bürokraten und Politikern zu verdanken, sondern dem außerordentlich hohen Engagement der Unternehmen, und das, obwohl sie gewinnorientiert arbeiten. Das ist nämlich kein Widerspruch. Es lohnt sich, Ihnen das in jeder Debatte erneut beizubringen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie versuchen es!) Kollege Uwe Beckmeyer hat gefragt, was die Koalition eigentlich will. Wir bleiben dabei: Wir wollen, dass diejenigen, die dicht dran sind, beispielsweise die Betriebsleiter, mehr Rechte bekommen, damit sie sich im Bereich der Sicherheitsanforderungen durchsetzen können. Wir wollen, dass das Eisenbahn-Bundesamt so stark und selbstbewusst ist, dass es noch schneller handeln kann. Deshalb hat es dort einen Stellenaufwuchs gegeben. Gleichzeitig wollen wir, dass im Allgemeinen Eisenbahngesetz das geregelt wird, was zu regeln ist. Im Gesetz ist nicht zu regeln, ob die Eisenbahnunternehmen die Hersteller in ihre Wartungsanlagen lassen. Das alles kann man aber privatrechtlich regeln. Wir sollten überprüfen, warum all das, was in allen anderen Verkehrsbereichen - im Automobilbereich, im Luftfahrtbereich und in der Seeschifffahrt - zwischen den Herstellern, den Wartungsbetrieben und den Betreibern der Verkehrsmittel privatwirtschaftlich organisiert wird, durch bürgerlich-rechtliche Verträge, ausgerechnet bei der Bahn nicht so stark ausgeprägt ist? Muss man das Allgemeine Eisenbahngesetz oder andere Regelungen ändern? Diese Fragen werden wir in den nächsten Wochen erörtern. Ich appelliere an die Verantwortung der Bahnindustrie und der Bahnunternehmen, dass sie ihre Regelungslücken schließen, was durch entsprechende Verträge gewährleistet werden kann. Der Staat muss das tun, was ihm auferlegt ist. Das gilt ebenso für die Unternehmen. Darauf legt diese Koalition großen Wert. Es gibt keinen Unterschied zwischen den Sicherheitswünschen der Opposition und der Koalition. Es gibt vielleicht einen etwas anderen Weg der Umsetzung. Aber ich bin mir sicher, dass wir am Ende die gewünschte Rechtssicherheit schaffen, dass wir starke Akteure haben und dass wir beweisen können, dass es nicht auf die Rechtsform des Verkehrsunternehmens ankommt, ob Sicherheit herrscht, sondern dass es zu den Grundpfeilern unserer Verkehrspolitik gehört, dass sich jeder, der sich in der Verkehrswirtschaft engagiert, nach den Sicherheitsvorschriften zu verhalten hat, unabhängig davon, ob es sich um ein privates oder ein öffentliches Unternehmen handelt. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Sabine Leidig für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Sabine Leidig (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch einmal betonen, dass mit der Pannenserie bei der Berliner S-Bahn, die Ende 2008 begonnen hat, vor unseren Augen ein beispielloser Niedergang eines funktionierenden öffentlichen Nahverkehrssystems stattgefunden hat. Dieser Niedergang hatte zwei zentrale Gründe: Erstens gab es eine Menge Probleme mit Rädern und Radachsen, die zu schwach und nicht ausreichend dimensioniert waren. Zweitens - das ist das Entscheidende gewesen - sind die Wartungskapazitäten, die der Bahn zur Verfügung stehen, systematisch heruntergefahren worden. Warum? Weil die S-Bahn Berlin jährlich Zigmillionen Euro Gewinn an die Muttergesellschaft Deutsche Bahn AG abzuführen hatte. (Patrick Döring [FDP]: Schlichter Quatsch!) Ich glaube, dass man an diesem Beispiel wie in einem Brennglas sehen kann, worin zentrale Probleme der Bahnsicherheit bestehen, (Patrick Döring [FDP]: Unverantwortlich!) auch im Fernverkehr, bei den ICE, und im Güterverkehr. Eines der größten und schwersten Unglücke der Eisenbahngeschichte, die Entgleisung des ICE bei Eschede 1998, hatte genau diesen Grund: Die Radachsen, die Räder waren den Belastungen nicht gewachsen. (Patrick Döring [FDP]: Da ist ein Radreifen gesprungen! Das ist etwas völlig anderes!) 24 Radsatzwellenbrüche und 31 Radreifen- und Radscheibenbrüche im In- und Ausland sind seit 2000 bekannt geworden. Die Konsequenz, die man aus diesen Feststellungen bereits 2004 in einer Studie gezogen hat, ist, dass das Material anders ausgelegt sein muss, dass man stärkere, dauerfeste Teile braucht. Im japanischen Fernverkehrssystem und auch beim TGV in Frankreich wird genau diese Schlussfolgerung gezogen. Dort wird ein stärkeres Material eingesetzt. Die Deutsche Bahn AG wählt diesen Weg nicht. (Patrick Döring [FDP]: Das stimmt nicht!) Die Deutsche Bahn AG hat sich entschieden, die Radachsen einer engmaschigen Kontrolle zu unterziehen, sie mit Ultraschallgeräten zu prüfen und auf feine Haarrisse und Kerben zu untersuchen. (Patrick Döring [FDP]: Und, wenn nötig, auszutauschen!) - Und, wenn nötig, auszutauschen. Völlig richtig. (Patrick Döring [FDP]: Das gehört ja wohl dazu!) Sie setzt aber nicht auf ein System, das garantiert, dass diese Räder und Radachsen bis zum Lebensende eines Zuges halten. (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Es gibt keine Garantie dafür!) Sie müssen einfach stärker sein. Aber damit sind sie natürlich auch teurer, und das ist genau der Grund, warum die Deutsche Bahn AG dieses stärkere Material nicht bestellt hat. Das hat übrigens auch Verkehrsminister Ramsauer genau so veröffentlicht. (Patrick Döring [FDP]: Es gibt keine stärkeren Radachsen, die zugelassen sind!) Er hat darüber hinaus festgestellt, dass die Börsenorientierung des Unternehmens dafür verantwortlich ist, dass an dieser Stelle gespart wird. (Patrick Döring [FDP]: Das hat er nicht festgestellt! Das ist falsch! Unverantwortlich!) Nun stellen wir fest, dass offensichtlich auch die Werkstattkapazitäten nicht nur bei der S-Bahn, sondern insgesamt so stark heruntergefahren wurden, dass sie nicht mehr ausreichen, um das Herausfliegen einer ICE-Tür zu verhindern. Wann hat es das in der Zuggeschichte jemals gegeben? Das muss man sich einmal vorstellen: Eine Schraubenmutter löst sich. Die löst sich doch nicht einfach so, sondern sie löst sich, weil der Wagen nicht richtig gewartet worden ist. (Patrick Döring [FDP]: Auch das ist Quatsch!) Da darf auf keinen Fall gespart werden. Aus unserer Sicht ist die zentrale Forderung, dass sich die Deutsche Bahn AG ganz klar auf einen sicheren Verkehr, auf einen ausreichend gewarteten Fahrzeugpark orientiert und nicht darauf, mehr Gewinn zu machen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Döring zulassen? Sabine Leidig (DIE LINKE): Ja. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Patrick Döring (FDP): Frau Kollegin Leidig, sind Sie bereit, zuzugestehen, dass bezüglich der Untersuchung des tragischen Unglücks mit der herausgerissenen ICE-Tür erstens die Ermittlungen des Eisenbahn-Bundesamtes andauern, zweitens in alle Richtungen ermittelt wird, auch in Richtung Fremdeinwirkung/Sabotage? Und sind Sie bereit, zuzugestehen, dass wir zu diesem Zeitpunkt keinerlei Erkenntnisse aus dem Eisenbahn-Bundesamt haben, wie es zu diesem tragischen Unglück gekommen ist, bevor Sie hier weiter verbreiten, es handele sich bei diesem Unfall um einen Wartungsfehler? (Zuruf von der LINKEN: Das war al-Qaida!) Sabine Leidig (DIE LINKE): Zumindest hat man gelesen, dass es eine lockere Schraubenmutter war. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Da ist die Frage, bei wem die Schraube locker ist!) Ich denke, so etwas muss in einer Werkstatt festgestellt und geklärt werden. (Patrick Döring [FDP]: Unglaublich! Quatsch!) Ich möchte dazu, dass Sie in Ihrem Antrag fordern, die Verantwortung und Rechte der Betriebsleiter zu stärken, feststellen, dass wir der Meinung sind, dass die Verantwortung da nicht an der richtigen Stelle abgeladen wird. Ein Betriebsleiter, der permanent dem Renditedruck des Unternehmens ausgesetzt ist, wird in ständigem Widerstreit stehen zwischen den notwendigen umfangreichen Sicherheits- und Wartungsarbeiten und der Vorgabe, dass die Züge schnell wieder in Betrieb kommen. Das wird übrigens auch von denjenigen, die sich da fachlich auskennen, genauso geschildert. Es geht darum, der Deutschen Bahn AG eine andere Richtung zu geben. Genau darin besteht die Verantwortung der Politik. Wir wollen nicht das operative Geschäft betreiben, sondern wir wollen eine Bürgerbahn und keine Börsenbahn. Wir wollen, dass die Sicherheit im Mittelpunkt steht und nicht die Gewinne. Wir wollen nicht Arriva in Großbritannien aufkaufen, sondern wir wollen sicher reisen und das Gefühl haben, dass wir auch in Zukunft gern in die Bahn steigen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, Sie müssten dringend zum Ende kommen. Sabine Leidig (DIE LINKE): Ich komme zum Ende. - Ein erster Schritt, um diesen Kurs der Bahn zu ändern, wäre, den Aufsichtsrat anders zu besetzen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, Sie müssten schon zum Ende gekommen sein. Sabine Leidig (DIE LINKE): Warum kann man nicht vonseiten der Bundesregierung, die das alleinige Berufungsrecht hat, eine Bahnsicherheitsfachkraft in den Aufsichtsrat berufen? Das ist unser Vorschlag. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin. Sabine Leidig (DIE LINKE): Die Lieferanten von Rädern und Radachsen sollten nicht in diesem Aufsichtsrat sitzen. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Anton Hofreiter hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in diesem Winter und schon davor eine ganze Reihe von verblüffenden Ereignissen bei der Bahn erleben dürfen: Achsen sind gebrochen, Radscheiben sind gebrochen, und Güterzüge sind entgleist. Wenn man nach den Ursachen für all diese Ereignisse geschaut hat, musste man feststellen: Bei der S-Bahn gab es massive Schlamperei und einen Abbau der Wartungskapazitäten, beim ICE weiß man eigentlich immer noch nicht ganz genau, warum die Achse gebrochen ist. Wir hatten einen wunderschönen parlamentarischen Abend mit vielen Experten, die alle nicht wirklich darlegen konnten, warum der sogenannte dauerfeste Stahl doch nicht dauerfest ist und ob das einfach falsch konstruiert worden ist. Wir erlebten einen wunderbaren Streit zwischen der DB AG und der Bahnindustrie, wer denn jetzt eigentlich schuld sei. Dies ist für Nichtfachleute kaum nachvollziehbar. Wir haben, wie gesagt, erlebt, dass Züge entgleist sind. Ich denke zum Beispiel an das Güterzugunglück bei Fürth. Als man genauer hingeschaut hat, hat man festgestellt, dass die Schrauben, die die Gleise befestigen sollten, lose waren, weil sie offensichtlich seit vielen Jahren nicht mehr genauer überprüft worden sind. Das heißt, wir können zwei Dinge beobachten: Auf der einen Seite ist die Wartung zurückgefahren worden, auf der anderen Seite ist der Unterhalt der Infrastruktur zurückgefahren worden. Jetzt können wir uns lange und ausführlich über gesetzliche Regelungen streiten. Sicher gibt es im Detail gesetzgeberischen Nachholbedarf, aber es ist auch schon dargelegt worden, dass selbstverständlich nicht hinter jedem einzelnen Mitarbeiter der Gesetzgeber stehen kann. Es handelt sich hier jedoch nicht um ein x-beliebiges Unternehmen. In welchem Unternehmen treten denn all diese Probleme auf? In einem Unternehmen, das sich zu 100 Prozent in öffentlichem Eigentum befindet, (Patrick Döring [FDP]: Und trotzdem die Sicherheitsprobleme!) in einem Unternehmen, das im Schnitt über Regionalisierungsmittel, über Zuschüsse zur Infrastruktur rund 10 Milliarden Euro Steuergelder bekommt. Jetzt ist hier schon zu Recht gesagt worden, dass die Gewährleistung von Sicherheit nicht unbedingt davon abhängt, ob es sich um ein öffentliches oder privates Unternehmen handelt. Als gutes Beispiel dafür sind die Fluggesellschaften genannt worden. Aber bei der Bahn gab es eine ganz spezielle Fehlentwicklung. Was ist in diesem Unternehmen passiert? In diesem Unternehmen wurde und wird noch immer ein Kurs verfolgt, der mehr oder weniger auf einen Börsengang hinausläuft. Im Zuge des Anstrebens eines Börsengangs hat man beim extrem langlebigen System Eisenbahn etwas ganz Einfaches gemacht, um die Gewinnerwartungen zu erhöhen: Man hat schlichtweg weniger in die Infrastruktur und in die Wartung investiert. Was ist der Effekt? Man spart natürlich kurzfristig Geld, und das Ganze schaut finanziell besser aus. Warum hat man das derart rücksichtslos gemacht, auch ohne auf den langfristigen Wert des Unternehmens zu achten? Weil es ein bestimmtes Datum gab, auf das man hingearbeitet hat. (Patrick Döring [FDP]: Das gibt es ja nicht mehr!) Man hat darauf hingearbeitet, das Unternehmen spätestens 2008 an die Börse zu bringen. Das ist auch der Unterschied zu einem privaten, zu einem schon privatisierten Unternehmen. Diesem Ziel hat man alles andere untergeordnet. (Patrick Döring [FDP]: Das ist ja vorbei!) Man hat zum Beispiel der S-Bahn Berlin die Vorgabe gemacht, einen bestimmten Gewinn abzuliefern: zuerst 50 Millionen Euro, dann 80 Millionen Euro und im nächsten Jahr 130 Millionen Euro. Das waren harte Vorgaben. Wenn von unten Einspruch geäußert und gesagt wurde, dass diese Gewinnvorgaben nicht realisierbar sind, dann hieß es: Ihr setzt diese Gewinnvorgaben um, komme, was da wolle. - Das ist auch an den Aussagen verschiedener Mitarbeiter deutlich geworden. Das heißt, die Börsenorientierung hatte mit den Problemen bei der Sicherheit durchaus zu tun. Letztendlich hat der Eigentümer versagt, weil er nicht klargemacht hat, was er erwartet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Was passiert im Moment? Wir sehen, dass die Entwicklung weiterhin in diese Richtung geht. 2,7 Milliar-den Euro werden für den Kauf von Arriva ausgegeben. Dieses öffentliche Unternehmen ist an 130 Standorten in den Bereichen Luftfrachtlogistik, Straßenlogistik und Seefrachtlogistik tätig. Dorthin verschwindet das Geld. Dieses Geld sollte bei der Schiene reinvestiert werden. Dann gäbe es auch nicht mehr in diesem Umfang Sicherheitsprobleme. Als Regierung, als Vertreter des Eigentümers ist es Ihre Aufgabe, dies umzusetzen. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Ulrich Lange. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ulrich Lange (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Leidig, Kollege Hofreiter, ich habe Angst. Ich habe ganz große Angst, wenn ich morgen in einen Zug steige, um in meinen Wahlkreis zu fahren. Wenn ich mir die Probleme vor Augen halte, die Sie gerade aufgezählt haben, bleibe ich besser in Berlin oder suche mir ein anderes Verkehrsmittel. Ich glaube, es ist gut, dass wir uns über das wichtige Thema Bahnsicherheit unterhalten. Aber die Debatte zeigt auch, wie differenziert und unterschiedlich unsere Ansätze in vielen Punkten sind. Die Bahn ist und bleibt trotz alledem, was gerade beschrieben wurde, das sicherste Verkehrsmittel; das bitte ich festzuhalten. Wer gehört hat, was Sie gesagt haben, müsste sonst nämlich glauben, dass man in Deutschland in keinen Zug mehr steigen kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Das stand hier doch nicht zur Debatte! - Weiterer Zuruf vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Das hat doch niemand bestritten!) - Ja, Herr Kollege Hofreiter, ich habe wirklich Angst. Über eines müssen wir uns im Klaren sein: Absolute Sicherheit wird es in einem Unternehmen mit über 200 000 Beschäftigten und bei über 5 Millionen Passagieren pro Tag - ich brauche die ganze Liste wohl nicht aufzuzählen - nicht geben. Dass wir uns alle um die größtmögliche Sicherheit im Eisenbahnverkehr bemühen, dürfte unstreitig sein. Ich glaube, auf die vielen Probleme, die es in den vergangenen Jahren gegeben hat, ob bei der S-Bahn Berlin oder mit ICE-Radsatzwellen, brauche ich nicht einzugehen. Aber eines funktioniert natürlich nicht - das haben wir auch in der Anhörung im Ausschuss deutlich gemacht -: das Schwarzer-Peter-Spiel zwischen DB AG und Bahnindustrie. Das können wir nicht hinnehmen. (Florian Pronold [SPD]: Den Ramsauer will keiner haben!) Im Übrigen ist es so, dass die Übertragung dieser Angelegenheit auf das EBA und die Einrichtung einer Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes der richtige Ansatz war. Das EBA hat einen guten Job gemacht. Die neue Koalition setzt auf eine komplette Neuorientierung, nicht auf Panikmache. Kollege Beckmeyer, wenn ich Ihnen richtig zugehört habe, haben Sie in Ihrer Rede neben der üblichen Presseschau die Ausdünnung der Flotte, der Werkstätten usw. angesprochen. Mit dieser Bilanz des Gespanns Mehdorn/Tiefensee haben Sie 4 000 Tage SPD-Verkehrspolitik aufgezählt. Überlegen Sie also vorher, was Sie uns erzählen wollen! Ansonsten wird das Ganze zum Bumerang. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Mit Peter Ramsauer, lieber Kollege Pronold, haben wir einen ausgezeichneten neuen Verkehrsminister. Das hat er nicht nur bei der Aschewolke bewiesen, das zeigt er auch, wenn er die Fehlleistungen des Ministeriums Tiefensee, insbesondere in der Bahnpolitik, korrigieren muss. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Florian Pronold [SPD]: Das glauben Sie doch selber nicht einmal!) - Natürlich. Sie haben den Antrag der Koalitionsfraktionen sicherlich gelesen. Er ist in vielen Punkten konkreter als der Antrag der SPD. Sie wollen eine dynamische Sicherheitsüberprüfung usw. Dazu steht aber nicht viel in Ihrem Antrag. Frau Kollegin Leidig, Sie haben von der guten alten Bahn geschwärmt. Natürlich; denn Sie wollen die Bahn nicht in private Hände geben, meinen, der Staat könne das Unternehmen besser führen. Sie haben auch von der alten DDR-Reichsbahn geschwärmt. Ich glaube nicht, dass ein Modell für die Zukunft ist, dass wir wieder in solchen Zügen sitzen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Für uns steht der Neuanfang mit Dr. Grube und Dr. Peter Ramsauer fest. Bahnpolitik wird im Verkehrsministerium gemacht und nicht wie bei Mehdorn am Potsdamer Platz. Das ist für uns als Politiker das Entscheidende. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Der Kunde muss im Mittelpunkt stehen. Pünktlichkeit, Sicherheit, Schnelligkeit und Zuverlässigkeit, das ist das, was die Fahrgäste von der Deutschen Bahn und von den anderen Bahnunternehmen erwarten. Ich bin mir sicher, dass wir hier auf einem guten Weg sind. Lassen Sie mich zum Schluss festhalten: Die Bahn setzt ihre Ankündigungen um, ob es um den Vorstandsposten für die Technik geht oder um die 6 Milliarden Euro für die Nachfolger der IC- und ICE-Züge und vieles mehr. Der Dienstleistungsanspruch steht im Mittelpunkt. Die Sicherheit ist das höchste Gut. Wir alle sind der Sicherheit verpflichtet, wissen aber: Absolute Sicherheit im Verkehr kann und wird es nie geben. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Drucksache 17/1459. Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/1162 mit dem Titel "Gewährleistung der Sicherheit der Eisenbahnen in Deutschland". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dagegen gestimmt haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Enthalten hat sich die Fraktion Die Linke. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/655 mit dem Titel "Gewährleistung der Sicherheit im Schienenverkehr muss Priorität haben". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Zugestimmt haben CDU/ CSU und FDP. Dagegen gestimmt hat die Fraktion der SPD. Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1016 mit dem Titel "Den Schienenverkehr als sichere Verkehrsform erhalten und stärken". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls angenommen bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP und SPD. Die Fraktion Die Linke hat dagegen gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta-be d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/544 mit dem Titel "Eisenbahnsicherheit verbessern". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen, dagegen haben Bündnis 90/ Die Grünen gestimmt, und enthalten haben sich SPD und Linke. Damit rufe ich den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Gerster, Nicolette Kressl, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit erhalten - Drucksachen 17/244, 17/1458 - Berichterstattung: Abgeordnete Olav Gutting Martin Gerster Dr. Daniel Volk Über die Beschlussempfehlung stimmen wir im Anschluss namentlich ab. Es ist zwischen den Fraktionen verabredet, dazu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Daniel Volk [FDP]) Olav Gutting (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die SPD stellt hier heute einen Antrag, dass die Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonn-, Feiertags- und Schichtarbeit für alle Zeiten unangetastet bleiben soll. Man wundert sich geradezu, dass Sie nicht beantragen, dass wir das ins Grundgesetz hineinschreiben. (Martin Gerster [SPD]: Gute Idee!) Es ist ein reines Wahlkampfmanöver der SPD. Sie versuchen hier wider besseres Wissen, die Union als Partei hinzustellen, die die Abschaffung der Steuerfreiheit der Zuschläge will. Nur: Die Union plant gar keine Abschaffung der Steuerfreiheit dieser Zuschläge. (Florian Pronold [SPD]: Dann können Sie ja zustimmen! - Weiterer Zuruf von der SPD: Sind Sie sich sicher?) Das würde im Übrigen auch unserem Ansatz widersprechen, der besagt: Wir wollen für die Menschen in Deutschland mehr Netto vom Brutto. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Diese Debatte heute hat schlicht und ergreifend zwei Ursachen. Die eine ist: Wir stehen kurz vor den Wahlen in Nordrhein-Westfalen. Die andere ist: Es liegt ein Gutachten vor, in dem die Ergebnisse der Beurteilung der Steuerfreiheit der Zuschläge schwarz auf weiß niedergelegt wurden. Es war Ihr Finanzminister Peer Steinbrück, der im Juli 2007 ebenjenes Gutachten in Auftrag gegeben hat. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Daran war der Poß beteiligt!) Das Ergebnis dieses Gutachtens hinsichtlich der Steuerbefreiung von Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlägen können Sie jetzt nachlesen. In diesem Gutachten, das von Ihrem Finanzminister in Auftrag gegeben wurde, steht: Durch die Steuerfreiheit wird das Gerechtigkeitsprinzip verletzt. Verteilungspolitisch werden Besserverdienende mit dieser Steuerbefreiung sogar stärker begünstigt. - Dort steht auch schwarz auf weiß: Die durch die Steuerbefreiung der Zuschläge induzierte Anreizwirkung widerspricht dem Ziel des Schutzes der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land. - So lautet das eindeutige Ergebnis dieser Studie, die von Ihrem Finanzminister in Auftrag gegeben wurde. Ich will nochmals klarstellen, damit das auch jeder hier kapiert: Die Union und auch die christlich-liberale Koalition insgesamt planen trotz dieses Ergebnisses keine Streichung dieser Steuerfreiheit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ihrem Antrag, der hinsichtlich des Gestaltungswillens in der Steuerpolitik ja eine Bankrotterklärung ist, werden wir trotzdem nicht zustimmen. (Florian Pronold [SPD]: Ach nee! - Weitere Zurufe von der SPD: Ah!) Der Wegfall von Ausnahmeregelungen ist grundsätzlich nur vertretbar, wenn er mit einer Steuerreform kombiniert wird, und in diesem besonderen Fall müssen zusätzlich Tarifvereinbarungen hinzukommen, durch die die Schlechterstellung zum Beispiel gerade der Krankenschwestern vermieden wird. (Florian Pronold [SPD]: Das ist das Hintertürchen, das aufgemacht wird!) Wir wollen ein Einkommensteuerrecht, das Leistung belohnt, statt sie zu bestrafen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ihr Antrag, den wir heute beraten, will aber eine Ausnahmevorschrift zementieren und damit eine die Arbeitnehmer begünstigende Rechtsfortbildung grundsätzlich verhindern. Wer wirklich arbeitnehmerfreundliche Politik machen und die breite Mitte der Gesellschaft entlasten will, die in diesem Land seit Jahren die Lasten tragen muss, der muss wie wir das Ziel haben, ein leistungsgerechtes, einfacheres und transparenteres Einkommensteuerrecht zu gestalten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das bedeutet nicht zwangsläufig die Abschaffung der Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit. Es ist auch in keiner Weise Bestandteil unseres Regierungsprogramms. Das bitte ich Sie zur Kenntnis zu nehmen. Ich finde Ihren Antrag nicht nur unnötig, sondern auch regelrecht anmaßend. Nicht nur, dass Sie wie immer in typischer SPD-Manier den Menschen in diesem Land vorschreiben wollen, was sie zu tun und zu lassen haben, (Joachim Poß [SPD]: Reden Sie doch nicht so einen Stuss! - Gegenruf von der FDP: Das stimmt doch!) nein, jetzt versuchen Sie auch noch, zukünftigen Politikergenerationen Vorschriften zu machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Was ist denn, meine Damen und Herren von der SPD, wenn in fünf, zehn oder vielleicht fünfzehn Jahren eine andere Politikergeneration der SPD eventuell auf die Idee kommt, dass das Ergebnis der von Ihrem Finanzminister in Auftrag gegebenen Studie vielleicht doch Bestandteil einer großen Steuerstrukturreform werden soll? Was ist, wenn eine SPD-Politikergeneration genauso wie das Gutachten eines Tages feststellt, dass die Abschaffung der Steuerfreiheit der Zuschläge eine verbesserte Steuertransparenz und eine gleichmäßigere Einkommensteuerverteilung mit sich bringen würde? Was ist, wenn eine zukünftige SPD-Politikergeneration wirklich eine arbeitnehmerfreundliche Politik machen will? (Lachen bei Abgeordneten der SPD - Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das setzt voraus, dass die dann an der Regierung sind!) Die meisten von Ihnen werden dann wahrscheinlich nicht mehr in diesem Parlament sein. Aber Ihren Nachfolgern wird man vorwerfen müssen, dass sie umgefallen sind. Ich weiß, dass Sie das nicht stört. Aber für uns in der Union hat das mit seriöser Politik nichts zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb werden wir Ihrem populistischen und kurzsichtigen Antrag heute nicht zustimmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Florian Pronold [SPD]: Helau! Die beste Büttenrede, die hier je gehalten wurde!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Martin Gerster spricht für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Martin Gerster (SPD): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Um eines klarzustellen: Die SPD steht zur Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit. Das war, ist und bleibt auch so, um das ganz klar zu sagen. (Beifall bei der SPD) Das galt auch für die Zeit, als Hans Eichel Bundesfinanzminister war, und es galt für die Zeit, als Peer Steinbrück Bundesfinanzminister war. Denn als die Wissenschaftler dieses Gutachten vorgelegt haben, hat Peer Steinbrück über den Sprecher des Ministeriums gleich klipp und klar erklären lassen, dass er der Letzte wäre, der an dieser Regelung etwas ändern würde. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Der war ja auch der letzte!) Auch das müssen Sie erwähnen, wenn Sie darauf verweisen, wer die Studie in Auftrag gegeben hat. (Beifall bei der SPD) Das gehört zur Redlichkeit dazu, wenn man hier eine Rede hält. Was uns umtreibt und alarmiert, sind die Aussagen, die von der FDP zu hören sind. Noch im Dezember hat der haushaltspolitische Sprecher und Parlamentarische Geschäftsführer der FDP, Fricke, gesagt: An dieses Thema müssen wir ran. (Joachim Poß [SPD]: Wo ist er denn jetzt?) Erst vor ein paar Tagen hat Herr Pinkwart in Nordrhein-Westfalen gesagt, dass diese Regelung auf den Prüfstand muss. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das können wir nicht zulassen. Deswegen wollen wir heute Klarheit von Ihnen, wo Sie bei diesem Thema stehen. Deswegen haben wir auch eine namentliche Abstimmung beantragt. (Beifall bei der SPD) Zur FDP muss man an dieser Stelle ganz klar sagen: Sie kommen langsam Stück für Stück herunter, in den Umfragewerten, aber auch in dem Größenwahn, was Steuersenkungen anbelangt. Am Wochenende war ich unterwegs und habe festgestellt, dass Sie langsam verhöhnt und verspottet werden. Am Nachbartisch in der Gaststätte wurde gesagt: Kennst du eigentlich das dreistufige Steuermodell, das die FDP angestrebt hat? - Na klar: 35 Milliarden Euro Steuersenkungen wurden vor der Bundestagswahl versprochen. Im Koalitionsvertrag waren es noch 24 Milliarden Euro. Jetzt sind es noch 16 Milliarden Euro. (Dr. Daniel Volk [FDP]: Davon sind 5 Milliarden Euro schon umgesetzt!) Das ist das dreistufige Steuermodell der FDP. (Beifall bei der SPD) Weil Ihnen langsam dämmert, dass dies alles nicht zusammenpasst, sagen Sie jetzt, wir bräuchten ein fünfstufiges Modell. Na klar, die nächste Stufe wird nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zünden, und die fünfte Stufe wird dann kommen, wenn Sie sagen, Sie hätten leider kein Geld für Steuersenkungen. So sieht Ihre Steuerpolitik aus. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) So langsam dämmert Ihnen auch, dass Sie nicht immer noch mehr Schulden machen können. Der Kollege Wissing hat gestern im Finanzausschuss gesagt: Die Schuldenbremse ist ja viel härter, als wir ursprünglich gedacht haben. (Dr. Daniel Volk [FDP]: Nein, als ursprünglich gesagt wurde!) Sie merken langsam, dass das alles nicht zusammenpasst. Deshalb kommen Sie jetzt auf die Idee, das Thema Subventionen wieder aus der Schublade zu ziehen. Dieses Thema ist schon richtig. Mir fällt auch ein Subventionstatbestand ein, bei dessen Abschaffung wir sofort mitmachen würden, nämlich der Subventionstatbestand, den Sie hier im Dezember eingeführt haben: die Steuervergünstigung für Hoteliers. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ihre Steuerpolitik und Ihre Vorschläge, die Sie jetzt vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen präsentieren, zielen doch auf eines ab: Dem Hotelier wird gegeben, dem Nachtportier wird genommen. So sieht es doch de facto aus. (Beifall bei der SPD) Das ist die Rechnung, die Sie aufmachen, wenn Sie sagen, die Steuervergünstigungen für diejenigen, die nachts, am Sonntag und am Feiertag arbeiten, gehörten auf den Prüfstand. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wie sind die denn für den Chefarzt und die Krankenschwester?) Jetzt müssen wir noch einmal über diejenigen reden, um die es eigentlich geht. Es geht um 20 Millionen Erwerbstätige. Fast jeder Zweite hat heutzutage in Deutschland nachts, am Sonntag oder am Feiertag zu arbeiten. Oft sind es Leute, die einen harten Job machen, die dafür sorgen, dass die Maschinen, die Bänder nicht stillstehen, die in der Pflege oder im Gesundheitswesen tätig sind, Menschen, auf die wir letztendlich nicht verzichten können. Wir sind der Meinung, dass diese außergewöhnlichen Belastungen, die die Menschen eingehen, auch honoriert gehören. Das muss man auch ganz klar sagen. Deswegen finde ich es schade, dass Sie davon reden, dies alles gehöre auf den Prüfstand. Sind Sie es nicht, die immer "mehr Netto vom Brutto" sagen? (Dr. Daniel Volk [FDP]: Das bin ich!) Das passt doch überhaupt nicht zusammen. Ich will einmal erwähnen, was dies de facto ausmacht. Wir haben es einmal ausrechnen lassen. Ein Chemikant mit zwei Kindern verliert etwa 4 800 Euro im Jahr, wenn diese Zuschläge besteuert werden. Ein Schichtarbeiter bei Infraserv - das haben wir von der Gewerkschaft erfahren - verliert bis zu 4 300 Euro im Jahr. Das darf doch wohl nicht wahr sein; das ist doch nicht mehr Netto vom Brutto, sondern das Gegenteil. Sie schaden nicht nur den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, sondern auch den Unternehmen; denn es heißt ja immer wieder, wenn diese Steuerfreiheit falle, müsse dies von den Tarifpartnern ausgeglichen werden. Das will ich einmal sehen, wenn Einbußen von 20 Prozent und mehr von den Tarifpartnern ausgeglichen werden sollen. Das geht überhaupt nicht. Die Gewerkschaften sind nicht so stark, und die Unternehmen können es gar nicht finanzieren. Was heißt in diesem Zusammenhang eigentlich Arbeitgeber? Es sind ja vielfach Arbeitgeber, die sich als öffentliche Hand zusammenfassen lassen: die Städte und Gemeinden, die Kreise, die Sie mit Ihrer Gesetzgebung in den Ruin treiben. (Beifall bei der SPD) Wenn Sie das jetzt auf den Prüfstand stellen wollen, ist das in meinen Augen nichts anderes als ein Anschlag auf die soziale Balance unserer Arbeitsgesellschaft. Deswegen verlangen wir an dieser Stelle ein klares Bekenntnis, dass Sie an der Schraube "Steuerfreiheit für Zuschläge" nicht drehen wollen. Nicht mehr und nicht weniger verlangen wir von Ihnen. Wir wollen hier wissen, wo Sie stehen, und deswegen wird es nachher eine namentliche Abstimmung geben. (Beifall bei der SPD) Wenn Sie sagen, Sie bräuchten mehr Einnahmen, um Ihre geplanten Steuersenkungen durchführen zu können, dann habe ich noch eine gute Idee, wie Sie zu mehr Einnahmen kommen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Dann mal los!) Schauen Sie einmal nach Baden-Württemberg. Wenn die dortige Landesregierung gesagt hätte: "Jawohl, wir erwerben diese Steuer-CD", dann hätten wir entsprechend mehr Einnahmen generieren können, und zwar durch diejenigen, die die Steuerehrlichkeit leider mit Füßen treten, weil sie ihre Gelder ins Ausland schieben, zum Beispiel in die Schweiz, nach Liechtenstein oder in andere Länder. Das wäre ein guter Ansatzpunkt gewesen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE] - Volker Kauder [CDU/ CSU]: Mannomann!) Ich möchte ganz deutlich sagen: Die SPD steht zur Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Nacht- und Feiertagsarbeit, weil die Menschen es verdient haben. Wir wollen wissen, wo Sie stehen. Deswegen sind wir auf das Ergebnis der namentlichen Abstimmung, die nachher stattfindet, gespannt. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Daniel Volk spricht für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Dr. Daniel Volk (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Gerster, dass die SPD sich wieder einmal zum Beschützer der Schichtarbeiter aufschwingt, (Zuruf von der SPD: Das tun wir gern!) die in der elfjährigen Regierungsverantwortung der SPD eher zu den Verlierern der Steuerpolitik gehörten, (Joachim Poß [SPD]: Was?) ist schon sehr verwunderlich. (Beifall bei der FDP - Lachen bei der SPD) Im Jahr 2005 sind Sie mit dem Versprechen zur Bundestagswahl angetreten, die Mehrwertsteuer nicht zu erhöhen. Das war ein ganz schön gigantischer Wahlbetrug. Sie haben es bei der Steuerfreiheit der Schichtzulagen belassen, weil Ihr Finanzminister Steinbrück durch die Mehrwertsteuererhöhung auf 19 Prozent viel besser abkassieren konnte, und zwar insbesondere bei den mittleren und unteren Einkommensschichten; denn die trifft das am stärksten. Schon dies belegt die fehlende Glaubwürdigkeit der Sozial- und Steuerpolitik der SPD. Eine Mehrwertsteuererhöhung ist die unsozialste Art der Steuerpolitik, um es klar zu sagen. (Beifall bei der FDP) Ich finde es schon sehr interessant, dass die Steuerfreiheit der Schichtzulagen durch ein Papier aus dem SPD-geführten Finanzministerium infrage gestellt wurde; denn es stellt sich die Frage, warum ein SPD-Minister das überhaupt begutachten lässt. Es war also ein SPD-Finanzminister, der diese Debatte angeheizt hat. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Und Stoiber 2002? Herr Stoiber hatte das 2002 in seinem Wahlprogramm!) Für uns Liberale - das möchte ich hier ganz klar sagen - steht eine Änderung bei der Steuerfreiheit der Schichtzulagen nicht auf der Tagesordnung. (Florian Pronold [SPD]: Bis wann? - Joachim Poß [SPD]: Das widerspricht Ihrer Linie!) Schauen Sie einmal in unser Wahlprogramm. Schauen Sie in unser Steuerkonzept. Nirgends ist von einer Abschaffung der Steuerfreiheit der Schichtzulagen die Rede. (Florian Pronold [SPD]: Dann stimmen Sie halt zu!) Im Gegensatz zu Ihnen von der SPD halten wir das, was wir vor der Wahl gesagt haben, auch ein. (Beifall bei der FDP - Lachen bei der SPD - Joachim Poß [SPD]: Der war gut!) Arbeit muss sich wieder lohnen in diesem Land. Mit diesem Versprechen sind wir im Wahlkampf 2009 angetreten. Daran werden wir uns messen lassen. Die ersten Schritte sind getan. Für die nächsten haben wir umfangreiche Vorschläge gemacht. Als Erstes ist unser Steuerreformkonzept zu nennen. Wir wollen, dass sich Arbeit für alle Menschen in diesem Land wieder lohnt. Deswegen wollen wir vor allem diejenigen entlasten, die in der Vergangenheit unter SPD-Verantwortung in besonderem Maße und über Gebühr belastet wurden. (Joachim Poß [SPD]: Das ist so was von lügnerisch! Die Fakten sehen anders aus!) Dazu zählen nach unserer Ansicht insbesondere die unteren und mittleren Einkommensschichten. Nach Jahren der Dauer- und Zusatzbelastung durch rote Regierungsbeteiligungen werden wir den Bürgern nun etwas von ihrem Geld zurückgeben. Wir Liberale wollen eben einen anderen Weg gehen. Wir wollen Deutschland zu einem Land des Aufstiegs machen. (Joachim Poß [SPD]: Sie wollen den Klientelweg!) Deshalb wollen wir einen fairen Steuer- und Sozialstaat. Wir wollen solide Staatsfinanzen im Interesse nachfolgender Generationen. (Beifall bei der FDP - Lachen bei Abgeordneten der SPD) Ein fairer Steuer- und Sozialstaat stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt und erhöht die empfundene Steuergerechtigkeit bei den Bürgerinnen und Bürgern. Die Bereitschaft der Bürger, Steuern zu zahlen, bildet die finanzielle Grundlage jedes staatlichen Handelns (Joachim Poß [SPD]: Sie wollen Steuerfreiheit für Millionäre!) und sollte nicht durch eine ungerechte Steuersystematik torpediert werden. Wenn einem Arbeitnehmer in Deutschland mit einem monatlichen Einkommen von ungefähr 3 000 Euro von einer Lohnerhöhung netto weniger als die Hälfte bleibt, dann stimmt etwas mit der Steuergerechtigkeit nicht. (Joachim Poß [SPD]: Über Steuern oder über Abgaben?) Genau dort werden wir ansetzen. Nachdem wir die Familien im Umfang von 4,6 Milliarden Euro entlastet haben, werden wir nun den Mittelstandsbauch abbauen. Durch eine Umgestaltung des Steuertarifs in einen Stufentarif kann die Ungerechtigkeit weitgehend beseitigt werden. (Joachim Poß [SPD]: Ungerechter Stufentarif! Der zerstört die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit!) Mit unserem Stufentarif werden genau die Berufsgruppen entlastet, von denen Sie behaupten, sie schützen zu wollen; in Wirklichkeit haben Sie sie aber immer mehr belastet. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Auch das stimmt nicht!) Bei unserem Stufentarif wird die halbtags tätige Krankenschwester mit 12 000 Euro Jahreseinkommen bei der Lohnsteuer um fast 21 Prozent entlastet. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das stimmt nicht! Die müssen mehr Steuern zahlen!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll zulassen? Dr. Daniel Volk (FDP): Nein. - Der verheiratete Polizist mit einem Jahreseinkommen von 30 000 Euro wird bei unserem Stufentarif um mehr als 11 Prozent entlastet. Er wird nur noch 209 Euro im Monat an Steuern zahlen. (Beifall bei der FDP - Joachim Poß [SPD]: Worüber reden Sie denn? Bei welcher Gegenfinanzierung?) Sie hingegen haben gerade diese Berufsgruppen in den letzten Jahren regelmäßig zur Kasse gebeten. (Miriam Gruß [FDP]: Genau so ist es!) Es ist schon verwunderlich, dass dieser Antrag ausgerechnet von der SPD kommt, hat doch vor allem Ihre Partei so viel an Glaubwürdigkeit verspielt, und das nicht erst seit Wochen, sondern seit Jahren. (Joachim Poß [SPD]: Dann gucken Sie sich mal Ihre Umfragen an, wie es mit Ihrer Glaubwürdigkeit steht! Lassen Sie sich doch als Liftboy im Hotel anstellen!) Sie haben vor Wahlen oft viel versprochen und hinterher wenig davon gehalten. Auch Sie wollten einmal den Mittelstandsbauch abschaffen. Auch Sie wollten einmal die Mehrwertsteuer nicht erhöhen. Auch Sie wollten einmal das Gesundheitssystem reformieren. Auch Sie wollten einmal gerechte Steuern. Aber nichts davon haben Sie umgesetzt, da Ihre Wahlversprechen eben nur eine sehr geringe Halbwertszeit haben. Das ist eine unehrliche und unglaubwürdige Politik. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Allein aus diesem Grund werden wir Ihrem Antrag die Zustimmung verweigern. (Florian Pronold [SPD]: Aha!) Es kann sowieso niemand erahnen, wann Sie Ihre Meinung wieder ändern. Die christlich-liberale Koalition hingegen handelt. Mit unserer Politik sorgen wir für Verbesserungen in Deutschland, und zwar für alle Menschen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Florian Pronold [SPD]: Schwach begonnen, stark nachgelassen!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Dr. Barbara Höll hat das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gutting hat hier eine völlig neue Weisheit verkündet: Das Steuersystem soll Leistung belohnen. - Ihr Steuersystem belohnt den Besitz hoher Vermögen und die Bezieher hoher und höchster Einkommen. Das ist die Realität; das ist Ihr Leistungsbegriff. (Beifall bei der LINKEN) Ich sage Ihnen - ich glaube, so steht es in jedem Ökonomielehrbuch -: Steuern dienen in erster Linie dazu, das Gemeinwesen zu finanzieren. Steuern sollen nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gezahlt werden. Genau deshalb ist die Steuerfreiheit von Sonntags-, Nacht- und Feiertagszuschlägen gerechtfertigt. (Beifall bei der LINKEN) Ob unsere gesundheitliche Versorgung sichergestellt ist, ob wir die Zeitung bekommen, weil Drucker nachts arbeiten, ob Busfahrer und Straßenbahnfahrer nachts tätig sind - das alles ist von großer Bedeutung für unser Gemeinwesen; dies gewährleistet sein Funktionieren. Angesichts des zusätzlichen Aufwands, den Menschen in Kauf nehmen, wenn sie zu ungewöhnlichen Arbeitszeiten tätig sind, ist es gerechtfertigt, dass ein Teil ihres Einkommens von der Steuer befreit wird. Deshalb unterstützen wir den Antrag der SPD. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich sage Ihnen hier noch einmal: Der Skandal in diesem Lande ist, dass viele Menschen von der Steuerbefreiung oft nichts haben, weil Arbeitsverträge vielfach nicht mehr tariflich gebunden sind, weil Verkäuferinnen oftmals abends arbeiten müssen. Manche kommen erst um 23 Uhr aus dem Geschäft, ohne für ihre Nachtarbeit Zuschläge zu bekommen. Wir fordern von Ihnen, sich diesem Problem endlich zu stellen und den Mindestlohn gesetzlich zu verankern. Eine solche Vereinbarung sucht man in Ihrem Koalitionsvertrag aber leider vergebens. Zum FDP-Steuerkonzept. Herr Volk, was steht wirklich in Ihrem Papier? Sie haben geschrieben, dass alle Ausnahmen von der Einkommensteuerpflicht zur Disposition gestellt werden sollen. Natürlich ist die Steuerfreiheit von Zuschlägen eine Ausnahme. Also stellen Sie sie zur Disposition. Sagen Sie doch bitte wenigstens hier die Wahrheit! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Dr. Daniel Volk [FDP]: Dann zitieren Sie aber auch richtig!) Einmal ganz nebenbei gesagt: Sie laufen immer durchs Land und sagen, die Sozialabgaben seien zu hoch. Wenn Sie die Steuerfreiheit der Zuschläge abschaffen, dann ist natürlich auch dieser Teil des Einkommens sozialversicherungspflichtig. Damit würden sich auch für die Unternehmen die Sozialenabgaben erhöhen. Irgendwie wissen Sie auch nicht, was Sie wollen. (Dr. Daniel Volk [FDP]: Aber wir wollen das doch gar nicht ändern, Frau Kollegin!) Ich muss Ihnen noch etwas sagen: Gerade für Krankenschwestern - das gilt auch für viele andere Berufe, in denen wenig gezahlt wird - ist die Steuerfreiheit für Nacht-, Feiertags- und Sonntagszuschläge wichtig für die Aufbesserung ihres Einkommens. Wir wissen, dass gerade deshalb viele in diesen Bereichen arbeiten - so sie einen Arbeitsplatz bekommen -, weil sie sich dann darüber freuen können, dadurch wenigstens ein kleines bisschen mehr zu verdienen. (Dr. Daniel Volk [FDP]: Deshalb wollen wir es doch auch gar nicht ändern!) Wir sagen Ihnen: Die derzeitige Regelung ist richtig, sie ist wichtig und gesellschaftlich gerechtfertigt. Wenn Sie Subventionen streichen wollen, dann fangen Sie bei Ihrem ermäßigten Mehrwertsteuersatz für die Hotelübernachtungen an, der in einer völlig sinnlosen Form verankert wurde. Noch ein Letztes, Herr Volk, da Sie meine Zwischenfrage vorhin nicht zugelassen haben. Sie haben hier wieder die Unwahrheit gesagt. Sie haben nur den von Ihnen vorgeschlagenen Stufentarif berücksichtigt. Nach Ihrem Gesamtkonzept - falls es jemals Wirklichkeit werden wird - müssten insbesondere die Bezieherinnen und Bezieher niedriger Einkommen - um bei Ihrem Beispiel der Krankenschwester mit einem Einkommen von 12 000 Euro zu bleiben, das Sie hier angeführt haben - durch die Streichung der steuerlichen Regelung des Arbeitnehmerpauschbetrages mehr Steuern zahlen als jetzt. Dabei habe ich noch nicht mal eingerechnet, dass Sie am liebsten auch noch die Zuschläge nicht mehr steuerfrei stellen wollen. Ich sage Ihnen hier klipp und klar: Sorgen Sie dafür, dass die Leistung aller, die in unserem Land arbeiten, auch ordentlich bezahlt wird, sodass sie dann auch Steuern zahlen können, und lassen Sie die Finger von der Steuerfreiheit der Nacht-, Sonn- und Feiertagszuschläge. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein interessanter Vorwurf vonseiten der FDP, dass das Wahlkampf sei, wenn man wissen möchte, was Sie vorhaben. Ist es denn nicht Wahlkampf, wenn wir auf jede Frage zu den Finanzierungsmöglichkeiten - wir hatten das ja gestern in der Aktuellen Stunde - ausweichende Antworten bekommen? Wir wissen, dass im Finanzministerium schon vorbereitet wird, was nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen alles kommen soll, aber man traut es sich natürlich nicht aufzuschreiben. (Dr. Daniel Volk [FDP]: Woher wissen Sie das?) Ist das kein Wahlkampf? - Ich glaube, sauber ist es, vor der Wahl zu sagen, was geplant ist, und nicht erst hinterher die Katze aus dem Sack zu lassen. Das ist es aber, was Sie vorhaben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Daniel Volk [FDP]: Das haben wir bei der Bundestagswahl auch so gemacht!) - Ja, ich erinnere mich sehr gut an die Podiumsdiskussio-nen im Bundestagswahlkampf, wo von der FDP auf jedem Podium gesagt wurde: Diese 35 Milliarden Euro kommen. Das können wir uns leisten. Wir haben gar kein Haushaltsloch. Das wird alles kommen. - Inzwischen sind Sie bei der Hälfte des Betrages angelangt. Warum sind Sie da? - Weil es schon damals falsch war, was Sie im Wahlkampf gesagt haben. Das passiert jetzt wieder. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Die lustige Erfahrung, die wir mit Ihnen machen, ist - deswegen haben wir genau bei diesem Thema ganz große Befürchtungen -: Sie ziehen die Themen Vereinfachung und Bürokratieabbau immer dann aus der Tasche, wenn es gerade in Ihr Konzept passt - und das ist das Konzept der Entsolidarisierung dieser Gesellschaft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir haben doch gehört, wie wichtig Ihnen die Vereinfachung und der Bürokratieabbau waren, als es darum ging, ob wir eine zusätzliche Ausnahme bei der Umsatzsteuer einführen. Was zählte da der Bürokratieabbau? - Gar nichts zählte er, weil es Ihre Klientel betraf. Wir haben ganz großes Misstrauen - nicht nur wir, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land - gegenüber einer Partei, die immer am falschen Ende die Systematik entdeckt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Denken wir einmal zurück! Wir wissen sehr gut, wie eine schwarz-gelbe Regierung mit großen Löchern umgeht. In der Frage "Wie finanzieren wir die Wiedervereinigung?" hat Schwarz-Gelb durch eine hohe Verschuldung die Zukunft und durch die Anhebung der Sozialversicherungsbeiträge die Masse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer belastet - mit hoher Arbeitslosigkeit als Folge. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich befürchte, Sie werden genau das wiederholen, und das lassen wir nicht zu. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN - Dr. Daniel Volk [FDP]: Bei Rot-Grün war es nicht besser, nur dass da keine Wiedervereinigung war!) Wir haben heute genau gehört, dass man sich im Endeffekt nicht festlegen will. Wo immer es um die Frage geht "Wie finanziert man das?", weichen Sie aus. Die Debatte gestern zur Finanzierung der FDP-Vorschläge war doch bezeichnend. Wo waren denn die Antworten? Sie haben verschiedene Vorschläge gemacht. Sie wollen mit der Kopfpauschale eine Entsolidarisierung im Gesundheitssystem. Die Solidarität soll ins Steuersystem. Da kommt sie aber nie an. Das machen wir nicht mit. Sie sagen nicht, was der Ersatz für die Gewerbesteuer sein soll. (Dr. Daniel Volk [FDP]: Doch! Das haben wir gesagt! - Weiterer Zuruf von der FDP: Zuhören!) Wenn man unter all Ihre Vorschläge einen Strich macht, stellt man fest: Da ist ein ganz großes Loch; es fehlen über 80 Milliarden Euro. Wir haben die große Befürchtung, dass in dieses Loch von 80 Milliarden Euro die Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit - 2 Milliarden Euro - gehen soll; das werden Sie brauchen, wenn Sie nachher den Strich darunter machen. Sie werden damit die Entsolidarisierung weiterführen. Es wird wieder so sein, wie wir es von Ihnen kennen: Entlastung oben, Belastung unten. Das werden wir nicht zulassen. Deswegen können wir dem Antrag der SPD heute nur zustimmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Peter Aumer spricht für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Peter Aumer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! "Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit erhalten" - ein Antrag, der durchaus seine Berechtigung hätte, wenn jemand aktuell daran denken würde, diese Steuerfreiheit abzuschaffen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es! - Florian Pronold [SPD]: Niemand will eine Mauer bauen!) Was Sie hier zum Thema machen, Herr Pronold, ist in der christlich-liberalen Koalition kein Thema. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Anträge wie dieser aus rein politischem Aktionismus heraus sind nicht zielführend. Im Gegenteil: Sie schaden in einer ausgewogenen Debatte über eine zukunftsgerichtete und nachhaltige Politik. Im Koalitionsvertrag der christlich-liberalen Koalition steht ein klares Bekenntnis zu einer soliden und zielgerichteten Haushalts- und Finanzpolitik, eine klare Ausrichtung also auf Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit. Grundgesetzlicher Handlungsrahmen hierfür ist die Schuldenbremse. Sie wird bis 2016 und darüber hinaus große Anstrengungen von uns allen verlangen. Diese Anstrengungen sind wichtig, um unserem Staat und den nachfolgenden Generationen neue Perspektiven und Spielräume zu geben. Vor diesem Hintergrund wirkt Ihr Antrag, meine Damen und Herren der SPD, wie eine reine Schauveranstaltung, wie Populismus pur. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Was wollen Sie mit Ihrem Antrag erreichen? Augenscheinlich wollen Sie die Bösen von CDU/CSU und FDP in die unsoziale Ecke stellen (Zuruf von der SPD: Genau!) - genau, ja - (Florian Pronold [SPD]: Da gehören sie auch hin!) und die SPD als die großen Retter - von was auch immer - herausstellen. Welch kurzfristig gedachte Oppositionspolitik! Ja, in die Opposition gehören Sie, meine Damen und Herren! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In Ihrer Antragsbegründung wird vor allem deutlich, dass Sie die bisherigen Maßnahmen der christlich-liberalen Koalition nicht verstehen und nicht verstehen wollen. Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das zum 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten ist, wurden Familien, Unternehmen und Erben entlastet. (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Hoteliers! - Joachim Poß [SPD]: Und Hotelkettenbesitzer!) Gerade das waren auch die Ziele dieses ersten Maßnahmenpakets der Bundesregierung. Diese Ziele in die Tat umzusetzen, ist auch aller Anstrengungen wert, Herr Schick, denn die Familien sind die Keimzellen unserer Gesellschaft; man muss immer das Ganze sehen, Herr Dr. Schick. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Unternehmen sind mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für den Erfolg unseres Landes und für das erfolgreiche Schultern dieser schwierigen wirtschaftlichen Situation gemeinsam verantwortlich. Es wird auch weiter steuerliche Entlastungen geben, insbesondere für die unteren und mittleren Einkommensbereiche sowie für Familien mit Kindern. Die Steuerschätzung im Mai wird zeigen, welche Potenziale möglich sind. Ebenso wird es eine spürbare Vereinfachung des Steuerrechts geben. Auch dafür wurden wir gewählt, und dafür steht die Koalition aus CDU/CSU und FDP. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gerade in Zeiten knapper Staatskassen ist es grundsätzlich richtig, über Subventionen zu diskutieren und diese zu überprüfen. Wie vorhin schon gehört, war es doch der Bundesfinanzminister der SPD, Herr Steinbrück, der in einer Untersuchung die größten Subventionstatbestände im Steuerrecht hinterfragen ließ. Die Ergebnisse, meine Damen und Herren von der Opposition, müssten Sie eigentlich kennen, zumal dann, wenn man Mitglied des Finanzausschusses ist. Das deutsche Steuerrecht muss sich für den Erhalt von Arbeitsplätzen im internationalen Standortwettbewerb um Investitionen behaupten, muss den sozialen Ausgleich sicherstellen und vor allem von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern als gerecht empfunden werden. (Joachim Poß [SPD]: Was macht die CSU?) Beispiele hierfür sind der Sparerfreibetrag, die Riester-Förderung und eben auch die Steuerbefreiung von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit. Diese wird von der Bevölkerung anerkannt und geschätzt. Das wird auch durch die Politik der christlich-liberalen Koalition gewürdigt werden. Gerade deshalb steht die Aufhebung der Steuerbefreiung von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit überhaupt nicht zur Diskussion. Eine Abschaffung ist mit uns nicht zu machen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir können Ihrem Antrag nicht zustimmen; denn unantastbar sollte in Deutschland nur eines sein: die verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel "Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit erhalten". Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1458, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/244 abzulehnen. Wir stimmen über die Beschlussempfehlung auf Verlangen der Fraktion der SPD namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgeben konnte? - Das scheint mir nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben.1 Wir setzen jetzt unsere Beratungen fort. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaffung des Finanzplanungsrates - Drucksache 17/983 - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) - Drucksache 17/1465 - Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Barthle Carsten Schneider (Erfurt) Otto Fricke Dr. Gesine Lötzsch Alexander Bonde Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Es soll eine halbe Stunde debattiert werden. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Unruhe) - Das ist ein wirklich interessantes Thema. Denjenigen, die die Debatte miterleben möchten, empfehle ich, dies im Sitzen zu tun. Denjenigen, die sich aktuell für andere Dinge interessieren, empfehle ich, den Saal zu verlassen. Das Wort hat die Kollegin Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Antje Tillmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin, herzlichen Dank für die Mühe, für eine interessierte Zuhörerschaft zu sorgen. Dass Sie das Gesetz zur Übertragung von Aufgaben auf den Stabilitätsrat interessant finden, freut mich. (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum sind die ersten zwei Reihen der Regierungsbank komplett leer?) Ich werde in meiner Rede versuchen, Ihnen die interessanten Teile davon nahezubringen. Die Debatte im Vorfeld hat gezeigt, dass das, was jetzt ansteht, die Folge von dem ist, was wir vor ungefähr einem Jahr beschlossen haben. Im Mai 2009 haben wir nämlich im Bundestag die Föderalismuskommission abgeschlossen, indem wir die Schuldenbremse in der Verfassung verankert haben. Wer sich vor kurzem die Reden zum Haushalt, aber auch die Reden am heutigen Tag angehört hat, der weiß, dass das Wort "Schuldenbremse" in annähernd jeder zweiten Rede vorgekommen ist. Nicht nur zwei Drittel des Deutschen Bundestags, auch zwei Drittel des Bundesrates und mittlerweile fast zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger halten die Haushaltskonsolidierung und Generationengerechtigkeit angesichts der Schulden, die wir anhäufen, für das wichtigste Thema dieser Legislaturperiode. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Regierung nicht, sonst säße jemand auf der Regierungsbank!) In einer Umfrage sagen 62 Prozent der Bürger, ihre größte Angst sei nicht der Verlust des eigenen Arbeitsplatzes oder das Entstehen von Umweltschäden. 62 Prozent der Deutschen sagen, sie hätten große bzw. sehr große Angst vor den Folgen der nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern und Kommunen angehäuften Schuldenlast. Wir hatten in der Vergangenheit ausreichend Gelegenheit, über die Situation der Kommunen zu reden. Die Schuldenbremse ist bei der Haushaltskonsolidierung eigentlich das letzte Instrument. Das Verschuldungsproblem entsteht nicht erst mit Überschreiten der Schuldenbremse, sondern ist bereits im Vorhinein absehbar. Das hat sich durch die Wirtschaftskrise nicht geändert: Sie hat die Verschuldungssituation verschärft, aber nicht begründet. (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!) Schon in der Vergangenheit wurden die Haushalte überwacht. Es gab einen Finanzplanungsrat, der eigentlich langfristig Konzepte der Haushaltskonsolidierung erstellen sollte. Der Finanzplanungsrat gab Empfehlungen für eine Koordinierung der Finanzplanungen des Bundes, der Länder und der Gemeinden, insbesondere für eine gemeinsame Ausgaben- und Defizitpolitik. Er erörterte die Vereinbarkeit der Haushalte von Bund und Ländern mit dem Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt. Heute lösen wir den Finanzplanungsrat auf und übertragen Teile seiner Aufgaben auf den neuen Stabilitätsrat. Das Wort an sich zeigt schon, dass der Stabilitätsrat weitaus mehr Macht, Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten als der Finanzplanungsrat haben wird. Das Wort "Finanzplanung" sagt noch nichts über eine Konsolidierung aus. Das Wort "Stabilität" hingegen bezeichnet die Fähigkeit eines Systems, sich wiederherzustellen, nach einer Störung wieder in den Ausgangszustand zurückzukehren. Wir brauchen nicht nur eine Finanzplanung, sondern wir brauchen auch Stabilität. Deswegen ist die Entscheidung richtig, dem Stabilitätsrat die Aufgabe der Überwachung zu übertragen; sie ist von den Sachverständigen in der Anhörung einstimmig als guter Schritt in die richtige Richtung bezeichnet worden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Alexander Bonde [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann muss man beim Haushalt auch was machen!) - Genau das werden wir tun, Herr Kollege. Der Stabilitätsrat wird nämlich jährlich über die Haushaltslage des Bundes und der einzelnen Länder beraten. Selbstverständlich hat er das Recht, darauf hinzuweisen, wenn der Haushalt einen Stand erreicht, der weit vor Greifen der Schuldenbremse eine Notlage signalisiert. (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diesen Hinweis muss man bei Ihnen machen!) Der Stabilitätsrat entwickelt mit der entsprechenden Gebietskörperschaft, bei der eine Haushaltsnotlage festgestellt wird, ein Sanierungsprogramm, wobei der Bund oder das Land das Verfahren in eigener Verantwortung, aber unter Beobachtung des Stabilitätsrates durchführt. Sind die Sanierungsanstrengungen unzureichend, kann der Stabilitätsrat zu einer verstärkten Haushaltssanierung auffordern. (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird er ja müssen, so wie Sie drauf sind!) Dabei hilft es, dass es Kennziffern geben wird, die die Haushaltsdaten vergleichbar machen. Das ist heute nicht so: Wir können die Schuldenstandsquote, die Zinsquote und die Schulden gar nicht von Land zu Land oder zwischen Bund und Ländern vergleichen, weil es unterschiedliche Kennziffern gibt, je nachdem, ob die Buchführung doppisch oder kameralistisch durchgeführt wird. Das zu ändern, ist die erste Aufgabe des Stabilitätsrates. Wir haben den Stabilitätsrat im Vergleich zum Finanzplanungsrat gestärkt, indem wir das Einstimmigkeitsprinzip aufgegeben haben. Der Finanzplanungsrat konnte nur einstimmig Beschlüsse fassen; der Stabilitätsrat kann dies mit einer Zweidrittelmehrheit. Das gilt für Beschlüsse gegen ein Land, aber auch umgekehrt: Zwei Drittel der Länder können den Bund ermahnen und ihn auffordern, seine Haushaltskonsolidierung stärker voranzutreiben. Das ist ein erheblicher Fortschritt gegenüber der bisherigen Regelung beim Finanzplanungsrat. Hinzu kommt, dass die Berichte veröffentlicht werden. Die aktuelle Situation in Griechenland, aber auch die Reaktionen auf den ersten blauen Brief der Europäischen Union an Deutschland haben gezeigt, dass gerade die öffentliche Debatte dazu beiträgt, dass man bei der Konsolidierung der Haushalte nicht nachlässt; Bürgerinnen und Bürger kommen ihrer Kontrollpflicht, ihrem Kontrollrecht sehr wohl nach und üben hinsichtlich der Konsolidierung Druck auf die Politiker aus. Wir sind damit nicht am Ende. Ich gebe zu: Wir haben im Stabilitätsratsgesetz noch keine Maßnahme dazu beschlossen, was passieren soll, wenn sich ein Land oder der Bund längerfristig gegen Sanierungsmaßnahmen stellt oder in seinen eigenen Sanierungsbemühungen nachlässt. Es gibt also keine Sanktionen. Ich bin aber optimistisch, dass wir in diesem Augenblick gar keine Sanktionen brauchen; denn die Debatten in diesem Haus, aber auch im Bundesrat und in den Kommunen zeigen, dass der Ernst der Situation eindeutig angekommen ist, sowohl bei Politikerinnen und Politikern (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei der FDP ja wohl nicht!) - auch bei der FDP, lieber Kollege; da bin ich ganz sicher - (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!) als auch bei den Bürgern. Ich bin sicher, dass wir die Konsolidierung gemeinsam fortführen werden. Ich glaube deshalb, dass wir zurzeit auf Sanktionierungsmechanismen verzichten können; vielleicht müssen wir irgendwann darauf zurückkommen. Im Moment bin ich froh, dass sich der Stabilitätsrat nächste Woche konstituiert und dann seine Aufgaben wahrnimmt. Ich wünsche allen Beteiligten in diesem neuen Gremium alles Gute und möglichst wenige Sanierungsfälle. Ich bin sicher, dass der Rat einen wesentlichen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leistet. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich komme zu Tagesordnungspunkt 10 zurück und gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses bekannt. Es ging um die Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit, Drucksachen 17/244 und 17/1458. Abgegeben wurden 570 Stimmen. Mit Ja haben gestimmt 308 Kolleginnen und Kollegen, mit Nein haben gestimmt 262 Kolleginnen und Kollegen, Enthaltungen gab es nicht. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebenen Stimmen: 570; davon ja: 308 nein: 262 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Gitta Connemann Leo Dautzenberg Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer (Göttingen) Dirk Fischer (Hamburg) Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Olav Gutting Florian Hahn Holger Haibach Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dr. Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung (Konstanz) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) Andreas G. Lämmel Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller (Erlangen) Nadine Müller (St. Wendel) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann (Bremen) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Lucia Puttrich Daniela Raab Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche (Potsdam) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht (Weiden) Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt (Fürth) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl (Heilbronn) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg (Hamburg) Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier-Becker Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine Aschenberg-Dugnus Daniel Bahr (Münster) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Dr. Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Paul K. Friedhoff Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Elke Hoff Birgit Homburger Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Dr. Heinrich L. Kolb Hellmut Königshaus Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Patrick Kurth (Kyffhäuser) Heinz Lanfermann Harald Leibrecht Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Lars Lindemann Dr. Martin Lindner (Berlin) Michael Link (Heilbronn) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Gabi Molitor Jan Mücke Petra Müller (Aachen) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann (Lausitz) Dirk Niebel Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Carl-Ludwig Thiele Stephan Thomae Florian Toncar Serkan Tören Johannes Vogel (Lüdenscheid) Dr. Daniel Volk Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Nein SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing Dirk Becker Uwe Beckmeyer Lothar Binding (Heidelberg) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann (Hildesheim) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Dr. Peter Danckert Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Peter Friedrich Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf (Rosenheim) Michael Groschek Michael Groß Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann (Wackernheim) Hubertus Heil (Peine) Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz (Essen) Frank Hofmann (Volkach) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe (Leipzig) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel (Berlin) Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Manfred Nink Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoðuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Mechthild Rawert Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth (Esslingen) Michael Roth (Heringen) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Anton Schaaf Axel Schäfer (Bochum) Bernd Scheelen Marianne Schieder (Schwandorf) Werner Schieder (Weiden) Ulla Schmidt (Aachen) Silvia Schmidt (Eisleben) Carsten Schneider (Erfurt) Olaf Scholz Ottmar Schreiner Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Uta Zapf Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Steffen Bockhahn Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Sevim Daðdelen Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Annette Groth Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Inge Höger Dr. Barbara Höll Andrej Konstantin Hunko Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Harald Koch Jan Korte Jutta Krellmann Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Dorothée Menzner Cornelia Möhring Niema Movassat Wolfgang Neškovic Petra Pau Jens Petermann Richard Pitterle Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer (Köln) Michael Schlecht Dr. Herbert Schui Dr. Ilja Seifert Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Jörn Wunderlich Sabine Zimmermann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Volker Beck (Köln) Cornelia Behm Birgitt Bender Alexander Bonde Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Winfried Hermann Priska Hinz (Herborn) Ulrike Höfken Dr. Anton Hofreiter Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Katja Keul Memet Kilic Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Stephan Kühn Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth (Quedlinburg) Monika Lazar Nicole Maisch Agnes Malczak Jerzy Montag Kerstin Müller (Köln) Beate Müller-Gemmeke Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Dr. Hermann Ott Elisabeth Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Christine Scheel Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Dorothea Steiner Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Ich gebe jetzt dem Kollegen Carsten Schneider für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Kollegin Tillmann, die Frage des Finanzplanungsrates ist unstrittig. Dem ursprünglichen Gesetzentwurf hätten wir auch zugestimmt. Nicht unstrittig ist allerdings eine maßgebliche Veränderung des Gesetzes, die Sie am gestrigen Tag im Haushaltsausschuss vorgenommen haben. Sie haben nämlich dieses Gesetz zur Abschaffung des Finanzplanungsrates genutzt, (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Missbraucht!) um eine maßgebliche Änderung am Konjunkturprogramm vorzunehmen. Sie haben es missbraucht. Das haben Sie entgegen allen Empfehlungen getan, die sowohl der Präsident des Bundesrechnungshofes als auch der Bauindustrieverband, Sie selbst und die Bundesregierung, vertreten durch das Bundesfinanzministerium, gegeben haben. Worum geht es? Im Konjunkturprogramm war festgelegt: 10 Milliarden Euro an Investitionen gehen an die Gemeinden. Sie müssen diese Mittel aber kofinanzieren, sodass wir auf 13 Milliarden Euro kommen. Da geht es nun um einen Effekt der Zusätzlichkeit. Das war Bedingung. Diese Bedingung haben wir im Haushaltsausschuss des Bundestages vor ungefähr einem Jahr eingefügt. Heute geschieht Folgendes: Genau diese Bedingung, die wir mit vier Fraktionen - die Linke hat nicht zugestimmt - eingefügt haben, streichen Sie nach dem Willen und auf Druck des Bundesrates wieder. Warum? (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Wir sind lernfähig!) Zum Wachstumsbeschleunigungsgesetz, wie Sie Ihr Klientelbegünstigungsgesetz genannt haben, gab es formelle Zusagen der Bundeskanzlerin, dass Sie dies für die Länder ändern werden, damit sie diesem unsinnigen Gesetz zustimmen, das zu mehr Steuerunsicherheit und Steuerausfällen geführt hat. Meine Damen und Herren, das war eine Erpressung, der Sie nachgegeben haben. Das ist eine Kastration des Bundestages, und es ist finanzwirtschaftlich ein Desaster. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Otto Fricke [FDP]: Kindergelderhöhung!) Ich kann Ihnen das nicht ersparen. Frau Kollegin Tillmann, ich habe gerade eine Pressemitteilung vom 24. Februar 2010 herausgeholt, die vom Tenor her richtig ist. Unter der Überschrift "Zusätzlichkeitskriterium ist verantwortungsvoll!" schreiben Sie - ich zitiere, weil das alles stimmt, was Sie schreiben -: Die neue Initiative der Länder im Bundesrat, Investitionen in Kommunen auch dann aus dem Konjunkturprogramm zu fördern, wenn sie nicht zusätzlich sind, hat die Bundesregierung in ihrer heutigen Kabinettssitzung zu Recht zurückgewiesen. (Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!) Nur zusätzliche Investitionen erfüllen den Sinn und Zweck des Konjunkturprogramms, neue Aufträge zu generieren und dadurch die krisenbedingte Nachfragelücke zumindest teilweise zu schließen. Auch das ist richtig. (Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!) "Die Streichung des Zusätzlichkeitskriteriums würde zu einer Ungleichbehandlung führen. Kommunen, die ihre Maßnahmen bereits durchfinanziert haben, wären gegenüber Kommunen, die sich mehr Zeit gelassen haben, benachteiligt", so Tillmann. Es tut mir leid, Sie haben damit vollkommen recht; nur machen Sie mit diesem Gesetz, zu dem Sie jetzt eben kein Wort gesagt haben, genau das Gegenteil. Ich finde, dafür sind Sie der deutschen Öffentlichkeit eine Erklärung schuldig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das peinlich ist. Das kann ich sogar nachvollziehen. Ich würde das nicht machen wollen. Ich hätte das auch nicht gemacht. Ich hätte so etwas auch nicht zugesagt. Ich hätte auch das erste Gesetz, mit dem das in Verbindung steht, nicht gemacht. Aber es zieht sich wie ein roter Faden durch die Finanzpolitik dieser Regierung, dass Sie kein Konzept haben, dass wirtschaftliche Effekte, die zu einer Stärkung von wirtschaftlicher Tätigkeit führen, im Hintergrund stehen. Im Gegenteil: Sie betreiben Klientelbegünstigung. Das, was an guten Maßnahmen noch da war - wir laufen jetzt sogar Gefahr, dass diese Hilfen, die wir gegeben haben, verfassungswidrig sind -, konterkarieren Sie. Ich finde, es ist eine bittere Stunde für den Bundestag, eine bittere Stunde für den Haushaltsausschuss. Ich kann nur hoffen, dass das in dieser Tendenz mit Ihnen nicht so weitergeht. Aber meine Hoffnung wird wahrscheinlich trügen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Otto Fricke hat das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Otto Fricke (FDP): Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Kollege Schneider, Ihr Beitrag war wunderbar. Als Lateiner kann ich nur sagen: Spes saepe fallit, aber nicht immer. Was Sie sagen, ist gar nicht so falsch. Aber wenn Sie schon analysieren, wie es zu der Situation gekommen ist, dann wollen wir doch einmal festhalten, dass es auch im Rahmen der Föderalismuskommission II nicht gelungen ist, die Frage zu beantworten, wer für welche Steuereinnahmen zuständig ist und wer im Windschatten bei welchen Steuereinnahmen wie vorgeht. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sehr richtig!) Sie haben recht - ich bestätige das ausdrücklich -: Es gab eine Absprache mit dem Bundesrat. Nun können Sie fragen: Wie kann man so etwas nur machen? Darauf antworte ich: Eine Absprache, die dafür gesorgt hat, dass wir eine Kindergelderhöhung bekommen, ist mir manches wert, bei dem ich in den sauren Apfel beißen muss. Sie sagen, dass es Ihnen das nicht wert ist. Das halte ich schlichtweg für falsch. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU - Bettina Hagedorn [SPD]: Unglaublich!) Grundsätzlich ist die Notwendigkeit dieses Gesetzes, was den ursprünglichen Titel angeht, unbestritten. Die Abschaffung ist richtig. Die ungeklärte Frage, Frau Kollegin Tillmann, ob das mit der Schuldenregelung funktioniert oder nicht, hängt von allen verantwortlichen Politikern ab, (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!) nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern und Kommunen. Es wird aber auch davon abhängen - das möchte ich den Bürgern sagen -, ob wir eine Gesellschaft haben, die es nicht nur akzeptiert, dass gespart werden soll, sondern die ebenso akzeptiert, dass - entsprechend der jeweiligen Leistungsfähigkeit - auch in Bereichen gespart wird, die einen selber betreffen. Jede Regierung und jede Fraktion will sparen. Wenn es aber konkret wird - seien wir ehrlich -, sieht es anders aus. (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bisher haben Sie nur an Vorschlägen gespart!) Ich finde die Reaktionen schon interessant: Die SPD ist seit einiger Zeit nicht mehr in Regierungsverantwortung. Die Grünen waren sieben Jahre lang an der Regierung beteiligt. Auch Sie haben Schulden gemacht. (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht so schlimm wie ihr! Ihr seid die Schuldenkönige! 80 Milliarden!) Seien Sie wenigstens so ehrlich und erkennen Sie das Kernproblem der Verschuldung an! Zum Verhalten der Länder. Die Länder müssen - ich finde es gut und ehrenwert, dass fünf Vertreter der Länder hier sind - für ihren Teil kämpfen. Mir wäre es lieber, die Länder hätten eigene Steuerrechte und würden sagen: Bürger, weil wir diese oder jene Ausgaben für richtig halten, wollen wir von euch die entsprechenden Steuern. - Diejenigen, die besser sparen, werden bei den Bürgern anders ankommen als diejenigen, die schlechter sparen. Das gilt ebenso für den Bund. Sie werden sehen, dass das Sparen irgendwann belohnt wird. Die FDP kann sich etwas klarer positionieren als die CDU/CSU, die dieses Konjunkturpaket in der Großen Koalition beschlossen hat. Wir haben es abgelehnt. Dieses Konjunkturpaket ist der falsche Ansatz gewesen. Das zeigt sich jetzt deutlich. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Otto, das kannst du so nicht sagen!) Wenn wir uns genauer anschauen, was passiert, stellen wir fest, dass in dem Jahr, in dem die Wirtschaft wieder wächst, all die Ausgaben, die im Konjunkturpaket vereinbart wurden, prozyklisch wirken. In dem Jahr, in dem sie hätten helfen sollen, haben sie nicht geholfen. Das ist der Fehler. Das Schönste im ganzen Gesetzgebungsprozess war der Sachverständige, der von den Grünen geladen wurde. Er hat sehr deutlich gesagt - daran sieht man, dass die Grünen in der Opposition viele Dinge richtig machen, zum Beispiel die richtigen Sachverständigen auswählen -, es sei falsch gewesen, das Konjunkturpaket überhaupt zu verabschieden. Er hat wörtlich gesagt: Die bessere Alternative wären Steuersenkungen gewesen. (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat gesagt, selbst Steuersenkungen wären besser als der Quatsch, den Sie jetzt machen!) Insofern bin ich sehr froh, wenn der Sachverständige das vielleicht noch genauer darstellen wird und Sie ihm möglicherweise folgen. (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können nicht einmal richtig zitieren! Jetzt geht es bergab!) Warum? Herr Schneider hat eben gesagt, wir hätten keinen Plan. Das zu behaupten, ist sehr leicht, vor allem dann, wenn man selber keinen hat. Aber Herr Kollege Schneider, wenn man daran glaubt, dass dieses Land die Wirtschaftskrise besser als manch andere Länder überwinden kann, dann muss man sich an das halten, was auch SPD und Grüne im Zuge der Agenda 2010 gemacht haben: Man muss Reformen auf den Weg bringen. Das kann man in dem Bereich machen, in dem Sie es gemacht haben - wovon Sie jetzt aber nichts mehr wissen wollen -, oder man kann diejenigen entlasten, von denen man erwartet, dass sie mit dafür sorgen, dass das Wachstum gesteigert wird. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Redet nicht so viel! Macht was!) Für uns in der Koalition sind das ganz wesentlich die unteren und mittleren Einkommen, die wir als FDP prozentual am stärksten entlasten wollen. Das ist der Unterschied zwischen uns: Sie sehen das absolut. Sie sind bereit, den Menschen absolut möglichst viele Steuern wegzunehmen. Wir hingegen wollen möglichst viele Menschen, ihrer Leistungsfähigkeit entsprechend, prozentual von ihrer jeweiligen Steuerschuld entlasten. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht absolut!) Das ist der Unterschied zwischen unseren beiden Parteien: Bei Ihnen bedeutet Gerechtigkeit, dass man denjenigen ungerecht behandeln darf, der viel leistet und viel verdient, und dass man sich um denjenigen, der wenig leistet, in anderer Weise kümmert. Nach meiner Ansicht ist es so, dass wir bei der Frage der Zusätzlichkeit einen Kompromiss schließen, der für meine Fraktion sicherlich nicht angenehm ist; aber an Verträge hält man sich. Das gilt für die Länder - auch das will ich deutlich sagen - nicht so ganz; denn die Verwaltungsvereinbarung, die die Länder zur Zusätzlichkeit getroffen haben - das möchte ich kritisch anmerken -, beinhaltete eigentlich genau das, was mit dem Kompromiss rückgängig gemacht worden ist. Ich komme noch kurz zur Härtefallregelung, weil auch sie Teil des Gesetzentwurfs ist. Wir setzen das Bundesverfassungsgerichtsurteil bezüglich der Punkte, bei denen eine offensichtliche Ungerechtigkeit vorliegt - sie sind uns von der SPD im Bereich Hartz IV vorgegeben worden -, mehr oder weniger eins zu eins um. Dieses Problem lösen wir jetzt. Ich hoffe - ich habe leider nichts davon gehört -, dass auch seitens der Opposition anerkannt und für richtig gehalten wird, dass den betroffenen Hartz-IV-Empfängern damit vorläufig - das ist kein endgültiger Status - Rechtssicherheit gegeben wird, dass es eine gesetzliche Regelung gibt, die deutlich zum Ausdruck bringt: Hartz-IV-Empfänger, wenn bei dir ein besonderer Härtefall vorliegt, kümmert sich diese Koalition eindeutig und klar darum, dass du nicht ins Bodenlose fällst. (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso ist eigentlich die Regierungsbank komplett leer? Da sitzt ja keiner auf der Regierungsbank! Was ist da los?) Die Dinge, die es in elf Jahren SPD-Regierungsbeteiligung nicht gab, werden nunmehr endlich geregelt. Das halten wir für eine richtige Lösung. (Beifall bei der FDP) Ein letzter Punkt ganz schnell zum Schluss: (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist die Regierung? Leere Bänke!) Der eigentliche Streit und das verfassungsrechtlich größte Problem befindet sich - ich sage das ganz bewusst - nicht in diesem Gesetzentwurf. Das ist das Prüfungsrecht des Bundesrechnungshofs. Auch wenn wir an vielen Stellen Streit haben, Herr Kollege Schneider, so hoffe ich doch, dass wir uns bezüglich der verfassungsrechtlichen Streitigkeiten, die jetzt vonseiten der Länder kommen, einig sind. Wenn die Länder sagen: "Bund, du darfst uns zwar Geld geben, aber du darfst nicht mit deinem Rechnungshof kontrollieren, ob wir das Geld richtig verwenden", können wir nur hoffen, dass klar wird: Wer Geld gibt, hat auch das Recht, zu kontrollieren, ob es richtig ausgegeben wird. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Katja Kipping hat das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Katja Kipping (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei diesem Gesetzentwurf handelt es sich um ein sogenanntes Omnibusgesetz, in dem ganz verschiedene Regelungen behandelt werden. Ich möchte mich für die Linke vor allen Dingen zur Härtefallklausel im Bereich Hartz IV äußern. Diese Klausel soll vor dem Hintergrund eines Bundesverfassungsgerichtsurteils eingeführt werden. Das Gericht hat uns verpflichtet, sicherzustellen, dass es im Härtefall auch Leistungen über den Regelsatz hinaus gibt. Es geht hier also um nicht weniger als die Umsetzung eines verfassungsmäßigen Auftrages. Ich finde, es ist fraglich, ob der vorliegende Gesetzentwurf diesem Anspruch gerecht wird. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) In den Beratungen war häufig von Rechtssystematik und unbestimmten Rechtsbegriffen die Rede. Bei dieser Regelung geht es aber auch um menschliche Schicksale, zum Beispiel um folgenden Fall, von dem mir ein Vertreter des Arbeitslosenverbandes erzählte: Eine Alleinerziehende, die ein Kind hat, das asthmakrank ist und eine Allergie hat und wegen dieser Allergie einen besonderen Ernährungsbedarf hat, der mehr Geld kostet, was vom Hartz-IV-Regelsatz nur schwer zu bestreiten ist, hörte von diesem Urteil, schöpfte Hoffnung und hat einen Antrag gestellt. Der Antrag ist abgelehnt worden. - Angesichts solcher Meldungen finde ich es fraglich, ob die Entscheidungen der Jobcenter wirklich immer im Geiste des Verfassungsgerichtsurteils sind. In dem nun vorliegenden Gesetzentwurf heißt es, ein Härtefall liege nur dann vor, wenn der Bedarf nicht durch Einsparungsmöglichkeiten beim Hartz-IV-Regelsatz gedeckt werden kann. Meine Damen und Herren, wo leben Sie denn? Glauben Sie denn ernsthaft, dass beim Arbeitslosengeld II noch so viel Luft ist, dass man locker etwas sparen kann? Glauben Sie das ernsthaft? Die Linke meint: Nein, das ist nicht möglich. Deswegen meinen wir, dass der Regelsatz generell erhöht werden muss. (Beifall bei der LINKEN) Herr Fricke, auch die juristischen Sachverständigen haben in der Anhörung an der Formulierung zu den Einsparungsmöglichkeiten kein gutes Haar gelassen. Überflüssig und irreführend - das waren die Aussagen von Klaus Lauterbach vom Landessozialgericht Sachsen-Anhalt. Generell muss man sagen, dass die Stellungnahmen zur Anhörung und die Wortmeldungen der Sozialverbände an dem Vorschlag von Schwarz-Gelb kein gutes Haar gelassen haben. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!) Ich finde es frappierend, dass Sie trotzdem trotzig darauf beharren. Das ist Ausdruck höchster Ignoranz. Wir als Linke haben die Anregung der Sachverständigen ernst genommen. Wir haben sie aufgegriffen und einen entsprechenden Änderungsantrag eingebracht. (Beifall bei der LINKEN) Nun existiert bei der Bundesagentur für Arbeit ein Katalog mit Beispielen für Härtefälle. Solch ein Katalog kann niemals abschließend sein; das ist mir bewusst. Aber es ist sehr auffällig, dass in diesem Katalog ganz wichtige Beispiele, auf die die Sozialverbände hingewiesen haben, fehlen. Beispielsweise fehlen nichtverschreibungspflichtige Medikamente im Fall von Neurodermitis oder HIV-Erkrankungen sowie Mehrbedarfe für Brillen und orthopädische Sonderbedarfe. Es fehlen auch Mehrkosten, wenn Unverträglichkeiten für spezielle Lebensmittel wie Laktose vorliegen. Dringend müssten vor allem besondere Schulbedarfe ergänzt werden. (Beifall bei der LINKEN) Immerhin - das besagt ja auch das Bundesverfassungsgericht - gibt es einen völligen Ermittlungsausfall im Hinblick auf kinderspezifische Bedarfe. Solange wir also im Kinderregelsatz die Schulbedarfe nicht klar eingerechnet haben, müssten zumindest bis zu dieser Regelung Schulbedarfe als Härtefall ergänzt werden. (Beifall bei der LINKEN) Nun haben Sie, Herr Fricke, nur ein Argument für die vorliegende Formulierung genannt, nämlich dass Rechtssicherheit geschaffen wird. Schön wäre es. Bei der Anhörung gab es keinen Sachverständigen, der bestätigt hat, dass damit Rechtssicherheit geschaffen wird. Das Freundlichste, was in diesem Zusammenhang zu hören war, sagte der Direktor des Sozialgerichtes in Potsdam, Graf von Pfeil: Der Gesetzentwurf verhält sich ... in gewisser Weise neutral: Er schafft weder Klarheit noch Unklarheit ... Umgangssprachlich würde ich sagen, dass es sich um einen "Hinischani-Gesetzentwurf" handelt: hilft nichts, schadet aber auch nicht. Für diese Form von Rechtssicherheit können Sie sich wirklich kräftig auf die Schultern klopfen. (Beifall bei der LINKEN - Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wobei man schon froh sein muss, wenn Gesetze von denen nicht schaden!) Halten wir fest: Die vorliegende Formulierung schafft für die Betroffenen kein Mehr an Rechtssicherheit. Insofern kann man den Betroffenen nur empfehlen, im Zweifelsfall einen Antrag zu stellen. Denn nach Aussage aller Sachverständigen ist der Einzelfall entscheidend. Man kann den Betroffenen nur sagen: Kämpfen Sie um Ihre Rechte! Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN - Patrick Kurth [Kyff-häuser] [FDP]: Das war eine "Hinischani-Rede"!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Alexander Bonde hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung des Finanzplanungsrates hatte als unspektakuläre, breit zustimmungsfähige Veranstaltung begonnen, weil es sich um die logische Umsetzung einer Grundgesetzregelung handelt. Wenn man einen Rat nicht mehr braucht, sollte man ihn auch abschaffen. Jetzt haben Sie aber etwas daraus gemacht, was Sie selber als Omnibusgesetz bezeichnen. (Otto Fricke [FDP]: Nein, wir nicht!) Als Freund des öffentlichen Nahverkehrs und des deutschen Fahrzeugbaus muss ich sagen, dass es eine Beleidigung für jeden Omnibus ist, mit diesem Gesetzentwurf verglichen zu werden. Sie haben, um andere Gesetzgebungsprozesse abzukürzen, im laufenden Verfahren zwei Punkte draufgepackt. Sie haben das draufgepackt, was Sie für die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts bei der Härtefallregelung halten. Ich will Ihnen offen sagen: Die Anhörung im Haushaltsausschuss, die auch zu diesem Punkt sehr intensiv stattgefunden hat, ist für Sie voll nach hinten losgegangen. Es ist klargeworden, dass Ihre Umsetzung nicht den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts entspricht. Es ist klargeworden, dass Sie mit Ihrer Katalogisierung von Positiv- und Negativbeispielen, statt auf Öffnungsklauseln zu setzen, mehr Rechtsstreitigkeiten provozieren, als uns allen lieb sein kann. Damit helfen Sie den Betroffenen nicht. Deshalb ist der erste Teil des Gesetzentwurfes durchgefallen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Am Schlimmsten haben Sie es allerdings bei der Veränderung des Konjunkturpakets der Großen Koalition getrieben. Nachdem Sie ihn monatelang bestritten haben, wollen Sie nun den schmutzigen Hinterzimmerdeal der Kanzlerin mit dem Bundesrat umsetzen. Ich will daran erinnern: Es gab viele Beteuerungen dieser Koalition, niemals habe man den Ländern unter der Hand etwas zugesichert, damit sie Ihrem Wachstumstrullalagesetz zustimmen. Wir erinnern uns: Mövenpick-Spende, Umsetzung der Entlastungen für Hoteliers und Ähnliches. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das musste ja jetzt kommen!) Man darf ja nicht vergessen, um was es hier geht und was Sie über Ihre schmutzige Veranstaltung möglich gemacht haben. Am 22. Januar dieses Jahres hat Kollege Koschyk, Staatssekretär im Finanzministerium, im Finanzausschuss zugegeben, man werde bei der Zusätzlichkeit etwas ändern. Staatssekretär Kampeter, ebenfalls im Finanzministerium, hat das Stunden später im Haushaltsausschuss dementiert. Am 10. Februar dieses Jahres hat die Koalition den entsprechenden Tagesordnungspunkt im Haushaltsausschuss abgesetzt, weil man angeblich keine Veränderung plant. Am 24. Februar hat die Koalition den Tagesordnungspunkt im Haushaltsausschuss abgesetzt, weil man angeblich keine Veränderung plant. Am 4. März hat die Koalition diesen Tagesordnungspunkt im Haushaltsausschuss abgesetzt, weil man angeblich keine Veränderung plant. Jedes Mal hat man sich auf aktuelle Beschlüsse des Kabinetts berufen. In dieser Woche haben Sie zurückgenommen, was Sie immer dementiert haben, und offen zugegeben: Das war eine Bestechung der Länder, damit sie den Weg für das Wachstumsbeschleunigungsgesetz freimachen. In der Anhörung haben Sie gehört: Selbst der Präsident des Bundesrechnungshofes hält die heute von Ihnen vorgelegte Regelung für verfassungswidrig. Die einzige Grundlage, die der Bund für Zuweisungen an die Kommunen hat - ich halte es für falsch, dass das die einzige Grundlage ist -, war die Hürde, ein Investitionsprogramm auf den Weg zu bringen. Es geht darum, in einer wirtschaftlich schwierigen Situation Investitionen zu tätigen. Durch die Streichung der summerischen Zusätzlichkeit fällt das weg, und Sie machen eine verfassungswidrige Zuweisung an die Kommunen. Wie absurd ist die Gesetzgebung unter dieser schwarz-gelben Koalition inzwischen eigentlich geworden? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Die Argumentation, dass man etwas für die Kommunen tun muss, ist richtig. Aber sagen Sie doch offen: Es hätte den Kommunen viel mehr geholfen, wenn Sie auf Ihre Steuergeschenke verzichtet und die Kommunen in die Lage versetzt hätten, mit ihren regulären Steuereinnahmen zu operieren, und offen mit den Kommunen darüber diskutiert hätten, wie wir sie wieder auf eine tragfähige Finanzbasis stellen können. Es nützt Ihnen gar nichts, an dieser Stelle ein paar wenigen Kommunen durch Umwegfinanzierungen zu helfen, wenn Sie ihnen gleichzeitig den Saft abdrehen: mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz, mit Ihren Kommissionen, mit dem Anschlag auf die Gewerbesteuer und dem großen Anschlag der FDP mit einer Einkommensteuerreform, alles zulasten der Kommunen. Dieses Paket, das eine vermeintliche Entlastung bringen soll, ist auch noch eine Bestechung der Länder, und zwar dafür, dass die Länder, die eigentlich der Anwalt der Kommunen sein müssten, diesem absurden Spiel auf Kosten der Kommunen zustimmen. Meine Damen und Herren, dieses Gesetz ist nicht einmal einer Koalition wie Ihrer würdig. Es ist auch nicht würdig, wie hier mit Beschlüssen des Parlaments und mit dem Grundgesetz dieser Republik umgegangen wird. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Peinlich!) Das ist wirklich ein schwarzer Moment in der Parlamentsgeschichte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Peter Götz hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. Peter Götz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ob man will oder nicht, die weltweite Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise schlägt auch bei den Städten, Gemeinden und Kreisen für jeden inzwischen sichtbar zu. Deshalb besteht hier Handlungsbedarf. Wir alle wissen: Die internationale Krise ist noch lange nicht überwunden. Auf allen politischen Ebenen sind die Einnahmen weggebrochen. Gleichzeitig steigen die Ausgaben, vor allem in sozialen Bereich. In diesem Jahr wird für die kommunalen Haushalte bundesweit ein Defizit von 12 Milliarden Euro erwartet. Die Gewerbesteuereinnahmen, Herr Kollege Bonde, sanken 2009 um fast 20 Prozent gegenüber 2008. (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein Grund, sie abzuschaffen!) Richtig ist aber auch: 2007 und 2008 waren gute Jahre für die Kommunen, die besten seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Viele konnten investieren, Schulden abbauen und Rücklagen bilden. Gleichzeitig haben die Städte, Gemeinden und Kreise begonnen, den durch rot-grüne Politik entstandenen kommunalen Investitionsstau Zug um Zug abzubauen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In Zeiten rot-grüner Regierungsverantwortung war daran nie zu denken. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo leben Sie eigentlich?) Damals lag der kommunale Saldo ohne globale Krise jahrelang im Minus - 2003 waren es über 8 Milliarden Euro -, und damals gab es keine weltweite Finanzmarktkrise. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn die weltweite Finanzmarktkrise auf uns zugekommen wäre und Sie noch an der Regierung gewesen wären. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ja! Das stimmt! - Bettina Hagedorn [SPD]: Das ist ja absurd! Das liegt daran, dass wir die Gemeindefinanzreform 2003 gemacht haben! Geschichtsverfälschung!) Es ist notwendig, dass wir den Kommunen helfen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Durch das Zukunftsinvestitionsgesetz, über das wir jetzt sprechen, hat der Bund mit über 10 Milliarden Euro einen erfolgreichen Beitrag zur Sicherung wertvoller Arbeitsplätze im Baugewerbe und im heimischen Handwerk geleistet. (Bettina Hagedorn [SPD]: Genau! Auf Initiative der SPD! Da haben Sie recht!) Zusätzliche Investitionen in die energetische Sanierung von Schulen, Kindergärten und Kindertagesstätten tragen zum Klimaschutz - der müsste Ihnen von den Grünen immer ein Anliegen sein - und gleichzeitig zur Verbesserung der Bildungsinfrastruktur bei. Ein Weiteres kommt hinzu: Die Wirtschaftlichkeit kommunaler Einrichtungen wird erhöht. So spart eine energetisch sanierte Schule in Zukunft erhebliche Betriebskosten. Das heißt, die geförderten Investitionen führen nicht zu Folgekosten, sondern entlasten die kommunalen Haushalte bereits nach wenigen Jahren spürbar und gleichzeitig nachhaltig. Dies führt zu einer Stärkung der Gemeindefinanzen und zu einer Verbesserung der kommunalen Infrastruktur. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Kollege Fricke, liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Ziel war und ist, einen sinnvollen Weg zwischen Konjunkturimpuls auf der einen Seite und Stabilisierung der öffentlichen Haushalte auf der anderen Seite zu gehen. Genau das ist mit diesem Konjunkturpaket gelungen. Dabei hat übrigens die Vereinfachung der Ausschreibungsbedingungen bei Vergaben geholfen. Der gewünschte konjunkturelle Impuls des Konjunkturpakets ist inzwischen nahezu vollständig eingetreten. Der Erfolg des Ansatzes, über kommunale Investitionen zur Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung beizutragen, Herr Kollege Schneider, ist für jeden sichtbar, der mit offenen Augen durch das Land geht. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Aber nicht für die FDP!) Die kommunalen Investitionsplanungen sind inzwischen so weit fortgeschritten, dass selbst bei einer Lockerung der Kriterien keine Änderungen mehr vorgenommen würden, so zumindest der Deutsche Städtetag bei der Anhörung diese Woche. (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der war gar nicht da!) - Vielleicht haben Sie die Stellungnahme des Deutschen Städtetages nicht gelesen, dafür kann ich nichts, sie war aber Gegenstand der Beratungen am vergangenen Montag. Ab Januar nächsten Jahres können Länder und Kommunen ihr Investitionsverhalten ohnehin frei gestalten. Durch die Streichung des sogenannten statistischen Zusätzlichkeitskriteriums - nur darum geht es - werden keine spürbaren nachteiligen gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen erwartet. (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat in der Anhörung jeder Ökonom, auch die von Ihnen benannten, bestritten!) Der Wegfall dieser Bestimmung wird aber zu erheblichen administrativen Erleichterungen und damit zu einer deutlichen Entlastung von bürokratischem Aufwand beim Bund, bei den Ländern und bei den Kommunen, aber auch bei den statistischen Ämtern führen; auch das muss man bei dieser Gelegenheit sagen dürfen. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Schaffen wir alle Kontrollen ab; dann gibt es keine Bürokratie mehr!) Unabhängig von der heute zu beschließenden Gesetzesänderung muss sich der Deutsche Bundestag um die katastrophale Finanzlage der Kommunen kümmern. Die von Bundesfinanzminister Dr. Schäuble einberufene Gemeindefinanzkommission prüft - das ist richtig und gut so - mögliche Alternativen zu der sehr konjunkturabhängigen Gewerbesteuer. Viele Kämmerer wollen weg von der großen Schwankungsbreite und hin zu einer Verstetigung der Einnahmen. Ich fordere Sie auf, gemeinsam und unvoreingenommen an dem Reformwerk für die Stärkung der Gemeindefinanzen mitzuwirken, und zwar bei den Einnahmen und bei den Ausgaben und Aufgaben. Nicht blinde Blockade, sondern konstruktive Mitarbeit ist auf diesem Gebiet gefordert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auch die anstehende Steuerstrukturreform darf nicht auf dem Rücken der Städte und Gemeinden erfolgen. Wir wollen nicht, dass Kindergärten geschlossen werden müssen und Schulen nicht mehr renoviert werden können. Wir müssen vielmehr alles tun, um die kommunalen Finanzen auf ein solides Fundament zu stellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland mit dem großen ehrenamtlichen Engagement in den Räten hat sich bewährt. Sie darf nicht zu einer Worthülse verkommen. (Beifall des Abg. Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Seit der Übernahme der Regierungsverantwortung durch Bundeskanzlerin Angela Merkel haben wir mit unserer kommunalfreundlichen Politik für die Städte, Gemeinden und Kreise viel durchgesetzt. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben die Steuern für die Hoteliers gesenkt!) Wir lassen die Kommunen auch in schwierigen Zeiten nicht im Stich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die heute zu verabschiedende kleine Korrektur im Zukunftsinvestitionsgesetz liegt im kommunalen Interesse. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Es ist schlimm, wenn man für ein Gesetz reden muss, an das man selber nicht glaubt!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Angelika Krüger-Leißner hat das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Angelika Krüger-Leißner (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, ob es Ihnen nicht auch so geht wie mir: Wenn ich die Bundesarbeitsministerin, Frau von der Leyen, beobachte, muss ich staunen, wie sie von Thema zu Thema fliegt wie ein fleißiges Bienchen von Blüte zu Blüte. Gestern Kurzarbeit, letzte Woche Rente, übermorgen Jobcenterreform, einmal die Alleinerziehenden, dann jüngere Arbeitslose, jeder wird hier bedient. Heute nun die Härtefallregelung im SGB II. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man allerdings, dass viele Themen sehr oberflächlich, gar lieblos abgetan werden oder das, was vollmundig angekündigt worden ist, herzlos abgelegt wird. So ergeht es mir auch bei diesem Gesetzentwurf zur Aufnahme einer Härtefallregelung in das SGB II. Ich habe es begrüßt, dass uns das Gericht den Auftrag erteilt hat, hier eine neue gesetzliche Regelung zu treffen. Aber mit dem, was die Bundesarbeitsministerin von der Leyen hier vorgelegt hat, können wir nicht zufrieden sein, und Sie hätte es besser machen können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE]) Selbst Ihre Sachverständigen haben den Gesetzentwurf in der Anhörung am Montag höchst unterschiedlich bewertet. Sie alle haben bestätigt, dass es keine dringende Notwendigkeit für diese vorgeschlagene gesetzliche Regelung gibt. Es sieht also alles nach einem Schnellschuss aus. Es kann aber doch nicht sein, dass wir Menschen in Härtesituationen mit Schnellschüssen abspeisen. (Beifall der Abg. Anette Kramme [SPD] - Norbert Barthle [CDU/CSU]: Die eine behauptet, wir seien untätig, Sie reden von Schnellschüssen! Was denn nun?) Durch die Anhörung wurde deutlich gemacht: Eile ist in der Sache überflüssig und sogar schädlich. Wir haben Zeit bis zum Jahresende. Fakt ist, dass das Urteil an dieser Stelle sehr eindeutig ist. Der bessere Weg wäre gewesen, hier zu einer Übergangslösung zu kommen. Sie hätten hier den Weg mit einer vorläufigen Härtefallregelung in Anlehnung an die Regelung in § 28 SGB XII beschreiten können. Das ist übrigens auch der Vorschlag der meisten Sachverständigen gewesen. Ich bedauere - und bitte den Staatssekretär auch, das mit ins Haus zu nehmen -, dass die Ministerin diesem klugen, pragmatischen Vorschlag vieler Sachverständigen nicht gefolgt ist; denn mit ihrem Gesetzentwurf hat sie nur eine unausgereifte Minimallösung vorgelegt, durch die die Lebenssituation der Menschen nicht wirklich verbessert wird. Was wir brauchen, ist eine systematische, saubere und stimmige Lösung. Ich gebe zu, dass wir dazu etwas mehr Zeit brauchen, aber die haben wir. Ein weiteres Argument für meinen vorgeschlagenen Weg wurde auch aus Sicht der Bundesagentur für Arbeit als zweckmäßig angesehen, nämlich, in der Übergangszeit wertvolle Erfahrungen in der Praxis zu typischen Härtefällen zu sammeln und in die gesetzliche Regelung einzubeziehen. Zudem erscheint es mir auch sinnvoll, die erforderliche Neubemessung der Regelsätze im Zusammenhang mit der Härtefallregelung zu sehen und dies auch zeitlich zu verknüpfen. Vielleicht wäre es Ihnen dann gelungen, den Handlungsrahmen des Urteils voll auszuschöpfen. So ist das nur Stückwerk. Für mich ist es wichtig, dass wir eine transparente Regelung bekommen, die den Einzelnen und den vielen Mitarbeitern in den Jobcentern und den Optionskommunen Klarheit bringt. Mit Ihrem restriktiven Negativkatalog kommen wir nicht weiter. Keiner kann heute sagen, was letztendlich als Härtefall anerkannt wird, und niemand hat einen Negativkatalog gefordert. Ich plädiere deshalb für einen offenen, positiven, nicht abschließenden Katalog mit konkreten Fallbeispielen. Gleichzeitig gebe ich Ihnen noch einen Auftrag mit auf den Weg. (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sie haben nicht das entsprechende Mandat! - Otto Fricke [FDP]: Quasi von einer Ministerin!) - Wir werden über diesen Punkt noch eine ganze Weile reden; nehmen Sie das einmal auf! - Ob der Bewilligungszeitraum von sechs Monaten angesichts dieser Problemfälle gerechtfertigt ist, bitte ich Sie zu überprüfen. Warum denn eigentlich nicht länger? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende. Angelika Krüger-Leißner (SPD): Ja. Darf ich den Gedanken noch zu Ende führen? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wenn es ein Satz ist, dann ja, sonst nicht. Angelika Krüger-Leißner (SPD): Ja, ich versuche das. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wenn es ein kurzer ist. Angelika Krüger-Leißner (SPD): Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ein Fazit ziehen: Der Gesetzentwurf zur Härtefallregelung ist unnötig und bewirkt nichts, er bringt auch keinen Mehrwert - Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin. Angelika Krüger-Leißner (SPD): - und vor allen Dingen hilft er dem Einzelnen nicht. Darum stimmen wir dem nicht zu. - Das war jetzt aber doch ein zusammenhängender Satz. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das war aber jedenfalls kein kurzer. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Abschaffung des Finanzplanungsrates. Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1465, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/983 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen Änderungsanträge vor. Über diese stimmen wir zuerst ab. Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1474. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt haben die einbringende Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, dagegen gestimmt haben die Koalitionsfraktionen. Die Fraktion der SPD hat sich enthalten. Wir kommen zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 17/1473. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt bei Zustimmung durch Bündnis 90/Die Grünen, SPD und große Teile der Fraktion Die Linke und Ablehnung durch die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen gab es in der Fraktion Die Linke.2 Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthalten möchte sich niemand? - Damit ist der Gesetzentwurf in der Ausschussfassung in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen. Abgelehnt haben die Oppositionsfraktionen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer zustimmen möge, erhebe sich bitte. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung angenommen mit dem gleichen Abstimmungsverhältnis wie vorher. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktion der SPD Beschäftigte vor Arbeitslosigkeit schützen - Konditionen für Kurzarbeit verbessern - Drucksachen 17/523, 17/1446 - Berichterstattung: Abgeordneter Paul Lehrieder Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Peter Weiß hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! "Man kann von einem deutschen Arbeitsmarktwunder sprechen: 5 Prozent Rückgang des Bruttosozialprodukts, kaum Anstieg der Arbeitslosigkeit", so der Sachverständige Professor Dr. Gerhard Bosch von der Universität Duisburg-Essen am Montag in einer Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales. Das Institut der deutschen Wirtschaft hat vor kurzem eine Ausarbeitung vorgelegt mit der Aussage: Deutsche Arbeitnehmer am geringsten von der Krise betroffen. Um über das, so die Formulierung, "Jobwunder Deutschland" zu sprechen, war die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen zum G-20-Gipfel nach Washington eingeladen. Allem Krisengerede zum Trotz: Mit dem Schutzschirm für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und insbesondere mit den Regelungen zur Kurzarbeit hat der Staat unter großer internationaler Beachtung mutig und entschlossen gehandelt und auf die Herausforderungen der Finanz- und Kapitalmarktkrise reagiert. Zunächst einmal ist festzustellen: Wir Deutschen können stolz darauf sein, dass wir in dieser Krisensituation so klar, mutig und entschlossen gehandelt haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ohne die Regelung zur Kurzarbeit, die die Betriebe in einem beachtlichen Umfang genutzt haben, hätte es zu Massenentlassungen kommen müssen. Die Betriebe wissen aber, es lohnt sich, qualifiziertes Personal zu halten, statt zu entlassen, um für die Zeit nach der Krise besser aufgestellt zu sein. Ich habe keinen Zweifel, dass sich dieses Verhalten der deutschen Betriebe nach dem Anspringen der Konjunktur auszahlen wird. Im Mai 2009 bezogen 1,5 Millionen Beschäftigte Kurzarbeitergeld. Das war der Höchststand. Die Bundesagentur rechnet für das laufende Jahr 2010 im Durchschnitt mit 700 000 Beziehern von Kurzarbeitergeld und für 2011 zurückgehend mit 400 000 bis 500 000. Diese Zahlen zeigen: Mittlerweile geht es in vielen Branchen der deutschen Wirtschaft wieder aufwärts; aber viele Betriebe brauchen trotzdem nach wie vor das Instrument der Kurzarbeit und stecken nach wie vor mitten in der Krise. Deshalb wäre es töricht, diese Brücke Kurzarbeit abzureißen, die die Unternehmen über das Tal der Krise führen soll. Deshalb hat die neue Bundesregierung sofort nach ihrem Antritt bereits die Rechtsverordnung in Kraft gesetzt, nach der nicht für die im Gesetz vorgesehenen 6 Monate, sondern insgesamt für 18 Monate Kurzarbeitergeldbezug möglich ist. Gestern hat das Bundeskabinett mit dem Beschäftigungschancengesetz die weitere gesetzliche Initiative auf den Weg gebracht, die Sonderregelung zu verlängern, die wir in der Krise geschaffen und eigentlich bis zum Ende 2010 begrenzt haben. Diese Regelung besagt, dass ab dem siebten Monat Kurzarbeitergeldbezug die Sozialversicherungsbeiträge zu 100 Pro-zent von der Agentur für Arbeit übernommen werden, womit die Betriebe zusätzlich finanziell entlastet werden. Mit diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung werden wir weitere Sonderregelungen verlängern, die bis Ende 2010 befristet waren, zum Beispiel die Regelung, dass wir in die Kurzarbeiterregelung Beschäftigte von Leiharbeitsunternehmen einbeziehen, oder die Regelung zur Entgeltsicherung. Letztere bedeutet, dass dann, wenn jemand trotz Kurzarbeit leider entlassen wird, das Arbeitslosengeld nicht nach dem zuletzt bezogenen Kurzarbeitergehalt, sondern nach seinem zuletzt bezogenen vollen Gehalt berechnet wird. Auch der Ausbildungsbonus für Lehrlinge insolventer Betriebe wird bis Ende 2013 verlängert. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Fachleute, mit denen wir am Montag diskutiert haben, gehen davon aus, dass wir damit weiterhin dafür sorgen, dass die Arbeitslosigkeit nicht sprunghaft um 300 000 Personen ansteigt. Aber wir haben nicht nur die Regelungen zur Kurzarbeit verlängert, womit wir dafür sorgen, dass eine tragfähige Brücke in Beschäftigung nach der Krise möglich wird, sondern wir denken auch an diejenigen, die bereits leider arbeitslos sind, vor allem an diejenigen, die schon lange arbeitslos sind. Deshalb hat die Koalition gestern im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages die bislang gesperrten Mittel in Höhe von 900 Millionen Euro für den Eingliederungstitel freigegeben; (Beifall bei der CDU/CSU - Anette Kramme [SPD]: Nachdem Sie sie vorher gesperrt haben! Erst verschlechtern und sich dann selber loben, das ist ja wohl der Witz!) denn wir wollen nicht, dass der mittelfristig beginnende Aufschwung an den Beziehern von Arbeitslosengeld II vorbeigeht. Deshalb wollen wir auch für sie neue Chancen auf neue Arbeit eröffnen. Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales hat ein Konzept vorgelegt, nach dem wir die zusätzlichen Mittel, die jetzt freigegeben worden sind, vor allen Dingen dafür einsetzen wollen, dass jungen Menschen unter 25 Jahren sofort ein Jobangebot gemacht werden kann, (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stand schon vorher im Gesetz!) dass wir stärker noch Alleinerziehenden helfen, insbesondere dann, wenn das Betreuungsproblem für die Kinder nicht gelöst ist, und dass wir die Beschäftigungschancen älterer Arbeitsloser mit dem Programm "Perspektive 50plus" verbessern. (Anette Kramme [SPD]: Ja, ein gutes Programm, das die SPD gemacht hat!) Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit diesem Beschäftigungssicherungsgesetz, mit der Verlängerung der Regelungen zur Kurzarbeit in das nächste und übernächste Jahr hinein, um die Krise durchzustehen, - Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): - und mit den zusätzlichen Initiativen, die es möglich machen sollen, dass Arbeitslosengeld-II-Empfänger Wege in die Arbeit finden können, setzt diese Koalition ein deutliches Zeichen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, Sie müssen dringend zum Ende kommen. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Das wollte ich, Frau Präsidentin. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das ist gut. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Wenn Sie mir den richtigen Schwung noch erlaubt hätten, wäre ich jetzt zum Ende gekommen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Man weiß es nicht sicher. (Heiterkeit) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Mit beiden Programmen verfolgt die Koalition ein zentrales Ziel. Es heißt: Raus aus der Krise. Wir wollen, dass die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen starken Schutzschirm durch die Politik behalten, dass unsere Unternehmen eine Zukunftsperspektive haben, - Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege! Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): - damit, wenn der Aufschwung kommt, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von diesem Aufschwung tatsächlich profitieren. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr dynamisch!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Willi Brase hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Willi Brase (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Mein Vorredner hat auf das Erfolgsmodell der Kurzarbeit hingewiesen. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Aber Sie haben nicht geklatscht!) Sie gestatten, dass ich noch einmal klar und deutlich zum Ausdruck bringe, dass es der Arbeitsminister Olaf Scholz war, der aufgrund des Zusammenwirkens mit Gewerkschaften und Arbeitgebern und der Rückkopplung, die wir über unsere Betriebe und die Betriebsräte aufgenommen haben, gefragt hat: Wie kann ein solches Instrument so ausgestattet werden, dass es in der Praxis vernünftig wirkt? Wenn man es richtig betrachtet, dann muss man sagen: Das war ein Bündnis für Beschäftigte und Zukunft. (Beifall bei der SPD) Es war deshalb ein Bündnis für Beschäftige und Zukunft, weil es das Ziel war, dass nicht die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für die Zockerei am Kapitalmarkt und die damit verbundenen Risiken und Krisen zu bezahlen haben. (Beifall bei der SPD) Deshalb haben wir es auf den Weg gebracht. Die Union ist mitgegangen. Es war ein guter Weg. Es war ein Weg, den Sozialdemokraten richtig und vernünftig gepflastert haben. (Beifall bei der SPD) Man darf zu Recht sagen, Herr Weiß: Bei Abnahme des Bruttosozialprodukts um 5 Prozent und fast keinem Anstieg der Arbeitslosenzahl scheint dieses Mittel in seiner Flexibilität und Wirkung ein Erfolgsmodell zu sein. Deshalb haben wir diesen Antrag gestellt. Wir wollen, dass die Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes auch in Zukunft gilt. Wir sind nämlich nicht so blauäugig, zu glauben, dass die Krise schon in den nächsten Monaten vorbei ist. (Beifall bei der SPD) Dieses Modell hat 500 000 Jobs gerettet; das konnten wir überall nachlesen. Dieses Modell hat den Arbeitnehmern und den Unternehmen Sicherheit gegeben, und es hat den Blick in die Zukunft der betroffenen Unternehmen sowie der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht ganz so sehr getrübt, wie wir es im Rahmen der Finanzkrise erlebt haben. Deshalb wollen und werden wir dies weiterführen. Ich erlaube mir vor dem Hintergrund der Anhörung des zuständigen Ausschusses auf die finanziellen Auswirkungen der Krise auf dieses Instrument hinzuweisen. Die Hans-Böckler-Stiftung hat sie in einer Studie untersucht und deutlich dargestellt, dass im Jahre 2009 die Kosten für die Agentur für Arbeit circa 4,7 Milliarden Euro betrugen. Bei den Unternehmen kam es zu Kosten in Höhe von circa 5 Milliarden Euro. Bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern kam es zu Einkommensverlusten in Höhe von circa 3 Milliarden Euro. Diese Kosten sind, wenn man so will, relativ gleichmäßig verteilt. Wenn wir ehrlich sind und sagen, dass die Wirtschaftskrise aufgrund der Finanzkrise entstanden ist, dann wird es langsam Zeit, dass endlich diejenigen, die sie verursacht haben, dafür bezahlen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Eigentlich müssten wir diese Kosten - weit über 10 Milliarden Euro - den Finanzjongleuren vor die Füße werfen und es dort abholen; Stichwort Finanztransaktionssteuer. Das wäre ein gutes und wirksames Instrument, und es wäre besser als die geplante Bankenabgabe. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir wollen die Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes auf 36 Monate; das sehen Sie in unserem Antrag. Bereits im November/Dezember 2008, als die Diskussion darüber, dass die kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht den Bach runtergehen sollen, richtig losging, haben wir erkannt, dass es sehr wichtig ist, dass die sogenannten Remanenzkosten, also die Kosten für die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigen, übernommen werden. Es war genauso wichtig und notwendig, dies mit der Qualifizierung zu verbinden. Bei der Qualifizierung ist mir aufgefallen, dass bei der Anhörung nur wenige Sachverständige darauf hingewiesen haben - teilweise hat man es in diesen Wochen aus der Politik gehört; erst sollte das Kurzarbeitergeld nicht verlängert werden; jetzt hat man es gemacht -, dass eine mögliche Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes den notwendigen Strukturwandel behindern könnte. Eine mögliche Verlängerung, die gerade den Beschäftigen und den Unternehmen Sicherheit bringen würde, könnte also einen notwendigen Strukturwandel verhindern. Wenn man sich das genauer anschaut, muss man einiges feststellen - das haben die Sachverständigen teilweise getan -: Es gab im verarbeitenden Gewerbe trotz Kurzarbeit Entlassungen. Innovation findet doch nicht nur statt, wenn Unternehmen Beschäftigte entlassen und sie sich einen neuen Arbeitgeber suchen müssen. Im Gegenteil: Innovationen in den Betrieben finden statt, wenn es eine entsprechende Innovationskultur gibt. Grundlage dafür ist häufig eine sichere Beschäftigung. Es bedeutet ein Stück Zukunftssicherung, zu wissen, dass man in den nächsten Jahren für den gleichen Arbeitgeber arbeiten kann. Diejenigen, für die das gilt, sind doch viel eher bereit, sich in betriebliche Belange einzubringen und einen Beitrag zu Wandel und Fortschritt zu leisten. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Wohl wahr!) Die Kurzarbeit hat dazu geführt, dass nicht entlassen worden ist und dass darüber hinaus die Ausbildung nicht eingestellt wurde, obwohl nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes 2009 ein Minus von 7,6 Prozent zu verzeichnen war. Die Befürchtung, dass 2009 aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise massiv weniger ausgebildet wird, hat sich nicht bewahrheitet. Wir sind der Auffassung, dass gute Ausbildung, vor allen Dingen im verarbeitenden Gewerbe, ein wesentlicher Beitrag zur Innovationsfähigkeit und Innovationskraft im Mittelstand ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele Betriebe in unserer Republik haben, was Qualifizierung angeht, immer noch schwach ausgeprägte eigene Vorstellungen über ihren Qualifizierungsbedarf und keine Weiterbildungsstrategie; darüber haben wir an anderer Stelle mehrfach diskutiert. Um dem entgegenzuwirken, sind Maßnahmen und Aktivitäten durchgeführt worden, Stichwort "WeGebAU". Wenn man sich das Ganze anschaut, dann erkennt man, dass es nichts mit dem Strukturwandel zu tun hat, dass die Kurzarbeiterregelung verändert wird. Ich will auf Folgendes hinweisen: Qualifizierungen, die für die Beschäftigten sinnvoll und gut sind, sind so zu organisieren, dass sie möglichst nachhaltig wirken. Es ist aber nun einmal so, dass Kurzarbeit abgebaut wird, wenn ein Unternehmen mehr Aufträge bekommt. Das ist für die Erwachsenenbildung, qualifizierungspolitisch gesehen, manchmal etwas nachteilig. In diesem Bereich braucht man längere Zeiten. Das spricht nicht gegen eine Kurzarbeiterregelung, sondern im Prinzip dafür, und deshalb wollen wir sie aufrechterhalten. Die betriebliche Weiterbildungsstrategie wäre der Qualifizierung von Kurzarbeitern sicherlich förderlich, wenn wir sie schon umfassender hätten durchsetzen können. Alle Debatten, auch die im zuständigen Ausschuss, und alle Untersuchungen haben deutlich gemacht, dass Deutschland hier noch ein Stück zurückliegt. All das spricht nicht gegen, sondern für die Verlängerung der Kurzarbeiterregelung. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Sie dem Antrag der Fraktion der SPD zu. Für uns geht es um ein Bündnis für die Sicherung der Beschäftigung, also um gute Zukunftsaussichten. Wenn Arbeitnehmer wissen, dass sie nicht entlassen werden, dann ist das auch für die Unternehmen und für die Zukunft in Deutschland gut. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Eben hat der geschätzte Kollege Bonde von den Grünen bezogen auf die Debatte zu einem anderen Tagesordnungspunkt von einem schwarzen Moment im Parlament gesprochen. Ich sage: Das ist ein grüner Augenblick mit einer roten Zuversicht. Stimmen Sie dieser Regelung deshalb zu. Wir haben sie auf den Weg gebracht. Sie wird auch weiterhin benötigt. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Kollege Johannes Vogel ist der nächste Redner für die Fraktion der FDP. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig, was gerade gesagt wurde: Die Kurzarbeit ist in der Tat ein sehr wertvolles Instrument in der Krise gewesen. Ganz wesentlich hat sie dazu beigetragen, dass das Ausland neidisch auf das sogenannte deutsche Jobwunder schaut. Was den Arbeitsmarkt angeht, scheint unser Land trotz der schwersten Rezession in der Geschichte dieser Republik erfreulich gut davongekommen zu sein. Das ist in der Tat ein Lob und auch einen Dank wert an unseren geschätzten Koalitionspartner, aber auch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, an Sie und den ehemaligen Minister Scholz. Nur, Arbeitspolitik, die in der Krise gut war, muss korrigiert werden, wenn sie auch nach der Krise noch gut sein soll. Ein Instrument wie die Verlängerung der Kurzarbeit, das in der Krise wertvoll war, kann nach Ende der Krise durchaus schädlich sein, weil dadurch Strukturen konserviert und Arbeitsplätze gefährdet werden. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Blödsinn!) Niemand kann bestreiten, dass es am Konjunkturhimmel Zeichen der Besserung gibt. Wie wir alle wissen, unterscheidet sich das von Branche zu Branche. Ich glaube, das ist ein Grund, bei dem Thema Kurzarbeit maßvoll zu agieren, sowohl was die Verlängerung der Sonderregeln bei der Kurzarbeit als auch was die sogenannte Synchronisation der Sozialversicherungsbeiträge angeht. Man muss nämlich auch etwas anderes synchronisieren: das Ende der Krise und das Ende der Sonderregelungen für die Kurzarbeit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich habe das Gefühl, diese Herausforderung haben Sie nicht begriffen. Das zeigt sich in meinen Augen in zwei Punkten, nämlich zum einen darin, dass Sie gar nichts zur Konzernklausel sagen. Die Konzernklausel privilegiert ohne Not große Unternehmen gegenüber kleinen. Sie war falsch und systemwidrig. Genauso falsch ist in meinen Augen zum anderen der Zeitraum von 36 Monaten, den Sie uns hier vorschlagen. Das hat auch die Anhörung, die wir am letzten Montag im Ausschuss für Arbeit und Soziales durchgeführt haben, ganz klar gezeigt. Ich zitiere nur zwei Sachverständige aus der Anhörung: Die OECD sagt: Unsere Vorhersagen gehen aber davon aus, dass wir uns bereits in einer beginnenden Aufschwungphase befinden und dass man im jetzigen Augenblick vorsichtig sein sollte mit der Verlängerung und insofern auch eine stärkere Eigenbeteiligung vorzusehen ist. Das IAB, das wir alle gern zitieren, weil wir alle wissen, dass das ein sehr seriöses Institut ist, sagt: Eine Verlängerung der maximalen Bezugsfrist des konjunkturellen Kurzarbeitergeldes auf 36 Monate zum jetzigen Zeitpunkt könnte als Signal für eine mittelfristig gewährte Subvention missverstanden werden und das Risiko von Strukturverhärtungen eher erhöhen. Auch mit der Frist von 24 Monaten oder heute 18 Monaten dürften die meisten Betriebe ausreichend Zeit haben. (Anette Kramme [SPD]: Was halten Sie von Professor Bosch, IAQ?) - Ich habe jetzt zwei herausgegriffen, liebe Frau Kollegin. Man kann also festhalten: Ausgerechnet das Merkmal, das Ihren Antrag auszeichnet, die Frist von 36 Monaten, wurde von zwei seriösen Instituten kritisiert. Deswegen ist sinnvoller, was wir machen, nämlich eine maßvolle Bezugsdauer von 18 Monaten zu wählen und die Synchronisation der Sozialversicherungsbeiträge 15 Monate lang zu gewähren. Wir steigen schrittweise aus diesem Instrument aus. Es bleibt bei sinnvollen Maßnahmen, wie zum Beispiel der vollen Erstattung bei Qualifizierungsmaßnahmen. Wir haben aber im Gegensatz zu Ihnen eine klare Exit-Strategie und haben verstanden, dass ein Instrument in einer Krise gut sein kann, aber nach der Krise irgendwann auch vernünftig auslaufen muss, wenn es im Interesse der Menschen wirken soll. Mir fällt dazu Ihr Ex-Kanzler Schröder ein. Ich glaube, man kann für die Kurzarbeit sagen: Wir werden nicht alles anders machen als Sie, aber vieles besser. Ich glaube, das ist genau die richtige Antwort. Deshalb werden wir Ihren Antrag auch ablehnen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun die Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Jutta Krellmann (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Betriebsräte und Geschäftsleitungen haben gehandelt, nicht Sie, Herr Weiß. Sie haben höchstens die Rahmenbedingungen geschaffen, aber sonst nichts. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Gott sei Dank! Das ist doch was gewesen! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Gehandelt haben andere. Die Krise zeigt, dass nur eine konsequente Arbeitszeitverkürzung Arbeitsplätze schafft und sichert. Statt immer längere Arbeitszeiten für den einen und gar keine für den anderen, muss Arbeit gerechter verteilt werden. Kurzarbeit ist nämlich nichts anderes als Arbeitszeitverkürzung mit Teillohnausgleich. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Reichtum für alle!) Das mit der Kurzarbeit haben zum Glück mittlerweile auch die CDU, die FDP und Frau von der Leyen verstanden. Wir unterstützen die Forderung der SPD in ihrem Antrag zur Kurzarbeit und werden diesem zustimmen. Uns geht er aber noch nicht weit genug. Es erfordert nur gesunden Menschenverstand, um zu erkennen, dass die gerechte Verteilung von Arbeit der richtige Hebel für mehr Beschäftigung ist. (Beifall bei der LINKEN) Hier gibt es in Ihren Vorschlägen noch einigen Raum für Verbesserungen. Ich gehöre zu der Generation, die in den 80er-Jahren für eine Arbeitszeitverkürzung gekämpft hat. Arbeitszeitverkürzung bedeutet nicht nur Kurzarbeit, sondern sie bedeutet auch, die Arbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte zum Beispiel auf eine 35-Stunden-Woche zu verkürzen; sie bedeutet, Überstunden zu begrenzen; und sie bedeutet, Altersteilzeit einzuführen. (Beifall bei der LINKEN) Arbeitszeitverkürzung erleichtert die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, und sie wirkt sich positiv auf die Gesundheit der Beschäftigten aus. Da schlagen Sie gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe. Vor dem Hintergrund knapper Arbeit ist es auch völlig irrsinnig, die Menschen mit 67 Jahren noch in den Betrieben zu beschäftigen. (Beifall bei der LINKEN) Nehmen Sie die Entscheidung zur Rente mit 67 wieder zurück! Für die Linke ist klar: Die Erstattung von Sozialversicherungsbeiträgen bei Kurzarbeit ist ebenfalls richtig und muss fortgesetzt werden. Hierbei sind wir ganz auf Ihrer Seite. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Welche Seite meinen Sie denn jetzt?) Die Regierung hat lange genug gebraucht, sich dazu durchzuringen, Klarheit zu schaffen. Damit wurden viele Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben absolut verunsichert. Die tarifliche Kurzarbeit, wie sie in der Metall- und Elektroindustrie ausgehandelt wurde, wäre ebenfalls ein richtiger Schritt und eine Ergänzung zur konjunkturellen Kurzarbeit gewesen. Sie fehlt in den Vorschlägen der SPD und der Regierung aber komplett. Hier müssten noch Hausaufgaben gemacht und Nachbesserungen vorgenommen werden. (Beifall bei der LINKEN) Die Idee, Kurzarbeit für die Qualifizierung der Beschäftigten zu nutzen, klingt bestechend und einfach; allerdings funktioniert sie in der Praxis nur schwer. Das belegt im Grunde die sinkende Zahl von Bildungsmöglichkeiten während der Kurzarbeit. Erstens ist es für Bildungsträger schwierig, passende Maßnahmen aus dem Boden zu stampfen. Zweitens ist es schwierig, in den Betrieben dafür zu sorgen, dass Leute auch bereit sind, daran teilzunehmen. Hinzu kommt noch: Wenn die Kurzarbeit endet, endet auch die Weiterbildung, weil am nächsten Tag wieder voll gearbeitet werden muss. Das bedeutet: Wenn man da etwas erreichen will, muss man über Qualifizierung für die Zeit nach dem März 2012 reden, also über Qualifizierung als Daueraufgabe und nicht nur als Maßnahme bei Kurzarbeit. (Beifall bei der LINKEN) Noch ein Punkt bleibt in Ihren Vorschlägen unerwähnt. Sie lassen die Beschäftigten in der Kurzarbeit mit dem Progressionsvorbehalt in die Steuerfalle laufen. Damit ist gemeint, dass das Kurzarbeitergeld zwar erst einmal lohnsteuerfrei ist, die Beschäftigten aber im nächsten Jahr hohe Steuernachzahlungen leisten müssen. Das können sie sich aber gar nicht leisten. Wovon auch? Sie sind schon in Kurzarbeit, erhalten weniger Lohn und können dementsprechend keine Rücklagen bilden. Korrigieren Sie bitte Ihre Steuerungerechtigkeiten! Das ist im Interesse der Beschäftigten. (Beifall bei der LINKEN) Sorgen Sie für mehr Steuergerechtigkeit, und haben Sie den Mut zu konsequenter Arbeitszeitverkürzung! Nur so können Arbeitsplätze gesichert und geschaffen werden. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Nun aber los! - Heiterkeit - Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die SPD feuert mich schon wieder an!) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nun aber los! - Alle Fraktionen im Hause sind der Auffassung - das ist schon hinreichend deutlich geworden -, dass in einer Krisensituation mit Nachfrageeinbrüchen die Kurzarbeit ein richtiges und solidarisches Instrument ist, um Arbeitslosigkeit abzufedern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Da nehmen wir als Grüne uns auch keineswegs aus; das haben wir immer deutlich gemacht. Wissenschaft, Gewerkschaften und Arbeitgeber - das hat die Anhörung gezeigt - bilden hier eine Phalanx. Kurzarbeit ist ein Instrument der Untertunnelung, und zwar der Untertunnelung einer Krise. Wir sollten uns aber schon die Frage stellen, wie lang denn aus unserer Sicht dieser Tunnel sein soll, ob nicht irgendwann auch Licht am Ende des Tunnels zu sehen sein muss, und wie wir schnellstmöglich aus diesem Tunnel wieder herauskommen. Wir müssen von dieser Art von Subventionierung tatsächlich wieder wegkommen; denn die Krise, mit der wir es zu tun haben, ist nicht eine einfache Nachfragekrise; es ist eine Strukturkrise, und das Kurzarbeitergeld wirkt prinzipiell strukturkonservierend. (Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr!) Deswegen ist es wichtig, dass wir uns darüber auseinandersetzen, wie wir es erreichen, dass wir nicht Strukturen konservieren, also Subventionen in einen Bereich geben, der nach dem Ende der Krise ohne die Subventionen nicht konkurrenzfähig wäre. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich bin bereit, zu applaudieren!) Es geht nicht an, dass wir erst Geld für Kurzarbeit ausgeben und nachher doch Arbeitslosigkeit finanzieren müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sind die Momente, wo ich den Glauben an die Kollegin Pothmer wiedergewinne!) Ich sage noch einmal ausdrücklich: Wir sind für die Weiterführung des Kurzarbeitergeldes. Aber auch in Ihrem Beitrag, Herr Brase, haben Sie überhaupt nicht begründen können, warum Sie hier und heute eine Verlängerung der Bezugszeit auf 36 Monate beschließen wollen. (Otto Fricke [FDP]: Jawohl, das stimmt!) Sie sollten wenigstens die vom IAB vorgeschlagene Überprüfungsklausel in bestimmten Phasen aufgreifen. Aber es ist falsch, jetzt einfach die Bezugsdauer auf 36 Monate zu verlängern, und das, ohne zwischendurch hinzuschauen. Das halte ich für nicht verantwortbar. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP) Ich will hier einen weiteren kritischen Punkt aufgreifen, den Herr Brase schon angesprochen hat, und zwar die Verknüpfung von Kurzarbeit und Weiterbildung. Die Bundeskanzlerin hat hier in vielen Reden immer wieder gesagt, wir müssten darauf achten, dass wir Deutschen aus dieser Krise stärker herauskommen, als wir hineingegangen sind. Eines der ganz großen Defizite des deutschen Arbeitsmarktes ist die ungenügende Qualifizierungs- und Weiterbildungskultur. Was liegt denn näher, als in einer solchen Situation die Krise als Chance zu nutzen, dieses Defizit zu beseitigen? Warum nutzen wir die derzeit nicht gebrauchten Arbeitszeitpotenziale nicht für Weiterbildung? Diese Verknüpfung wird zurzeit nur ungenügend angewandt. Nur 10 Prozent aller Kurzarbeiterinnen und Kurzarbeiter nutzen die Kurzarbeit, um parallel eine Weiterbildung zu machen. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Wir haben aber das Angebot im Gesetz!) - Herr Weiß, in der Anhörung ist gesagt worden, dass man dieses Defizit ganz deutlich sehen kann. Nach sieben Monaten wird das Kurzarbeitergeld gezahlt, ohne dass noch irgendwelche Anstrengungen für Weiterbildung unternommen werden müssen. Der Vertreter der Bundesagentur für Arbeit hat gesagt: Man kann genau sehen, wie dieser Tatbestand den Qualifizierungsanreiz dämpft. - Deswegen ist dieser Ansatz falsch. Wenn wir den Gesetzentwurf der Bundesregierung im Ausschuss beraten, dann bitte ich Sie darum, dass wir einmal sehr ernsthaft und seriös darüber sprechen sollten, ob diese Regelung nicht korrigiert werden muss. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, aus diesen beiden Gründen, also Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes und unzureichende Verknüpfung des Kurzarbeitergeldes mit der Weiterbildung, werden wir uns bei der Abstimmung über Ihren Antrag enthalten. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das ist aber schade! Ich dachte, Sie wollten zustimmen! - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Über weite Strecken sehr ordentlich!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Paul Lehrieder das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Herr Kollege Brase, Sie haben vorhin ausgeführt, die Kurzarbeit, wie sie derzeit geregelt ist, sei während der Zeit unserer gemeinsamen Koalition - mittlerweile sind wir geschiedene Koalitionspartner - eingeführt worden. Wir haben das Kurzarbeitergeld mit der FDP fortgeführt. Ich hätte bei dieser Feststellung durchaus auch den Applaus der SPD erwartet. Denn das Kurzarbeitergeld ist eine gute und richtige Maßnahme. Wir haben vorhin von mehreren Rednern gehört, dass uns dieses Kurzarbeitergeld europaweit - ich möchte sagen: weltweit - bei der Bewältigung der Krise einen Vorsprung verschafft hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Willi Brase [SPD]) Wir müssen uns bei all denen, die dafür den Schweiß der Edlen und Gerechten vergossen haben, bedanken. Meine Damen und Herren, es besteht im Übrigen Konsens in diesem Hause darüber, dass die Kurzarbeit das probate, das richtige Mittel für die Bewältigung der Krise ist. Auch die Unternehmen haben erkannt, dass sie qualifizierte und gut ausgebildete Arbeitnehmer sinnvollerweise möglichst lange halten und ihnen nicht ohne Not kündigen sollten, um so dieses Tal der Krise mithilfe der Verlängerung der Bezugsdauer für das Kurzarbeitergeld zu überbrücken. Das konjunkturelle Kurzarbeitergeld - die Vorredner haben dies bereits ausgeführt - hat einen bedeutenden Anteil daran, dass die Unternehmen in Deutschland in der Wirtschaftsflaute ihre Arbeitnehmer halten konnten. Zwei gegensätzliche Tendenzen zeichnen sich aber derzeit ab: Unternehmen sind einerseits in vielen Bereichen an der Grenze der Belastbarkeit in Bezug auf die Haltekosten angekommen; die wirtschaftliche Erholung andererseits beginnt nur langsam. Außerdem stellen die Unternehmen, die von der Krise betroffen sind, keine homogene Gruppe dar. Manche Unternehmen erreicht die Krise erst in den nächsten Monaten. Sie wird sie über das Jahr 2010 hinaus vor Herausforderungen stellen. Andere Unternehmen bauen bereits jetzt ihren Mitarbeiterbestand wieder auf. In den nächsten Monaten wird sich deshalb herausstellen, welche Entwicklung in welcher Sparte dominieren wird. Bis spätestens Ende Juni dieses Jahres, also Kündigungstermin zum Jahresende, wird der Entwicklung und den finanziellen Möglichkeiten entsprechend durch die Unternehmen flexibel und kurzfristig reagiert werden müssen. Es hat sich erwiesen: Das Instrument des verlängerten Bezugs von Kurzarbeitergeld hat sich arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitisch als Kernstück des gelungenen Krisenmanagements bewährt. Daher soll es erfolgreich fortgeführt werden. Die Forderung der SPD, liebe Freunde, in der entsprechenden gesetzlichen Regelung die Angabe "24 Mo-nate" pauschal durch die Angabe "36 Monate" zu ersetzen und eine Fristverlängerung bis zum 31. Dezember 2011 vorzusehen, schießt indes über das Ziel hinaus. Die Kurzarbeit darf nicht dazu führen, dass ein notwendiger Strukturwandel verhindert wird; darauf haben hier die Kollegin Pothmer und die sehr weise OECD bereits in der Anhörung am Montag hingewiesen. (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb ist die Verlängerung der Dauer des Bezugs von Kurzarbeitergeld auf 36 Monate, liebe Genossen von der SPD, abzulehnen. Die BDA hat in der Anhörung am Montag argumentiert, dass eine Verlängerung der Bezugsfrist auf 36 Monate eine nicht zu rechtfertigende Belastung der Arbeitslosenversicherung ist. Mit Kabinettsbeschluss von gestern wurde das Beschäftigungschancengesetz als bessere Lösung auf den Weg gebracht. Es ist gut, dass wir unbeschadet des Antrags der SPD ein sehr aktives Arbeitsministerium haben, das die dahinterstehende Idee unverzüglich in die Tat umgesetzt hat. Dies zeichnet unsere Arbeitsministerin Frau von der Leyen aus. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die bis zum 31. Dezember 2010 geltende Sonderregelung zum Kurzarbeitergeld soll bis zum 31. März 2012 verlängert werden. Eine Ausnahme ist die Konzernklausel; diese wollen wir nicht fortführen. Im Einzelnen: Der Arbeitgeber bekommt für die ersten sechs Monate 50 Prozent der von ihm allein zu tragenden Sozialversicherungsbeiträge von der BA in pauschalierter Form erstattet. Frau Pothmer, natürlich ist die Qualifizierung gerade in den ersten sechs Monaten während des Bezugs von Kurzarbeitergeld ein großes Ziel. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber danach!) Nur, es gibt Branchen - da sollten wir uns kein X für ein U vormachen -, in denen eine Qualifizierung keinen Sinn macht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Beispielsweise der Lkw-Fahrer einer Spedition hat den Führerschein Klasse CE. Er braucht zur Qualifizierung während des Bezugs von Kurzarbeitergeld keinen Führerschein der Klasse A zu machen; denn er kann mit seinem Führerschein bei steigendem Wirtschaftswachstum wieder ganz normal weiterarbeiten. Für den Fernfahrer macht eine Weiterqualifizierung während des Bezugs von Kurzarbeitergeld daher verständlicherweise keinen großen Sinn. Aber es gibt Branchen - Frau Pothmer, da sind wir nahe beieinander -, da macht eine Weiterqualifizierung durchaus Sinn, und dort wird sie auch in Anspruch genommen. Es gibt aber Branchen, in denen man die Koppelung der Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge an eine Fortbildung als schikanös empfinden und sagen müsste: Warum kann ich meine Mitarbeiter nicht sinnvoll fortbilden? Ich habe nicht die Möglichkeit, diese Kosten übernommen zu bekommen. Ich hätte noch einiges zu sagen; aber ich merke, meine Redezeit geht allmählich zu Ende. Ich will die Zeit nicht wie die anderen Kollegen über Gebühr strapazieren. (Manfred Grund [CDU/CSU]: So ist die CDU/ CSU!) Lehnen Sie den Antrag der SPD ab. Sie können versichert sein: Mit der Verlängerung der Dauer des Bezugs von Kurzarbeitergeld tun wir das in der jetzigen wirtschaftlichen Situation Wichtige, Erforderliche, Notwendige, aber auch Ausreichende. Wenn die Krise überwunden ist, werden wir in dieser christlich-liberalen Koalition zu gegebener Zeit die richtigen Maßnahmen auf den Weg bringen. Da dürfen Sie volles Vertrauen zu uns haben. Ich bitte Sie, an unseren sehr weisen Beschlüssen mitzuwirken. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, mir immer wieder einmal die Frage zu stellen: Was haben sich Kollegen eigentlich dabei gedacht, wenn sie einen Antrag in den Deutschen Bundestag einbringen? (Otto Fricke [FDP]: Das ist manchmal gefährlich!) Ich hatte regelrecht die Nöte des Antragsschreibers in der SPD-Fraktion vor meinem geistigen Auge, der sich die Frage gestellt haben muss: Was kann man da eigentlich bringen, um noch irgendwie aufzufallen? Nach dem Motto "Viel hilft viel" hat man einfach einmal in den Topf gegriffen und eine Verlängerung der Bezugsfrist auf 36 Monate an die Spitze eines Antrags gestellt. Herr Brase hat reklamiert, dass Herr Scholz das alles ganz toll gemacht habe. Dies fand ich insofern bemerkenswert, als Sie sich in anderen Zusammenhängen nicht mehr so gerne an die Tätigkeit Ihrer Arbeitsminister in den vergangenen elf Jahren erinnern. Ich habe mir einmal angeschaut, wie das alles zu Ihrer Zeit gewesen ist. Die Regelfrist umfasst, wenn es keine Nutzung der Verordnungsermächtigung nach § 182 SGB III gibt, sechs Monate. Sie wird in der Regel tatsächlich durch Verordnung verlängert. Siehe da, Herr Brase, während der gesamten Zeit Ihrer Regierung gab es Verlängerungen, aber nicht in dem Umfang, wie Sie es von Norbert Blüm damals übernommen hatten. Ende 1998 haben Sie die von Blüm per Verordnung durchgesetzte Verlängerung der Bezugszeit von sechs auf 24 Monate übernommen. Dann wurde die Bezugszeit immer wieder per Verordnung geändert: Unter Riester betrug sie zunächst 24 Monate und wurde dann auf 15 Monate gekürzt. Unter Clement stieg die Bezugsdauer auf 18 Monate und sank wieder auf 15 Monate. Bei Müntefering sank die Bezugszeit schließlich auf nur noch zwölf Monate. Erst unter Scholz ist die Bezugsdauer wieder gestiegen: Sie wurde erst auf 18 und dann auf 24 Monate verlängert. Eines verstehe ich nicht: Wenn Sie sich denken, dass es richtig ist, jetzt in die Vollen zu gehen und eine Verlängerung der Bezugszeit auf 36 Monate zu fordern, warum ist Ihnen dieser Gedanke dann nicht in den letzten elf Jahren gekommen? (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Weil wir da die Wirtschaftskrise noch nicht hatten!) Ich finde das nicht sehr überzeugend. Es wirkt ein bisschen so, als sei das Ganze aus der Not geboren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Willi Brase [SPD]: Ein ganz schwaches Argument, Herr Kolb! Sie zählen nur auf!) - Nein, Herr Brase. Sie wollen jetzt, am Ende einer Krise - Gott sei Dank bewegen wir uns langsam auf das Ende zu -, noch einmal so richtig in die Vollen gehen, wo wir mittlerweile dosiert und abgewogen entschieden haben, die Bezugszeit von 24 auf 18 Monate zu senken. Auch bei der Beitragserstattung haben wir eine Regelung mit Augenmaß gefunden, im Sinne einer Exit-Strategie. Sie wollen aber mit dem groben Hammer noch eins draufsetzen. Das macht aus unserer Sicht einfach keinen Sinn. (Otto Fricke [FDP]: Die wollen Rot-Rot-Grün!) Die Regelung, die die Koalition am letzten Freitag vereinbart hat und die wir morgen hier in erster Lesung behandeln wollen, wurde mit Augenmaß getroffen. Ich bin froh, dass es Klarstellungen gegeben hat, zum Beispiel bei der tariflichen Kurzarbeit. Frau Krellmann hat das heute nicht angesprochen; vielleicht wird sie es morgen früh in der Debatte tun. Aus unserer Sicht war klar, dass es beim tariflichen Kurzarbeitergeld keine Tarifpolitik zulasten der Beitragszahler geben soll. Für uns war wichtig, dass die Konzernklausel, die es in der bisherigen Regelung gab - § 421 t SGB III -, herausgenommen wurde. Man muss ehrlich sagen, dass das Tor zur Kurzarbeit hier viel zu weit offen gewesen ist. (Willi Brase [SPD]: Was haben Sie denn dagegen, dass die Beschäftigten ein bisschen Zuversicht und Sicherheit haben? Immer auf die Beschäftigten!) All das wurde jetzt mit Augenmaß angepasst. Wir sind auf einem guten Weg und werden auch die weiteren Monate der Krise mit dem Instrument der Kurzarbeit abwettern. Die Unternehmen haben ihre Segel im Sturm der Wirtschafts- und Finanzkrise heruntergenommen. Ich denke, wir werden am Ende der Krise erleben, dass die Unternehmen ihre Segel wieder hochziehen und Fahrt aufnehmen. Wir müssen nämlich immer bedenken: Es kommt jetzt darauf an, darüber nachzudenken, wie die konjunkturelle Erholung mit geeigneten Maßnahmen nach vorn gebracht werden soll. Das wird mehr und mehr auf die Agenda rücken. Für heute ist damit genug gesagt. Herr Brase, wir werden das Thema morgen früh sicherlich weiter diskutieren. Ich hoffe, dass Sie dann auch das Wort ergreifen. Dann können wir uns an dieser Stelle austauschen. Ich wünsche Ihnen jetzt - was wünsche ich Ihnen jetzt eigentlich? - einen schönen Abend und verabschiede mich an dieser Stelle. Bis morgen. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Kolb, ich muss allerdings darauf hinweisen, dass es zum Erholen noch etwas zu früh ist. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Sitzung ist noch nicht geschlossen! - Gegenruf der Abg. Iris Gleicke [SPD]: Die Präsidentin sagt, wann Schluss ist!) Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel "Beschäftigte vor Arbeitslosigkeit schützen - Konditionen für Kurzarbeit verbessern". Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1446, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/523 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes (1. Telemedienänderungsgesetz) - Drucksachen 17/718, 17/995 - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) - Drucksache 17/1219 - Berichterstattung: Abgeordneter Martin Dörmann Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Damit sind Sie einverstanden. Es geht um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Andreas Lämmel, Klaus Barthel, Claudia Bögel, Kathrin Senger-Schäfer und Tabea Rößner.3 Wir kommen nun zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1219, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/718 und 17/995 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung angenommen. Nun kommen wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1455. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Linken und Enthaltung der Fraktion der SPD abgelehnt. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Hänsel, Jan van Aken, Sevim Daðdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE VI. EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel in Madrid: Den Aufbruch zur zweiten Unabhängigkeit Lateinamerikas solidarisch unterstützen - Drucksache 17/1403 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Hoppe, Dr. Hermann Ott, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Klimaschutz und gerechten Handel mit Lateinamerika und der Karibik voranbringen - Drucksache 17/1419 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine halbe Stunde zu debattieren. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Heike Hänsel (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit dem anstehenden Gipfeltreffen EU-Lateinamerika-Karibik am 18. Mai 2010 in Madrid. Dieses Gipfeltreffen findet unter dem Eindruck der Feierlichkeiten zu 200 Jahren Unabhängigkeitsbestrebungen in Lateinamerika statt. Damals begann der Kampf um die Befreiung von Kolonialismus, Unterdrückung und Ausbeutung. Heute, 200 Jahre später, geht es um die sogenannte zweite Unabhängigkeit Lateinamerikas, die Unabhängigkeit von imperialer Einmischung, von aufgezwungenen neoliberalen Wirtschaftsbeziehungen, und den Schuldendienst. Die Menschen in Lateinamerika erkämpfen sich ihre wirtschaftliche, soziale, ökologische und kulturelle Souveränität. (Beifall bei der LINKEN) Ein neues Selbstbewusstsein geht von diesem Kontinent aus, genauso wie viele alternative politische Ansätze, von denen wir lernen können, zum Beispiel neue demokratische Verfassungen, die auch per Referendum abgestimmt werden - im Gegensatz zur Europäischen Union -, die also Menschen direkt an Politik beteiligen. Es geht um solidarische Wirtschaftsbeziehungen und gegenseitige Unterstützung, um Verstaatlichung der natürlichen Ressourcen für Armutsbekämpfung - alles Facetten eines sogenannten Sozialismus des 21. Jahrhunderts. In Bolivien zum Beispiel geht heute ein großer internationaler Klimagipfel der Völker mit mehr als 20 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus aller Welt zu Ende. Dort gibt es interessanterweise keine Straßenschlachten mit der Polizei wie beim Umweltgipfel in Kopenhagen; denn die sozialen Bewegungen und Umweltgruppen sind Teil des Gipfels und nicht ausgesperrt wie in Kopenhagen. Sie können also ihre Ideen und ihre Kritik einbringen. Davon können wir konkret lernen. (Beifall bei der LINKEN) Leider hat die Bundesregierung keine offizielle Vertretung zu diesem wichtigen Ereignis geschickt. Was macht nun die Europäische Union angesichts dieser Entwicklung in Lateinamerika? Anstatt diese Entwicklung zu stärken und zu unterstützen, versucht sie, über neue Freihandelsabkommen - aktuell mit Kolumbien, Peru und Zentralamerika - ihre wirtschaftliche und politische Dominanz in Lateinamerika auszubauen und solidarische, alternative Politikansätze zu boykottieren. Das alles ist in der sogenannten Global Europe Strategy der EU-Kommission schriftlich festgehalten. Sie steht für den weltweiten Ausbau der Macht europäischer Konzerne. Dazu gehören auch diese neuen Freihandelsabkommen mit Lateinamerika. Es geht dabei um Marktöffnung und ungehinderten Zugang zu Energie und Rohstoffen. Es geht auch um Militärkooperation und den Export zum Beispiel von Atomtechnologie. In diesem aggressiven Wettbewerb wird es viele Verlierer, aber nur wenige Gewinner geben. So warnt zum Beispiel die kolumbianische Viehzüchterföderation - ich zitiere -: ... das geplante Freihandelsabkommen zerstört die Produktion von Fleisch, Milch und deren Erzeugnisse im ungleichen Wettbewerb mit der EU und bringt mehr Armut und Hunger in die ländlichen Regionen und für 400 000 Familien den Ruin. Deshalb unterstützt die Linke die Forderungen von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Umweltgruppen und fordert den Stopp dieser Freihandelsabkommen. Stattdessen brauchen wir solidarische Handelsabkommen, die den Interessen der Bevölkerung Lateinamerikas entsprechen und eine Entwicklung fördern, die Armutsbekämpfung, Klimaschutz, Sicherung sozialer Standards - auch hier in Europa - und den Ausbau der Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern möglich macht. (Beifall bei der LINKEN) Für uns ist es ein weiterer Skandal, dass in Madrid ein Handelsabkommen mit dem kolumbianischen Präsidenten Alvaro Uribe unterzeichnet werden soll, in dessen Amtszeit massive Menschenrechtsverletzungen vonseiten der kolumbianischen Armee begangen wurden, Hunderte von Gewerkschaftern getötet und viele Menschen von ihrem Land vertrieben wurden. In unseren Augen ist es völlig inakzeptabel, dass mit einem solchen Mann ein Handelsabkommen unterzeichnet wird. Er gehört eigentlich vor den Internationalen Strafgerichtshof. (Otto Fricke [FDP]: Und Herr Chávez?) Die spanischen Bewegungen haben deswegen eine Initiative ins Leben gerufen, die Präsident Uribe in Madrid als persona non grata - unerwünschte Person - erklärt. Wir werden uns am alternativen Gegengipfel in Madrid beteiligen. Er nennt sich "enlazando alternativas" und richtet sich gegen die Politik der EU. (Otto Fricke [FDP]: Bei so einer Rede kann man nur sagen "buenas noches"!) Auf dem Gegengipfel wird für eine selbstbestimmte, zweite Unabhängigkeit Lateinamerikas gekämpft, die den Menschen Hoffnung, Gerechtigkeit und Würde zurückgibt. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun das Wort die Kollegin Anette Hübinger. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Anette Hübinger (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In Madrid werden sich am 17. und 18. Mai dieses Jahres zum sechsten Mal die Staats- und Regierungschefs Lateinamerikas, der Karibik und Europas treffen, um sich über die globalen Zukunftsfragen auszutauschen und gemeinsame Handlungswege zu erörtern. Diese Gipfeltreffen beruhen auf langen, freundschaftlichen Beziehungen zwischen Europa, Lateinamerika und der Karibik, die vor mehr als zehn Jahren in eine strategische Partnerschaft zwischen diesen beiden Regionen mündeten. Die gemeinsamen kulturellen Wertvorstellungen wie Freiheit und Chancengleichheit und unsere gemeinsame demokratische Überzeugung sind eine gute Grundlage für diese vertiefte Zusammenarbeit, die auch Assoziierungs- und Freihandelsabkommen vorsieht. (Beifall der Abg. Marina Schuster [FDP]) Das diesjährige Treffen in Madrid wird diese strategische Partnerschaft weiter vertiefen und ausbauen. Das Thema des Gipfels lautet: "Eine neue Phase der bi-regionalen Zusammenarbeit: Innovation und Technologie für eine nachhaltige Entwicklung und soziale Inklusion". Er schließt an den Gipfel in Lima vor zwei Jahren an und stellt sich gleichzeitig aktuellen Herausforderungen. Sowohl die aktuelle Situation als auch die zukünftige Entwicklung Haitis, die Wirtschafts- und Finanzkrise sowie die Klimaverhandlungen stehen auf der Tagesordnung. Die Staaten Lateinamerikas sind derzeit bei der Bewältigung der großen globalen Probleme unserer Zeit wie Klimawandel und bezüglich der Nutzung der natürlichen Ressourcen für Europa ein wichtiger Gesprächs- und Handelspartner. Vertreter Lateinamerikas sitzen in jeder Verhandlungsrunde, in der es um diese entscheidenden Zukunftsthemen geht. Viele Staaten Lateinamerikas konnten in den letzten Jahren ein kräftiges Wirtschaftswachstum verzeichnen. Selbst die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise hat keine der früher sehr oft anfälligen Volkswirtschaften aus der Bahn geworfen. Im Schnitt schrumpfte das reale Bruttoinlandsprodukt der lateinamerikanischen Staaten 2009 um 2,5 Prozent, und für 2010 sagt der Internationale Währungsfonds ein mittleres Wachstum von 3 Prozent voraus. Trotz oder gerade wegen dieser positiven wirtschaftlichen Entwicklungen wird die Bewältigung des wachsenden sozialen Ungleichgewichts entscheidend für weiteres wirtschaftliches Wachstum sein. Die Bekämpfung der Armut bleibt für die Demokratien in Lateinamerika ein Schlüsselfaktor. Die EU und Deutschland wollen den Staaten Lateinamerikas und der Karibik bei der Bewältigung dieser Aufgaben helfen. Dazu dienen neben den allgemeinen Zollpräferenzen Freihandelsabkommen, wie sie nunmehr mit Peru und Kolumbien in Madrid zum Abschluss gebracht werden sollen. Diese Freihandelsabkommen bieten die Möglichkeit, Märkte in Europa zu erschließen, durch die ein weiteres Wirtschaftswachstum generiert werden kann. Der Zugang zu den europäischen Märkten ist eine logische Konsequenz unserer Entwicklungszusammenarbeit. Denn was nutzt es, den ökologischen Anbau von Kakao und Kaffee zu unterstützen und den Kleinbauern damit Hoffnung zu machen, wenn wir den Absatz dieser fair gehandelten Produkte in Europa nicht zu guten Bedingungen ermöglichen? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Marina Schuster [FDP]: Sehr richtig!) Diese Abkommen beinhalten die Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit sowie die Einhaltung von internationalen Standards hinsichtlich Umwelt und Arbeit. Das schließt die Gründung von Gewerkschaften - sie sind abgesichert - ebenso wie die Achtung indigener Rechte und die Einbindung der indigenen Bevölkerung ein. Wenn wir von Lateinamerika und der Karibik sprechen, dann sehen wir uns einer Vielzahl von Staaten und Völkern gegenüber, die in ihrer Ausprägung, ihrer wirtschaftlichen Entwicklung und hinsichtlich ihrer politischen Vorstellungen kaum unterschiedlicher sein könnten. Daher gestalten sich Verhandlungen über Assoziierungsabkommen zwischen regionalen lateinamerikanischen Zusammenschlüssen wie dem Mercosur, der Andengemeinschaft oder Zentralamerika und der EU als äußerst langwierig und oft schwierig. Während die Assoziierungsverhandlungen zwischen Zentralamerika und der EU fortgesetzt werden, haben Bolivien und Ecuador als Staaten der Andengemeinschaft die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen abgebrochen. Mit Kolumbien und Peru wurde weiterverhandelt, weil der peruanische Präsident García zu Recht darauf verwies, "mit denen zu beginnen, die es auch ernsthaft wollen". Lateinamerika birgt eine der größten biologischen Schatzkammern der Welt, die durch kurzfristige Interessen leider höchst gefährdet ist. Deshalb wird der Klima- und Ressourcenschutz ebenso wie die Zusammenarbeit im Innovations- und Technologiebereich auf der Agenda in Madrid stehen. So sind sowohl die Entwicklung und die breite Anwendung von Technologien im Bereich erneuerbarer Energien als auch die Energieeffizienz Schlüsselfaktoren, um den Klimawandel einzudämmen, den steigenden Energiebedarf zu decken, aber auch um zu nachhaltigem Wirtschaftswachstum und nachhaltiger Entwicklung zu gelangen. Dies erfordert eine verstärkte und umfangreiche Technologiekooperation zwischen Lateinamerika und Europa. Am 29. und 30. April wird ein EU-Lateinamerika-Karibik-Forum zur Energiepolitik in Berlin stattfinden, das nicht nur den Gipfel in Madrid vorbereitet soll, sondern das auch der Vorbereitung der Weltklimakonferenz in Cancún dient. Insbesondere Brasilien als neuntgrößte Volkswirtschaft mit einem Bruttoinlandsprodukt, das über dem von China und Indien liegt, kommt dabei eine zunehmend bedeutende Rolle zu, und zwar sowohl als Impulsgeber in Lateinamerika selbst als auch aufgrund der Übernahme internationaler Verantwortung in wichtigen Politikbereichen. Mit den kürzlich entdeckten Erdöl- und Erdgasvorkommen könnte Brasilien zu einem sehr wichtigen internationalen Energielieferanten aufsteigen. So wird es 2010 und 2011im Rahmen des Deutsch-Brasilianischen Jahres der Wissenschaft, Technologie und Innovation zahlreiche Veranstaltungen und Begegnungen zwischen Wissenschaftlern und Forschern sowohl auf deutscher als auch auf brasilianischer Seite geben, die die Zusammenarbeit im Bereich Forschung und Wissenschaft vertiefen und ausbauen werden. Das ist gelebte Partnerschaft; denn nur eine gemeinsame Forschung wird uns bei der Beantwortung globaler Fragen weiterbringen. (Marina Schuster [FDP]: Sehr richtig!) Nun zu den Anträgen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Sehr geehrte Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, es wäre wirklich an der Zeit, dass Sie sich eingestehen, dass die Politik, die Sie mit diesem Antrag wieder verfolgen und in anderen Staaten unterstützen, den Menschen keine Zukunft gibt. (Lachen bei der LINKEN) Sie gaukeln in Ihrem Antrag wieder einmal vor, Lateinamerika und die Karibik sprächen mit einer Stimme, verweigerten sich den Freihandelszielen der EU und wiesen - ich zitiere - "die Vorstellung von einem europäischen Vorbild in Sachen Demokratie für Lateinamerika zurück". Die Abkommen mit Mexiko, Chile, Brasilien, demnächst mit Peru und Kolumbien und die Verhandlungen mit Zentralamerika beweisen das Gegenteil. Die EU oktroyiert ihren Partnern auch nichts auf. Jeder ist frei, Abkommen zu schließen oder nicht. Dies ist am Beispiel von Bolivien und Ecuador leicht zu erkennen. Aber gewollte Partnerschaften dürfen nicht an gegenteiligen Auffassungen Einzelner scheitern. Das Selbstbestimmungsrecht der lateinamerikanischen Staaten, das Sie richtigerweise immer wieder betonen, beinhaltet das Recht, Beziehungen - auch im militärischen Bereich - zu den USA zu unterhalten. Dass die Hilfseinsätze der Vereinigten Staaten, die Entsendung einer Gendarmeriemission der EU und die Aufstockung der UN-Mission MINUSTAH in Ihrem Antrag als sicherheitspolitische und militärische Instrumentalisierung bezeichnet werden, ist abwegig. Ebenso abwegig ist, die Entschließung des Europäischen Parlaments zur Lage der politischen Häftlinge und der Gefangen aus Gesinnungsgründen in Kuba vom 11. März dieses Jahres als einen aggressiven Akt gegen Kuba zu bezeichnen. Diese Beispiele zeigen, durch welche Brille Sie die Welt betrachten: eine Brille, die Elend, Not und Herabsetzung ausfiltert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ich habe keine Brille!) Daher lehnt die CDU/CSU-Fraktion diesen Antrag ab. Ebenso lehnen wir den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ab. Dieser Antrag enthält zwar viele gute Ansätze, insbesondere bei den Themen Klima, Umwelt, Energie und Menschenrechte, die wir ähnlich sehen. Jedoch werden Forderungen erhoben, die die Aufhebung der Hermesbürgschaft für den Export deutscher Atomtechnologie und den Weiterbau von Angra 3 in Brasilien betreffen, worüber in Deutschland schon längst entschieden wurde und was unseres Erachtens auf europäischer Ebene nicht geändert werden sollte, da jeder Staat souverän über seine Energieversorgung entscheiden kann. (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird Ihnen einmal sehr leidtun, dass Sie das so sehen!) Dem Gipfel in Madrid wünsche ich eine rege politische Diskussion mit dem Ergebnis einer engen und tiefen Zusammenarbeit zwischen Europa, Lateinamerika und der Karibik und gute Fortschritte bei den globalen Fragen unserer Zeit. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Klaus Barthel für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Klaus Barthel (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass ein EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel stattfindet - und das bereits zum sechsten Mal -, ist an sich schon etwas Besonderes. Es gibt weit und breit keine vergleichbare Einrichtung, die die Europäische Union mit einer ganzen Großregion eines anderen Kontinents zusammenbringt. Allein das ist aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion nicht nur ein einmaliger, sondern auch ein vorbildlicher Ansatz in der internationalen Politik. Deswegen ist es gut, dass wir uns hier im Bundestag schon im Vorfeld damit befassen. Ich finde es schade, dass die Bundesregierung nicht von sich aus darlegt, wie sie sich auf dieses Ereignis vorbereitet und mit welchen Vorstellungen und Initiativen sie nach Madrid reist. (Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) Das ist umso bedauerlicher, als der Bundesaußenminister immer wieder sein besonderes strategisches Interesse an Lateinamerika bekundet hat. Uns hätte jenseits des inflationären Großsprechs, den er gerne pflegt, interessiert, welche Grundzüge eine solche Strategie hat. Uns hätte insbesondere interessiert, ob die Bundesregierung weiterhin der Meinung ist, dass unsere Außenpolitik im Wesentlichen Außenhandelspolitik ist. Dieser Eindruck hat sich gerade im Zuge der Reise des Bundesaußenministers nach Chile, Argentinien, Uruguay und Brasilien deutlich verfestigt. Die Delegation, die er dorthin mitgenommen hat, und die ganzen Begleitumstände waren im Grunde eine Karikatur von Außenpolitik. Die Grenzen von Außenpolitik, Außenhandelspolitik, puren Verkaufsveranstaltungen und persönlichen Interessen einiger Delegationsmitglieder wurden hoffnungslos vermischt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Manfred Grund [CDU/CSU]: Waren Sie dabei, oder haben Sie das nur gelesen?) - Das wurde von niemandem bestritten. Die Reden, die er dort gehalten hat, kann man nachlesen. Sie widersprechen diesem Eindruck nicht, sondern untermauern ihn. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: So ist es!) Wir sagen: Wer Lateinamerika oder andere Regionen der Welt nur als Absatzmarkt für den deutschen Handels- und Leistungsbilanzüberschuss betrachtet, der hat weder die Ursachen der Wirtschaftskrise - sie haben gerade mit dieser Art von Standortpolitik und den daraus entstehenden Ungleichgewichten zu tun - noch die Ziele einer gleichberechtigten Partnerschaft als Grundlage jeder internationalen Politik verstanden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wer wie Herr Westerwelle in seinen Reden Brasilien und andere Länder zu Rohstofflieferanten - auch Frau Hübinger konnte sich das Wort "Schatzkammer" nicht verkneifen - degradieren will und wer wie diese Bundesregierung schamlos Sonderinteressen gewisser Konzerne bedient, die dort Großstaudämme und Atomkraftwerke bauen wollen, (Christel Humme [SPD]: Genau!) der hat jeden Anspruch verloren, von Partnerschaft, der Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen, vernünftiger Energiepolitik und einer breiten politischen Gesamtstrategie zu reden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN - Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie hätten besser zugehört, was vorhin gesagt worden ist!) Uns ist der Ansatz des Antrags der Grünen, etwa in den Punkten 2 bis 15, wesentlich sympathischer. Dort werden die Klimaziele betont und dem Export und dem Ausbau der Kernenergie eine Absage erteilt. Auch viele weitere Punkte dieses Antrags können wir unterschreiben. Aber der Antrag der Grünen hat eine entscheidende Schwäche, genauso wie der Antrag der Linken: Er verliert sich in 34 Einzelpunkten, in Details. (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind halt gründlich!) Bei den Linken sind es - durchnummeriert - ungefähr genauso viele. Früher gab es Zettelkästen. Heute gibt es digitale Nachschlagewerke, die Sie offenbar nach dem Motto "Jetzt schauen wir einmal, was wir alles zum Stichwort Lateinamerika finden" genutzt haben: Haiti, Kuba, Honduras, Venezuela, Freihandelsabkommen, ALBA und Mercosur, indigene Bevölkerung, Vereinte Nationen, Nachhaltigkeit, Doha, Menschenrechte usw. (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Ihr seid ja bloß neidisch, weil die SPD keinen Antrag hat!) Das alles ist richtig und wichtig. Bei den Linken ist der Zettelkasten natürlich noch mit der reflexartigen Gut-Böse-Semantik eines ziemlich aufgesetzten Antikolonialismus versehen. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ihr habt ja gar nichts anzubieten!) Man kann diese Sichtweisen, diese Sympathien und Antipathien durchaus teilen und zu bestimmten Einschätzungen und Schlussfolgerungen kommen. Aber - das gilt in Teilen auch für den Duktus der Grünen - man kann nicht von Selbstbestimmung der Menschen in Lateinamerika und von Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe reden und gleichzeitig Zensuren geben und Ratschläge erteilen, die letztlich wieder in Bevormundung münden. Unser Ansatz ist ein anderer. Wir wollen nicht ständig mit Vorbedingungen und Vorhaltungen Gespräche und Verhandlungen führen. Gerade dann, wenn man nicht schon im Vorfeld Blockaden aufbaut, kann man konsequent für Menschenrechte, für Arbeiter- und Gewerkschaftsrechte und gegen Gewalt eintreten und dabei auch Erfolg haben. Im Übrigen habe ich es satt, dass man immer mit zweierlei Maß misst, je nach Macht und Größe des Gegenübers und je nach eigener Interessenlage. Damit meine ich auch die Haltung der Grünen gegenüber Kuba; diesen Punkt kann man nachlesen. Die entscheidende Kritik an beiden Anträgen ist, dass sie keine Alternativen zur Regierungspolitik darstellen. Wenn Westerwelle sagt: "Außenhandel und nochmals Außenhandel, alles andere ist nachrangig", dann kann die Antwort darauf keine Spiegelstrichorgie sein, mit der Folge, dass man den Regelwald vor lauter Bäumen und Regentropfen nicht mehr sieht, so wichtig der einzelne Baum auch sein mag. Wenn wir über den Dialog zweier großer Weltregionen sprechen, dann kann man keine Liste einzelstaatlicher Probleme aufstellen. Ich möchte einmal sehen, wie Sie von den Linken und den Grünen auf einer solchen Konferenz, die zwei Tage dauert, all diese Kataloge abarbeiten wollen. (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Kommen Sie doch mal vorbei! Dann zeigen wir es Ihnen!) Ein solcher Ansatz ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ach! Sie haben ja keine Ahnung!) Worum geht es auf diesem Gipfel im Jahr 2010? Wir sind nicht im Jahr eins nach der Wirtschaftskrise, sondern noch mitten in dieser Krise. Wir müssen uns mit unseren Partnern darüber verständigen, welches die Ursachen dieser Krise sind, wie wir sie gemeinsam bekämpfen und was wir mit Blick auf die G 20 und die internationalen Institutionen wie IWF und Weltbank tun wollen, zum Beispiel hinsichtlich der Finanzmärkte oder des Schutzes der Rohstoffmärkte vor Spekulation zulasten von Erzeugern und Verbrauchern. Wir müssen über Klima und Energie sprechen. Beide Seiten können und müssen eine zentrale Rolle spielen. Wir müssen die Probleme und Strukturen herausarbeiten, bei denen Europa wie Lateinamerika besondere Verantwortung und Handlungsmöglichkeiten haben. Ich nenne hier zum Beispiel den Drogenhandel, der in Lateinamerika ganze Staaten gefährdet und auch in Europa seine gefährlichen Entsprechungen - Stichwort "Mafia" - findet. Wir haben wie keine andere Konstellation die große Chance, zwischen der EU sowie Lateinamerika und der Karibik eine Debatte über eine soziale und ökologische Wirtschaft voranzutreiben. Wir können nicht nur debattieren. Es gibt tatsächlich die Chance, Alternativen zu realisieren, gerade wenn es um den Zusammenhang von Verteilung, Wachstum, Beschäftigung, Modernisierung und Nachhaltigkeit geht. Diese vielbeschworenen Gemeinsamkeiten können den Weg weisen. Auf eine Diskussion, die sich zielgerichtet auf das Wesentliche konzentriert, würden wir uns freuen. Die beiden Anträge, die uns vorliegen, können dazu einen Beitrag leisten, nicht mehr, aber auch nicht weniger. (Beifall bei der SPD - Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das war wenig überzeugend!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Marina Schuster das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Marina Schuster (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Barthel, ich muss mich über Ihre Ausführungen schon sehr wundern. Sie holzen hier. In der Sache selbst nehmen Sie zu den einzelnen Punkten aber gar nicht Stellung. Sie kritisieren eine Reise, bei der Sie gar nicht dabei waren. Ich war bei der Lateinamerika-Reise von Außenminister Westerwelle dabei. Ich finde, es hätte zur politischen Fairness gehört, sich zu erkundigen - Sie hätten sich mit Ihrem Kollegen Klaus Brandner unterhalten können; er war bei dieser Reise dabei und hat von wesentlichen Punkten berichtet -, bevor Sie hier Anschuldigungen erheben. Wenn Sie uns vorwerfen, wir ließen Lateinamerika außer Acht, dann lassen Sie uns einmal in das Jahr 1999 zurückgehen. In diesem Jahr wurde die strategische Partnerschaft zwischen der EU und Lateinamerika ins Leben gerufen. Ich frage Sie: Was haben Sie getan, was hat die SPD getan, um diese Partnerschaft mit Leben zu erfüllen? (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Nichts!) Wir haben im Koalitionsvertrag verankert, dass wir ressortübergreifend eine neue Lateinamerika-Politik ins Leben rufen werden, weil Lateinamerika in der Vergangenheit links liegen gelassen wurde. Wie Sie sich in dieser Debatte eingelassen haben, ist ein starkes Stück. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir konnten bei dieser Reise erkennen, dass bei den Gesprächspartnern in den Ländern, die wir besucht haben, großes Interesse besteht, mit der EU enger zusammenzuarbeiten. Es liegt im wohlverstandenen europäischen Interesse, diese ausgestreckte Hand zu ergreifen. Europa und Lateinamerika haben ein gemeinsames Wertefundament. Das ist eine gute Basis für Kooperation. Ich bin der Kollegin Hübinger sehr dankbar, dass sie zum Beispiel das Deutsch-Brasilianische Jahr der Wissenschaft erwähnt hat. Wir haben auf dieser Reise unter anderem die größte deutsche Auslandsschule besucht. Dabei konnten wir uns davon überzeugen, dass sich deutsche Schulen großer Beliebtheit erfreuen und Deutschland in der Region großes Ansehen genießt. Der Wunsch, mit Deutschland zusammenzuarbeiten, ist weit verbreitet. Das können wir nur unterstützen. Es muss deshalb bei dem EU-Lateinamerika-Gipfel darum gehen, konkrete Erfolge zustande zu bringen. Das unglaubliche Potenzial, das eine Zusammenarbeit der EU mit Lateinamerika hat, ist viel zu lange vernachlässigt worden. Ich bin froh, dass es uns - Dirk Niebel und Staatsministerin Conny Pieper sind hier - gelungen ist, die Kehrtwende zu schaffen und Lateinamerika endlich den Stellenwert zu geben, den es verdient. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zu einem Lateinamerika-Konzept gehören natürlich Wirtschafts- und Handelsthemen. Die anstehenden Handelsabkommen sind angesprochen worden. Aber natürlich geht es auch um Fragen der Nichtverbreitung von Nuklearmaterial und um die Bekämpfung von Drogenhandel und Kriminalität sowie um Fortschritte bei der Entwicklung rechtsstaatlicher Strukturen und bei der kulturellen Zusammenarbeit. Es ist richtig: Es hat beim Mercosur interne Probleme gegeben, die dazu geführt haben, dass die Kooperation zwischen den Ländern nicht vorankam. Ich bin allerdings hoffnungsfroh, dass der Streit durch den Schiedsspruch des IGH beigelegt werden konnte. Ich hoffe, dass wir in den Verhandlungen mit dem Mercosur zügig zu einem Abschluss kommen. Der Bundesaußenminister hat bei seiner Lateinamerika-Reise deutlich gemacht - ich glaube, dieser Ansatz ist ganz wichtig -, dass wir die Länder Lateinamerikas als gleichberechtigte Partner wahrnehmen und sie unterstützen sollen, international - etwa bei den Vereinten Nationen oder bei den G 20 - mehr Verantwortung zu übernehmen, wie im Fall Brasilien. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es muss eben auch klargemacht werden: Man wünscht sich eine engere Kooperation innerhalb der Weltwirtschaft, den Abschluss der Doha-Runde, aber auch Freihandels- und Assoziierungsabkommen. Jetzt komme ich noch kurz zu den Anträgen. In dem Antrag der Grünen stehen einige Forderungen zur Umwelt- und Klimapolitik. Was mich sehr gewundert hat, ist, dass Sie zwar sehr ausführlich zur Atomkraft und zu Atomkraftwerken Stellung nehmen, ich in dem Antrag aber keinen einzigen Satz dazu finde, wie Sie sich zu den vielen Staudammprojekten verhalten, die Lula plant, nämlich unter anderem das Projekt Belo Monte. Ich hoffe, dass Herr Hoppe, der ja nach mir das Wort hat, dazu Stellung nimmt. (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind ja wohl dagegen! Hier hätten Sie die Möglichkeit, Nein zu sagen!) Zum Antrag der Linken. Zu der Rede ist nicht viel zu sagen; denn Sie haben die üblichen Ressentiments gegen die USA bedient. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ich habe zur EU geredet!) Ich finde es unglaublich, dass Sie dem Westen und den USA in Ihrem Antrag eine militärische Besetzung Haitis unterstellen. Glauben Sie denn wirklich, dass der Aufbau nach einer solchen Naturkatastrophe mit gutem Zureden funktioniert? (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Gutes Zureden? Aber auch keine Soldaten! Technisches Hilfswerk!) Ich finde in Ihrem Antrag auch kein Wort zu Menschenrechtsverletzungen in Kuba und zu Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit unter Chávez. Hier kann ich nur meiner Kollegin Hübinger recht geben: Dort sind Sie auf einem Auge blind. Ich kann für die FDP-Fraktion nur sagen: Wir sehen die Zusammenarbeit mit Lateinamerika als große Chance an. Wir wünschen uns eine enge Kooperation, von der beide Seiten profitieren, und ich freue mich auf die Politik unserer Bundesregierung; denn sie wird der Region endlich die Bedeutung geben, die sie verdient. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Thilo Hoppe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Jetzt wird etwas Besseres kommen!) Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Schuster, Sie haben mich gerade angesprochen und uns vorgeworfen, dass in unserem Antrag etwas fehlt. Ich kann das gerne nachliefern und sagen, dass wir die brasilianischen Megastaudammprojekte sehr kritisch sehen. Hier wird aber ein Dilemma deutlich: Der Kollege Barthel sagt, wir hätten hier eine Spiegelstrichorgie durchgeführt und es seien viel zu viele Forderungen in unserem Antrag. Er selber hat dann aber noch andere Forderungen nachgeliefert. Wir hatten zum Beispiel nichts zur Drogenbekämpfung gesagt. Das ist ja nun wirklich ein Dilemma. Wir könnten unseren Antrag spielend noch um sehr viele andere Punkte ergänzen, die wichtig wären. Ich finde es aber mit Verlaub gesagt auch ein bisschen seltsam, keinen eigenen Antrag vorzulegen und den Linken und den Grünen vorzuwerfen, sie würden zu viele Forderungen stellen. Das geht nun auch nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Nun aber zurück zum EU-Lateinamerika-Gipfel. Es gibt mittlerweile alle zwei Jahre ein solches Gipfeltreffen. Die Staats- und Regierungschefs treffen sich, versammeln sich und beschwören die gemeinsamen Werte. Sie verabschieden eine Schlusserklärung, in der meistens leider nicht viel steht, und dann gibt es noch das Familienfoto. Ein Ritual! Ich hoffe, dass sich das in Madrid nicht wiederholen wird; denn es gibt ja wirklich große Herausforderungen. Einige Kolleginnen und Kollegen haben sie beschrieben. Man könnte die vielbeschworene strategische Partnerschaft doch endlich mit Leben füllen, beispielsweise mit gemeinsamen Initiativen für den Klimaschutz. Mexiko und Brasilien haben hierfür doch interessante Vorschläge auf den Tisch gelegt. Es gilt jetzt, diese aufzugreifen. Was macht aber die Bundesregierung? Sie verhandelt ernsthaft über Hermesbürgschaften für neue Atomkraftwerke. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Pfui!) Was machen die Niederländer? Sie planen in Eemshaven eines der größten Kohlekraftwerke der Welt, das mit Kohle aus Kolumbien befeuert werden soll. Hat Europa die Zeichen der Zeit denn noch immer nicht erkannt? Setzt Europa denn noch immer auf eine verfehlte, risikoreiche und umweltschädliche Energiepolitik? (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dabei haben sie so viel Sonne!) Wir fordern mit unserem Antrag, endlich neue Wege zu gehen. Vamos adelante! Geht gemeinsam vorwärts, vorwärts mit einem ehrgeizigen Ausbau der erneuerbaren Energien. Hier liegt die Zukunft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Neue Wege sind auch in der Handelspolitik notwendig. Die spanische Ratspräsidentschaft hat unglaublich Druck gemacht, und mit heißer Nadel wurden Freihandels- und Assoziierungsabkommen gestrickt, die alle dann in Madrid feierlich unterzeichnet werden sollen. Wenn man sich die aktuellen Versionen zum Beispiel des Abkommens mit Peru und Kolumbien oder mit Zentralamerika ansieht, dann fällt auf, dass die Europäische Union immer noch auf den Dreiklang Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung setzt, als ob es nie eine große Wirtschafts- und Finanzkrise gegeben hätte. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!) Soziologische und ökologische Aspekte und Menschenrechtskriterien fallen allesamt hinten runter (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Falsch!) oder sind bestenfalls noch in unverbindlichen Präambeln zu finden; es gibt keine Sanktionsmechanismen. Wie sehr die Exportinteressen alles dominieren, sieht man daran, dass man sich nicht davor scheut, wieder mit Honduras zu verhandeln. Der Kollege Klaus Riegert und ich sind gemeinsam in Honduras gewesen und haben mit dem weggeputschten Präsidenten Zelaya und dem wie auch immer neu gewählten Präsidenten Pepe Lobo gesprochen. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich plädiere nicht dafür, die neue Regierung total zu boykottieren. Aber bevor man die Entwicklungszusammenarbeit wieder startet und bevor man die neue Regierung als Verhandlungspartner akzeptiert, hätte man darauf bestehen müssen, dass sie tatsächlich zu einer Verbesserung der Lage beitragen und ihre Versprechen einhalten. Leider ist das Gegenteil passiert. Deshalb hätte man sie nicht so schnell als Verhandlungspartner akzeptieren dürfen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir haben einen Antrag vorgelegt, der selbstverständlich das Große und Ganze umfasst und der zum Beispiel auch die Empfehlungen der Stiglitz-Kommission, in der Frau Wieczorek-Zeul mitgearbeitet hat, mit nach vorne bringen will. (Klaus Barthel [SPD]: Das ist ein kleiner Spiegelstrich!) - Nein, es sind nicht nur kleine Spiegelstriche. Die Kritik geht ins Leere, Herr Barthel. Wir sollten keine Piesepampelei betreiben. Nennen Sie mir einen Punkt, mit dem Sie nicht zufrieden sind, und geben Sie sich einen Ruck, diesem Antrag zuzustimmen, statt leere Rhetorik zu bringen! (Klaus Barthel [SPD]: Sie müssen uns im Ausschuss noch überzeugen!) Ich wollte noch etwas ansprechen, das auch nicht stimmt. Wir verurteilen Menschenrechtsverletzungen, egal in welchem Land sie geschehen, ob in Kolumbien oder auf Kuba. In dem Punkt unterscheiden wir uns von dem Antrag der Linken, den wir in vielen Passagen unterstützen können. Aber an einigen Stellen ist erkennbar, dass die ideologische Zerrbrille aufgesetzt worden ist, mit der man dann über Menschenrechtsverletzungen auf Kuba hinwegsieht. Wenn man das nachbessern würde, dann könnte man zusammenkommen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Pardon, ich komme zum letzten Satz. - Wir haben einen Antrag vorgelegt, der auf eine nachhaltige und wirklich ökologische und soziale Entwicklung setzt, der die Menschen in den Mittelpunkt rückt und zeigt, dass wir nicht auf dem einen oder anderen Auge blind sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/1403 und 17/1419 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes - Drucksachen 17/719, 17/996 - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) - Drucksache 17/1257 - Berichterstattung: Abgeordnete Marlene Mortler Elvira Drobinski-Weiß Dr. Christel Happach-Kasan Karin Binder Ulrike Höfken Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll gegeben: Elvira Drobinski-Weiß, Erik Schweickert, Karin Binder, Ulrike Höfken und die Parlamentarische Staatssekretärin Julia Klöckner.4 Damit kommen wir zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1257, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/719 und 17/996 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung angenommen. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1456. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Gegenstimmen der Fraktion Die Grünen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Markus Kurth, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Europäische Antidiskriminierungspolitik unterstützen - 5. Gleichbehandlungsrichtlinie der EU nicht länger blockieren - Drucksache 17/1202 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Damit sind Sie einverstanden. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Norbert Geis, Markus Grübel, Christel Humme, Florian Bernschneider, Dr. Ilja Seifert und Jerzy Montag.5 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1202 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend liegen soll. - Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung "Deutsches Historisches Museum" - Drucksache 17/1400 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich dabei um folgende Kolleginnen und Kollegen: Thomas Strobl (Heilbronn), Dorothee Bär, Dr. Angelica Schwall-Düren, Patrick Kurth (Kyffhäuser), Dr. Lukrezia Jochimsen und Claudia Roth (Augsburg). Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): In dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung "Deutsches Historisches Museum", DHMG, vom 21. Dezember 2006 wurde die Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" als unselbstständige Stiftung des öffentlichen Rechts in der Trägerschaft des Deutschen Historischen Museums, DHM, errichtet. Stiftungszweck war und ist die Unterhaltung eines Ausstellungs-, Dokumentations- und Informationszentrums in Berlin, um im Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen wachzuhalten. Die bisherige Stiftungsarbeit hat gezeigt, dass die Komplexität der Aufgabenstellung und des Meinungsspektrums eine Vergrößerung des Stiftungsrates und eine Modifizierung des Berufungsverfahrens für den Stiftungsrat angezeigt erscheinen lassen. Die zentrale Neue-rung des Gesetzentwurfs ist, die Berufung der Mitglieder in den Stiftungsrat fortan dem Bundestag zu übertragen, also der Legislative, statt sie wie bisher der Exekutive anheimzustellen. Dies verbreitert die Entscheidungsbasis erheblich und objektiviert den Berufungsprozess. Auch die Einbeziehung verschiedener Gruppen, wie etwa die Kirchen und den Zentralrat der Juden, bürgt für Offenheit und Pluralität der gesamten Stiftungsarbeit. Einseitigkeiten, Geschichtslegenden, ja, gewollte Mythologisierungen sind dadurch ausgeschlossen. Und genau das ist die Absicht der von uns erarbeiteten Neuzusammensetzung des Stiftungsrates "Flucht, Vertreibung, Versöhnung." Dagegen übrigens zu polemisieren, wie es etwa die Linke tut, ist entlarvend und bestätigt die Probleme, die man in ihren Reihen mit dem Objektivitätsgebot und Wahrhaftigkeitspostulat offensichtlich hat. Geradezu unverschämt aber ist die Behauptung, diese Probleme lägen im Gegenteil bei uns, und wir wollten Geschichtsverfälschungen vornehmen, indem wir mehr Sitze für den Vertriebenenverband forderten, nämlich sechs von den insgesamt 21 Plätzen. Dass aus linker Sicht offensichtlich in einem Stiftungsrat für Vertreibung ausgerechnet die Betroffenen nicht angemessen, also mit wenigstens einem knappen Drittel, vertreten sein sollen, ist schon bizarr. Es ist typischer Ausdruck ideologischen Scheuklappendenkens. Die Linke verdreht mit ihrer Kritik am DHM-Konzept bewusst Ursache und Wirkung; denn eher die bisherige Unterrepräsentanz der Vertriebenen stand einer objektiven Geschichtsbetrachtung im Weg, keinesfalls deren nun angestrebte Korrektur. Mit ihrer Fundamentalkritik beweist die Linke einmal mehr, dass ihr im politischen Tageskampf jede Faktenverbiegung recht ist, wenn sie davon zu profitieren glaubt. Das aber lassen wir ihr nicht durchgehen. Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen ist ausgewogen, die verschiedensten Gruppierungen und Belange werden berücksichtigt, und alle Chancen sind gegeben, von der Vergangenheit ein im höchsten Maße objektives Bild für die Nachwelt zu entwerfen. Und nur dann können wir aus der Geschichte lernen, wenn bei ihrer Darstellung Objektivität waltet. Historiker, so heißt es, sind mächtiger als Götter. Sie können sogar die Vergangenheit verändern. Mit diesem hintersinnig-ironischen Urteil, das von Geschichtsprofessoren stammt, wird auf das Problem der Ausdeutbarkeit vergangener Ereignisse verwiesen. Dass dabei unter Umständen historische Wahrhaftigkeit zu kurz kommt und "erkenntnisleitende Interessen" des Betrachters eine verfälschende Rolle bei der Darstellung geschichtlicher Zusammenhänge spielen können, erlebt man leider allzu oft. Und angesichts des Eifers, mit dem sich momentan die extremistische Linke anschickt, in der Debatte um die Novelle des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung "Deutsches Historisches Museum" die Wortführerschaft an sich zu reißen, liegt der Verdacht nahe, dass hier "erkenntnisleitende Links-Interessen" im Spiel sind. Hier soll offenbar eine Deutungshoheit über eine wichtige Frage deutscher Geschichte angestrebt werden, die den Linken einfach nicht zukommt, deren historische "Wahrhaftigkeit" nachgewiesenermaßen selbst in eigener Sache mehr als fragwürdig ist. Denn man braucht ja kaum daran zu erinnern, dass die Linke oft genug Fakten beliebig verändert, geschichtliche Dokumente manipuliert hat, wann immer es ihr in den Kram passte. Wer kennt nicht die berühmten historischen Fotografien von kommunistischen Parteitagen, auf denen unliebsam gewordene Parteigenossen, die ursprünglich abgebildet waren, nachträglich fürs Geschichtsbuch wegretuschiert wurden, weil sie plötzlich unerwünscht waren und aus der Erinnerung getilgt werden sollten? Wahrheit ist für Kommunisten stets veränderlich, situationsbezogen und nur in einer Hinsicht "fest": als beliebte Worthülse für Propagandazwecke. Nicht zuletzt deshalb hieß ja auch die Staatszeitung der Sowjetunion Prawda, also "Wahrheit", obwohl sie selten Wahres enthielt, das Volk in politischen Dingen systematisch belog und sogar den Wetterbericht fälschte. Man kann so weit gehen und sagen: Je mehr die Kommunisten von Wahrheit sprechen, desto sicherer kann man sein, dass nun garantiert eine Lüge folgt. Wie etwa bei Ulbrichts berüchtigtem "Versprechen" vom Juni 1961: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen." Und ausgerechnet die Nachfolger der so gestrickten DDR-Kommunisten wollen nun beurteilen, was historische Wahrheit in der Vertriebenenproblematik ist? Das erscheint fast als Witz, und man könnte darüber lachen, wenn die Sache nicht so ernst wäre. Deshalb stelle ich hier in aller Ernsthaftigkeit klar: Für mich und für alle Demokraten ist die historische Wahrheit etwas Absolutes und nicht verhandelbar. Auch auf dem Gebiet der Geschichte fühlt sich die CDU/CSU-Fraktion dem strikten Objektivitätsgebot liberal-pluralistischer Provenienz verpflichtet. Mit Karl Popper sind wir der Meinung, dass die Wahrheit nur bei einem fairen Wettbewerb der Meinungen darstellbar ist und keine einzelne Partei sich anmaßen darf, zu glauben, die Wahrheit von vornherein zu kennen, ja, sie für sich gepachtet zu haben. Dorothee Bär (CDU/CSU): Die Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" stand in den letzten Monaten medial oftmals in der Kritik. Inhaltlich wurde vor allem die mangelnde Ausgewogenheit bei der Zusammensetzung des wissenschaftlichen Beirats kritisiert. Nachdem wir deshalb im März drei bedauerliche Austritte aus dem wissenschaftlichen Beirat zu vermelden hatten, nehmen wir diese Kritik dankbar auf und beraten heute eine Novellierung des DHM-Gesetzes. Vorab möchte ich jedoch nicht versäumen, Folgendes anzumerken: Etwas zu voreilig, aber doch stets mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, erfolgt in Momenten, in denen Stiftungen oder ähnliche Einrichtungen, die aufgrund politischer Entscheidungen eingesetzt wurden, ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, der Fingerzeig auf diejenigen, die es - auf gut Deutsch - verbockt haben: die Politiker. Im aktuellen Fall ist die Entscheidung, wer in den wissenschaftlichen Beraterkreis berufen wird, aber nicht Sache des Kulturstaatsministers gewesen, sondern Sache des Stiftungsrates. Nun müssen wir jedoch sicherstellen, dass die Stiftung ihre bedeutende Arbeit auf einem sicheren Fundament fortführen kann, und daher bitte ich Sie heute um konstruktive Zusammenarbeit zur Novellierung des DHM-Gesetzes. Diese Novellierung ist rein organisatorischer und nicht inhaltlicher Natur. Um die Qualität der Arbeit der Stiftung zu garantieren, wird eine Erhöhung der Zahl der Mitglieder des Stiftungsrates und des wissenschaftlichen Beirates vorgeschlagen. Auch wenn wir als Deutsche beim Thema Vertreibung ganz besondere Verantwortung tragen, ist es trotzdem kein rein deutsches Thema. Die Stiftung trägt das Wort im Titel: Versöhnung. Und so muss unser gemeinsames Ziel lauten. Um es zu erreichen, ist gerade die Einbindung der Betroffenen von ganz besonderer Bedeutung. Daher halte ich es für richtig, die Stiftung personell möglichst breit aufzustellen und mit Experten zu besetzen, die aus möglichst unterschiedlichen Ländern und Kontexten kommen, sodass die gesamte Vielfalt des Betrachtungsgegenstandes aufgegriffen und bearbeitet werden kann. Darüber hinaus muss es uns ein Anliegen sein, dass sich möglichst viele Gruppen und Länder eingebunden und zur Mitarbeit aufgerufen fühlen. Die Ausgestaltung der weiteren Arbeit der Stiftung ist eine große Aufgabe. Unsere Aufgabe ist es heute, die Gestaltung der Formalien auf den Weg zu bringen, sodass diese Arbeit mit neuer Motivation aufgenommen werden kann. Ein Mitglied des Stiftungsbeirates hat vor kurzem den Wunsch nach einem Neustart der Stiftungsarbeit in einem konstruktiven Klima geäußert. Diesem Wunsch schließe ich mich gerne an und bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass auch wir in einem ergebnisorientierten Geiste unseren Teil dazu beitragen. Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Bei dem vorliegenden Entwurf zur Gesetzesänderung ist vor allem das Vorspiel der Skandal. Erika Steinbach hat es geschafft, die Regierungskoalition zu erpressen. Sie ist nur bereit, auf einen Sitz im Stiftungsrat zu verzichten, wenn bestimmte Bedingungen ihres Verbandes erfüllt werden. Union und FDP haben mit Erika Steinbach als Vorsitzender des Bundes der Vertriebenen verhandelt, als sei der BdV eine Bundestagsfraktion. Dabei geht es hier doch um eine öffentlich-rechtliche Stiftung und nicht um eine Institution des BdV. Hinzu kommt noch, dass der BdV bereits in den Gremien der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" gut vertreten ist. Die bisherige Präsenz von Wegbegleitern Erika Steinbachs über das Zentrum gegen Vertreibungen im wissenschaftlichen Beirat hat unter Wissenschaftlern bereits zu erheblichen Irritationen geführt. So haben sich der polnische Historiker Tomasz Szarota und die tschechische Historikerin Kristina Kaiserová bereits zurückgezogen. Der Zentralrat der Juden ist ebenfalls höchst alarmiert. Selbstverständlich müssen Vertriebenenvertreter in den Gremien der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" vertreten sein. Wir brauchen sie und ihre Erfahrungen, ihre Fragen, ihre Anregungen. Der BdV aber sollte dazu beitragen, dass das ihm entgegengebrachte Misstrauen abgebaut wird. Dies entstand aus verschiedenen Gründen. Ich nenne hier nur die unklaren Mitgliederzahlen sowie die NS-Verstrickung von früheren BdV-Funktionären. In der Machbarkeitsstudie zur Aufarbeitung dieses Kapitels wird offensichtlich der Versuch einer Bagatellisierung der NS-Verstrickung von BdV-Funktionären unternommen. Pikant ist diese Geschichte zudem, da der Direktor der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung", Herr Professor Kittel, beim IfZ diese Studie koordiniert hat. Die Geschichte des BdV muss aufgeklärt werden; sonst verlieren nicht nur seine Funktionäre, sondern auch die Stiftung noch mehr an Glaubwürdigkeit. Wenn schon jetzt eine Dominanz des BdV zu Irritationen führt, wie soll dann mit dem neuen Gesetzentwurf die Versöhnung - diesen Auftrag hat die Stiftung ja ebenfalls - mit Polen, Tschechen und anderen Opfern des Zweiten Weltkriegs funktionieren? Ich möchte kurz auf die einzelnen Änderungsvorschläge der Gesetzesvorlage eingehen: Erstens. Mir ist schleierhaft, warum zukünftig sechs Vertreter des BdV im Stiftungsrat sitzen sollen. Ich bekomme viel Post von Vertriebenen, die sich eben nicht vom BdV vertreten fühlen. Diese Menschen haben keine Stimme in der Stiftung. Vertriebene müssen im Stiftungsrat vertreten sein; aber angesichts vieler ungeklärter Fragen beim BdV frage ich mich, warum nicht auch andere Vertriebenenverbände einbezogen werden. Das Adalbertus-Werk, das sich seit der Nachkriegszeit für Versöhnung einsetzt, bzw. deren Dachverband, die Arbeitsgemeinschaft der Katholischen Vertriebenenorganisationen, AKVO, wären an einer Mitarbeit interessiert. Es gibt genügend deutsche Vertriebenenorganisationen, die mit ihrem Engagement für die Versöhnung einen Sitz im Rat der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" verdient hätten. Man könnte, wenn man nun neu über den Stiftungsrat nachdenkt, auch überlegen, ob nicht auch alternative Projekte, die sich mit dem Thema befassen, eingebunden werden, zum Beispiel die Partnerstädte Görlitz/Zgorzelec, die ein gemeinsames Projekt zum Thema Vertreibungen vorgestellt hatten, oder auch einen Vertreter des "Zentrums gegen Krieg" des Willy-Brandt-Kreises. Ich habe in letzter Zeit viel mit Wissenschaftlern gesprochen, die mir wichtige Denkanstöße gegeben haben. Eine Idee möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben. Die Kirchen und der Zentralrat der Juden sind im Stiftungsrat vertreten. Es gibt allerdings keinen muslimischen Vertreter. Dabei könnte gerade dieser eine Brücke von der Integration der Vertriebenen in die deutsche Gesellschaft zu aktuellen integrationspolitischen Debatten bauen. Es wäre eine Chance, auch Schulklassen mit multiethnischer Zusammensetzung stärker für die Ausstellung zu interessieren und einen Bogen zur eigenen Wirklichkeit zu spannen. Es ließen sich am Beispiel der Integration der Ostdeutschen dann hervorragend Probleme thematisieren und diskutieren, die der - jugendliche - Besucher von Dauer- und Wechselausstellungen der Stiftung in seiner eigenen Lebenswelt entdecken und aus denen er für seinen gegenwärtigen und zukünftigen Alltag lernen kann. Zweitens. Eine Wahl der Mitglieder des Stiftungsrates durch den Deutschen Bundestag statt einer Bestellung durch die Bundesregierung kann ich als Abgeordnete eigentlich nur begrüßen. Aber hier lauert leider eine Gefahr: Durch die Abstimmung im Gesamtpaket wird man im Zweifel die eigenen Vertreter ablehnen müssen, wenn eine andere vorgeschlagene Person nicht zustimmungsfähig ist. Dies ist für die SPD-Fraktion nicht akzeptabel. Drittens. Die Erweiterung des wissenschaftlichen Beirats begrüße ich. Jetzt geht es darum, hochrangige und kompetente Wissenschaftler für die Mitarbeit zu gewinnen. Dabei müssen ausgewiesene Experten für die Vertreibungsgeschichte sowie Historiker mit dem Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg und Holocaust, außerdem Museumspädagogen und neue ausländische Vertreter gefunden werden. Grundsätzlich muss die Koalition einsehen, dass mit dem sogenannten Kompromiss, der mit Frau Steinbach erzielt wurde, kein Vertrauen gewonnen wurde. Vielmehr stecken wir mitten in einer Krise. Dies habe ich auch bei der letzten Stiftungsratssitzung deutlich zu machen versucht. Nur ein Neuanfang der Stiftungsarbeit, bei der auch kritische Fragen gestellt werden, kann das Projekt positiv voranbringen. Das ist nicht nur meine Meinung, sondern die vieler Wissenschaftler, die das Projekt beobachten. Deren Stimmen wurden bisher nicht gehört. Internationale Expertengremien arbeiten seit Jahren intensiv insbesondere im Bereich der deutsch-polnischen und der deutsch-tschechisch-slowakischen Historikerkommissionen an der Thematik der Vertreibungen. Es wäre engstirnig und provinziell, auf diese Ressourcen zu verzichten. Es muss deutlich werden, dass es sich bei der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" um eine öffentlich-rechtliche Einrichtung handelt, die unabhängig und auf der Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse arbeitet und nicht als verlängerter Arm der Präsidentin des BdV. Die Stiftung muss endlich in einen ernsthaften Dialog mit unseren europäischen Nachbarn eintreten. Wir brauchen dringend mehr Transparenz. Wir brauchen einen offenen Diskurs über die Ausrichtung der Stiftung und deren Ausstellung, und wir brauchen eine ernst gemeinte Auseinandersetzung über die offenen und kritischen Fragen. Wir müssen uns fragen, wie das Verhältnis von Holocaust und Vertreibungen im Umfeld des Zweiten Weltkrieges darzustellen ist. Wir müssen klären, wie Versöhnung im Zusammenhang mit dem Thema Vertreibungen steht. Wir müssen aufhören, vom Jahrhundert der Vertreibungen zu reden, sonst relativieren wir den Holocaust! Dies darf aus Respekt gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus nicht geschehen; das sind wir außerdem auch unserer historischen Verantwortung schuldig. Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): In den letzten Monaten bestimmten leider hauptsächlich Personaldebatten die Diskussion über das Gesetz zur Stiftung "Deutsches Historisches Museum". Da diese nun ausgeräumt sind, hat die christlich-liberale Koalition mit dem nun vorgelegten Änderungsgesetz den wichtigen Schritt zur sachlichen Debatte über die Stiftung "Flucht, Vertreibung und Versöhnung" getan. Damit haben wir jetzt die Möglichkeit, die Inhalte und die Ziele der Stiftung in dieser Frage noch einmal deutlich zu machen. Deshalb gilt: Wir wissen um die deutsche Schuld. Wir wissen, dass das Deutsche Reich einen fürchterlichen Krieg begonnen hatte, in bis dahin unbekanntem Ausmaß Verbrechen stattfanden und das Deutsche Reich furchtbares Leid über Europa gebracht hatte. Wir wissen aber auch um die Schrecken der Vertreibung aus der Heimat, um die schrecklichen Folgen, die eine Flucht mit sich bringt. Gerade deswegen ist es wichtig, ein Symbol, einen Anlaufpunkt als Mahnung und Zeichen zu haben, als Aufzeig für die Jugend stellvertretend für alle Vertreibungen in der Welt; denn nicht nur die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg wird thematisiert, sondern auch die Schicksale von Vertriebenen anderer Nationen sollen mit einbezogen werden. Die Stiftung ist eben nicht rein national ausgerichtet, was die Opposition völlig zu Unrecht moniert hatte. Aber: Es darf in der gesamten Diskussion über Krieg und Kriegsfolgen nicht um Aufrechnung gehen. Das verbietet sich. Die Verbrechen der Deutschen werden nicht kleiner durch Verbrechen an Deutschen. Und: Die Verbrechen der Deutschen rechtfertigen nicht die Verbrechen an Deutschen. Wir dürfen Verbrechen nicht gegeneinander aufwiegen. Leid und Schuld sind immer individuell, wobei der Holocaust und die Taten der Naziherrschaft einen herausragenden Stellenwert besitzen und auch weiterhin besitzen müssen. Aber auch die Vertreibung ganzer Bevölkerungsschichten aus den ursprünglichen Heimatregionen war eine Schuld, die nicht vergessen oder verharmlost werden soll. Man muss auch dieser Taten gedenken, dafür sensibilisieren, und dafür dient diese Stiftung. Sie hat aus meiner Sicht die große Aufgabe, die Urteilsfähigkeit vor allem junger Menschen aufrechtzuerhalten. Wir gedenken ja nicht nur, um zu erinnern, sondern auch, um urteilsfähig zu bleiben. Mit dem Änderungsgesetz wird nichts an dem Ziel der Stiftung geändert. An dem Stiftungszweck, im Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen wach zu halten, wird nicht gerüttelt. Es werden lediglich einige verwaltungstechnische Änderungen eingeführt, die allerdings einen entscheidenden Beitrag zu einer sinnvollen Ausgestaltung der Stiftung und zur Optimierung der Funktions- und Arbeitsweise leisten. Durch die Erhöhung der Mitgliederzahl des Stiftungsrates von 13 auf 21 Mitglieder schaffen wir die Möglichkeit, vor allem den wissenschaftlichen Beraterkreis zu verstärken. Bis zu 15 Mitglieder, statt bisher 9, aus diesem wichtigen Umfeld tragen in Zukunft wertvolle Arbeit und Beiträge in die Arbeit des Rates hinein. Diese Aufstockung trägt der enormen Komplexität und geschichtspolitischen Bedeutung der Aufgabenstellung und des Meinungsspektrums Rechnung. Die Mitglieder des Stiftungsrates sollen in Zukunft nicht mehr durch die Bundesregierung, sondern durch den Deutschen Bundestag gewählt werden. Auf diese Weise können übergeordnete politische Belange berücksichtigt werden. Außerdem ist die demokratische Legitimation und Akzeptanz der gewählten Mitglieder erheblich erhöht, wenn die gewählten Volksvertretern, über die Zusammensetzung im Zuge einer transparenten Debatte entscheiden. Auch die Tatsache, dass die Stiftung unter dem Dach des Deutschen Historischen Museums verbleibt, ist ein außerordentlich wichtiges Zeichen. Auf diese Weise bleibt auch in Zukunft die staatliche Verantwortung für das Projekt gewährleistet. Außerdem wird so jeglichen Vorwürfen, einzelne Gruppen hätten einen dominierenden Einfluss, frühzeitig der Wind aus den Segeln genommen. Der vorliegende Gesetzentwurf kann sich sehen lassen. Wir haben damit eine sehr gute Grundlage für eine erfolgreiche Arbeit der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" geschaffen. Dies gilt insbesondere für das Ziel der Versöhnung. Durch das breite und internationale wissenschaftliche Fundament wird sichergestellt, dass im Ergebnis eine tiefgründige, neutrale und vollständige Aufarbeitung geleistet wird, die frei von Vorurteilen und Einseitigkeit ist. Damit wird die Akzeptanz bei allen Beteiligten gestärkt. Es handelt sich um ein sehr sensibles historisches Thema. Dieser Sensibilität tragen die jetzt vorgelegten Rahmenbedingungen in angemessener Weise Rechnung. Es ist ein kluges und weitsichtiges Konzept erarbeitet worden, das die Interessen aller Beteiligten angemessen berücksichtigt. Insbesondere die Sorgen unserer polnischen Freunde, die Aufarbeitung könnte allzu revisionistische Aspekte beinhalten, räumt das vorgelegte Konzept wirksam aus. Jetzt gilt es, dass die Stiftungsorgane so schnell wie möglich gebildet werden und die Stiftung ihre Arbeit aufnimmt, damit 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das Kapitel "Flucht und Vertreibung" eine angemessene Aufarbeitung und Erinnerungsarbeit erfährt. Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Spät am Abend dieses langen Plenartages, mit zu Protokoll gegebenen Reden, haben wir über einen Gesetzentwurf zu beschließen, der für die Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung", die in ihrer bisherigen Struktur gescheitert ist, einen Neuanfang ermöglicht. "Der Komplexität der Aufgabenstellung und des Meinungsspektrums" soll noch besser Rechnung getragen werden als bisher. Und wie soll dies geschehen? Indem Stiftungsrat und wissenschaftlicher Beraterkreis vergrößert und "das Berufungsverfahren für den Stiftungsrat modifiziert werden" soll. Modifiziert - was heißt das? Sie erinnern sich: Bisher gab es ein zweistufiges Berufungsverfahren für die Mitglieder des Stiftungsrates. Die beteiligten Institutionen - Bundestag, Glaubensgemeinschaften, der BdV usw. - schlugen ihre Mitglieder nur vor. Die Regierung - sprich: das Bundeskabinett - ernannten. Es wurde also über jedes einzelne Mitglied des Stiftungsrates abgestimmt. Nur, wer einstimmig von der Regierung berufen wurde, konnte im Gremium seine Arbeit aufnehmen. An dieser Bestimmung ist die Personalie Erika Steinbach gescheitert. Damit so etwas in Zukunft nicht wieder passiert, bestimmt das neue Gesetz, dass nunmehr der Bundestag die Stiftungsratsmitglieder wählt. Das soll folgendermaßen vor sich gehen: Der Wahl liegt ein Gesamtvorschlag zugrunde, der nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt werden kann. Nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt - diese "Paketlösung" ist ein übler Mehrheitstrick der Koalition. Diese "Paketlösung" verhöhnt das Parlament, seine Mitbestimmung und seine Kontrollaufgabe bei einer Bundesstiftung. Die Linksfraktion war von Anfang an gegen die Errichtung dieser Stiftung, und zwar aus drei Gründen: Erstens war sie wegen ihrer Konzeption dagegen. Wir haben immer gefragt, wer sich - nach der Definition der Stiftung - mit wem versöhnen soll. Nun haben wir vom Gründungsdirektor der Stiftung erfahren, dass es vor allem um eine "Versöhnung der Deutschen miteinander" gehen soll. Das ist nicht hinnehmbar für eine Institution der Erinnerung an einen Weltkrieg und seine Folgen. Zweitens. Wir haben nie verstanden, dass der Sitz der Stiftung ausgerechnet Berlin sein soll, der Ort, von dem all die mörderischen Verbrechen ausgegangen sind, die schließlich auch zu dem Elend von Flucht und Vertreibung geführt haben. Drittens. Wir haben nie verstanden, wieso in einer Bundesstiftung - einer Stiftung des Bundes wohlgemerkt, nicht einer Verbandsstiftung - dem Bund der Vertriebenen als weitaus größte Gruppe eine derart dominierende Rolle eingeräumt wird. Das haben wir schon nicht verstanden, als im alten Stiftungsrat 3 von 13 Sitzen dem BdV zugesprochen wurden. Nun bekommt er 6 von 21 Sitzen; das heißt, an der Gewichtung hat sich durch das neue Gesetz überhaupt nichts verändert. Fazit: Das neue Gesetz trägt der Komplexität der Aufgabenstellung dieser Stiftung in keiner Weise "besser Rechnung". Im Gegenteil, es vermehrt nur die Zahl der Ämter und Sitze in der Stiftung und degradiert das Parlament zu einem Zustimmungsapparat für eine völlig undemokratische "Paketlösung". Schlimmer hätte es eigentlich nicht kommen können - unverfrorener nach all der öffentlichen Diskussion im In- und Ausland auch nicht. Wie gesagt: Wir haben bisher der Errichtung der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" nicht zugestimmt und für die neue gesetzliche Regelung gilt dies erst recht. Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Gesetzentwurf zur Vertriebenenstiftung ist faktisch eine Bankrotterklärung der Regierungskoalition. Monatelang ließ die Kanzlerin den Konflikt mit dem Bund der Vertriebenen und Frau Steinbach treiben, ohne sich zu den erpresserischen und undemokratischen Ansprüchen von Frau Steinbach auch nur zu äußern, geschweige denn hier politisch zu entscheiden. Statt Verantwortung zu übernehmen, duckte die Kanzlerin sich weg und riskierte damit eine Verschlechterung der Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarländern. Der nun vorliegende Gesetzentwurf, der den Konflikt vorgeblich lösen will, ist tatsächlich ein Ausdruck der Schwäche und Handlungsunfähigkeit der Regierung Merkel. Der Konflikt drehte sich im Kern um Frau Steinbachs Anspruch, Mitglieder des Stiftungsrats in der mit Steuermitteln finanzierten Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" benennen zu können, ohne weitere demokratische Legitimation durch die politisch Verantwortlichen. Natürlich dachte Frau Steinbach bei der Benennung von Stiftungsratsmitgliedern an erster Stelle an sich selbst, was die Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarländern unerträglich belastet hätte. Um dem Konflikt aus dem Weg zu gehen, beschloss die Regierungskoalition einen faulen Kompromiss, der uns in Form des Gesetzentwurfs nun vorliegt. Damit Frau Steinbach von ihrem Anspruch ablässt, musste die Zahl der Stiftungsratsmitglieder aus den Reihen des Bundes der Vertriebenen verdoppelt werden. Um das Einknicken vor den Ansprüchen von Frau Steinbach zu kaschieren, musste die Regierung dann eine noch weitergehende Vergrößerung des Stiftungsrats vornehmen, von 13 auf die jetzt vorgeschlagenen 21 Mitglieder. Die Erfahrung zeigt, dass mit einer solchen Erweiterung die Handlungsfähigkeit eines solchen Gremiums sich nicht verbessert, sondern die Abläufe dadurch komplizierter werden. Die Unfähigkeit der Bundesregierung, die Probleme mit dem Stiftungsrat zu lösen, brachte sie zu einer Flucht aus der Verantwortung. Wie Sauerbier ging sie mit der Verantwortung für die Stiftungsratsbenennung hausieren. Auch das BKM und Kulturstaatsminister Neumann waren zeitweise in der Diskussion. Nun soll der Bundestag entscheiden. Was auf den ersten Blick wie eine Demokratisierung des Verfahrens aussieht, erweist sich beim Blick in die Details als eine ziemlich fragwürdige Operation. Ja, der Bundestag soll entscheiden - weil die Bundesregierung sich damit ein Problem vom Hals schaffen will. Und in einem Entscheidungsverfahren, das dem zweifelhaften Motto "Friss, Vogel, oder stirb" folgt. Der Bundestag soll nur über einen Gesamtvorschlag für eine Liste der Stiftungsratsmitglieder abstimmen können. Wenn zum Beispiel vom Bund der Vertriebenen wiederum ein inakzeptabler Kandidat vorgeschlagen wird, dann kann der Bundestag nur die Gesamtliste ablehnen. Ich kenne dieses Verfahren noch sehr gut aus dem Europaparlament, aus Zeiten einer sehr mangelhaften demokratischen Legitimation. Damals wurden so unliebsame Kandidaten auf kaltem Wege durchgedrückt. Und genau das versucht man nun auch in diesem Gesetzentwurf. Was das Projekt der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" jetzt braucht, ist kein in Gesetzesform gegossener fauler Kompromiss. Stattdessen ist die inhaltliche Ausrichtung der Stiftung neu zu überdenken. Dabei ist insbesondere die Frage zu stellen, ob und wie die Stiftung nach dem von Frau Steinbach provozierten Konflikt ihrem Zweck der Versöhnung mit den Nachbarländern überhaupt noch gerecht werden kann. Sehr besorgt macht mich auch, dass sich inzwischen die ausländischen Vertreter im wissenschaftlichen Beirat der Stiftung zurückgezogen haben. Ohne eine angemessene Beteiligung von renommierten Wissenschaftlern und Fachleuten aus den Nachbarländern kann die Stiftung nicht im Sinne der Zielsetzung funktionieren. Die Stiftung braucht - wie gesagt - keinen faulen Kompromiss, sondern ein ernsthaftes Nachdenken im Bundestag und seinen Ausschüssen über einen grundlegenden Neustart des Projekts. - Vielen Dank! Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/1400 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Initiative für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die europäische Schutzanordnung (inkl. 17513/09 ADD 1 und 17513/09 ADD 2) (ADD 1 und ADD 2 in Englisch) Ratsdok. 17513/09 - Drucksachen 17/720 Nr. A.7, 17/1461 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Eva Högl Marco Buschmann Raju Sharma Ingrid Hönlinger Auch hier wurde schon in der Tagesordnung ausgewiesen, dass die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll genommen werden: Dr. Jan-Marco Luczak, Dr. Eva Högl, Marco Buschmann, Raju Sharma und Jerzy Montag. Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Die von zwölf Mitgliedstaaten ergriffene Initiative für die Europäische Schutzanordnung dient im Kern der Umsetzung eines Teilbereiches des Stockholmer Programms. Ziel der Initiative ist, den grenzüberschreitenden Schutz der Opfer von Straftaten gegen Wiederholungstaten desselben Täters gegen dasselbe Opfer innerhalb des europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu verbessern. Dieses Ziel teilen wir uneingeschränkt. In einem gemeinsamen Rechtsraum ohne Binnengrenzen muss die Freizügigkeit der Bürger gewährleistet sein. Es gilt hier der alte Satz: Ohne Sicherheit keine Freiheit. Diese muss in Europa auch über Grenzen hinweg gewährleistet sein. Die Richtlinie sieht daher vor, dass Verbote oder Verpflichtungen, die nach dem Recht eines Mitgliedstaates zum Schutz einer gefährdeten Person gegen eine gefährdende Person erlassen wurden, in anderen Mitgliedstaaten nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung ebenfalls Wirkung entfalten, wenn die gefährdete Person sich dorthin begeben will. So sehr wir dieses Ziel auch begrüßen, muss man bei den Detailfragen doch genau hinsehen. Wir haben das getan und nutzen daher nun die dem Bundestag gegebene Möglichkeit, über eine Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 GG unsere Bedenken deutlich zu machen und über unsere Aufforderungen an die Bundesregierung auf die Diskussion auf europäischer Ebene entsprechend Einfluss zu nehmen. Ich freue mich insofern, als nach Aussage des Staatssekretärs Stadler im Rechtsausschuss diese Woche unsere - durchaus von anderen Mitgliedstaaten geteilten - Bedenken zwischenzeitlich auch bei der Kommission angekommen zu sein scheinen. Lassen Sie mich einige Bedenken näher erläutern. Zweifel bestehen nach unserer Auffassung zunächst daran, ob die gewählte Rechtsgrundlage des Art. 82 AEUV einen ausreichenden Kompetenztitel vermittelt. Die Union darf nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung bekanntlich nur dann Maßnahmen ergreifen, wenn das europäische Recht eine entsprechende Zuständigkeit enthält. In Art. 82 AEUV geht es um die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. In vielen Mitgliedstaaten werden Maßnahmen gegen Gewalttäter zum Schutze der Opfer aber nicht in strafrechtlichen Verfahren verhängt, sondern gründen auf verwaltungsrechtlichen Titeln, oder es wird - wie in Deutschland nach dem Gewaltschutzgesetz - zivilrechtlicher Schutz gewährt. Wenn nun aber verwaltungs- oder zivilrechtliche Maßnahmen in Rede stehen, können diese nicht ohne Weiteres auf Grundlage eines Kompetenztitels im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen einem Mechanismus der gegenseitigen Anerkennung zugeführt werden. Auch der Bundesrat teilt diese Bedenken hinsichtlich der Rechtsgrundlage und hat daher gegen den Richtlinienentwurf Subsidiaritätsrüge erhoben. Diese umfasst neben der eigentlichen Subsidiaritätsfrage als solcher auch die - gleichsam logisch vorgeschaltete - Frage nach der Zuständigkeit der Union. Es ist Aufgabe der Bundesregierung - nicht zuletzt nach den deutlichen Worten des Bundesverfassungsgerichts im letzten Jahr zum Lissabonner Vertrag -, sicherzustellen, dass die Union die ihr übertragenen Kompetenzen nicht überdehnt, sondern insbesondere im grundrechtssensiblen strafrechtlichen Bereich strikt einhält. Auch gibt es bereits eine Reihe von anderen Rechtsakten der Europäischen Union, deren Anwendungsbereich sich zumindest teilweise mit dem der vorgeschlagenen Richtlinie für die Europäische Schutzanordnung überschneidet. Auch hier sind Mechanismen der gegenseitigen Anerkennung vorgesehen. Wieso sollten wir dies also gleichsam doppelt regeln? Wir fragen uns aber vor allem: Wird das von uns geteilte Ziel, ein besserer grenzüberschreitender Schutz von Gewaltopfern, mit der vorgesehenen Richtlinie wirklich befördert und verbessert? Erreicht man mit der Europäischen Schutzanordnung wirklich einen schnelleren und effektiveren Schutz? Sieht man sich die Details der vorgeschlagenen Regelung an, kommen hier Zweifel auf. Es lässt sich zusammenfassen, dass der Richtlinienentwurf ein sehr komplexes, mehrstufiges Verfahren vorsieht: Es gibt ein schwieriges Zusammenspiel der jeweils zuständigen Behörden von Anordnungs- und Vollstreckungsstaat, damit die zugunsten einer gefährdeten Person getroffene Schutzmaßnahme und die auf dieser Grundlage erlassene Europäische Schutzanordnung in einem anderen Mitgliedstaat geprüft, anerkannt und dann eine eigene Schutzmaßnahme nach dessen nationalem Recht erlassen werden kann. Hinzu kommen die existenten Sprachbarrieren und die daher notwendigen Übersetzungsleistungen. Insgesamt handelt es sich um einen Vorschlag, der sehr starr, wenig flexibel und daher ineffektiv ist. Zumindest in Deutschland ist Schutz auch für Menschen aus anderen Staaten der Europäischen Union schneller und effektiver unmittelbar über das deutsche Gewaltschutzgesetz zu erreichen - oftmals binnen weniger Stunden -, ohne dass es einer Anerkennung von Maßnahmen anderer Mitgliedstaaten bedarf. An der Erforderlichkeit bzw. Verhältnismäßigkeit der Ausgestaltung der Regelungen zur Europäischen Schutzanordnung bestehen also ernst zu nehmende Zweifel. Wir sind der Auffassung, dass vor allem der Aspekt der zügigen Übermittlung und Anerkennung derjenigen Informationen im Vordergrund stehen sollte, die etwa ein nationales Gericht für den Erlass einer Schutzmaßnahme nach nationalem Recht benötigt. Das Opfer einer Straftat soll im Vollstreckungsstaat nicht ein neuerliches Verfahren anstrengen und durchlaufen, insbesondere keine neuen Beweise erheben müssen. Hier kann es einen echten Effektivitätsgewinn geben. Die aufgezeigten Bedenken greift unsere Stellungnahme auf und weist zugleich auf die Möglichkeiten hin, wie man durch die zügige Übermittlung der für eine Schutzmaßnahme notwendigen Fakten und deren gegenseitige Anerkennung einen besseren grenzüberschreitenden Opferschutz erreichen kann. Hierfür bitte ich um Ihre Zustimmung. Dr. Eva Högl (SPD): Die Initiative für eine Europäische Schutzanordnung ist ausdrücklich zu begrüßen und steht in mehrerlei Hinsicht für eine fortschrittliche Entwicklung. Zuerst einmal in der Sache selbst. Menschen, die zu Opfern geworden sind, finden erweiterten Schutz, und solche, die befürchten müssen, zum Opfer zu werden, bekommen ein deutlich höheres Maß an Sicherheit geboten, als dies bisher der Fall ist. Das ist vor allem für Frauen, die gewalttätige Übergriffe fürchten müssen und diese oft in der Vergangenheit schon erleiden mussten, eine deutliche Verbesserung. Ich will aber auch diejenigen Fälle nicht unerwähnt lassen, in denen Ermittlungsbehörden darauf angewiesen sind, Sicherheitsgarantien abzugeben, um die Aufklärung von Verbrechen durch Zeugenaussagen überhaupt erst zu ermöglichen. Auch diese Fälle sind wichtig. Der Schutz, den staatliche Organe bisher ermöglichen konnten, endete allzu oft an nationalstaatlichen Grenzen. Was dabei oft übersehen wird: Auch die Souveränität der einzelnen Bürgerin, des einzelnen Bürgers, die bzw. der auf Schutz angewiesen ist, endet ebenfalls dort. Erst die Möglichkeit, die Grundfreiheit der Freizügigkeit tatsächlich verwirklichen zu können, bedeutet eine echte Gleichstellung derjenigen Frauen und Männer, die schon vorher dadurch benachteiligt waren, dass sie erst um Schutz staatlicher Organe nachsuchen mussten, um Leib und Leben nicht länger unkalkulierbaren Gefahren aussetzen zu müssen. Die Grundrechte in Form der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Freizügigkeit sind elementare Bürgerrechte, deren verlässliche Ausübung unter staatlicher Garantie steht. Freizügigkeit nicht nur national, sondern, wenn schon nicht weltweit, so doch EU-weit gewährleisten zu können, bedeutet somit einen spürbaren Abbau faktischer Diskriminierung bzw. Benachteiligung. Die in dem Richtlinienentwurf vorgesehene Möglichkeit für den Anordnungsstaat, eine Europäische Schutzanordnung erlassen zu können, die vom Vollstreckungsstaat anzuerkennen und umzusetzen ist, bedeutet dabei nicht nur einen praktikablen Weg der Umsetzung. Gegenüber der bilateralen Anerkennung von Rechtstiteln bedeutet sie auch einen Abbau von bürokratischen Hemmnissen. Der Fortschritt, der mir als Europapolitikerin besonders am Herzen liegt, ist der Fortschritt der europäischen Zusammenarbeit. Wir haben uns im Fall der Europäischen Schutzanordnung europaweit das gemeinsame Ziel gesetzt, Gewalt noch effektiver zu ächten und zu bekämpfen. Insbesondere das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung zeigt, dass Entscheidungen, die vor dem Hintergrund nationaler Rechtsordnungen und Traditionen ergehen, von anderen Staaten respektiert und umgesetzt werden. Die Erweiterung des gewohnten Rechtsrahmens wird durch die Europäische Union erst ermöglicht. Nur auf nationalstaatlichem Wege könnte das Ziel, in einem internationalen Raum effektiven Schutz für Leib und Leben zu gewährleisten, überhaupt nicht verwirklicht werden. Auch wenn niemandem zu gönnen ist, von der Europäischen Schutzanordnung profitieren zu müssen, zeigt sich hier doch der Mehrwert an Lebensqualität, den Europa seiner Bevölkerung bietet. Wir sind uns im Deutschen Bundestag darüber einig, dass die von den Mitgliedstaaten erwählte Rechtsgrundlage Fragen aufwirft. Diese Haltung wird im Übrigen von der Europäischen Kommission geteilt. Hier wird sogar eine Klage erwogen, um die formale Rechtmäßigkeit der Richtlinie notfalls zu erzwingen. Es ist deshalb gut, dass der Bundestag diesen Punkt in seiner Stellungnahme deutlich formuliert hat. Der Weg, gemeinsam eine Stellungnahme nach Art. 23 GG abzugeben und der Bundesregierung damit für die Beratungen und Verhandlungen im Rat unsere Bedenken und Anregungen mit auf den Weg zu geben, ist daher genau richtig. So können wir uns als Parlament aktiv in die europäischen Verhandlungen einbringen. Ich hätte mir gewünscht, dass wir das gemeinsam fraktionsübergreifend hinbekommen hätten. Das hat die unkoordinierte Abstimmung der Koalition im Rechtsausschuss verhindert. Ich hoffe sehr, dass das in Zukunft anders wird. In europäischen Fragen, und darüber waren wir uns im Rechtsausschuss erfreulicherweise über Fraktionsgrenzen hinweg einig, werden wir als Deutscher Bundestag umso mehr Gehör finden, je einiger wir auftreten. Daher sollte eine gemeinsame Stellungnahme bei inhaltlich unstrittigen Themen zukünftig nicht an Abstimmungsschwierigkeiten scheitern. Wir sollten gemeinsam die neuen Instrumente nutzen, die den nationalen Parlamenten mit dem Vertrag von Lissabon an die Hand gegeben wurden, und uns nicht gegenseitig Steine in den Weg legen. Die SPD-Bundestagsfraktion ist deshalb in der gestrigen Sitzung des Rechtsausschusses als größte Oppositionsfraktion ihrer Verantwortung für die europäische Einigung nachgekommen und hat dem Antrag der Koalition zugestimmt. Ich hoffe sehr, dass wir zukünftig dazu kommen, uns mehr um die Sache als um Verfahrensabläufe zu kümmern. Damit wir, Regierung ebenso wie Opposition, unserer Verantwortung für die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger Europas gerecht werden, wie sie sich beispielhaft in der Europäischen Schutzanordnung manifestieren. Marco Buschmann (FDP): Der Rechtsausschuss empfiehlt Ihnen, zu der Initiative für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Schutzanordnung eine Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes abzugeben. Als Koalitionsfraktionen haben wir dieses Vorgehen im Rechtsausschuss vorgeschlagen, weil wir es für wichtig halten, dass sich der Deutsche Bundestag an der Rechtsetzung in der Europäischen Union beteiligt. Denn was dort beschlossen wird, findet nicht auf einem fernen Planeten "Brüssel" statt, der mit unserem Leben hier in Deutschland nichts zu tun hat. Wir als Parlament sind vielmehr im Regelfall verpflichtet, die dort beschlossenen Vorgaben umzusetzen. Damit wir nicht zum bloßen Ausführungsorgan der Rechtsetzungsorgane der Europäischen Union werden, müssen wir uns als deutsche Parlamentarier frühzeitig in die Debatten in Brüssel einbringen. Wir als FDP-Bundestagsfraktion begrüßen es daher sehr, dass der Deutsche Bundestag von dem Instrument einer Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 GG in der neuen Legislaturperiode verstärkt Gebrauch macht. Dabei geht es uns nicht darum, die Bundesregierung durch strikteste Vorgaben auf europäischer Ebene manövrierunfähig zu machen. Aber wenn der Deutsche Bundestag die Punkte zusammenträgt, die ihm bei den Verhandlungen besonders wichtig erscheinen, kann dies das Gewicht der deutschen Position in Europa nur verstärken. Die Initiative zur Einführung einer Europäischen Schutzanordnung ist dabei ein Fall, in dem wir unser Gewicht in die Waagschale werfen sollten. Das Ziel der Initiative eint uns sicher alle hier im Parlament. Denn das Ziel der Initiative ist es, dafür zu sorgen, dass der Schutz von Opfern potenzieller Gewalt nicht an den Landesgrenzen aufhört. Das ist ein Thema, dessen wir uns annehmen müssen. Denn der Schutz der Rechtsgüter des Einzelnen ist ein wesentlicher, wenn nicht der wesentliche Auftrag des Staates. Dieser Schutz vor potenzieller Gewalt muss - unter Wahrung der Grundrechte - effizient und schnell sein. Ist er nämlich nicht schnell und effizient, dann kann potenzielle Gewalt in reale Gewalt umschlagen. Genau aber bei dieser Effizienz und Schnelligkeit fangen bereits unsere Zweifel an der derzeitigen Ausgestaltung der vorgeschlagenen Europäischen Schutzanordnung an. Diese verlangt nämlich zunächst, dass eine Schutzmaßnahme eines Mitgliedstaates der EU vorliegt. Auf dieser Grundlage kann der Mitgliedstaat eine Europäische Schutzanordnung erlassen. Diese wird dann an den neuen Aufenthaltsstaat der gefährdeten Person geschickt. Dort muss sie anerkannt und umgesetzt werden, indem der neue Aufenthaltsstaat eine Schutzanordnung nach seinem Recht erlässt. Das sind ganz schön viele Zwischenschritte - dabei muss es doch aber schnell gehen! Zudem sind diese Schritte unserer Ansicht nach nicht einmal erforderlich, denn bei anderen Rechtsakten brauchen wir für die gegenseitige Anerkennung doch auch keine europäische Anordnung; die Entscheidungen der Mitgliedstaaten werden direkt weitergeleitet und anerkannt. Deswegen bitten wir die Bundesregierung in unserer Stellungnahme, auf europäischer Ebene anzuregen, dass zum Opferschutz ein Mitgliedstaat dem anderen die Informationen über den zugrunde liegenden Lebenssachverhalt übermittelt, die er hat und die dem anderen Mitgliedstaat die Grundlage geben können, nach seinem Recht für den erforderlichen Schutz zu sorgen. Das scheint unserer Meinung nach auch deshalb angebracht zu sein, da die Mitgliedstaaten hier ganz unterschiedliche Systeme für den Schutz von Opfern potenzieller Gewalt vorhalten. Wir haben uns im deutschen Recht mit dem Gewaltschutzgesetz für ein zivilrechtliches Vorgehen entschieden. Andere Mitgliedstaaten gehen hier mit den Mitteln des Strafrechts oder des Verwaltungsrechts vor. Die Weiterleitung des Lebenssach-verhaltes macht es unabhängig vom dogmatischen Charakter der jeweils im Mitgliedstaat einschlägigen Vorgehensweise schnell und effizient möglich, den begehrten Schutz zu gewähren. Schließlich haben wir weitere Bedenken. Diese mögen sich zunächst sehr technisch anhören. Denn es geht um die Frage, ob die Europäische Union überhaupt die Kompetenz besitzt, die Initiative in der Weise auf den Weg zu bringen, wie es angedacht ist. Die Europäische Schutzanordnung, wie derzeit vorgeschlagen, soll nämlich einheitlich der strafrechtlichen Zusammenarbeit zugeordnet werden. Damit überdehnen wir den Begriff des Strafrechts, wie ihn die Kompetenzordnung der Europäischen Union vorsieht. Denn Strafrecht betrifft die Verfolgung bereits begangener Straftaten. Der Schutz von Opfern potenzieller Gewalt betrifft allenfalls künftige Straftaten und ist mithin eine Frage der Gefahrenabwehr. Diese verorten wir jedenfalls nach deutschem Verständnis nicht im Bereich des Strafrechts, sondern im Bereich des Gefahrenabwehrrechts. Eine solche durch die Initiative unterstellte Erweiterung des kompetenzrechtlichen Strafrechtsbegriffs um den Bereich der Gefahrenabwehr verunklart die Zuständigkeitsverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten. Wollten wir aber nicht mit dem Vertrag von Lissabon mehr Transparenz schaffen, insbesondere mehr Transparenz, wer für was zuständig sein soll, ob die EU oder die Mitgliedstaaten? Hat uns nicht das Bundesverfassungsgericht aufgegeben, dass die neue Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten im Vertrag von Lissabon strikt eingehalten werden muss? Hat das Gericht nicht sogar ausdrücklich ausgesprochen, dass hier gerade im Strafrecht besondere Aufmerksamkeit gefordert ist? Der Vertrag ist gerade einmal ein paar Monate in Kraft, und schon wird versucht, Maßnahmen unter den Begriff des Strafrechts zu packen, die dort so nicht hingehören. Natürlich hätten wir diese Bedenken auch im Wege der Subsidiaritätsrüge geltend machen können, einschließlich der Kompetenzverstöße; denn als FDP-Bundestagsfraktion vertreten wir die Auffassung, dass auch Kompetenzverstöße im Wege der Subsidiaritätsrüge geltend gemacht werden können. Da wir aber, wie geschildert, nicht nur kompetenzrechtliche, sondern vor allem inhaltliche Bedenken gegen den Vorschlag haben, haben wir uns für den Weg der Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes entschieden. Lassen Sie uns unserer Position in Europa Nachdruck verleihen - für einen kompetenzrechtlich sauberen Weg, der schneller zu unserem gemeinsamen Ziel führt, nämlich einem schnellen und effizienten Schutz für Opfer potenzieller Gewalt! Raju Sharma (DIE LINKE): NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat vor einigen Tagen in einem "FAZ"-Interview Oskar Lafontaine als "Ideologen" bezeichnet, und wir können davon ausgehen, dass diese Charakterisierung nicht freundlich gemeint war. Ich bin weit davon entfernt, den Begriff "Ideologie" als Schimpfwort zu gebrauchen; allerdings halte ich ideologische Verbohrtheit im politischen Entscheidungsprozess für wenig erstrebenswert. Während mir Oskar Lafontaine bei dieser Einschätzung sicher zustimmen würde, teilt die CDU diese Auffassung offenbar nicht. Anders kann ich mir jedenfalls nicht erklären, warum die Union im Fall der Stellungnahme zum EU-Richtlinienentwurf über die Europäische Schutzanordnung die Chance auf interfraktionelle Einigkeit hat verstreichen lassen, obwohl diese leicht zu erzielen gewesen wäre. Denn die Linke war trotz einiger Bedenken in Detailfragen bereit, sich der Entschließung der Koalitionsfraktionen insgesamt anzuschließen. Das Ziel der Richtlinie - grenzüberschreitender, europaweiter Opferschutz - stellen wir nicht infrage, wohl aber dessen Umsetzung. Erreicht werden soll der Schutz durch eine sogenannte Europäische Schutzanordnung. Das soll folgendermaßen funktionieren: Eine Person ist zum Beispiel in Deutschland Opfer von Stalking geworden und hat eine Verfügung erwirkt, nach der sich der Stalker auf 300 Meter nicht nähern darf. Will das Opfer nach Frankreich umziehen, kann es in Deutschland eine Europäische Schutzanordnung beantragen. Diese soll nun in Frankreich dafür sorgen, dass dort vergleichbare Schutzmaßnahmen ergriffen werden, ohne dass Sachverhalt oder Rechtsfolgen erneut geprüft werden müssen. Die Regierungsfraktionen haben hierzu Bedenken formuliert, die wir in mehreren Hinsichten teilen: Wie die Koalition bezweifeln auch wir die Anwendbarkeit der Rechtsgrundlage der Richtlinie, und wie die Koalition stellen auch wir die Verhältnismäßigkeit der Richtlinie infrage, da das Verfahren kompliziert ist und Rechtsschutz auf direktem Wege im jeweiligen Land möglicherweise schneller zu erreichen wäre. Unsere Kritik geht aber noch weiter: Die Richtlinie geht davon aus, dass in allen Ländern ausreichende Schutzmaßnahmen bestehen. Das halte ich für fraglich. Bevor über eine Anerkennung von Entscheidungen nachgedacht werden kann, sollten zunächst einheitliche Mindeststandards eingeführt werden. Genauso müsste sichergestellt sein, dass bei einem solchen Verfahren rechtsstaatliche Grundsätze eingehalten werden, insbesondere deshalb, weil dieser Bereich in vielen Mitgliedstaaten als Strafverfahren konzipiert ist. Bei der Zusammenarbeit in Strafsachen sind laut Bundesverfassungsgericht aber besonders strenge Maßstäbe für die gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen anzulegen. In ihrer Entschließung gehen CDU/CSU und FDP über diesen Punkt hinweg. Sie lehnen zwar die Schutz-anordnung selbst ab, wollen jedoch die ihr zugrunde liegenden Fakten anerkennen. Gerade die Sachverhaltsbestimmung ist aber keine verfahrensrechtliche Kleinigkeit, sondern wesentlicher Kern dessen, was Grundlage der Anordnung sein soll. Eine ungeprüfte Anerkennung wäre deshalb ebenfalls problematisch. Trotz der Bedenken in diesem Punkt war die Linke zugunsten einer interfraktionellen, gemeinsamen Stellungnahme des Bundestages bereit, die Entschließung zu unterstützen, zumal ich die Diskussionen im Rechtsausschuss als erfreulich produktiv und auf die Sache konzentriert erlebt habe und auch Positionen der Opposition in die Stellungnahme eingeflossen sind und zumal den Regierungsfraktionen nach eigenem Bekunden an einem geschlossenen Meinungsbild der Parlamentarier sehr gelegen war. Was wäre also näherliegend gewesen als ein gemeinsamer Antrag? Nichts, sollte man meinen - wäre da nicht die Sache mit der ideologischen Verbohrtheit: Gemeinsame Initiativen mit der Linken schließen die Christdemokraten ausdrücklich aus. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Einige Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben eine europäische Gesetzgebungsinitiative gestartet, mit der Schutzanordnungen, wie sie bei uns in Deutschland nach dem Gewaltschutzgesetz erlassen werden, europaweit und grenzüberschreitend vollstreckt werden können. Der Vorschlag beinhaltet, dass solche nationalen Schutzanordnungen vom Erlassstaat in eine Europäische Schutzanordnung umgewandelt und sodann im Vollstreckungsstaat in eine nationale Schutzanordnung rückumgewandelt werden. Niemand von uns wendet sich im Grundsatz gegen einen grenzüberschreitenden Opferschutz. Dieser ist wichtig, wenn gewährleistet werden soll, dass von Gewalt betroffene Personen auch tatsächlich von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen können. Dies ist nach bisher schon bestehenden europäischen Regelungen nicht ausgeschlossen; Verbesserungen sollten bei tatsächlichem Bedarf beherzt in Angriff genommen werden. Uns Grünen ist es als überzeugten Europäern wichtig, den mit dem Lissabon-Vertrag auf eine neue Stufe angehobenen Prozess der europäischen Integration nicht zu gefährden. Das Bundesverfassungsgericht hat uns als den deutschen Gesetzgeber gleichermaßen auf unsere Verantwortung für die europäische Integration wie auch auf unsere Verantwortung zum Schutz der nationalen staatlichen Identität Deutschlands als demokratischer Rechtsstaat verpflichtet. Beidem gerecht zu werden bedeutet insbesondere, den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung ernst zu nehmen, also über die Kompetenzen der Europäischen Union und ihre Grenzen zu wachen. Nicht zuletzt bewahren wir damit die Idee der Europäischen Union vor einer Glaubwürdigkeitsauszehrung bei den europäischen Bürgerinnen und Bürgern. Diese wollen, dass sich europäische Gesetzgebungskompetenz durch eine strikte Bezugnahme auf das Primärrecht der Europäischen Union legitimiert. Dieses beinhaltet neben dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung auch und insbesondere die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit bei der Überprüfung der jeweils in Angriff genommenen Maßnahmen. Nicht zuletzt der Lissabon-Vertrag selbst hat insoweit für die nationalen Parlamente, also den Deutschen Bundestag, Rechte und Pflichten der Mitwirkung statuiert. Es ist deshalb unsere Pflicht, die Frage zu stellen, ob die Initiative der Mitgliedstaaten für eine Europäische Schutzanordnung eine Kompetenzgrundlage im Lissabon-Vertrag hat. Die dem Entwurf zugrunde gelegte Rechtsgrundlage, Art. 82 AEUV, betrifft die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Diese Rechtsgrundlage kollidiert mit deutschem Verfassungsrecht nur dann nicht, wenn die europäische Kompetenz restriktiv und keinesfalls extensiv ausgelegt wird. Im Kern geht es um ein einheitliches Vorgehen der Strafverfolgung in bestimmten Bereichen grenzüberschreitender Kriminalität. Der Schutz vor Straftaten, insbesondere präventive Schutzmaßnahmen auch im Zivil- und Verwaltungsrecht, lassen sich beim besten Willen nicht unter Bezugnahme auf Art. 82 AEUV als Aufgaben der Europäischen Union darstellen. Für Schutzmaßnahmen nach dem deutschen Gewaltschutzgesetz sind nicht Straf-, sondern Zivilgerichte zuständig, und Voraussetzung ist nicht unmittelbar und nicht ausschließlich eine Straftat gegen das Opfer. Die Initiative einiger Mitgliedstaaten für eine Europäische Schutzanordnung gründet sich auf einer unzulässigen Ausdehnung des Begriffs der "justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen" in den Bereich der Prävention, die wir nicht unterstützen können. Nach einigem Zögern scheint auch die Kommission diese kritische Haltung zu teilen. Sie will notfalls eine gerichtliche Klärung dieser Frage vor dem EuGH erzwingen. Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Wir Grünen unterstützen alle sinnvollen und zielführenden Maßnahmen zum Opferschutz, aber nicht um den Preis einer Verletzung des europäischen Rechts und der damit einhergehenden Beschneidung der Gesetzgebungskompetenz des Bundestages. Gerade weil wir den Erfolg der europäischen Einigung wollen, pochen wir darauf, die durch die europäischen Verträge vorgegebenen Kompetenzen strikt einzuhalten und zu verteidigen. Des Weiteren wirkt das vorgeschlagene Instrument recht aufwendig und wirft die Frage auf, ob sein Einsatz überhaupt zu einer Erleichterung führt, was letztendlich zu der Frage der Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit führt. Aus einem allein deutschen Blickwinkel mag es tatsächlich so sein, dass eine nach Deutschland kommende gefährdete Person schneller eine neue Schutzanordnung erwirken kann. Es erscheint aber mehr als zweifelhaft, ob dies auch in allen anderen Mitgliedstaaten so einfach der Fall ist. Aber es geht der Initiative ja gerade darum, den Opfern in allen Mitgliedstaaten einen gleichwertigen Schutz zu gewähren. Wir Grünen teilen die Kritik an der Initiative für eine Europäische Schutzanordnung, die im Vorschlag von CDU/CSU und FDP für einen Beschluss nach Art. 23 GG vorgetragen wird, insbesondere an der zweifelhaften Rechtsgrundlage und an der Rechtsauffassung des Juristischen Dienstes des Rates, sowie die Bedenken im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung dieser Maßnahme. Wir werden dem Antrag dennoch aus zwei Gründen nicht zustimmen: Der eine Grund ist die Verfahrensweise. Es war vereinbart worden, diesen Antrag überfraktionell zu gestalten, um ihm, insbesondere auf europäischer Ebene, mehr Gewicht zu verleihen. Dies setzt aber voraus, dass es einen Diskurs in der Sache gibt, was wiederum voraussetzt, dass ein Minimum an Zeit vorhanden ist, um solche Diskussionen führen zu können. Leider wurde von der Koalition die Chance vertan, diesen Antrag gemeinsam auf den Weg zu bringen. Dies wiegt umso schwerer, als gerade in Fragen europäischer Gesetzgebung ein einheitliches Auftreten des gesamten Bundestages vonnöten ist. Der zweite Grund ist inhaltlicher Art. In Punkt 3 des Darstellungsteils des Antrags wird behauptet, dass in bisherigen Rahmenbeschlüssen, die sich mit der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen beschäftigen, 2008/947/JI und 2009/829/JI, der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit voll verwirklicht wäre. Dies ist jedoch schlicht falsch, denn die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit und infolgedessen die Ablehnung der Anerkennung wird für gut 30 Deliktgruppen explizit ausgeschlossen. Wir haben uns, früher gemeinsam mit der FDP und einigen in der SPD, gegen diesen Ausschluss des Grundsatzes der beiderseitigen Strafbarkeit in europäischen Rechtsakten gewandt und die Abschaffung, zumindest aber eine Präzisierung der Deliktgruppen gefordert. Es ist schade und unverständlich, weshalb die Koalition hier den Text nicht verbessert und die Fakten nicht richtig darstellt. Des Weiteren wird im Forderungspunkt 5 des Antrags die Bundesregierung aufgefordert, für den Fall, dass die Initiative für eine Europäische Schutzanordnung nicht zu verhindern ist, wenigstens dafür zu sorgen, dass jeder Vollstreckungsstaat in vollem Umfang den Einwand fehlender beiderseitiger Strafbarkeit erheben darf. Dies macht aber bei einer Schutzanordnung keinen Sinn, die, wie auch bei uns in Deutschland, gar nicht notwendigerweise mit einer Straftat begründet sein muss. Wir Grünen werden deshalb dem Antrag der Koalition nicht zustimmen und uns der Stimme enthalten. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1461, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung (Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung) - Drucksache 17/1411 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll gegeben: Manfred Kolbe, Martin Gerster, Frank Schäffler, Richard Pitterle und Jerzy Montag.6 Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/1411 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin Gerster, Sabine Bätzing, Gabriele Fograscher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Den Sport in Europa voranbringen - Drucksache 17/1406 - Überweisungsvorschlag: Sportausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Winfried Hermann, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sport in der Europäischen Union - Den Lissabon-Vertrag mit Leben füllen - Drucksache 17/1420 - Überweisungsvorschlag: Sportausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, dass die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden: Martin Gerster, Joachim Günther, Jens Petermann, Viola von Cramon-Taubadel und des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Christoph Bergner. Martin Gerster (SPD): In wenigen Tagen kommen die Sportminister Europas zum ersten Mal offiziell zu einem Ministertreffen zusammen. Das ist Anlass für unseren Antrag "Den Sport in Europa voranbringen". Wir wollen, dass Deutschland eine aktive Rolle einnimmt und Motor für eine abgestimmte, gemeinsame europäische Sportpolitik wird. Schon bei der Debatte über das "Weißbuch Sport" der EU, aber auch bei anderen Debatten hatten wir als Sportpolitikerinnen und Sportpolitiker ja einhellig darauf gedrängt, dass wir uns als Parlamentarier - und auch die Bundesregierung - frühzeitig in die Ausgestaltung dieser durch den Lissabon-Vertrag neu geschaffenen Kompetenz des EU-Parlaments und der EU-Kommission einbringen. So hatten wir es auch in unserem Antrag aus der letzten Legislaturperiode zur gesellschaftlichen Bedeutung des Sports beschlossen. Daran wollen wir festhalten - zumindest die SPD-Fraktion! Unser Antrag trägt den veränderten Bedingungen des Sports auf europäischer Ebene Rechnung. Schon seit vielen Jahren - und spätestens seit dem sogenannten Bosman-Urteil - ist jedem klar, dass die europäische Dimension, insbesondere für den Profisport, an Bedeutung gewonnen hat und in Zukunft noch wichtiger werden wird. Aber auch für den Breitensport ist die nunmehr gegebene europäische Kompetenz ein Meilenstein für den Sport in Europa. Wir leben schon seit langem nicht mehr in einer Welt, die vor allem national bestimmt ist, sondern in einer zunehmend globalisierten Welt. Nicht zuletzt der Vulkanausbruch in Island und die damit verbundenen weitreichenden Einschränkungen im europäischen Flugverkehr haben uns wieder einmal vor Augen geführt, wie nah wir aneinandergerückt sind. Und wie bei allen Veränderungen ergeben sich daraus Chancen, die wir nutzen sollten - aber auch Risiken, die wir nicht außer Acht lassen dürfen. Zunächst zu den Chancen, die sich aus einer europäischen Sportpolitik ergeben werden. Viele Bereiche sind schon im "Weißbuch Sport" angeführt und sollten durch die Sportpolitik der EU aufgegriffen und konkretisiert werden. Ich will hier nur einige wenige Punkte nennen. So muss beispielsweise die Förderung des Ehrenamts und dessen Schutz um eine europäische Dimension erweitert werden. Wir in Deutschland haben ja sehr gute Erfahrungen mit unseren Förderungen des Ehrenamts gemacht. Ohne diese Menschen, die jedes Jahr dem Sport Millionen von Arbeitsstunden unentgeltlich zur Verfügung stellen, wäre unser Land um vieles ärmer. Wir sollten den europäischen Einigungsprozess mit den Mitteln des Sports unterstützen. Wem, wenn nicht dem Sport mit seinen global gültigen Regeln und seiner niedrigen Zugangsschwelle, kann es gelingen, Brücken zu bauen? Wir müssen verstärkt Jugendbegegnungen im Bereich des Sports möglich machen und jungen Erwachsenen die Chance geben, Erfahrungen außerhalb ihrer Heimatländer zu machen, in dem sie sich beispielsweise ehrenamtlich engagieren oder multinationale, sportbezogene Ausbildungsmöglichkeiten wahrnehmen. Eine abgestimmte europäische Sportpolitik stärkt die Rolle der EU auch auf dem internationalen sportpolitischen Parkett. Wenn Europa hier mit einer Stimme spricht, wächst auch der Einfluss der Europäer in der internationalen Sportpolitik. Europäische Sportpolitik muss auch bedeuten, grenzübergreifend voneinander zu lernen und Gutes aus dem Bereich des Sports innerhalb Europas zu verbreiten. Moderne Konzepte von "bewegter Schule", bewährte Kooperationsvereinbarungen zwischen Schulen und Vereinen, Rahmenbedingungen für den Sport für Menschen mit Behinderungen, motivierende Bewegungs-angebote für die älteren Bürgerinnen und Bürger unserer Gesellschaft usw. - in den vielfältigsten Bereichen des Sports kann man in Europa hervorragende Ansätze finden. Um eine möglichst aktive Bevölkerung zu bekommen, muss nicht jedes Land das Rad neu erfinden. Der Blick über die Landesgrenze und ein intensiver europäischer Austausch sind wichtig. Noch gibt es auch in den Rahmenbedingungen, die der Sport in den einzelnen Ländern Europas vorfindet, große Unterschiede, wie auch in vielen anderen Politikbereichen. Daher muss eine europäische Sportpolitik auch dazu führen, auf lange Sicht in allen europäischen Staaten gute Voraussetzungen für den Sport zu sichern. Dazu gehört eine moderne Infrastruktur genauso wie ausreichende finanzielle Förderung und ein rechtlicher Rahmen, der dem Sport vernünftige Gestaltungsfreiheit lässt. Allerdings sieht sich der Sport auch Risiken ausgesetzt, die nicht nur national begrenzt werden können. Die Dopingbekämpfung kann nur international erfolgreich sein! Solange Ermittlungsergebnisse nicht problemlos von einem Land ins nächste gegebenen werden, solange Sportler in einem Land wegen Dopingvergehen gesperrt sind und im anderen Land antreten können und solange die Sanktionen für Dopingsünder nicht einheitlich abschreckend geregelt sind, können Anti-Doping-Bemühungen nicht erfolgreich sein. Der Sport sieht sich auch anderen Manipulationsversuchen ausgesetzt: Wettbetrug, Bestechung und dubiose Praktiken bei der Spielervermittlung sind nur einige der Gefahren, denen auf europäischer Ebene begegnet werden muss. Eine europäische Sportpolitik muss also Chancen für den Sport nutzen und ausbauen, neue Wege eröffnen und die Benefits des Sports fördern. Sie muss aber auch klare Grenzen setzen und gesetzliche Rahmenbedingungen schaffen, die den Risiken für den Sport Einhalt gebieten. Ich erwarte, dass sich die Bundesregierung in allen Bereichen aktiv einbringt, auch wenn die Koalitionsfraktionen heute nicht mit eigenen Vorschlägen für das erste formelle Sportministertreffen aufwarten. Daher sehe ich der Berichterstattung des Bundesministeriums des Innern im Sportausschuss über dieses Treffen mit Interesse entgegen. Noch kurz zum Antrag der Grünen. Ich denke, wir sind da in ganz vielen Bereichen sehr nah beieinander - und nicht nur wir, sondern ich denke auch das ganze Haus. Daher möchte ich nur zwei Punkte anmerken. Zum einen vermisse ich bei Ihrem Antrag einen Hinweis auf die Verantwortung Europas für den außereuropäischen Raum. Die Europäische Union ist eine Erfolgsgeschichte, um die uns die anderen Regionen zum Teil durchaus beneiden, die aber auf jeden Fall im Rest der Welt sehr intensiv beobachtet wird. Ich glaube, dass wir als Europäer mit all unserer Wirtschaftsmacht ein wesentliches Interesse, ja sogar eine Pflicht haben, uns miteinander für andere einzusetzen - und dies nicht zuletzt im und durch den Sport. Leider haben die Grünen diesen Aspekt nicht in ihrem Antrag. Zum Zweiten habe ich eine Frage, da ich einen Punkt in Ihrem Antrag nicht verstehe: Unter Punkt B Ziffer 6 fordern Sie ein Lizenzvergabesystem für Sportvereine. Ich glaube, da stimmt einfach die Begrifflichkeit nicht. Wahrscheinlich meinen Sie eine Zertifizierung bzw. die Schaffung eines Zertifikats für Vereine, die sich in der von Ihnen beschriebenen Weise um die Bekämpfung von Rassismus, Homophobie und Gewalt verdient machen. Sollte dies so sein, dann unterstützen wir das natürlich; da führt dann aber der von Ihnen gewählte Begriff in die Irre. Auch für die Aufklärung solch kleinerer Missverständnisse wird unsere Sportausschusssitzung gut sein. Ich freue mich auf die Fortsetzung der heute begonnenen Diskussion in diesem Gremium. Joachim Günther (Plauen) (FDP): Die FDP sieht es grundsätzlich als positiv an, dass mit dem Vertrag von Lissabon in Art. 165 eine Kompetenz auf europäischer Ebene für den Sport geschaffen wurde. Mit der Verankerung im Primärrecht fällt der Sport auch erstmalig mit in den Zuständigkeitsbereich der Europäischen Union. Dies bietet eine Reihe von Chancen für den Sport. Um hier nur einige Punkte zu nennen: Mit der Kompetenz der EU im Bereich der Sportpolitik lässt sich eine verbesserte Koordinierung der Dopingbekämpfung auf internationaler Ebene erreichen. Aber auch auf Mitgliedstaaten innerhalb der EU, die die UNESCO-Anti-Doping-Konvention noch nicht unterschrieben haben, kann eingewirkt werden. Die Bestimmungen des WADA-Anti-Doping-Codes und der Anti-Doping-Konvention des Europarates wie auch der UNESCO-Anti-Doping-Konvention sollen nicht nur im Bereich des Profisports, sondern ebenso im Bereich des Breitensports Anwendung finden. Natürlich stehen dabei ganz besonders das gesundheitliche Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen im Fokus der Präventionsmaßnahmen. Die neugeschaffene Kompetenz eröffnet uns weiterhin die Möglichkeit eines besseren Schutzes der körperlichen Unversehrtheit von Sportlern, insbesondere Jugendlicher, und bessere Möglichkeiten der Gewaltbe-kämpfung durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Ein Kernanliegen der europäischen Sportpolitik sollte auch die Rolle des Sports für ein gesundes und fittes Leben sein. Wir haben mittlerweile weltweit das Problem einer steigenden Anzahl von sogenannten Wohlstandserkrankungen wie Adipositas oder Diabetes, die inzwischen einen großen Teil der Kosten unseres Gesundheitssystems verursachen. Mit ausreichend Bewegung und einer guten Ernährung müssen diese Herausforderungen angepackt werden. Ebenso werden sich die Möglichkeiten verbessern, Sportwettbetrug zu bekämpfen. Wettbetrug ist natürlich schädlich und bringt den Sport allgemein zusätzlich zur Dopingproblematik in ein schlechtes Licht. Jedoch sollten Sportwetten nicht allgemein als Ursache für dieses Übel angesehen werden. Ich möchte an dieser Stelle deutlich betonen, dass Sportwetten einen wichtigen Pfeiler für die Sportfinanzierung darstellen, auch im Bereich des Breitensports. Die eingebrachten Anträge gehen in die richtige Richtung, doch vergessen Sie einmal mehr, dass das Geld für Ihre Forderungen auch irgendwo herkommen muss. Deshalb fordern wir Liberalen seit langer Zeit die Liberalisierung des Sportwettenmarktes. Werfen wir doch einen Blick auf Deutschland: Das Beratungsunternehmen Goldmedia hat in seiner im April 2010 veröffentlichten Studie eine umfassende Erhebung über die Größe des deutschen Glücksspielmarktes vorgelegt. Diese zeigt unter anderem, dass trotz der Nichtzulassung privater Sportwettenanbieter in 2009 insgesamt 7,9 Milliarden Euro an Wetteinsätzen platziert worden sind. Damit entfällt der übergroße Marktanteil von 94 Prozent auf in Deutschland nichtregulierte Angebote: 2,4 Milliarden Euro auf die nach wie vor existierenden stationären Wettshops, 3,9 Milliarden Euro auf Onlineanbieter und weitere 1,0 Milliarden Euro auf den Schwarzmarkt, der in sogenannten Hinterzimmern und mobilen Kassen bzw. Läufergeschäften zu finden ist. Im Gegensatz dazu kann die staatliche Sportwette Oddset/ Toto gerade einmal einen Umsatz durch Spieleinsätze von 240 Millionen Euro verzeichnen. Die Diskrepanz könnte kaum größer sein. Das staatliche Monopol und das Internetverbot sind gescheitert. Die Marktzahlen zeigen ganz klar, dass Verbraucher Verbote nicht akzeptieren und zeitgemäße Glücksspielprodukte nachfragen. In der derzeitigen Situation hat der Staat jedoch keine Kontrolle über diesen Graumarkt und schöpft zudem die steuerlichen Potenziale nicht ab. Was bedeutet das für Europa? Mit der Einführung einer Kompetenz der Europäischen Union im Bereich des Sports ist es nicht getan. Diese Kompetenz muss mit Leben erfüllt werden. Mit der Aufhebung der Reglementierung für Sportwetten europaweit könnten zusätzlich zu dem für das Jahr 2012 geplanten ersten EU-Sportförderprogramm zusätzliche finanzielle Mittel zur Förderung des Sports und gesundheitspräventiver Maßnahmen erschlossen werden. Jens Petermann (DIE LINKE): Die Zuständigkeit der EU im Bereich Sport ist erst mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages am 1. Dezember 2009 formalisiert worden. Vor diesem Hintergrund wird am 10. Mai in Madrid das erste Treffen der Sportminister der Europäischen Union stattfinden. Dass großer Handlungsbedarf besteht, liegt auf der Hand. Sowohl im Weißbuch der Europäischen Kommission zum Sport als auch in der Entschließung des Europäischen Parlaments zu diesem Dokument wird ein Aspekt betont, der in Deutschland auf Bundesebene leider immer noch ein Stiefkind ist: die Förderung des Breitensports. In Deutschland ziehen sich die Verantwortlichen bei diesem Thema gern auf eine einzige Aussage zurück: Sportförderung sei Sache der Länder und Kommunen. Die Linke hält dem schon lange entgegen, dass dieses Land endlich ein Sportförderungsgesetz des Bundes braucht, damit Länder und Kommunen endlich ihre diesbezüglichen Aufgaben befriedigend erfüllen können. Statt ihre Hausaufgaben zu machen und ein solches Gesetz auf den Weg zu bringen, streichen die Haushälter der schwarz-gelben Koalition lieber eines der wenigen Programme, das auf die Förderung des Breitensports ausgerichtet war: den Goldenen Plan Ost. Die Kommunen werden nun mit ihren vielerorts maroden Sportstätten mehr denn je allein gelassen. Das ist wahrlich nicht im Sinne der europäischen Idee im Bereich des Sportes. Für zweifelhaft halte ich auch die strikte Trennung zwischen Breiten- und Leistungssport bei der Bekämpfung von Dopingpraktiken. Die Grenzen sind hier fließend. Ja, es ist absolut notwendig, den Kampf gegen Doping auf europäischer Ebene zu harmonisieren. Ausreichen wird dies in der globalisierten Welt des Sports jedoch nicht. Zurück zu den fließenden Grenzen: Wie glaubwürdig ist ein lautstark propagierter Kampf gegen Doping im Spitzensport, wenn das Doping im Alltag - ob im Sport, in Schule oder Universität - längst alltäglich ist? In den USA nimmt jeder fünfte Student konzentrationssteigernde Mittel, die sich ebenso im Sport etabliert haben. Und von umfangreichen Doping- und Drogenfunden in deutschen Fitnessstudios wird bekanntermaßen regelmäßig berichtet. Hier gilt es anzusetzen, um das gesellschaftliche Bewusstsein nicht allein auf Dopingpraktiken im Leistungssport zu fokussieren. Im Übrigen beginnen so gut wie alle negativen Erscheinungen bereits im Amateursport, sodass schon hier angesetzt werden muss, um Probleme anzugehen. Ich verweise auf den Themenkomplex Rassismus, Homophobie und Gewalt im Sport. Diese Bedrohungen zeigen sich insbesondere im Fußball, und das bereits in den unteren Ligen. Für lesbische Sportlerinnen und schwule Sportler bietet die Umgebung des Spiels offenbar eine Atmosphäre, in der sie große Scheu haben, zu ihrer Homosexualität zu stehen. Deshalb ist es unbedingt erforderlich, Fanprojekte zu unterstützen, die sich der Aufklärung verschrieben haben. Gleiches gilt für rassistische Angriffe gegen Menschen anderer Hautfarbe oder Religion. Auf diesem Problemfeld sind vor allem grenzüberschreitende Netzwerke dringend nötig. Es ist eine gesamteuropäische Aufgabe, sicherzustellen, dass Diskriminierung im Sport wirksam bekämpft wird. In dem "Tatort" aus Bremen mit dem Titel "Endspiel" wird diese Problemstellung exemplarisch genauso aufgegriffen wie eine andere schwerwiegende Entwicklung im Sport: Talentierte minderjährige Sportler werden aus ihren meist armen Heimatländern von Spieleragenten mit verheißungsvollen Versprechen in die EU gelockt. Oft aber reicht ihr Talent nicht aus für den ganz großen Sport, und sie geraten fern der Heimat allein gelassen auf die schiefe Bahn. Deshalb ist es unbedingt notwendig, dass die diesbezüglichen Gesetze und Vorschriften umgesetzt werden. Die FIFA verbietet Transfers von Spielern unter 16 Jahren, nur wird diese Regelung längst nicht strikt genug angewandt. Im Vertrag von Lissabon ist verankert, dass die EU verpflichtet ist, für den Schutz der körperlichen und seelischen Unversehrtheit, insbesondere der jüngeren Sportlerinnen und Sportler, zu sorgen. Hier haben die Mitgliedstaaten, gerade auch Deutschland, ihre Hausaufgaben längst nicht erledigt. Dies sind nur einige ausgewählte Handlungsfelder aus dem Sportbereich, auf denen einerseits die Europäische Union gefordert ist, andererseits die konkrete Umsetzung aber in der Verantwortung der Mitgliedstaaten liegt. Zwar hat die EU mit dem Vertrag von Lissabon erstmals Kompetenz im Bereich Sport erhalten, doch wirkt dies nur unterstützend, koordinierend und ergänzend. Handeln muss jetzt die Bundesregierung! Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Sport war für die EU bisher bestenfalls eine Nebensache. Wer Sport auf die Europabühne bringen wollte, musste sich argumentativer Hilfskonstruktionen bedienen. Sport gehörte zu den Politikfeldern, die von der nationalen Politik dauerhaft gepachtet schienen. Diese Pachtregelung hat der Vertrag von Lissabon verändert. Die Möglichkeiten zur Förderung von Sportprojekten und - noch wichtiger - die systematische Einbeziehung des Sports in andere EU-Politiken und Förderprogramme sind seit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags möglich. Der Startschuss für eine Sportpolitik in der EU fiel zwar schon mit dem "Adonnino-Bericht" an den Europäischen Rat vom Juni 1985, der erstmals die gesellschaftliche Rolle des Sports hervorhob. Aber nun kann die Europäische Union erstmals eigene Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten durchführen. Das begrüße ich ausdrücklich. Worum es jetzt aber geht, ist doch offenkundig: Wir müssen die neuen Regelungen auch anwenden, oder - um im Bild zu bleiben -: Europa muss das neu gewonnene Politikfeld auch bestellen. Und eben bei dieser Bestellung sehen wir erhebliche Defizite, die endlich behoben werden müssen. Ich sage bewusst "müssen"; denn der Sport ist es wert, dass sich Europa - und dazu gehören eben auch die nationalen Parlamente - im Sinne des Lissabon-Vertrages engagiert. Dabei hoffe ich - und das betone ich als Mitglied einer proeuropäischen Partei -, dass es uns gelingt, den Sport für die Herausbildung einer europäischen Identität zu nutzen. Natürlich ist uns hier die Ambivalenz, die Widersprüchlichkeit des Sports bei der Identitätsbildung von Nationen oder Regionen, von ethnischen und gesellschaftlichen Gruppen bekannt. Sport kann eine ganze Nation, eine Stadt oder eine Region verbinden, er kann aber auch spalten und trennen. Dieser Realität müssen wir uns bewusst sein, wenn wir Sport zu einem Instrument der Förderung einer europäischen Identität machen. Und: Wir sollten uns auch keiner Illusion hingeben. Gerade im Sport findet Identitätsbildung häufig durch Abgrenzung statt. Der europäische Integrationsprozess ist jedoch ein Gegenentwurf zu einer Abgrenzungsstrategie. Wer sich das bewusst macht, kann wohl auch die Größe der Aufgabe erkennen. Was fordern wir konkret? Die Bundesregierung muss eine Position für eine kohärente, nachhaltige europäische Sportpolitik entwickeln. Und natürlich geht es auch hier darum, dass sie sich für diese Maßnahmen und für eine angemessene finanzielle Ausstattung des für 2012 geplanten ersten EU-Sportförderprogramms einsetzt. Ein solches Programm ist sicher eine große Aufgabe. Umso wichtiger ist es, sich zu konzentrieren und Prioritäten zu setzen. Aus meiner Sicht sollte die Bekämpfung von Rassismus, Homophobie und Gewalt in der europäischen Sportpolitik ganz oben auf der Agenda stehen. Diese Prioritätensetzung passt hervorragend zum europäischen Politikentwurf. Die Überwindung von nationalen Egoismen, Rassismus und Gewalt war und ist das Kernanliegen des europäischen Projekts. Das sollte auch in der Sportpolitik deutlich werden. In diesem Kontext sollte die EU Fanprojekte fördern, Präventionsarbeit im Kampf gegen Rassismus, Homophobie und Gewalt unterstützen und einen grenzüberschreitenden Wissenstransfer organisieren sowie die Forschung stärker auf diese Problemfelder fokussieren. Es ist eine Aufgabe der EU, die Zusammenarbeit zwischen Strafverfolgungsbehörden, Sportorganisationen und weiteren staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren zu verbessern. In diesen Kontext passt die ureigene Aufgabe des Sports - seine Förderung der Integration. Hier kann das traditionelle Instrument des Jugendaustauschs eine neue Funktion bekommen. Das EU-Programm "Jugend in Aktion" soll auch über 2013 hinaus fortgeführt werden. Der Sport soll darin stärker als bisher berücksichtigt werden. Die Möglichkeiten des Sports zur Integration sollen durch die Förderung wissenschaftlicher Untersuchungen und den Austausch von bewährten Verfahren besser genutzt werden. Wir fordern die Bundesregierung auf, ein Konzept für ein von den Mitgliedstaaten der EU finanziertes europäisches Jugendwerk der interkulturellen Begegnung und des Sports nach dem Vorbild des deutsch-französischen und des deutsch-polnischen Jugendwerkes auszuarbeiten. Es sollen Programme von der EU entwickelt und finanziert werden, die der Integration von Menschen mit Behinderung dienen. Die UN-Konvention über die Rechte für Menschen mit Behinderung soll in allen Mitgliedstaaten der EU auch im Sportbereich konsequent umgesetzt werden. Die EU soll Projekte unterstützen, die sich für die Integration von Frauen und Mädchen, speziell aus Familien mit Migrationshintergrund, durch den Sport einsetzen. Netzwerke zum Austausch bewährter Verfahren in diesem Bereich sollen unterstützt werden. Ein weiteres wichtiges Feld ist die Bekämpfung von Doping. Hier brauchen wir erstens ein europäisches Kontrollsystem und zweitens geeignete Präventionsmaßnahmen, und zwar sowohl für den Profi- als auch für den Breitensport. Das gilt für Erwachsene, aber besonders für Jugendliche und - bezüglich der Prävention - auch für Kinder. Die EU muss den Kampf gegen Korruption in Sportorganisationen und gegen Sportwettbetrug wirksam unterstützen. Auch hier geht es um den Aufbau von Netzwerken zum Austausch bewährter Maßnahmen. In Kooperation mit den Sportorganisationen, den Sportwetten- und Glücksspielanbietern und den Mitgliedstaaten soll ein gemeinsamer Rahmen entwickelt werden, der gewährleistet, dass illegale Wettpraktiken verhindert werden. Last, but not least: Die europäische Sportpolitik muss sich an den Zielen der nachhaltigen Entwicklung orientieren. In der Praxis heißt dies: In Europa sollen Sportgroßveranstaltungen nur noch klimaneutral ausgerichtet werden. Die Sportakteure in der EU sollen dazu ermutigt werden, am System für Umweltmanagement und Umweltbetriebsprüfung teilzunehmen. Es sollen Projekte entwickelt und unterstützt werden, die das Bewusstsein der Menschen für Umwelt- und Naturschutz bei der Sportausübung in der freien Natur fördern und ihnen Handlungsempfehlungen geben. Ich kenne natürlich die Einwände gegen ein stärkeres EU-Engagement im Sport. Dazu gehört auch der Hinweis auf die unterstützende und koordinierende Rolle, die die EU in erster Linie spielen soll, und dass es hier um Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten geht. Nach meiner Auffassung ist Sport aber ein so wichtiges Feld, dass jedes weitere Engagement willkommen sein muss. Es ist ja offensichtlich: Die nationalen Aktivitäten reichen nicht aus. Deshalb mein Appell: Nutzen wir die Möglichkeiten der EU und verstärken wir das Engagement gegen die negativen Begleiterscheinungen im Sport! Verbinden wir die Ideale der europäischen Einigung mit den Anliegen des Sports! Dazu ist auch ein gut strukturierter Meinungsaustausch zwischen allen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren im Sportbereich der Mitgliedstaaten und in Europa sowie der Kommission von großer Bedeutung. Um diese Bedeutung auch personell zu unterstreichen, sollte auf jeden Fall der zuständige deutsche Minister beim ersten formellen Treffen der europäischen Sportminister am 10./11. Mai ein klares Zeichen setzen. Er sollte zeigen, welche Bedeutung er dem Sport in Europa beimisst. Dieses Zeichen wäre ganz einfach: Er müsste am Treffen der Sportminister teilnehmen. Bisher ist er dazu offensichtlich nicht bereit. Das Fernbleiben des Ministers wäre ein Fehler. Genau diesen Fehler sollte die Bundesregierung nicht machen. Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Der Vertrag von Lissabon hat uns die lang erwartete und nicht zuletzt vom Deutschen Bundestag immer wieder geforderte Kompetenz der Europäischen Union im Sport gebracht. Der Weg bis zu dieser Kompetenz war beschwerlich. So wurde der Sport durch die Aufnahme der sogenannten Gemeinsamen Erklärung zum Sport in das Amsterdamer Vertragswerk erstmalig in den Vertragstexten der Europäischen Union berücksichtigt. Dieser Erklärung kam aber lediglich politische Bedeutung zu. Auch die Erklärung von Nizza, in der sich die Europäische Union im Jahr 2000 zu sportfreundlichen Entscheidungen verpflichtete, sowie die Erklärung zum Sport, die der Europäische Rat 2008 anlässlich der französischen Ratspräsidentschaft verabschiedete, stellten politische Absichtserklärungen dar. Spätestens nach dem Bosmann-Urteil bestand wiederholt die Sorge, die europäische Rechtsprechung könnte mangels spezifischer europarechtlicher Rahmensetzungen die Besonderheiten des Sports nicht hinreichend berücksichtigen. Mit dem von der Kommission 2007 im Anschluss an die deutsche Ratspräsidentschaft veröffentlichten Weißbuch Sport hat die EU-Kommission diesbezüglich eine wichtige Initiative ergriffen. Der Aktionsplan Pierre de Coubertin, der mit 53 konkreten Maßnahmen aktuelle sportpolitische Fragestellungen aufgriff, stellt einen Versuch dar, europäische Gestaltungsräume zu öffnen. Nun hat die Europäische Union eine Kompetenz im Sport, und es gilt, nicht nur diese Kompetenz mit Leben zu füllen, wie die Antragsteller richtig betonen, sondern auch die Beachtung des Subsidiaritätsgedankens einzufordern. Dabei sollte uns klar sein, dass Art. 165 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV, dieser lediglich eine unterstützende Kompetenz zuweist, die keinerlei Spielraum für Harmonisierung im Recht der Europäischen Union lässt. Die Union kann nur ergänzend zu den Mitgliedstaaten handeln. Sie muss also das Subsidiaritätsprinzip und die Autonomie des Sports beachten. Art. 165 AEUV stellt allerdings keine generelle Ausnahmevorschrift für den Sport dar, die dazu führen würde, dass die allgemeinen Regelungen des EU-Rechts wie die Arbeitnehmerfreizügigkeit oder das Wettbewerbsrecht von nun an keine Anwendung mehr auf den Sport finden. Allerdings wird bei der Überprüfung von Maßnahmen, die den Sport betreffen, in Zukunft verstärkt auf die Besonderheit des Sports zu achten sein. Hier gilt es, zukünftig Ansatzpunkte zu entwickeln, die der gesellschaftlichen Bedeutung des Sports gerecht werden. Das Initiativrecht für Maßnahmen unter dem neuen Sportartikel liegt bei der Europäischen Kommission. Die Kommission hat angekündigt, im Herbst 2010 eine Mitteilung mit dem Titel "EU-Agenda zur Politikgestaltung und Kooperation im Sport" vorzulegen, die, an das Weißbuch Sport anknüpfend, aktuelle sportpolitische Themen festlegt, mit denen sich die Kommission befassen möchte. Zudem wird sie zu diesem Zeitpunkt auch das erste EU-Sportprogramm mit Fördermaßnahmen für die Jahre 2012/2013 vorschlagen. In der zweiten Jahreshälfte 2011 will die EU-Kommission dann ein Förderprogramm für die Jahre 2014 bis 2020 vorlegen. Zu der neuen EU-Sportagenda und dem Förderprogramm für 2012/2013 hat die Kommission einen Konsultationsprozess gestartet. Die Mitgliedstaaten wurden bereits auf dem informellen Sportministertreffen, das diesen Dienstag und Mittwoch in Madrid stattgefunden hat, angehört. Leider konnte ich, wie die Mehrzahl meiner europäischen Kollegen, aufgrund des eingeschränkten Flugverkehrs an diesem Treffen nicht persönlich teilnehmen. Ein ausführlicher Bericht über das informelle Ministertreffen wird dem Bundestag in Kürze zugeleitet. Eine weitere Anhörung ist dann für den formellen Ministerrat am 10. Mai 2010 geplant, an dem ich voraussichtlich teilnehmen werde. Neben dieser Abfrage bei den Mitgliedstaaten führt die Europäische Kommission zurzeit auch eine für alle offene Konsultation über die Internetseite der Sport Unit durch, die noch bis 1. Juni 2010 andauert. Dies ist eine weitere Möglichkeit, die Vorschläge der Kommission zu beeinflussen. Die inhaltlichen Vorstellungen der EU-Kommission im Hinblick auf die für Herbst 2010 geplanten Maßnahmen liegen Ihnen mit dem sogenannten Non-Paper der Kommission zur Umsetzung der neuen EU-Kompetenz für den Sport, das dem Deutschen Bundestag mit den weiteren Vorbereitungsunterlagen für das informelle Sportministertreffen zugeleitet wurde, vor. Mit der neuen EU-Sportagenda will die Kommission folgende, in Art. 165 AEUV erwähnte Bereiche abdecken: erstens die soziale und erzieherische Funktion des Sports, zweitens insbesondere auf Ehrenamt basierende Sportstrukturen, drittens Fairness und Offenheit im Sport, viertens die körperliche und seelische Unversehrtheit von Sportlern sowie fünftens den Dialog und Zusammenarbeit mit Interessenvertretern im Sport. Als mögliche Prioritäten für ein Sportförderprogramm 2012/2013 schlägt die Europäische Kommission die soziale Eingliederung im und durch Sport, gesundheitsfördernde körperliche Betätigung, allgemeine und berufliche Bildung im Sport, Anti-Doping, vorbildliche Organisationsformen, den strukturierten Dialog mit der Sportbewegung und Sportökonomie und Statistiken vor. Die Bundesregierung stimmt dem Vorschlag der Europäischen Kommission grundsätzlich zu. Allerdings können wir zum einen den vorgeschlagenen Überwachungs-, Prüfungs- und Koordinierungsmechanismus zur Umsetzung der EU-Leitlinien für körperliche Aktivität auf EU-Ebene nicht unterstützen. Dies würde nur zu zusätzlichem bürokratischem Aufwand führen. Zum anderen sehen die Bundesländer, übrigens auch die von der SPD geführten, keinerlei Notwendigkeit für Aktionen auf EU-Ebene zur Unterstützung der Rolle des Sports in der Bildung. Es bleibt für uns ein wichtiges Anliegen, den Kompetenzen der Länder angemessen Rechnung zu tragen. Es sei mir gestattet, angesichts der umfänglichen Forderungen in den Anträgen, auf unsere Schwerpunkte zu verweisen: Anti-Doping. Hier könnten wir uns als konkrete Maßnahmen die weitere Unterstützung eines EU-Netzwerks der nationalen Anti-Doping-Agenturen und die Einrichtung einer Anti-Doping Monitoring Task Force in Europa zur Überwachung der Entwicklung von DopingSubstanzen vorstellen. Die Taskforce könnte mit der WADA zusammenarbeiten. Ich weise an dieser Stelle aber auch darauf hin, dass die europaweite Koordinierung in Sachen Doping-Bekämpfung in erster Linie in den Aufgabenbereich des Europarates fällt. Dieser verfügt auch über eine eigenständige Anti-Doping-Konvention, die mit 50 Mitgliedstaaten eine deutlich größere Reichweite hat als die Europäische Union. Zudem sind die Dopingkontrollsysteme bereits über den WADA-Code und die dazugehörigen Standards harmonisiert. Duale Karriere und Mobilität von im Sport Beschäftigten. Eine konkrete Maßnahme wäre die Förderung der gegenseitigen Anerkennung von Ausbildungen und Lizenzen zwischen den Mitgliedstaaten. Förderung des Ehrenamts im Sport. Konkret könnten hier in Umsetzung der Studie zur Freiwilligenarbeit in der Europäischen Union Maßnahmen zur Gewinnung von Freiwilligen im Sport entwickelt werden. Integration durch Sport. Die Bundesregierung wird sich weiter dafür einsetzen, dass die Rahmenbedingungen für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Sport - sei es im Breiten-, Freizeit- oder Spitzensport - EU-weit nachhaltig verbessert werden. Dementsprechend halten wir es auch für wichtig, dass die UN-Konvention über die Rechte für Menschen mit Behinderung in allen Staaten der Europäischen Union auch im Sportbereich umgesetzt wird. Wir begrüßen daher auch, wenn die Union Programme entwickelt und finanziert, die der Integration von Menschen mit Behinderung dienen. - Gleiches gilt - vor dem Hintergrund der Erfahrungen in Deutschland - auch im Hinblick auf Projekte, die im Bereich des Sports die Integration von Frauen und Mädchen, speziell aus Familien mit Migrationshintergrund, fördern sollen. Gesundheitsförderliche Bedeutung von Sport. Sportliche Betätigung und Bewegung im Alltag sind wesentliche Elemente eines gesunden Lebensstils. Mit dem Nationalen Aktionsplan "IN FORM - Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung" werden vielfältige Aktivitäten vorgenommen, die auch im europäischen Kontext von Interesse sind. Schließlich begrüßen wir, dass die Europäische Kommission aufgrund der Besonderheit des Sports die Notwendigkeit für Handlungsanweisungen zu spezifischen Themen sieht. Hier hat die Bundesregierung mit der Kabinettsinitiative "Sport und Wettbewerb" die Klarstellung der Anwendbarkeit des EU-Wettbewerbsrechts auf den Sport gefordert. Die Erstellung von Leitlinien nach Konsultation des Netzwerks der europäischen Kartellbehörden, ECN, könnte als erster Anwendungsfall für den Kommissionsvorschlag dienen. Ich hoffe, ich konnte einen ersten Überblick über die aktive Beteiligung der Bundesregierung an der Ausfüllung der ersten EU-Kompetenz im Sport geben. Ich bin gerne bereit, in der nächsten Sitzung des Sportausschusses näher auf Vorschläge einzugehen, die den Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums des Innern oft beträchtlich überschreiten. Ich darf angesichts der langen Forderungskataloge der beiden Anträge von SPD und Bündnis 90/Die Grünen darauf hinweisen, dass es in der Sache weniger auf die Zusammenstellung langer sportpolitischer Stichpunktlisten als vielmehr auf eine den Belangen des Sports förderliche Kompetenzgestaltung ankommt. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/1406 und 17/1420 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Auch hier frage ich, ob Sie damit einverstanden sind. - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 21: Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Den Europäischen Auswärtigen Dienst europäisch, handlungsfähig und modern gestalten - Drucksache 17/1204 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch hier die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll genommen: Roderich Kiesewetter, Karl Holmeier, Dietmar Nietan, Oliver Luksic, Dr. Diether Dehm und Manuel Sarrazin. Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Die Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes, EAD, ist eine großartige Gelegenheit, ganzheitliches und verlässliches auswärtiges Handeln der Europäischen Union zu fördern. Kohärenz und Kontinui-tät sind hier die Stichworte. Der EAD muss ein leistungsfähiges und innovatives Instrument zur Unterstützung der Aufgaben der Hohen Vertreterin werden. Er sollte auch den Präsidenten des Europäischen Rates sowie die Kommission bei der Wahrnehmung ihrer jeweiligen Aufgaben im Bereich der Außenbeziehungen unterstützen und eng mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten. Der Vertrag von Lissabon stellt die Europäische Union auf ein neues institutionelles Fundament, das die Handlungsfähigkeit Europas nach innen und außen stärkt und ihre demokratische Legitimation über das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente deutlich verbessert. Die Parlamente der Mitgliedstaaten - und damit auch Bundestag und Bundesrat - erhalten bessere Mitwirkungsrechte gegenüber den Organen der Europäischen Union bei der Subsidiaritätskontrolle und bei institutionellen Entscheidungen. Ich betone das besonders, weil die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon vom 30. Juni 2009 diese demokratische Kontrolle angemahnt hat. Auch in der Außenpolitik ist der Wille der Menschen maßgeblich für das Handeln der Europäischen Union. Die Menschen in Deutschland wollen, dass die Union eine Rolle in der Welt spielt, dass sie für unsere Werte einsteht. In einer Umfrage, die die "BBC" am 19. April veröffentlicht hat, haben 76 Prozent der befragten Deutschen gesagt: Die EU hat einen positiven Einfluss in der Welt. Zu den wichtigsten institutionellen Reformen des Vertrages von Lissabon gehört die Schaffung des Amtes eines Hohen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik, der zugleich Vizepräsident der Europäischen Kommission ist, sowie Vorsitzender des Rates für Auswärtige Angelegenheiten und Außenbeauftragter des Europäischen Rates. Der Europäische Auswärtige Dienst, EAD, unterstützt den hohen Vertreter in allen Aufgaben. Die Hohe Vertreterin Catherine Ashton wurde am 19. November 2009 vom Europäischen Rat für das Amt des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik nominiert und übt diese Funktion seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 aus. Nun gilt es, die Idee des Europäischen Auswärtigen Dienstes mit Leben zu füllen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt mit ganzer Kraft die Schaffung eines leistungsfähigen Europäischen Auswärtigen Dienstes, weil damit das außenpolitische Handeln der Union kohärenter und effizienter gestaltet werden kann. Sie unterstützt auch die vom Europäischen Parlament geforderte Anlehnung des EAD an die EU-Kommission, damit das Europäische Parlament seine Kontrollrechte wahrnehmen kann. Wer die demokratische Legitimation der Europäischen Union stärken will, muss auch den diplomatischen Dienst der Union so organisieren, dass die wirksame parlamentarische Kontrolle durch das Europäische Parlament gegeben ist. Die Arbeiten zur Schaffung eines Europäischen Auswärtigen Dienstes befinden sich in ihrer heißen Phase, aber Sorgfalt muss vor Eile gehen; denn es sind noch Fragen offen, die gelöst werden müssen. Hierzu gehören neben der Anbindung des EAD vor allem die Reichweite seiner Kompetenzen und Instrumente, die Ausbildung und Laufbahnplanung, die Personalrekrutierung und Personalfinanzierung sowie die Klärung der künftigen Beziehungen zwischen dem Auswärtigen Dienst der Europäischen Union und den nationalen Botschaften der Mitgliedstaaten. Es wäre wenig erfreulich, wenn nationale Botschaften und EAD-Vertretungen bei ihren Aufgaben miteinander konkurrierten, anstatt sich zu ergänzen. Für die Bundesrepublik Deutschland ist auch zu gewährleisten, dass das nationale Personal nicht nur aus den auswärtigen Diensten gewonnen wird, sondern auf die Kompetenz auch der anderen Ressorts zurückgegriffen wird. Zudem geht es uns um Vermeidung von Doppelstrukturen, um Zusammenlegung statt Zersplitterung von Fähigkeiten, sodass sämtliches Außenhandeln der EU in den angesprochenen Bereichen im EAD zusammengefasst ist. Aktuell befinden wir uns in der Abstimmung zu vielen offenen Detailfragen, wie die Anhörung am gestrigen Mittwoch gezeigt hat. Ich sage es noch einmal: Sorgfalt muss vor Eile gehen! Wir sollten uns aber die Grundzüge und unsere Ansprüche an den EAD nochmals vor Augen führen, um uns nicht in den Detailfragen zu verlieren. Erstens: Zuständigkeitsbereich. Der EAD sollte so aufgebaut sein, dass der Hohe Vertreter seinen im Vertrag festgelegten Auftrag in vollem Umfang erfüllen kann. Zur Gewährleistung der Kohärenz und einer besseren Abstimmung des auswärtigen Handelns der Union sollte der EAD auch den Präsidenten des Europäischen Rates sowie den Präsidenten und die Mitglieder der Kommission bei der Wahrnehmung ihrer jeweiligen Aufgaben im Bereich der Außenbeziehungen unterstützen und eng mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten. Zweitens: einheitliche Ressorts. Der EAD sollte sich aus einheitlichen geografischen und thematischen Ressorts für alle Regionen und Länder zusammensetzen, die unter der Aufsicht des Hohen Vertreters die gegenwärtig von den zuständigen Diensten der Kommission und des Ratssekretariats wahrgenommenen Aufgaben fortführen müssen. Im EAD wird es zwar geografische Ressorts geben, die sich aus allgemeiner außenpolitischer Sicht mit den Bewerberländern befassen, aber die Erweiterung wird in der Zuständigkeit der Kommission verbleiben. Für die Handels- und Entwicklungspolitik im Sinne des Vertrags sollten weiterhin die betreffenden Mitglieder und Generaldirektionen der Kommission zuständig bleiben, aber gemeinsam mit der Hohen Vertreterin die strategischen Ziele bestimmen. Drittens: ESVP und Krisenbewältigungsstrukturen. Damit der Hohe Vertreter die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, ESVP, leiten kann, sollten die Direktion Krisenmanagement und Planung, CMPD, der Stab für die Planung und Durchführung ziviler Operationen, CPCC, und der Militärstab, EUMS, Teil des EAD sein, wobei die Besonderheiten dieser Strukturen zu berücksichtigen sind. Ihre jeweiligen Aufgaben, Verfahren und Einstellungsbedingungen sollten beibehalten werden. Das EU-Lagezentrum, SitCen, sollte in den EAD eingegliedert werden, aber so, dass das Lagezentrum auch weiterhin andere relevante Dienstleistungen für den Europäischen Rat, den Rat und die Kommission erbringen kann. Diese Strukturen werden eine Einheit bilden, die der direkten Aufsicht und Verantwortung der Hohen Vertreterin unterstellt ist. Die Ausarbeitung der Maßnahmen im Zusammenhang mit dem GASP-Haushalt und dem Stabilitätsinstrument - Sondermaßnahmen und Interimsprogramme - sollte dem EAD übertragen werden. Nur so kann die Hohe Vertreterin ihre Aufgaben im Bereich der Krisenbewältigung effektiv erfüllen. Beim Entscheidungsprozess wird sich gegenüber der derzeitigen Gestaltung nichts ändern, da der Rat, GASP, und die Kommission - Stabilitätsinstrument - auch weiterhin die Beschlüsse fassen. Die technische Umsetzung dieser Instrumente sollte in den Händen der Kommission liegen. Wichtig ist uns von der CDU/CSU, dass die zivilen und militärischen Instrumente der Krisenvorsorge, also der Prävention, wie auch der Krisenbewältigung ganzheitlich betrachtet werden. Es handelt sich um eine "Werkzeugkiste" im Sinne des modernen, erweiterten Begriffs der vernetzten Sicherheit. Deshalb lehnen wir den Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen ab, eine eigenständige Generaldirektion ausschließlich für zivile Krisenprävention zu schaffen. Das ist nur zusätzliche Bürokratie und widerspricht allen Anforderungen an ein zeitgemäßes Krisenmanagement. Hier gehören zivile und militärische Verfahren und Fähigkeiten untrennbar zusammen. Mit einer "Militarisierung" der europäischen Außenpolitik hat die Eingliederung der Arbeitseinheiten für Krisenprävention und Krisenbewältigung nichts zu tun. Wir haben auch bei der öffentlichen Anhörung zum EAD im Auswärtigen Ausschuss am 21. April gesehen: Die "Militarisierungs-Experten" haben keine Sachargumente, sondern nur ein Schlagwort. Die Militarisierung ist ein polemisches Schlagwort, die Praxis sieht anders aus. In der Praxis braucht die EU die ganzheitliche zivile und militärische Fähigkeit, Sicherheit zu schaffen, damit ein Konflikt durch Vermittlung entschärft werden kann, Stichwort "Werkzeugkiste". Wenn es nach den Militarisierungsexperten ginge, könnten wir nur zuschauen, statt einer Krise wirksam zu begegnen. Viertens: Rechtsstellung und Personalausstattung. Der EAD sollte einen Organisationsstatus haben, der seine einzigartige Rolle und Funktion im EU-System widerspiegelt und unterstützt. Der EAD sollte ein von der Kommission und dem Ratssekretariat getrennter Dienst eigener Art, "sui generis", sein. Die notwendigen Anpassungen der Haushaltsordnung, der Kommissionsverordnung über die Durchführungsbestimmungen zur Haushaltsordnung sowie des Beamtenstatuts sollten zügig umgesetzt werden. Der EAD wird sein Personal aus drei Quellen beziehen: aus den Fachabteilungen des Generalsekretariats des Rates und denen der Kommission sowie aus den Mitgliedstaaten. Alle drei Kategorien dieses Personals sollten gleichbehandelt werden, was auch bedeutet, dass sie für sämtliche Verwendungen unter gleichwertigen Bedingungen in Betracht kommen. Damit haben sie dieselben Möglichkeiten, Rechte und Pflichten - zum Beispiel Funktionen, Verantwortlichkeiten, Beförderung, Dienstbezüge, Urlaub, Sozialleistungen - wie das Personal aus den beiden anderen Bereichen. Gerade die Gleichbehandlung des aus drei Quellen stammenden Personals ist das Grundprinzip der Einstellungs- und Personalpolitik des EAD. Die Hohe Vertreterin allein nimmt die Funktion der Anstellungsbehörde für das EAD-Personal einschließlich der EU-Delegationen wahr. Auch für die Aufbauphase sollte ein Einstellungsverfahren vorgesehen werden, an dem die Mitgliedstaaten, die Kommission und das Generalsekretariat des Rates beteiligt werden. Dies schafft die nötige Transparenz. Es ist uns wichtig, darauf hinzuweisen, wie bedeutsam die geografische Streuung bei der Herkunft des EAD-Personals und auch der Grundsatz der adäquaten Präsenz von Staatsangehörigen aus allen EU-Mitgliedstaaten im EAD sind. Zumindest ein Drittel des Personals des EAD soll, sobald der EAD seinen vollen Umfang erreicht hat, aus Bediensteten aus den Mitgliedstaaten bestehen. Darüber hinaus sollte, soweit möglich, Mobilität zwischen dem EAD und der Kommission sowie dem Generalsekretariat des Rates hinsichtlich des Personals aus diesen Organen gewährleistet werden. Gerade der personelle Austausch zwischen nationalen auswärtigen Diensten und dem EAD erhöht die Expertise und schafft ein besseres Verständnis für europäisches und nationales Handeln. Ich sehe eine wirkliche Chance, dass ein europäischer "Esprit de Corps" die europäischen Diplomaten inspiriert und motiviert. Fünftens: zu entscheidende Fragen. A) Grundsatzfragen. Die EAD ist eine Institution "sui generis", deren Strukturen auf ihre Rolle zugeschnitten sind und von Kommission und Rat und auch von den Mitgliedstaaten nicht dupliziert werden sollen. B) Beteiligung des Europäischen Parlaments. Wir brauchen die parlamentarische Haushaltskontrolle und zusätzlich die besonderen im Rahmen der GASP vorgesehene Anhörung - Art. 36 EUV - bei einzelnen strategischen Entscheidungen. C) Vertretung der Hohen Vertreterin. Offen ist, ob die Hohe Vertreterin durch einen Generalsekretär - so Ashton-Entwurf - oder durch als Sonderbeauftragte ernannte politische Repräsentanten - so EP - vertreten werden soll, insbesondere gegenüber dem EP und Drittstaaten. Wichtig ist, dass die Vertretung im Sinne einer starken und handlungsfähigen HV erfolgt und trotzdem adäquate Ansprechpartner für Parlament, Rat und Kommission gefunden werden. Hier fordern wir pragmatische, vor allem effiziente Lösungen. Derzeit können wir uns nur eine politische Stellvertretung vorstellen. Dies sollte nicht der Generalsekretär sein, dies würde die Stellung der Hohen Vertreterin eher schwächen. D) Aufgabenumfang. Der EAD sollte aus einheitlichen geografischen und thematischen Referaten bestehen, die die zurzeit von der Kommission und vom Ratssekretariat durchgeführten Aufgaben übernehmen: Hier gilt es, bereits auf der Dezernats- und Abteilungsebene zivile und militärische Fähigkeiten zu vernetzen. Die Organisationselemente für Krisenprävention und Krisenmanagement dürfen somit nicht von den Strukturen des EAD getrennt sein, sondern müssen im EAD auf Arbeitsebene zusammengeführt werden. Dies ist unsere feste Überzeugung. E) Programmierung. Fraglich ist die Rolle, die der EAD bei der Programmierung des Europäischen Entwicklungsfonds und des Instrumentes für die Entwicklungszusammenarbeit sowie für die Nachbarschafts- und Partnerschaftspolitik spielen soll. Je integrativer, umso besser. F) Personalauswahl. Die Mitgliedstaaten sind auf allen Ebenen des EAD angemessen zu berücksichtigen. Die ganzheitliche Zusammenarbeit zwischen geografischen und thematischen Ressorts im EAD ist uns wichtig. Gleichzeitig gilt es, ein spezielles Augenmerk auf die besonderen Bedingungen für die Einbeziehung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, ESVP, und der Krisenbewältigungsstrukturen in den EAD zu richten. Es darf nicht zu Doppelarbeit zwischen der Kommission, dem Generalsekretariat des Rates und dem EAD kommen. Ich fasse für die CDU/CSU zusammen: Der EAD muss nahe der Kommission angesiedelt sein, um die parlamentarische Kontrolle durch das Europäische Parlament zu gewährleisten. Doppelstrukturen sind aus Effizienz- und Kostengründen zwingend zu vermeiden. Im Sinne des erweiterten, vernetzten Sicherheitsbegriffs sind bereits auf Arbeitsebene die zivilen und militärischen Krisenvorsorge- und Krisenbewältigungsmechanismen zusammenzufassen, also: "eine Werkzeugkiste". Die Vertretung der HV in Angelegenheiten des EAD ist pragmatisch und wirkungsvoll zu gestalten, es sollten politische Vertreter in ausreichender Anzahl sein, die auch von den nationalen Parlamenten und Drittpartnern, wie beispielsweise dem Golfkooperationsrat, akzeptiert werden. Unser deutsches Personal sollte direkt entsandt werden. Es sollte die gleichen Rechte und Pflichten haben wie die originären Beamten der EU. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird die Bildung des Europäischen Auswärtigen Dienstes und sein Aufwachsen aufmerksam und konstruktiv begleiten. Die Europäische Union garantiert den Menschen in Europa seit ihrer Gründung Frieden und Wohlstand. Die Union baut auf Demokratie, Menschenrechte und die Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft. Weltweit können wir diese Werte nur verteidigen und verbreiten, wenn die Staaten Europas nach außen als echte Union auftreten. Europas Diplomaten werden für 500 Millionen Bürger Europas sprechen. Sie werden unsere Werte und Ziele weltweit vertreten. 76 Prozent der Deutschen sagen, dass Europa eine positive Rolle in der Welt spielt. Wie alle diese Menschen wollen wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, dass der Europäische Auswärtige Dienst die starke Stimme Europas in der Welt wird. Karl Holmeier (CDU/CSU): Mit dem Vertrag von Lissabon, auf den wir lange hingearbeitet haben, wurde eine neue Ära in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union eingeläutet. Wir haben mit diesem Vertrag endlich die Möglichkeit zu einem kohärenten auswärtigen Handeln der Europäischen Union. Diese Möglichkeit spiegelt sich in erster Linie in der Funktion des neu geschaffenen Amtes des Hohen Vertreters bzw. der Hohen Vertreterin der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik wider - der Britin Catherine Ashton. Nach dem Vertrag ist es die Aufgabe der Hohen Vertreterin, Sorge für ein einheitliches, kohärentes und wirksames Vorgehen der Union im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu tragen. Lady Ashton ist damit das maßgebende außen- und sicherheitspolitische Gesicht Europas in der Welt. In Anbetracht der Bedeutung dieser Funktion ist es unerlässlich, dass Lady Ashton die maximal mögliche Unterstützung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zukommt. Ich begrüße daher ausdrücklich die eindeutige Positionierung der Bundesregierung und insbesondere des Bundesaußenministers, der Lady Ashton wiederholt öffentlich sein Vertrauen zugesagt und um Unterstützung für sie geworben hat. Ich verweise hier nicht zuletzt auf seinen Besuch im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Um diesen bedeutsamen Auftrag auch organisatorisch und personell bewerkstelligen zu können, sieht der Vertrag die Einrichtung eines Europäischen Auswärtigen Dienstes, EAD, vor, auf den sich die Hohe Vertreterin bei ihrer Aufgabenerfüllung stützt. Da die Organisation und Arbeitsweise des EAD nicht durch den Vertrag selbst, sondern durch einen Ratsbeschluss näher bestimmt wird, kommt diesem eine wegweisende Bedeutung beim Aufbau der einheitlichen, kohärenten und wirksamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu. Hier will gut Ding Weile haben, denn die Einrichtung eines solch bedeutenden Dienstes zieht enorm viele Detailfragen nach sich und birgt ein nicht zu unterschätzendes Konfliktpotenzial. Es gilt, die vielen verschiedenen Interessen von Mitgliedstaaten, Rat, EU-Kommission und EU-Parlament miteinander in Einklang zu bringen und dabei dennoch eine starke Einrichtung zu schaffen. Orientierungsmaßstab für die institutionelle Einbindung des EAD muss dabei der Auftrag der Hohen Vertreterin sein; denn diese soll der Dienst letztlich stützen. Dies zugrundegelegt, muss der EAD organisatorisch unabhängig von der Kommission und dem Ratssekretariat sein. Gleichwohl darf dies nicht zu einer vollständigen Kontrolllosigkeit des EAD führen. Um eine hinreichende demokratische Legitimation sicherstellen zu können, muss er vielmehr zwingend einer gewissen Kontrolle durch das Europäische Parlament und auch durch den Rat unterliegen. Eine Kontrolle durch den Rat sichert letztlich auch einen Einfluss der nationalen Parlamente. Hierauf müssen wir dringend achten, denn es geht darum, die gerade erst mit dem Vertrag von Lissabon eingeräumten Rechte der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments nicht sofort wieder zu beschneiden. Wenn wir dabei nicht auf der Hut sind, beweisen wir, dass wir aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nichts gelernt haben. Des Weiteren muss vor der Arbeitsaufnahme des EAD eindeutig geklärt sein, wer bzw. welche Institution zugunsten des EAD welche Kompetenzen und Aufgaben abgibt. Dies ist eine besonders schwierige Herausforderung; denn freiwillig gibt so schnell keine Institution ihre Kompetenzen ab. Genau das ist jedoch zur Vermeidung unnötiger Doppelstrukturen und überflüssiger Bürokratie zwingend notwendig. Dies sage ich nicht nur an die Adresse der Kommission gerichtet, sondern bewusst auch mit Blick auf die Mitgliedstaaten. Es macht aus meiner Sicht wenig Sinn, wenn wir zu den nationalen diplomatischen Diensten noch einen europäischen hinzubekommen. Hier müssen wir die sich bietenden Synergieeffekte unbedingt nutzen. Alles andere lässt sich auch den Bürgerinnen und Bürgern nicht glaubhaft vermitteln. Wenn wir ernsthaft von Bürokratieabbau sprechen, müssen wir ihn auch ernsthaft betreiben. So ist vor diesem Hintergrund beispielsweise fraglich, ob jeder Mitgliedstaat mehrere konsularische Vertretungen in anderen Staaten haben muss oder ob es nicht effizienter wäre, sich hier teilweise auf den EAD zu stützen. In diesem Zusammenhang stellt sich dann natürlich die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass das Personal für den EAD aus den unterschiedlichen Institutionen und den verschiedenen Mitgliedstaaten gleich behandelt und eingesetzt wird. Es müssen sich also sowohl die Kommission wie auch der Rat und die einzelnen Mitgliedstaaten personell angemessen im EAD vertreten sehen. Vor dem Hintergrund der sprachlichen Vielfalt Europas ist es für eine hinreichende Legitimation des EAD und dessen Akzeptanz in der Bevölkerung auch dringend erforderlich, dass jeder Bürger in seiner Muttersprache mit Vertretern des EAD in Kontakt treten kann. Eine angemessene Vertretung der Interessen aller Unionsbürger nach außen ist anders nicht möglich. Zudem muss sich bei der Einrichtung des EAD endlich niederschlagen, dass Deutsch die meistgesprochene Muttersprache in der Europäischen Union ist. Ihr muss daher eine herausgehobene Stellung eingeräumt werden. Es kann nicht sein, dass verschiedene Dokumente nur in Englisch oder Französisch verfügbar sind, sondern hier brauchen wir eine angemessene Berücksichtigung der deutschen Sprache. Der EAD ist ein Dienst zur Wahrnehmung nicht nur von außen-, sondern eben auch von sicherheitspolitischen Aufgaben. In ihm werden daher zivile aber auch militärische Aspekte gleichermaßen eine wichtige Rolle einnehmen. Wenn es tatsächlich unser Ziel ist, einen starken Auswärtigen Dienst zu etablieren, mit dem wir einheitlich und geschlossen in der Welt auftreten können, dürfen wir uns nicht auf den einen oder anderen Bereich versteifen. Wir müssen die zivilen und militärischen Bereiche miteinander vernetzen. Wir dürfen uns auch nicht nur auf Krisenprävention konzentrieren, wie im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gefordert, sondern wir brauchen einen weiten Aktionsradius, der sowohl präventive Maßnahmen wie auch Maßnahmen zur aktiven Krisenbewältigung umfasst. Europa steht mit der Einrichtung des EAD vor einer bedeutenden Herausforderung. Die Pflöcke, die mit der Einrichtung dieses Dienstes eingeschlagen werden, sind eine entscheidende Weichenstellung für die Zukunft der Europäischen Union, ihrer Institutionen und der Mitgliedstaaten. Der Deutsche Bundestag hat die schwierige Aufgabe, im Hinblick auf den Ratsbeschluss sowohl seine eigenen Interessen und Einflussmöglichkeiten sicherzustellen wie auch eine verantwortungsvolle Entscheidung zur Etablierung eines starken Europäischen Auswärtigen Dienstes zu treffen. Wir werden daher in den kommende Wochen genau hinsehen und den Prozess zum Aufbau des EAD aktiv begleiten. Dietmar Nietan (SPD): Mit dem Vertrag von Lissabon und der Berufung von Lady Catherine Ashton in das neue Amt der Hohen Vertreterin hat die Europäische Union zwei weitere wichtige Schritte auf dem Weg zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, GASP, getan. Um jetzt ein noch größeres Maß an Kohärenz zu erlangen, wird es entscheidend sein, ob es der EU bald gelingen wird, den im Lissabon-Vertrag vorgesehenen Europäischen Auswärtigen Dienst - kurz EAD - als einen effizienten, unabhängigen und loyalen Dienst der Hohen Repräsentantin an die Seite zu stellen. Denn je länger sich der momentan vorherrschende Eindruck festsetzen wird, dass die Einrichtung des EAD eher einem Gezerre zwischen Kommission, Rat und Mitgliedstaaten um Macht, Einfluss und Posten gleicht, desto größer wird die Gefahr, dass sich die EU weiter in einer aus globaler Sicht außenpolitisch irrelevanten Wahrnehmung verlieren wird. Gerade jetzt ist also politische Führung in der EU gefragt. Gerade jetzt bedarf es EU-Mitgliedstaaten, die dem kleinkarierten Streit ihre eigenen, ambitionierten Vorschläge entgegensetzen. Das wäre die Chance für Deutschland, sich wieder als Motor der europäischen Integration zu bewähren. Doch das, was wir bisher von der derzeitigen Bundesregierung in der Frage des EAD zur Kenntnis nehmen durften, ist eine einzige große Enttäuschung. Lediglich eine konkrete Initiative gibt es zu vermelden: Der Bundesaußenminister ließ in einem Brief an Lady Ashton keinen Zweifel aufkommen, dass ihm die angemessene Verwendung der deutschen Sprache im zukünftigen EAD sehr am Herzen liegt. Es spricht Bände, dass man jedoch über die - zugegebenermaßen nicht unwichtige - Sprachenfrage hinaus in den bisherigen öffentlichen Beiträgen von Herrn Westerwelle keine weiteren ambitionierten Vorschläge für den EAD vernehmen konnte. Natürlich hat sich der Bundesaußenminister auch zu vielen Verfahrensfragen geäußert und seine Unterstützung für Lady Ashton beteuert. Aber wo bleibt ihr Anspruch, Herr Westerwelle, sich bei diesem wegweisenden Projekt um den viel gerühmten großen Wurf zu bemühen? Wie sehen Ihre konkreten Vorschläge für einen EAD aus, der die EU und deren Hohe Repräsentantin in die Lage versetzt, dem großen Ziel einer kohärenten Außenpolitik näherzukommen? Für eine EU, die zunehmend mit einer Stimme spricht, wenn es um die großen globalen Herausforderungen wie Klimawandel, Armut, Hunger, Unterdrückung, Terrorismus oder Verbreitung von Massenvernichtungswaffen geht? Herr Bundesaußenminister, Sie reden gerne von einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik aus einem Guss. Doch wann werden Sie endlich konkret? Jetzt wäre die Zeit, eine politische Debatte zu führen für einen EAD, der so gut strukturiert und mit den besten Mitarbeitern aus Kommission, Rat und den Diplomatischen Corps der Mitgliedstaaten ausgerüstet ist, dass er der Hohen Vertreterin nicht nur in der EU, sondern gerade in der Welt sichtbar den Rücken stärkt. Jetzt und nur jetzt finden wir Rahmenbedingen vor, die gerade danach rufen, in der GASP einen großen Schritt voranzugehen. Jetzt haben wir endlich die Administration in den USA, die wir uns so lange gewünscht haben: offen für multilaterale Ansätze, bereit zur Kooperation mit den Europäern, ambitioniert in Fragen der Rüstungskontrolle und Sicherheitspolitik. Die NATO arbeitet an neuer Strategie, in der auch die EU Mitgliedstaaten innerhalb des Bündnisses eine größere Rolle spielen könnten. Der russische Präsident Medwedjew zeigt großes Interesse an neuen Initiativen für ein gemeinsames Europa der Stabilität, Sicherheit und Kooperation. Mit einem ambitionierten und loyalen EAD an ihrer Seite könnte die Hohe Vertreterin Lady Ashton mit und für die EU eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, die große Chance zu nutzen, die EU zu einem wichtigen Akteur in einem gemeinsamen Agieren mit den USA und der Russischen Föderation zu entwickeln. Das Fenster einer solchen einmaligen Gelegenheit wird sich möglicherweise bald wieder schließen, wenn wir uns in der EU weiter mit uns selbst beschäftigen, anstatt die Gelegenheit beim Schopfe zu packen, die europäische Zukunft zu gestalten. Vor ein paar Tagen bin ich von politischen Gesprächen mit unseren amerikanischen Freunden aus den USA zurückgekehrt. Sie alle haben mich gefragt, was mit der EU los sei? Viele fragten mich, ob die Bundeskanzlerin zu einer EU-Skeptikerin geworden sei? Und diejenigen von ihnen, die uns durchaus freundlich gesonnen sind, erklärten mitleidig, dass sie ja Verständnis dafür hätten, dass wir in der EU noch nicht so weit seien. Was für ein verheerendes Bild, wenn man bedenkt, dass US-Außenministerin Clinton vor einigen Wochen Europa sogar eine direkte Partnerschaft mit den USA in sicherheitspolitischen Fragen angeboten hat. Mir scheint, dass nicht nur die Bundesregierung, sondern auch viele andere EU-Mitgliedstaaten bei ihrem innereuropäischen Geplänkel um ihren Einfluss auf den EAD völlig übersehen, dass die Welt nicht darauf wartet, bis sich die EU in der Lage sieht, mit einem effizienten EAD eine kohärente Außenpolitik zu betreiben. In dieser Situation ist es schon bitter, zu sehen, dass es ausgerechnet der Bundesregierung an ambitionierten, aber realisierbaren Konzepten fehlt, wie Europa als globaler Akteur aussehen soll und welche positiv verstärkende Rolle dabei ein gut aufgestellter EAD spielen könnte. Wo ist Deutschlands Vorschlag, den Doppelschlüssel bei der Programmierung der EU-Instrumente so zu gestalten, dass das letzte Wort immer beim EAD und der Hohen Vertreterin bleibt, wenn sich diese nicht mit dem zuständigen Kommissar auf gemeinsame Programmziele einigen kann? Wo ist Deutschlands Konzept für eine Personalrekrutierungsstrategie, die aus Kommission, Rat und Mitgliedstaaten die wirklich besten Kräfte in den EAD bringt? Wir hoffen im Übrigen sehr, dass die Bundesregierung hier mit gutem Beispiel vorangehen wird. Schicken Sie unsere besten Diplomatinnen und Diplomaten in den EAD! Wie sieht die Initiative der Bundesregierung aus, um einen vernünftigen Kompromiss in der Debatte über den Personalschlüssel der aus Kommission, Rat und Mitgliedstaaten zu entsendenden Mitarbeiter des EAD zu erwirken? Sollten wir nicht das große Potenzial der Kommission und ihrer Generaldirektionen effektiver nutzen, ohne dabei den Anspruch aufzugeben, dass der EAD nicht lediglich zum verlängerten Arm der Kommission werden darf? Warum unterstützen Bundesregierung und CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht den guten Vorschlag für politisch legitimierte Stellvertreter der Hohen Vertreterin im EAD, den ihr Parteifreund Elmar Brok gemeinsam mit dem früheren belgischen Ministerpräsidenten Guy Verhofstadt vorgelegt hat? Mit unserem deutschen Modell von Staatsministern und Staatssekretären könnten sie doch auf eine erfolgreiche Alternative verweisen. Auf all diese Fragen wünschen sich viele Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause und auch ich substanzielle Antworten. Wahrscheinlich könnten wir zu all diesen Fragen sogar ein weitgehendes Einvernehmen zwischen den Regierungsfraktionen und den Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD herstellen. Doch wie schon in der Frage des Beitritts von Island zur EU nutzt die Bundesregierung die Möglichkeiten der Beteiligung des Bundestages nur taktisch und nicht im Sinne eines gestärkten gemeinsamen Agierens von Parlament und Regierung. Auch dies ist wieder eine große Chance, die Sie, Frau Bundeskanzlerin und Herr Bundesaußenminister, unnötig vergeben haben. Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal betonen: Mir geht es mitnichten darum, die bisherigen Entwicklungen im EAD schlechtzureden, ganz im Gegenteil. Noch nie hatten wir bessere Rahmenbedingungen für eine tiefgreifende Fortentwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU: Wir haben den Vertrag von Lissabon und das Amt einer Hohen Vertreterin für europäische Außenpolitik ins Leben gerufen. In den USA und in Russland gibt es den ernstgemeinten Wunsch nach stärkerer Kooperation mit den Europäern. Und wir alle wissen, dass dem nicht immer so war. Ein ambitionierter, gut strukturierter EAD, der der Hohen Vertreterin loyal zuarbeitet und mit einer hohen politischen Legitimation - auch aus dem Europäischen Parlament - ausgestattet ist, würde angesichts dieser Rahmenbedingungen sehr viel erreichen können. Doch dafür bedarf es politischer Führung und politischen Muts. Beides scheint in dieser Bundesregierung jedoch nicht vorhanden zu sein. Beides würde ich dieser Bundesregierung allerdings von Herzen wünschen, weil es gut wäre für Europa und deshalb auch gut für unser Land. Oliver Luksic (FDP): Die Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes unter der Leitung der Hohen Vertreterin für die Außen- und Sicherheitspolitik bedeutet ein neues Kapitel in der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Die FDP-Bundestagsfraktion will eine effiziente und kohärente Koordinierung der Politikfelder der europäischen Außen-, Entwicklungs- und Verteidigungspolitik. Die Einrichtung des EAD als neues außenpolitisches Instrument stellt hierfür eine einzigartige Chance dar, die wir nicht verstreichen lassen dürfen. Die Europäische Union soll, wo immer möglich, mit einer Stimme in der Welt sprechen können. Die FDP-Bundestagsfraktion steht für einen starken und schlagkräftigen EAD, der die Interessen der EU nach außen bestmöglich vertreten kann. Lady Ashton hat daher unsere volle Unterstützung. Der Europäische Auswärtige Dienst stellt jedoch aufgrund seiner Stellung im europäischen politischen Koordinatensystem und der Einbeziehung verschiedener Elemente und Aufgabenfelder eine Institution sui generis dar. Schon jetzt kann man sagen, dass es für die Zukunft unvermeidbar sein wird, ihn einer ständigen Adaption und Weiterentwicklung unterziehen zu müssen, beispielsweise angesichts zukünftiger eventueller Neuzuschnitte der Generaldirektionen der Europäischen Kommission. Lassen Sie mich, bevor ich mich mit dem nun vorliegenden Entwurf der Hohen Vertreterin im Einzelnen befasse, kurz vorwegschicken, dass die FDP-Bundestagsfraktion es außerordentlich begrüßt, dass die Hohe Vertreterin der Bitte des Bundesaußenministers nachgekommen ist und klargestellt hat, dass die deutsche Sprache für die Personalauswahl und das Verfassen von Dokumenten des EAD von großer Bedeutung sein wird. Dies war ein besonderes Anliegen der Bundesregierung, und die FDP-Bundestagsfraktion bedankt sich ausdrücklich bei Herrn Minister Dr. Westerwelle für dessen richtige und wichtige Initiative. Deutschland soll jedoch nicht nur sprachlich, sondern auch personell im EAD eine Rolle spielen. Angesichts der nach dem vorliegenden Entwurf hohen Zahlen der Beamten aus der Europäischen Kommission als auch des Ratssekretariats im EAD stellt sich für mich die Frage, wie die Bundesregierung wird sicherstellen können, dass Deutschland in ausreichendem Maße im EAD repräsentiert sein wird. Dies ist aus der Sicht der FDP-Bundestagsfraktion ein zentraler Punkt bei den kommenden Verhandlungen. Es ist angesichts des komplexen Aufbaus des EAD sehr erfreulich, dass die Hohe Vertreterin bereits Ende März ihren Vorschlag unterbreitet und diesen nun durch einen weiteren Annex ergänzt hat. Diese Dokumente können nun als konkrete Grundlage für die weitere Diskussion dienen. Der Entwurf der Hohen Vertreterin zeichnet sich durch das Bemühen aus, im Sinne eines Interessenausgleichs möglichst viele der gemachten Vorschläge und Anregungen seitens der verschiedenen Akteure zu einem kohärenten Gesamtbild zusammenzufassen. Dies gilt sowohl für die personelle Struktur als auch für die sachlichen Kompetenzen des EAD. Meines Erachtens kommt es bei den nun folgenden Debatten entscheidend darauf an, sicherzustellen, dass der Europäische Auswärtige Dienst handlungsfähig ist. Dazu müssen insbesondere seine Kompetenzen und seine Stellung im EU-Koordinatensystem klar vereinbart werden. Nur so wird er die mit seiner Errichtung verbundenen Erwartungen erfüllen können. Insbesondere sollten die mit seiner Schaffung möglichen und auch beabsichtigten Synergieeffekte umfassend genutzt werden. Insbesondere sollte vermieden werden, bereits vergemeinschaftete Politiken in den Bereich der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit im Rahmen der GASP zurückzuführen. Daneben spricht sich die FDP-Bundestagsfraktion für eine flexible Ausübung konsularischer Tätigkeiten für EU-Bürger, insbesondere was die Schaffung gemeinsamer Visastellen angeht, aus. Es wird den Bürgern nicht zu vermitteln sein, falls sie sich angesichts eines immer enger zusammenwachsenden Europas in konsularischen Angelegenheiten nicht an die EU-Delegationen wenden könnten. Hier sollten manche Mitgliedstaaten europäischer denken und handeln. Daneben darf es auf keinen Fall dazu kommen, dass der EAD durch ein Übermaß an Doppelstrukturen zwischen den Institutionen in Brüssel in seiner Handlungsfähigkeit gelähmt wird. Eine realistische Einschätzung gebietet zwar festzustellen, dass sich Doppelstrukturen aufgrund der sogenannten Doppelhut-Funktion der Hohen Vertreterin nicht vollständig vermeiden werden lassen. Allerdings müssen diese auf ein absolut notwendiges Minimum begrenzt bleiben und dürfen nicht die durch den Vertrag von Lissabon beabsichtigten Synergieeffekte für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik zunichtemachen. Die vorgeschlagene Doppelschlüsselregelung für die Zusammenarbeit zwischen der Hohen Vertreterin und den Generaldirektionen Außenbeziehungen und Erweiterung gehen hier in die richtige Richtung. Die FDP-Bundestagsfraktion wird sich in den weiteren Beratungen mit der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament nachdrücklich für solche effektive Regelungen einsetzen. Ich komme nun zu einigen Punkten des Entwurfs, die in der Diskussion von besonderer Bedeutung sind und zum großen Teil auch über Fraktionsgrenzen hinweg kritisch gesehen werden. Zuallererst muss natürlich die Finanzierung des EAD abschließend geklärt werden. Der Entwurf schweigt sich hierüber leider weitgehend aus. Hier gibt es noch Klärungsbedarf, wie die für den EAD notwendigen finanziellen Mittel bereitgestellt werden sollen. Bezüglich der personellen Struktur des EAD sehen auch wir insbesondere die Frage nach der politischen Vertretung von Lady Ashton. Nach Ansicht der FDP-Bundestagsfraktion ist eine politische Stellvertretung der Hohen Vertreterin insbesondere gegenüber dem Europäischen Parlament und Regierungsmitgliedern erforderlich. Hier ist momentan noch viel im Fluss und ungeklärt. Je nachdem, aus welchem Kreis die Vertreter benannt werden sollen, stellt sich hier aus meiner Sicht jedenfalls generell die Frage nach der politischen Legitimation. Natürlich bedarf die Hohe Vertreterin bei der Erfüllung ihrer umfangreichen Aufgaben der Unterstützung aus ihrem Stab. Allerdings muss hierbei beachtet werden, dass sich hierdurch die kompetenzrechtlichen Koordinaten nicht zu weit verschieben. Der FDP-Bundestagsfraktion ist es ein wichtiges Anliegen, dass Baroness Ashton die zentrale Figur für die Führung des EAD und das Bild einer kohärenten gemeinsamen Außenpolitik ist und auch bleibt. Für dieses Ziel stellt sich auch zentral die Frage nach einem von der Hohen Vertreterin ausgehenden einheitlichen Weisungsstrang. Dies gilt sowohl für die politische Arbeit in Brüssel als auch gegenüber den in den EU-Delegationen tätigen Beamten der Europäischen Kommission. Die FDP-Bundestagsfraktion sieht das durch den Entwurf vorgesehene geteilte Weisungsrecht für die EU-Delegationen äußerst kritisch. Unseres Erachtens ist es für eine kohärente Außenpolitik unerlässlich, dass die Weisungsstränge des EAD eindeutig verlaufen. Alle Weisungen, auch solche, die zunächst in den Generaldirektionen der Europäischen Kommission in Bereichen der Gemeinschaftszuständigkeit entworfen werden, müssen durch den EAD bzw. die Hohe Vertreterin an die EU-Delegationen erteilt werden. Ein besonders wichtiger Punkt für die Kollegen aus dem Europäischen Parlament, aber auch für uns hier ist naturgemäß die Frage nach der parlamentarischen Kontrolle des EAD. Auch hier liest sich der Entwurf aus meiner Sicht eher vage. Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass hier eine vernünftige Balance zwischen parlamentarischem Kontrollrecht einerseits und der Funktionsfähigkeit des EAD andererseits gefunden wird. Es ist beispielsweise richtig und notwendig, dass das Europäische Parlament auch über das Mittel der Haushaltskontrolle die Verwendung der finanziellen Mittel für und durch den EAD überwachen kann. Natürlich steht die Hohe Vertreterin als Mitglied der Europäischen Kommission dem Europäischen Parlament gegenüber in Rechenschaftspflicht. Allerdings darf es nicht zu einer zu starken Detailkontrolle kommen, die zu einer Behinderung des EAD in seiner täglichen Arbeit führt. Ich freue mich daher, dass das Europäische Parlament, beispielsweise was die Frage nach der Ernennung von Delegationsleitern angeht, mittlerweile auf die Hohe Vertreterin zugekommen ist und anstatt des ursprünglich geforderten Zustimmungserfordernisses nun die Leiter der EU-Delegationen nach Amtsantritt zu einer Anhörung in das Europäische Parlament einladen möchte. Für die Bereiche der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, GASP, und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, ESVP, also die nicht vergemeinschafteten Aufgabenfelder der Hohen Vertreterin, steht dem Europäischen Parlament gemäß Art. 36 EUV nur ein Konsultationsrecht zu. Ich teile daher die Bedenken einiger Abgeordneter des Europäischen Parlaments bezüglich der Regelung, dass jene Teile des EAD, in denen die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik geplant und ausgeführt wird, der Hohen Vertreterin direkt unterstellt sein sollen. Ich hielte es für besser, wenn auch diese Politikbereiche wie die übrigen Generaldirektionen in den Abstimmungsprozess einbezogen werden würden. Wenn dies nicht der Fall sein sollte, bin ich der Meinung, dass auch der Bundestag hier seiner Verantwortung bei der Frage nach einer parlamentarischen Kontrolle nachkommen sollte. Aus all diesen genannten Gründen glaube auch ich nicht, dass der vorgegebene Zeitplan einzuhalten sein wird. Es bedarf weiterer Beratungen, sowohl hier in Berlin als auch in Brüssel. Hier sollte man sich meines Erachtens aber nicht unter zeitlichen Druck setzen. Alle offenen Fragen müssen ausführlich geklärt werden. Der Zeitfaktor darf nicht wichtiger sein als die Qualität des Ergebnisses. Einige der von mir genannten Punkte und Bedenken finden sich auch in dem vorliegenden Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wieder. Die FDP-Bundestagsfraktion wird die kommenden Verhandlungen über den Aufbau des EAD weiterhin aufmerksam beobachten und konstruktiv begleiten. Ich bin sicher, dass wir auch über Fraktionsgrenzen hinweg uns über einige Punkte werden verständigen können. Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Im Vertrag von Lissabon, Art. 27 Abs. 3 EUV, wurde die Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes, EAD, vertraglich festgeschrieben, der den Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik bei der Gestaltung und Umsetzung einer "kohärenten" europäischen Außenpolitik unterstützen soll. Zwar spitzen sich seit der Amtsübernahme von Catherine Ashton als Hoher Vertreterin weitgehend abgeschottet und unbeachtet von der deutschen wie europäischen Öffentlichkeit die Kontroversen über den EAD zu. Der eng gesteckte Aufbauzeitplan lässt sich daher nicht mehr einhalten. Dennoch nimmt der Dienst immer schärfere - und beunruhigen-de - Konturen an. Bei den Kontroversen geht es nicht nur um Rivalitäten zwischen EU-Institutionen. Diese spielen eine wichtige Rolle, doch geht es um Grundsätzlicheres: Zur Debatte steht - erstens - die politische Ausrichtung der EU-Außenpolitik. Zweitens geht es um die entscheidende Frage der demokratischen Kontrolle dieser zentralen EU-Behörde. Die Linke ist der Ansicht - wie auch eine wachsende Zahl von europa-, sicherheits- und entwicklungspolitischen Expertinnen und Experten -, dass der Aufbau des EAD zu einer qualitativ neuen Stufe der Militarisierung der EU-Außen- und Sicherheitspolitik führt. Wir sind zudem überzeugt, dass alle derzeitigen Pläne zum EAD als funktional unabhängiger Einrichtung - als "Institution sui generis" - dem Motiv folgen, wirksame demokratische Kontrollmechanismen von vornherein auszuschließen. Die mangelnde parlamentarische Kontrolle des EAD wurde auch von den Berichterstattern des EP wiederholt kritisiert. Lassen Sie mich diese Punkte näher ausführen: Mit dem Aufbau des EAD verabschiedet sich die EU endgültig vom Selbstverständnis als "Zivilmacht". Nach Jahren der eher schleichenden Militarisierung - zum Beispiel durch den Auf- und Ausbau militärischer Kriseninterventionskräfte wie den EU-Battle-Groups und der zunehmenden Entsendung bewaffneter Missionen im Rahmen von Peacekeeping-Einsätzen nach Kapitel VII der UN-Charta - bekennt sich die EU offen zum Militär als Instrument zur Wahrung eigener (Sicherheits-)Interessen. Die EU verfolgt mit dem EAD das Ziel, ihre Interessen künftig "wirksamer" und unter Einsatz aller Mittel weltweit zu vertreten bzw. durchzusetzen. Ausdrücklich werden hierzu neben diplomatischen, politischen und wirtschaftlichen Instrumenten auch Militär und Nachrichtendienste gezählt. Dies spiegelt sich im institutionellen Aufbau des EAD wider, der bestehende militärische und nachrichtendienstliche Strukturen - den EUMS, EU-Militärstab, das PSK, Politische und Sicherheitspolitische Komitee, und das Sitcen, Situation Center, - unter seinem "Dach" vereint, um den Dienst "schlagkräftiger" zu machen. Dadurch wird die - in Deutschland wie der EU - bisher aus gutem Grund eingezogene Trennung militärischer und nachrichtendienstlicher Institutionen aufgehoben. Es ist, vorsichtig formuliert, sehr verwunderlich, dass der Antrag der Grünen auf diesen Aspekt mit keinem Wort eingeht. In die gleiche Richtung weist die geplante Zusammenführung militärischer Strukturen mit denen der zivilen Konfliktbearbeitung im neuen Planungsdirektorat für Krisenmanagement, Crisis Management Directorate, CMPD. Damit gehören unabhängige zivile Einsatzplanungen der Vergangenheit an. Die Gefahr ist groß, dass Instrumente der zivilen Konfliktbearbeitung immer weniger als Alternative in politische und operative Planungen einfließen, sondern diese zum "Appendix" militärgestützter Krisenintervention werden. Und dies ungeachtet der eindeutig negativen Bilanz zurückliegender Militäreinsätze. Vor dieser Entwicklung warnen nicht nur Friedensbewegung und kritische Friedensforschung. Sehr deutlich äußerte sich unter anderem Alain Délétroz von der International Crisis Group, einem Thinktank, der militärische Interventionen nicht grundsätzlich ablehnt: "Die Kapazität der EU zur Konfliktverhütung und zur Friedenssicherung hat [durch die Einrichtung des EAD] einen herben Schlag erlitten." Dies gilt auch für die EU-Entwicklungspolitik, die ebenfalls eng mit dem EAD verzahnt werden soll. Im aktuellen EU-Ratsbeschluss wird zwar die vollständige Unterstellung der Entwicklungszusammenarbeit, EZ, unter den EAD abgelehnt und eine enge Abstimmung mit der Kommission bei Programmplanung, -durchführung und -finanzierung eingefordert. Dennoch setzt sich damit programmatisch und institutionell die "Versicherheitlichung" der EZ fort, das heißt ihre Unterordnung unter eine sicherheitspolitische und militärische Logik. Kritische Beobachter - und auch die Linke - befürchten, dass über die "Mitverantwortung" - EU-Ratsbeschluss - des EAD und unter anderem über das Instrument der Entwicklungszusammenarbeit und den Europäischen Entwicklungsfonds es zu einer deutlichen Verschiebung der Mittelzuweisungen zuungunsten der "klassischen" EZ kommt und immer mehr Gelder direkt oder indirekt in sicherheitsrelevante Programme fließen. Hier, wie die Grünen, nur den Ausbau präventiver und ziviler Instrumente innerhalb der vorgesehenen Strukturen zu fordern und auf "politische Kohärenz" zu pochen, erweckt in Anbetracht der Erfahrungen mit der Nichtumsetzung entwicklungspolitischer Kohärenzgebote den Eindruck von Naivität - wenn man gutgläubig sein will. Lassen Sie mich zum zweiten Kritikpunkt kommen: dem systematischen Ausschluss demokratischer Kontrollmöglichkeiten. Dies betrifft sowohl die Beteiligung am Aufbau des Dienstes wie auch die parlamentarische Überwachung seiner Tätigkeit. Sowohl der Ashton-Vorschlag als auch der Ratsbeschluss verweisen auf die Art. 27 und 36 EUV. Doch sind dadurch weder Transparenz noch wirksame Kontrollen durch das EP gewährleistet. Bereits in der Aufbauphase sind lediglich Unterrichtungen und Anhörungen des EP vorgesehen, während das Vorschlagsrecht bei der Hohen Vertreterin und die Entscheidung bei der Kommission und - vor allem - dem Europäischen Rat liegen. Dieses strukturelle Demokratiedefizit besteht fort, wenn der EAD arbeitsfähig ist. Im letzten Ratsbeschluss findet sich kein Hinweis mehr auf Einflussmöglichkeiten des EP bei Personalentscheidungen im EAD. Und ob das Parlament über die Haushaltspolitik die Politik des Dienstes wird beeinflussen können, ist äußerst fraglich. Die parlamentarischen Rechte beschränken sich somit auf Unterrichtungen durch den Hohen Vertreter. Die Formulierung im Art. 36 EUV, nach der "die Auffassung des EP gebührend berücksichtigt" werden soll, gibt dem Parlament keinerlei politisch bindende Instrumente an die Hand, um Planung und Arbeit des EAD wirksam beeinflussen oder korrigieren zu können. In Anbetracht der Tatsache, dass HV und EAD die programmatische Ausgestaltung und Durchführung der EU-Außenpolitik entscheidend prägen werden, ist diese mangelhafte politische "Rückbindung" und Rechenschaftspflicht gegenüber den Parlamenten - gegenüber dem EP wie den Parlamenten der Mitgliedstaaten - ein nicht hinnehmbarer Skandal. Auch in diesem Punkt bleiben die Forderungen der Grünen an die Bundesregierung somit auf halber Strecke stehen. Eine nicht näher ausgeführte "Beteiligung" des EP zu fordern, ist in keiner Weise ausreichend. Wir lehnen daher sowohl den EAD als auch den Antrag der Grünen ab. Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Regierungsvertreterinnen und Vertreter der EU-Mitgliedstaaten streben an, bereits am kommenden Montag eine grundsätzliche politische Einigung über die zukünftige Struktur des Europäischen Auswärtigen Dienstes zu erzielen. Ein ambitioniertes Ziel, wird doch in Brüssel und den Hauptstädten auf Hochtouren über die konkrete Ausgestaltung, Arbeitsweise, Aufgabenteilung und Personal- und Haushaltsfragen gerungen. Rat und Kommission nutzen die Errichtung des EAD für Kämpfe um Macht und Einfluss und verhalten sich dabei - meiner Einschätzung nach - nicht konstruktiv. Das Wesentliche scheint dabei ein wenig aus dem Blickwinkel zu geraten. Ich will hier ganz klar sagen, dass wir Grüne in dem neuen Amt des Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik und dem EAD immer eine großartige Chance für eine moderne, kohärente und effektive EU-Außenpolitik gesehen haben - und dies immer noch sehen! Es gibt einige grundlegende Prämissen, die der EAD unserer Meinung nach erfüllen muss, um einer europäischen Außenpolitik, wie sie Art. 21 des EU-Vertrags, EUV, beschreibt, gerecht zu werden. Der EAD muss modern, wertegebunden, effektiv und in seinem Selbstverständnis "europäisch" sein. Europa ist eine Zivilmacht. Wir wollen eine klare Priorität des EAD auf Krisenprävention und zivile Konfliktbewältigung. Modern sein heißt für uns, den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu entsprechen: Klimawandel, Armutsbekämpfung, Umgang mit fragiler Staatlichkeit, gerechter Zugang zu natürlichen Ressourcen und die Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen - um nur einige zu nennen - sind grundlegende Handlungsfelder dafür. Diese Herausforderungen können nur in Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft gelöst werden. Daher erwarten wir vom EAD einen wichtigen Beitrag zur Stärkung eines effektiven Multilateralismus. Außerdem muss er sich zu den Millenniumsentwicklungszielen bekennen und die Bekämpfung von Armut und Hunger maßgeblich vorantreiben. Im Geiste "europäisch" bedeutet für uns, dass die Hohe Vertreterin allein weisungsbefugt gegenüber allen Bediensteten des EAD sein muss. Gleichzeitig wünschen wir uns, dass sich unter den Bediensteten ein europäischer "Esprit de Corps" entwickelt. Dafür ist wichtig, dass sich der EAD und seine Bediensteten mit den Zielen des Art. 21 Abs.1, EUV identifizieren und sie nach außen vertreten. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass die EAD-Bediensteten bei Aufnahme ihrer Tätigkeit einen Eid auf den Vertrag von Lissabon schwören. Aber das sind bisher nur Gedankenspiele. Klar ist aber, dass alle EAD-Bediensteten dem EU-Personalstatut unterstellt sein müssen. Zudem muss der Dienst sich an seine Pflichten gegenüber dem Europäischen Parlament halten und Rechenschaft ablegen. Letztendlich kann der EAD nur effektiv, kohärent und stark sein, wenn die Hohe Vertreterin stark ist. Der Begriff der Kohärenz aus dem EU-Vertrag bedeutet für mich, dass die Interpretation der Rolle der Hohen Vertreterin einen deutlichen Mehrwert für die EU und ihr außenpolitisches Handeln bedeutet. Zudem setzten wir uns für einen finanziell eigenständig budgetierten EAD ein, der der strengen haushälterischen Kontrolle des EP untersteht. Die Aufgabenteilung zwischen EU-Kommission und EAD muss vorab eindeutig geklärt sein. Das bringt mich zu dem nun vorliegenden Vorschlag von Lady Ashton. Während im Bereich der Entwicklungspolitik mit der sogenannten Doppel-Schlüssel-Lösung eine - auf den ersten Blick - passable Lösung gefunden wurde, ist unklar, unter welche Verantwortung das Stabilitätsinstrument - das einzig wirklich schnelle Krisenreaktionsinstrument der EU - fällt. Eine Ansiedlung unter die Krisenmanagementstrukturen, so wie sie im Vorschlag von Ashton vorgesehen sind, wäre fatal. Dies ist nicht der einzige Schwachpunkt in Ashtons Vorschlag. Besorgniserregend und vollkommen kontraproduktiv ist die Sonderstellung, die die Krisenmanagementstrukturen des Rates im EAD einnehmen sollen. Ohne jegliche Anbindung an andere für diesen Bereich relevante Strukturen sollen diese Einheiten dem direkten Befehlsstrang und sogar der täglichen Koordinierung durch die Hohe Vertreterin und dem Generalsekretär unterstellt sein. Mit Sorge beobachten wir auch die angedachten Rekrutierungsvorhaben hierfür. Es spricht nichts dafür, Beamte im Krisenmanagementbereich gesondert zu behandeln. Konfliktprävention und Friedensunterstützung, das heißt Konfliktnachsorge, Wiederaufbau und Mediation, spielen im vorliegenden Entwurf keine Rolle. Krisenmanagement wird somit einseitig auf militärische Strukturen reduziert. Das ist weder dem EUV noch den Anforderungen an eine moderne Außenpolitik angemessen. Stattdessen fordern wir die Einrichtung einer Generaldirektion "Peace-Building and Civilian Crisis Management" im EAD, unter der sich die oben genannten Krisenmanagementstrukturen einordnen. Offen ist auch die Frage nach der politischen Vertretung der Hohen Vertreterin. Unsere Kolleginnen und Kollegen in Brüssel fordern zu Recht eine politische Verantwortung vor dem Europäischen Parlament. Kritisch betrachten wir auch die machtvolle Stellung des Generalsekretärs im Vorschlag von Frau Ashton. Diese Machtposition würde ermöglichen, dass sich dieser zum eigentlichen Strippenzieher entwickelt und die Hohe Vertreterin zur Marionette verkommt. Eine weitere Gefahr besteht in dem Versuch einiger Mitgliedstaaten, bereits vergemeinschaftete Politikbereiche über den Umweg des EAD zurückzuerobern. Diese sich abzeichnende Tendenz einer Rückabwicklung von gemeinschaftlichen in zwischenstaatliche Strukturen stellt eine komplette Fehlentwicklung dar. Der EAD und die Hohe Vertreterin bedeuten einen Fortschritt in der europäischen Integration, und das muss sich auch in der konkreten Umsetzung widerspiegeln. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass der EAD wirklich modern, wertegebunden und europäisch wird. Verhindern Sie, dass die EU dem Vorwurf ausgesetzt wird, sie würde ihre Rolle als Zivilmacht im EAD verkennen! Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1204 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Wie ich sehe, sind Sie damit einverstanden. Die Überweisung ist somit beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerold Reichenbach, Dr. Eva Högl, Gabriele Fograscher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Neues SWIFT-Abkommen nur nach europäischen Grundrechts- und Datenschutzmaßstäben - Drucksache 17/1407 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, dass die Reden folgender Kollegen zu Protokoll gegeben werden: Clemens Binninger, Gerold Reichenbach, Jimmy Schulz, Jan Korte und Dr. Konstantin von Notz. Clemens Binninger (CDU/CSU): Das Europäische Parlament hat am 11. Februar 2010 gegen das SWIFT-Abkommen gestimmt, das die EU-Innen- und Justizminister im November 2009 unterzeichnet haben. Deshalb ist es jetzt notwendig geworden, ein neues Abkommen mit den USA zu verhandeln. Die Kommission hat hierzu im März einen Entwurf für das neue Verhandlungsmandat formuliert, der seither mehrfach überarbeitet und nachgebessert wurde. Der JI-Rat soll das Mandat morgen beschließen, sodass die Verhandlungen mit unseren amerikanischen Partnern aufgenommen werden können. Dass Zahlungsverkehrsdaten ein zentraler Ansatzpunkt bei der Aufklärung der Terrorfinanzierung sind und dazu beitragen, terroristische Netzwerke zu identifizieren, steht außer Frage. Auch, dass wir dabei der Kooperation mit unseren Partnern bedürfen, dürfte unstrittig sein. Genauso dürfte es auch Konsens in diesem Hause sein, dass wir dabei bestmögliche Datenschutzstandards und Vorkehrungen gegen den Missbrauch von Daten brauchen und sicherstellen müssen. Das war die Position der Koalition in der vergangenen Legislaturperiode, und das ist auch die Position der christlich-liberalen Koalition. Der Bundesinnenminister hat beim Beschluss zum SWIFT-Abkommen im vergangenen Jahr großen Wert darauf gelegt. Er hat in den aktuellen Gesprächen zum neuen Verhandlungsmandat zahlreiche Verbesserungen in Bezug auf den Datenschutz erreicht, und auch in den bevorstehenden Verhandlungen mit den USA wird der Datenschutz ein zentrales Anliegen sein, zentral für die europäische Seite wie auch für unsere amerikanischen Partner. Der Antrag der SPD zum Verhandlungsmandat, der heute vorgelegt wird, enthält indes nicht viel Neues. Eine ganze Reihe von Forderungen wurde schon auf Basis des alten Abkommens berücksichtigt, etwa die enge Beschränkung auf Zwecke der Terrorismusbekämpfung, das Vorliegen eines begründeten Verdachts, das Verbot von Data-Mining, kein Zugriff auf Daten von sogenannten SEPA-Zahlungen. Diese und weitere Datenschutzvorkehrungen waren bereits in der Vergangenheit Gegenstand der Zusammenarbeit der EU mit den USA in diesem Feld. Unter anderem 2007 haben die Vereinigten Staaten solche wesentlichen Zusicherungen zum Datenschutz gemacht. Diese Zusicherungen wurden seinerzeit von der EU begrüßt. Peer Steinbrück hat als Vertreter des Rates der EU seinerzeit zusammen mit Kommissionsvizepräsident Frattini dem US-Finanzministerium ausdrücklich für die Kooperation in Sachen Datenschutz und Datensicherheit gedankt. In ihrem Schreiben - im Amtsblatt der EU nachzulesen - formulieren sie: Wir danken Ihnen für Ihre Mitwirkung in dieser Frage; sie zeigt, wie sehr wir gemeinsam entschlossen sind, die bürgerlichen Freiheiten zu wahren, den Terrorismus zu bekämpfen und für ein reibungsloses Funktionieren des internationalen Finanzsystems zu sorgen. Das ist der Weg, den wir auch in Zukunft gemeinsam mit den Vereinigten Staaten als Partner beschreiten werden - Bekämpfung des Terrorismus, verbunden mit dem Schutz von Daten und bürgerlichen Freiheiten. Ich warne davor, zu unterstellen, die Amerikaner hätten kein Interesse an Datenschutzfragen. Gerade beim Datenschutz, der ja auch im Mittelpunkt des SPD-Antrages steht, wurden in Kooperation mit den Vereinigten Staaten wesentliche Fortschritte erreicht. Schauen wir uns doch einmal die Entwicklung in diesem Bereich an. Erst gab es - zu Regierungszeiten von Rot-Grün - überhaupt kein Abkommen, keine konkreten Regelungen, was die Abfrage von Bankdaten zur Terrorbekämpfung anging. Ein großer Fortschritt waren dann die Zusicherungen zum Datenschutz, die die USA unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft 2007 gemacht haben. Dazu gehörte auch, dass der französische Richter Bruguière im Auftrag der EU als unabhängige Persönlichkeit die Einhaltung der Zusicherungen vor Ort in den USA überprüft hat. Zu seinem Auftrag gehörte auch, den Nutzen des US-Programms für die Terrorismusbekämpfung und die Sicherheit auch in der EU zu bewerten. Er legte seinen ersten Bericht 2008 vor, in dem er in beiden Punkten - Datenschutz und Nutzen - zu einem positiven Fazit kommt und gleichzeitig zusätzliche Empfehlungen für die weitere Verbesserung des Datenschutzes macht. Seit dem Januar 2010 liegt jetzt der neue Bruguière-Bericht vor, der unterstreicht, dass zusätzliche Verbesserungen in Sachen Datenschutz von amerikanischer Seite umgesetzt wurden und dass die Zusammenarbeit mit den USA bei der Nutzung von Zahlungsverkehrsdaten auch weiterhin von großer Bedeutung bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus ist. Bei aller Kritik, die es in Deutschland in den letzten Monaten gab, gilt es auch, diese unabhängige Einschätzung eines angesehenen Fachmanns anzuerkennen. Das 2009 geschlossene SWIFT-Abkommen, das jetzt nicht mehr zur Anwendung kommt, hatte umfassende und verbindliche Datenschutzstandards festgeschrieben. Ich bin sicher, dass wir auch mit dem neuen Verhandlungsmandat, über das wir hier debattieren, ein hohes und noch weiter verbessertes Datenschutzniveau erreichen werden. Hier wurde schon im Vorfeld bei den Mandatsverhandlungen Wichtiges erreicht. Deutschland hat sich bei den Verhandlungen aktiv und sehr erfolgreich eingebracht. Zahlreiche deutsche Nachbesserungsvorschläge wurden im aktuellen Mandatsentwurf bereits aufgegriffen. Ganz besonders weise ich auf die Forderungen hin, die Innenminister de Maizière beim JI-Rat am 25. Februar vorgegeben hat: Beschränkung der an die USA zu übermittelnden Daten, strikte Zweckbindung der Daten, Beschwerdemöglichkeiten und gerichtlicher Rechtsschutz für die Betroffenen. Eine weitere zentrale Forderung wurde zumindest teilweise aufgegriffen, nämlich die Forderung, die Daten über einen kürzeren Zeitraum aufzubewahren. Der Kommissionsvorschlag sah hier ursprünglich in Übereinstimmung mit der bisherigen Regelung und den Aufbewahrungsfristen der Banken nach internationalen Standards eine Höchstspeicherdauer von fünf Jahren vor. Auf unsere Forderung hin wurde - zusätzlich zu dieser absoluten Höchstgrenze - ergänzt, dass die Speicherdauer im Abkommen "so kurz wie möglich" angelegt sein soll. Das sind greifbare Verbesserungen im Mandatsentwurf, die mit Blick auf den vorliegenden Antrag auch die SPD-Fraktion begrüßen dürfte. In diesem Zusammenhang möchte ich vor einem Punkt warnen: Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass wir beim Datenschutz das Bestmögliche erreichen können, wenn wir nur mit möglichst weitgehenden Forderungen in die Verhandlungen gehen. Das gerade ist nicht der Fall. Wir isolieren uns dann vielmehr zunehmend von unseren Partnern in der Europäischen Union, und am Ende haben wir dann selbst bei denjenigen erhebliche Probleme, mit denen wir uns gemeinsam für bessere Datenschutzstandards beim SWIFT-Abkommen einsetzen. Deshalb wäre es sehr problematisch, wenn wir - wie der SPD-Antrag empfiehlt - fordern würden, nur deutsche Datenschutzmaßstäbe und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Standards in das Verhandlungsmandat einzubringen. Wie soll Deutschland seinen Partnern in der EU erklären, dass gerade die deutschen Standards das Maß aller Dinge sein sollen? Für das Abkommen zwischen der EU und den USA kann nicht allein deutsches Recht der Maßstab sein, sondern EU-Recht. Alleingänge in diesem Bereich verhindern mehr, als dass sie am Ende nutzen. Ich möchte dem Bundesminister des Innern und dem Ministerium ausdrücklich für eine kluge Verhandlungsführung danken, mit der deutliche Verbesserungen beim Mandat zustande kommen werden und gleichzeitig eine vernünftige und erfolgversprechende Basis für die Verhandlungen mit den USA erreicht wird. Gerold Reichenbach (SPD): Die Bundesregierung hat in ihren Koalitionsvertrag geschrieben: Bei den Verhandlungen zum SWIFT-Abkommen werden wir uns für ein hohes Datenschutzniveau ... und einen effektiven Rechtsschutz einsetzen. Dass daraus nichts geworden ist, haben wir erlebt. Am 30. November 2009 unterzeichneten die europäischen Innen- und Justizminister das SWIFT-Abkommen. Mit einer Enthaltung der deutschen Bundesregierung bei der Abstimmung wurde erst die Annahme des Abkommens im Rat ermöglicht, obwohl es den in der schwarz-gelben Koalitionsvereinbarung genannten Voraussetzungen für eine Zustimmung nicht genügte. Zum Glück war für das Inkrafttreten des Abkommens jedoch die Zustimmung des Europäischen Parlaments erforderlich, welches - nebenbei gesagt - viel zu spät in den Verhandlungsprozess einbezogen worden war; auch der Deutsche Bundestag wurde ja erst in einem späten Stadium informiert. Das Nein des EU-Parlaments am 11. Februar 2010 zum SWIFT-Abkommen stellt für Bundesinnenminister de Maizière und die gesamte schwarz-gelbe Koalition eine Klatsche dar; denn wenn die Bundesregierung zu ihrer Enthaltung feststellt, dass Grundrechte nicht genügend geschützt sind, wäre es ihre Pflicht gewesen, das Abkommen zu verhindern. Die Entscheidung des EU-Parlaments, dieses zusammengeschusterte Abkommen abzulehnen, ist richtig und ein Sieg für den Schutz der Bürgerrechte in Europa gewesen. Dennoch bleibt die Zusammenarbeit mit den USA im Kampf gegen den Terrorismus wichtig. Das rechtfertigt aber nicht die schrittweise Aushebelung von Grundrechten europäischer Bürger. Jetzt hat die Europäische Kommission am 24. März 2010 einen Entwurf für ein Verhandlungsmandat zu SWIFT vorgelegt. Mit dem neuen Verhandlungsmandat wird sich der EU-Ministerrat am 23. April 2010, also morgen, befassen. Der Antrag der SPD-Fraktion ist somit ein Hilfsangebot für die Bundesregierung und ihre Bundesminister de Maizière und Leutheusser-Schnarrenberger. Er ist aber auch ein Glaubwürdigkeitstest für die FDP. Wir wollen der Bundesregierung dabei helfen, dass die Bundesjustizministerin mit ihrer Meinung nicht wieder über Europa ausgehebelt wird. Darum, und auch weil wir der verstärkten Verantwortung, die der Vertrag von Lissabon und wir als Gesetzgeber dem Parlament gegeben haben, gerecht werden sollen! Mit dem Vertrag von Lissabon wurden die beiden Bereiche Innen- und Justizpolitik vergemeinschaftet und es wurde erreicht, dass das Europäische Parlament endlich mitentscheiden darf. Die Unterzeichnung des ersten SWIFT-Abkommens missachtete das Europäische Parlament, und das Ganze einen Tag vor Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags! Man muss es sich noch einmal vor Augen führen, dass der Bundesinnenminister und die Bundesjustizministerin zwei unterschiedliche Meinungen vertreten haben - diese vertraten sie leider nur unverbindlich in der Presse, nicht aber hier im Parlament. Dass eine Enthaltung bei der Entscheidung einer Zustimmung gleichkommt, das wusste jeder. Bundesinnenminister de Maizière sagt, dass ein nicht vollständig befriedigendes Abkommen besser für die Bürger sei als kein Abkommen, Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger sagt im Gegensatz, dass diese Entscheidung Millionen von Bürgerinnen und Bürgern in Europa verunsichert. Ja, wo ist denn da der rote Faden der Bundesregierung, wo sind die vorlauten Aussagen der FDP hin? Aus den eigenen Reihen haben sowohl Union als auch FDP herbe Kritik vernehmen müssen, aber nicht nur von den eigenen Parteifreunden, auch der zentrale Kreditausschuss, der BDI und viele mehr kritisierten das von ihnen vorangetriebene Datenschutzdumping. Und nachdem das Abkommen durch eine große und fraktionsübergreifende Mehrheit im Europäischen Parlament abgelehnt wurde, herrscht das gleiche Bild. Die Bundesjustizministerin jubelt geradezu auf ihrer Homepage mit der Stärkung für die Demokratie und den Datenschutz in Europa, auf der des Innenministers kein Wort zu der Entscheidung. Dazu fällt mir nur ein: Mit Zank und Streit kommt man nicht weit! Mit unserem heutigen Antrag wollen wir sichergehen, dass das neue SWIFT-Abkommen nur nach europäischen Grundrechts- und Datenschutzmaßnahmen zustande kommt. Sowohl die Justiz- als auch die Innenminister der Europäischen Union stehen in der Pflicht, sowohl Transparenz, einen effektiven Rechtsschutz und eine enge Begrenzung der Zwecke als Leitlinien zu verankern. Für die anstehenden Verhandlungen muss gelten, dass der Staat die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen hat. Doch muss er dabei grundrechtliche und menschenrechtliche Garantien beachten, also insbesondere den Datenschutz. Wir fordern die Bundesregierung daher mit unserem Antrag auf, dass sie ihre Zustimmung zum Verhandlungsmandat wie auch zu einem Abkommen davon abhängig macht, dass die Regelungen datenschutzrechtlichen Maßstäben genügen. Neben den genannten Punkten von Transparenz und Rechtsschutz fordern wir eine genaue und abschließende Begrenzung nach Art und Umfang der zu übermittelnden Daten, das Verbot der Übermittlung an Drittstaaten sowie Löschungs- und Berichtigungsansprüche. Außerdem müssen der Ratifizierungsbedarf geklärt und der Bundestag fortlaufend unterrichtet werden. Dies gilt auch für die weiteren Verhandlungen. Das Abkommen und eventuelle Anhänge sind der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Von meinen sozialdemokratischen Kollegen aus dem Europaparlament höre ich, dass - und da kann ich meinen Kollegen nur zustimmen - das Problem des massenhaften Datentransfers und der zu langen Speicherzeiten im neuen Verhandlungsmandat nach wie vor ungelöst und einfach nur unzureichend ist. Ebenso fehlen strikte Auflagen, die die Weitergabe der Daten an Drittstaaten regeln. Es kann nicht sein, dass Millionen Daten von Bürgern einfach an die USA weitergegeben werden und diese dann auch noch fünf Jahre gespeichert werden sollen. Wir fordern in unserem Antrag die Löschung der übermittelten Daten spätestens nach Ablauf eines Jahres; wenn die Daten für die festgelegten Zwecke nicht erforderlich sind, fordern wir eine unverzügliche Löschung. Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass dem vorliegenden Mandatsentwurf so auf europäischer Ebene wieder nicht zugestimmt werden kann. Eines darf man einfach auf keinen Fall vergessen: Ein neues Abkommen zur Übermittlung von Bankdaten an die USA muss unbedingt bestimmte Mindestanforderungen des Daten- und Rechtsschutzes sicherstellen. Nicht umsonst hat Anfang März das Bundesverfassungsgericht die anlasslose Speicherung von Telekommunikationsdaten durch den Staat gekippt - obwohl diese Daten nur sechs Monate bis zwei Jahre lang aufbewahrt werden sollten. Da auch bei SWIFT umfangreiche Datenpakete ohne konkreten Verdachtsansatz gesammelt werden sollen, kann man eindeutige Parallelen zur Vorratsdatenspeicherung sehen. SWIFT wäre somit ein guter Kandidat für Verfassungswidrigkeit, wenn eine fünf Jahre lange Speicherung vereinbart wird. Abstriche bei den Datenschutzbestimmungen darf es im Verhandlungsmandat nicht geben. Dafür steht die SPD, dafür steht unser Antrag! Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, bekennen Sie Flagge für den Datenschutz, und schauen Sie sich auch einmal an, was Ihre Kolleginnen und Kollegen aus Bayern und Thüringen als Antrag in den Bundesrat eingebracht haben! Dieser ist der SPD zwar nicht konkret und ausführlich genug; aber es zeigt Ihnen den richtigen Weg auf. Nur mit einem ehrgeizigen Mandat kann Europa auf Augenhöhe mit den USA verhandeln und den massenhaften Datentransfer zukünftig unterbinden. Die gestiegene Verantwortung unseres Parlaments durch die Verträge von Lissabon, die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes und unsere eigene Gesetzgebung dazu macht es geradezu zwingend notwendig, dass der Deutsche Bundestag den deutschen Einfluss auf das Verhandlungsmandat und die Verhandlungen zu einem neuen SWIFT-Abkommen nicht den Zufälligkeiten des Koalitionsgerangels in der Bundesregierung überlässt, sondern der Bundesregierung klare Vorgaben macht. Ich kann Sie deshalb nur auffordern, unserem Antrag in den Beratungen zu folgen und den darin enthaltenen Forderungen im Interesse des Schutzes der Bürgerrechte Geltung zu verschaffen. Jimmy Schulz (FDP): Die USA sind unser wichtigster Partner im Kampf gegen den Terrorismus. Um in diesem Kampf erfolgreich zu sein, ist die Kooperation zwischen den Partnern äußerst wichtig. Aber auch diese Kooperation hat ihre Grenzen. Wenn Kooperation heißt, Bürgerrechte aufs Spiel zu setzen, dann ist sie an dieser Stelle nicht zielführend. Denn dann fördern wir den Kampf nicht, sondern haben ihn bereits verloren. Das neue Verhandlungsmandat für ein neues SWIFT-Abkommen, das am Freitag im Rat der EU-Innen- und Justizminister verabschiedet werden soll, bedeutet potenziell die Übermittelung von Millionen Daten von EU-Bürgern. Das ist keine leichte Sache und muss sehr ernst genommen werden. Wie bei jeder Maßnahme zur Terrorismusbekämpfung müssen Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit geprüft werden. Die Anforderungen, die das europäische Recht in diesem Zusammenhang stellt, sind von höchster Wichtigkeit und müssen eingehalten werden. Das neue Mandat, das die Kommission am 24. März vorgestellt hat, stellt gegenüber dem vom Parlament abgelehnten Interimsabkommen eine erhebliche Verbesserung dar. Wir sind froh, dass zum Beispiel der Terrorismusbegriff an die Definition in Art. 1 des Rahmenbeschlusses, 2002/475/JI, angeglichen ist und dass SEPA-Daten ausgeschlossen sind. Trotz dieser Verbesserungen ist das Mandat aber weiterhin unzureichend und enthält noch verschiedene besorgniserregende Eingriffe in Bürgerrechte. Der Transfer von Millionen Daten unbeteiligter Bürger in großen Datenpaketen ist inakzeptabel. Es kann nicht sein, dass aufgrund eines einzelnen Verdachtsfalls die Kontobewegungen Hunderter oder Tausender ausgeliefert werden! Der Grund dafür ist, dass SWIFT die Datenpakete weder öffnen noch lesen kann. Aber dennoch können wir solche technischen Gründe nicht akzeptieren, denn der Transfer dieser großen Pakete kann im Nachhinein nicht mehr berichtigt werden. Aufsicht und Kontrolle kommen zu spät, wenn das Datenschutzrecht schon verletzt ist. Weiterhin sollen natürlich möglichst wenig Daten übermittelt werden, und jede Übermittlung muss an eng gesteckte Bedingungen geknüpft sein. Die Daten müssen auf europäischer Seite kontrolliert und nicht explizit angeforderte Daten müssen aussortiert werden. Damit diese Kontrolle europäischem Recht unterfällt, sollte mit diesen Aufgaben eine europäische Behörde betraut werden. Eine solche Behörde muss hinsichtlich ihrer rechtlichen Aufsichtsfähigkeiten klar definiert sein. Weiterhin sind die vorgesehenen Sperrfristen in keiner Weise akzeptabel. Die Speicherfrist soll unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsverbindungsdaten auf deutlich weniger als fünf Jahre begrenzt werden. Außerdem brauchen wir strikten Daten- wie auch Rechtsschutz. Schließlich geht es um europäische Bürger, und wir dürfen keine Regelungen akzeptieren, die europäische Standards unterschreiten. Das bedeutet Transparenz im Sinne von Information über Daten, Korrektur unrichtiger Daten, Löschung und Entschädigung für zu Unrecht betroffene Bürger. Sehr wichtig ist zudem die Gewährung effektiven Rechtsschutzes vor US-Gerichten. Schließlich dürfen Daten nur dann an Drittstaaten weitergegeben werden, wenn dort erstens ein vergleichbares Datenschutzniveau herrscht und zweitens eine spezifische Anfrage gestellt wird. Keinesfalls denkbar ist eine anlasslose Weitergabe der Daten. Völlige Transparenz ist unabdingbar. Das gesamte Abkommen muss publiziert werden, geheime Anlagen darf es nicht geben. Weiterhin muss eine regelmäßige Überprüfung stattfinden zusammen mit Vertretern von Datenschutzbehörden der Mitgliedstaaten. Es ist zu evaluieren, wie die Daten genutzt werden und inwiefern die Datensammlung für den Kampf gegen den Terrorismus überhaupt zweckmäßig ist. Der Antrag der SPD enthält einige wichtige Ziele; von diesen hat Frau Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger in den momentanen Verhandlungen allerdings wesentliche bereits erreicht. Interessant ist an dieser Stelle Folgendes: Die Verhandlungen über das SWIFT-Abkommen wurden unter deutscher Ratspräsidentschaft 2007 vom damaligen SPD-Finanzminister Steinbrück aufgenommen, zum Zeitpunkt der Bundestagswahl waren sie bereits weitestgehend abgeschlossen. Wir hätten uns also viel Mühe ersparen können, wenn die SPD in den Verhandlungen seinerzeit ein paar von ihren eigenen Zielen aus dem jetzt vorgelegten Antrag durchgesetzt hätte. Leider war die SPD damit nicht sehr erfolgreich. Die Justizministerin hat in den letzten Wochen mehr geschafft als die SPD in zwei Jahren. Zum Schluss noch einmal das Entscheidende: Wir dürfen nicht abweichen von dem, was wir im Koalitionsvertrag beschlossen haben, nämlich ein hohes Datenschutzniveau im SWIFT-Abkommen! Ich habe großes Vertrauen in unsere Justizministerin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, dass sie sich durchsetzt und damit dafür sorgen wird, dass nichts Geringeres als die Sicherheit der Daten unserer Bürger bewahrt wird. Jan Korte (DIE LINKE): Wäre das SWIFT-Abkommen, über das wir heute reden, schon vorher öfter ein Thema im Parlament gewesen, dann wäre vielen Leuten viel Arbeit erspart worden. Tatsächlich ist das Abkommen durch die EU-Innen- und Justizminister ohne Konsultation des Europaparlaments entstanden und von diesem, als es dann mitentscheiden durfte, sofort einkassiert worden - zu Recht, wie wir finden. Ich freue mich, dass das EU-Parlament mit deutlicher Mehrheit dafür gesorgt hat, diesen schwerwiegenden Eingriff in die Freiheits- und Grundrechte aller EU-Bürgerinnen und Bürger zu beenden. Dem massiven Druck der USA und einiger EU-Mitgliedsländer haben sich die EU-Parlamentarier nicht gebeugt, sondern sie haben sich für die Rechte der Bürgerinnen und Bürger der EU und gegen die Fortsetzung des Marsches in den Überwachungsstaat ausgesprochen. In ihrer Durchsetzungsfähigkeit unterscheiden sie sich damit deutlich von der FDP, die es nicht einmal schaffte, den Innenminister dazu zu bewegen, die Koalitionsvereinbarung umzusetzen. Bürgerrechtspartei FDP? - Fehlanzeige! Nach der Ablehnung durch das Europaparlament wird nun fleißig daran gearbeitet, das SWIFT-Abkommen halbwegs an existente Datenschutzrichtlinien der EU anzupassen. Da kann man sich so viel Mühe geben, wie man will: Das SWIFT-Abkommen wird eine Datensammlung auf Vorrat bleiben. Immer noch würden vertrauliche Bankdaten aller EU-Bürgerinnen und Bürger verdachtsunabhängig auf Vorrat gespeichert. Dieses Vorgehen ist nicht verhältnismäßig; das sehen nicht nur wir so. Zur Verhältnismäßigkeit von Vorratsdatenspeicherungen hat das Bundesverfassungsgericht bereits mehr als deutliche Worte gefunden, die man nicht einfach übergehen sollte. Ein weiterer Punkt, den die Linke kritisiert, ist die bis heute nicht belegbare Notwendigkeit des SWIFT-Abkommens. Bis heute wurde von keiner unabhängigen Stelle überprüft, wie effektiv das Abkommen im Kampf gegen den Terror ist, wie viele Terrornetzwerke damit aufgespürt wurden, ob Anschläge damit verhindert werden konnten oder ob in irgendeiner Form die Terrorgefährdung seit der Abfrage von Bankdaten bei SWIFT minimiert wurde. Das Gegenteil ist offenbar der Fall: Noch vor nicht allzu langer Zeit hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière erklärt, das SWIFT-Abkommen bringe mehr Sicherheit bei der Terrorbekämpfung. Dabei hat er sich ganz sicher nicht auf das BKA als Quelle berufen. Dieses kam zu dem Schluss, dass zur Bekämpfung politisch motivierter Kriminalität "kein fachlicher Bedarf bzw. kein operatives Interesse an der Nutzung des SWIFT-Datenbestandes zum Zwecke einer systematischen anlassunabhängigen Recherche" bestehe. Das interne BKA-Papier, das von mehreren Medien zitiert wurde ging sogar noch weiter: Die aus fachlicher Sicht zu erwartenden Erkenntnisse aus einem systematischen und umfangreichen Abgleich der SWIFT-Daten rechtfertigen - zumindest für den Bereich der Finanzierung des Terrorismus - aus hiesiger Sicht nicht den mit der Datenrecherche verbundenen erheblichen materiellen und personellen Aufwand. Aber in den aktuellen Verhandlungen und in der Positionierung der Bundesregierung spielt dies offenbar keine Rolle. Zur Überprüfung der Verhältnismäßigkeit wäre eine Evaluation von unabhängiger Seite dringend geboten. Lassen Sie mich noch einige Worte zum Antrag der SPD verlieren. Man könnte bei Lektüre des Antrages denken, die SPD habe in der Opposition den Datenschutz wiederentdeckt. Das klingt alles erst einmal schön und gut. Doch die Vorratsdatenspeicherung bleibt erhalten, und die Sinnhaftigkeit eines neuen SWIFT-Abkommens wird auch nicht hinterfragt. Auch Informationspflichten in eine neue Regelung einzubringen, nutzt den Betroffenen nichts, wenn sie den Schaden schon haben. Das bisherige Verfahren, angefangen von der SWIFT-Datenabfrage durch US-Behörden nach dem 11. September 2001 bis hin zu den mit der EU geschlossenen Abkommen, war nicht nur intransparent, sondern entsprach weder nationalen noch europäischen Datenschutzbestimmungen. Die SPD muss sich meiner Meinung nach den Vorwurf gefallen lassen, mit dem vorliegenden Antrag dieses Verfahren mithilfe von Datenschutzkosmetik im Nachhinein zu legitimieren. Das SWIFT-Abkommen ist vom EU-Parlament perfekt korrigiert worden, als die Parlamentarier es beerdigten. Dabei sollte es bleiben. Deshalb hat die Linke den Antrag gestellt, auf ein weiteres Abkommen zu verzichten und die Bundesregierung aufzufordern, sich in diesem Sinne auf europäischer Ebene einzusetzen. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bereits kurz nach dem Anschlägen vom 11. September 2001 verlangten die USA von dem Monopolisten für die Abwicklung von internationalen Finanztransaktionen, dem Unternehmen SWIFT, die Kontobewegungsdaten von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern herauszugeben - ein unmittelbares Ergebnis von Bushs damaligem Krieg gegen Terror. Der CIA bekam die Daten, und alles blieb zunächst geheim. Eingeschlossen waren auch Überweisungen innerhalb der EU und Eilanweisungen innerhalb Deutschlands. Nur um die Dimension zu verdeutlichen: Über SWIFT werden täglich im Durchschnitt fast 15 Millionen Transaktionen und Transfers mit einem Volumen von etwa 4,8 Billionen Euro abgewickelt. Das SWIFT-Netzwerk in Belgien bündelt Überweisungsdaten von 9 000 Banken aus über 200 Ländern. Erst als dieser Vorgang 2006 herauskam und allen bewusst wurde, in welcher Dimension die Kontobewegungsdaten von 500 Millionen von Europäerinnen und Europäern über Jahre an die USA abgeflossen waren, begann eine öffentliche Diskussion. Und der Aufschrei war groß. Selbst die Kolleginnen und Kollegen der FDP erwachten damals aus einem bürgerrechtlichen Dornröschenschlaf - immerhin ging es ja um Bankdaten! Es waren insbesondere grüne Anträge, mit denen die Befassung in diesem Parlament vorangebracht wurde. Die Öffentlichkeit war sich weitgehend einig, dass die stattfindenden SWIFT-Datentransfers an die USA rechtswidrig waren und dass die Daten der Bürgerinnnen und Bürger vor dem Zugriff der US-Geheimdienste geschützt werden müssten, um die für den Umgang mit diesen Informationen notwendigen Grundrechtsstandards zu wahren. Zunächst verlor sich die Empörung der Bürgerinnen und Bürger angesichts des Wartens auf die Entscheidung der belgischen Datenschutzbehörde. Die EU-Innenminister, darunter der damalige deutsche Innenminister Schäuble, ließen nicht locker. Sie wollten ein Abkommen mit den USA aushandeln, mit dem der Zugriff auf die Daten legalisiert werden könnte. Dabei wurden nicht einmal ansatzweise die erforderlichen Standards zum Schutz dieser hochsensiblen Bankdaten erreicht. Das Europäische Parlament verweigerte deshalb im März 2010 zu Recht am Ende seine Zustimmung. Es war eine Sternstunde des Europaparlaments und der Beginn eines neuen Selbstbewusstseins, das deutlich über den Fall SWIFT hinausstrahlt. Interessant ist der Rückblick auf das damalige Verhalten der jetzigen Bundesregierung. In der Abstimmung am 28. November 2009 wurde sie ihrer Verantwortung nicht gerecht und enthielt sich bei der Abstimmung im EU-Ministerrat. Praktisch hat sie aber zugestimmt. Dies, obwohl es der FDP gelungen war, eine glasklare Formulierung in den Koalitionsvertrag aufzunehmen. Die FDP, allen voran die selbsternannte Freiheitsstatue Westerwelle, hatte jedoch nicht den Schneid, die Koalitionskarte zu ziehen. Bundesinnenminister de Maizière versemmelte seinen Einstand, zumindest für den Bereich der "öffentlichen Sicherheit". Die selbsternannte Bürgerrechtspartei FDP war hier schon kurz nach dem Regierungsantritt bei ihrem ersten Belastungstest umgefallen. Die Justizministerin setzte sich nicht durch, ihr Parteivorsitzender schloss sich ihrer damals geäußerten Kritik an SWIFT nicht an. Trotz aller Bekenntnisse für mehr Datenschutz hatte die schwarz-gelbe Bundesregierung die massive Kritik aus dem EU-Parlament, dem Bundesrat sowie von Datenschützern und Bürgerrechtsorganisationen in den Wind geschlagen. Wenn es Ihnen Ernst gewesen wäre mit mehr Datenschutz und Bürgerrechten, dann hätten Sie nicht unsinnigste Steuersenkungen durchgesetzt, sondern bei SWIFT die Koalitionskarte gezogen, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP. Dafür hat das Engagement aber nicht gereicht. Gut, dass die Bürgerrechte beim Europäischen Parlament so viel besser aufgehoben waren als bei der Bundesregierung. Wir stehen jetzt vor der Aushandlung eines neuen Verhandlungsmandats. Die SPD hat sich in den vergangenen Jahren wahrlich nicht hervorgetan mit Vorstößen zum Schutz der Grundrechte im Feld der öffentlichen Sicherheit. Jetzt - wir haben lange auf so etwas von Ihnen gewartet - legen Sie einen Antrag vor, der grundsätzlich Lob verdient. Die dort aufgezählten Standards fassen den Stand der Datenschutzdiskussion gut zusammen. Wir stellen uns klar gegen jegliche Bestrebungen, die hohen Datenschutzstandards aufzuweichen oder zu schwächen. Die Bundesregierung muss sich dafür einsetzen, dass das kommende Mandat so bürgerrechtsfreundlich als irgend möglich ausgestaltet wird. Es besteht kein Zeitdruck, auch wenn einige darüber klagen, der Datenfluss an die USA sei gegenwärtig gestoppt. Das Bundeskriminalamt erklärte höchstselbst unlängst, es könne mit den Finanztransaktionsdaten nichts anfangen und halte deren Wert in der Terrorismusbekämpfung für nicht maßgeblich. Wir werden natürlich auch in diesem Verfahren sorgsam beobachten, ob in der Koalition weitere bürgerrechtliche Rollen rückwärts drohen oder sie gar Gefahr läuft, noch einmal umzukippen. Das sind wir den Bürgerinnen und Bürgern und dem Schutz ihrer Daten und schuldig. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1407 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Wie ich sehe, sind Sie auch damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 23: Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Behm, Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schaffung eines Naturwalderbes vorbereiten und Moratorium für die Privatisierung von Bundeswäldern erlassen - Drucksache 17/796 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss In der Tagesordnung wurde bereits ausgewiesen, dass die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden: Alois Gerig, Petra Crone, Dr. Christel Happach-Kasan, Sabine Stüber und Cornelia Behm. Alois Gerig (CDU/CSU): Die Waldpolitik der CDU/CSU ist darauf ausgerichtet, den Wald in unserem Land zu erhalten, damit er auch in Zukunft seine unterschiedlichen Aufgaben gut erfüllen kann. Im Mittelpunkt unserer Waldpolitik stehen folgende Ziele: Wir wollen erstens den Wald schützen, weil er für das Klima, die Luftqualität, das Landschaftsbild und die biologische Vielfalt überragende Bedeutung hat. Zweitens treten wir dafür ein, dass sich die Menschen am Wald erfreuen und den Wald zur Erholung nutzen können. Drittens sind uns gute Rahmenbedingungen für die Forstwirtschaft wichtig, weil Holz ein unverzichtbarer nachwachsender Rohstoff ist. In einer Waldpolitik, die sich an diesen Zielen ausrichtet, sind auch Naturwälder erwünscht. Naturwälder sind dadurch gekennzeichnet, dass sie ihrer natürlichen Entwicklung überlassen wurden und Eingriffe des Menschen weitgehend unterbleiben. So leisten Naturwälder einen wichtigen Beitrag zum Artenschutz, weil sie sich gut als Lebensraum für bedrohte Tier- und Pflanzenarten eignen. Zudem kann in einem Naturwald beobachtet werden, wie sich der Wald ohne direkte Eingriffe des Menschen entwickelt. Aus diesen Beobachtungen lassen sich wichtige Erkenntnisse für eine zukünftige Waldbewirtschaftung gewinnen. Die Große Koalition hatte 2007 das Ziel formuliert, dass rund 5 Prozent der Waldflächen in Deutschland bis 2020 in Naturwald umgewandelt werden sollen. In dem zur Debatte stehenden Antrag fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Bundesregierung auf, eine Reihe konkreter Maßnahmen umzusetzen, um dieses Ziel zu erreichen. Aus meiner Sicht ist es nicht sinnvoll, diesem Antrag zuzustimmen. Um Wälder aus der Nutzung zu nehmen und in Naturwälder umzuwandeln, bestehen bereits geeignete Instrumente. Zu nennen wäre die Unterschutzstellung von Waldflächen sowie der Vertragsnaturschutz zwischen der zuständigen Naturschutzbehörde und dem Waldbesitzer. Das geforderte Moratorium für die Privatisierung von bundeseigenen Waldflächen ist für mich nicht nachvollziehbar. Der Bund hat in den vergangenen Jahren auf die Privatisierung von schützenswerten Flächen verzichtet und rund 70 000 Hektar, darunter umfangreiche Waldflächen, dem Projekt Nationales Naturerbe zur Verfügung gestellt. Obwohl sich nur ein geringer Anteil des Waldes in Bundeseigentum befindet, hat der Bund einen bedeutenden Beitrag dazu geleistet, den Naturwald in Deutschland zu fördern. Gegen den Antrag spricht außerdem, dass er einseitig auf die Naturwälder ausgerichtet ist. Erforderlich ist vielmehr ein umfassendes Konzept. Nicht nur der Erhalt der biologischen Vielfalt, sondern auch der Ausbau erneuerbarer Energien und der Klimawandel stellen die Waldpolitik vor große Herausforderungen. Die Bundesregierung hat angekündigt, im Herbst die "Waldstrategie 2020" vorzulegen und im kommenden Jahr mit der Umsetzung zu beginnen. Die Waldstrategie soll die Frage beantworten, wie der Wald der Zukunft aussehen soll. Die nicht leichte Aufgabe besteht darin, den Wald zu schützen, geänderte Nutzungsansprüche mit der Leistungsfähigkeit des Waldes in Einklang zu bringen und den Wald auf die Klimaveränderungen vorzubereiten. Im Zusammenhang mit der Waldstrategie wird auch über Naturwälder zu reden sein. Meines Erachtens sollte sich die Waldpolitik nicht starr auf die Erreichung des 5-Prozent-Ziels ausrichten. Stattdessen sollten die wirklich schützenswerten Waldflächen identifiziert und für den Naturschutz gesichert werden. Zwar sind Naturwälder wichtig, doch ist zu berücksichtigen, dass auch bewirtschaftete Wälder zum Erhalt der biologischen Vielfalt beitragen. Voraussetzung für eine nachhaltige Waldbewirtschaftung zum Nutzen von Mensch und Natur ist, dass sowohl die forstwirtschaftlich tätigen Unternehmen als auch die Forstverwaltung genügend und gut ausgebildete Fachkräfte einsetzen. Die CDU/CSU wird darauf achten, dass beim Thema Naturwald das richtige Augenmaß beibehalten wird. So wünschenswert Naturwälder grundsätzlich sind, so notwendig ist es, die Produktion des nachwachsenden Rohstoffes Holz nicht durch zu viele Naturwälder einzuschränken. Neben der stofflichen Nutzung wird auch die energetische Nutzung von Holz zunehmen - es ist also mit steigender Holznachfrage zu rechnen. Deutschland hat sich das Ziel gesetzt, bis 2020 rund 18 Prozent der genutzten Energie aus erneuerbaren Energiequellen zu gewinnen. Wenn zu viele Waldflächen stillgelegt werden, gefährden wir die Erreichung unserer ehrgeizigen Klimaschutzziele. Petra Crone (SPD): In der Ende 2007 beschlossenen nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt hat sich Deutschlands Regierung ehrgeizige Ziele gesetzt. 430 Maßnahmen und 330 Ziele sollen den Erhalt der Biodiversität in Deutschland leisten. Biologische Vielfalt hat existenzielle Bedeutung. Die Anstrengungen zu deren Erhalt erstrecken sich unter anderem auf den heimischen Wald als Lebensraum für eine Vielzahl von Gemeinschaften aus Flora und Fauna. Circa 4 300 Pflanzen- und Pilzarten und mehr als 6 700 Tierarten leben in den Wäldern Deutschlands. Ein wichtiges Ziel aus der Strategie für das Ökosystem Wald ist die Herausnahme von 5 Prozent der Wälder aus der Nutzung bis zum Jahr 2020. So wichtig die Biodiversitätsstrategie bereits auf dem Papier ist, naturschutzrelevante Wirkungen entfaltet sie erst in ihrer konkreten Umsetzung. Daher begrüße ich es, dass die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im vorliegenden Antrag von der Bundesregierung wissen will, wie genau das 5-Prozent-Ziel von Wäldern mit natürlicher Waldentwicklung erreicht werden soll. Die Forderung nach einem Maßnahmenplan mit konkretem Zeitfenster ist daher zu unterstützen. Es trifft bei der SPD-Bundestagsfraktion auf Unverständnis, wenn in den letzten Monaten durch Äußerungen mancher politischer Akteure der Eindruck entsteht, dass die Marke von 5 Prozent zur Disposition stünde bzw. mit der Tendenz nach unten verhandelbar sei. Deutschland hat sich zum Schutz seiner Floren- und Faunendiversität durch eine ressortübergreifende Kabinettsstrategie verpflichtet und sollte sich seiner Vorbildfunktion für andere Länder bewusst sein und entsprechend handeln. Es geht also bei den anstehenden Beratungen in den Ausschüssen nicht um das "Ob überhaupt", sondern wie das 5-Prozent-Ziel konkret erreicht werden kann. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist hierfür ein Beitrag. Gemeinsam mit den Diskussionen zur Novellierung des Bundeswaldgesetzes und mit dem Antrag der SPD-Bundestagsfraktion "Bundeswaldgesetz nachhaltig gestalten - Schutz und Pflege des Ökosystems für heutige und künftige Generationen" erhoffe ich mir für die nächsten Wochen, dass die Ergebnisse der parlamentarischen Beratungen einen nennenswerten Beitrag für die Pflege und den Erhalt unseres Waldes leisten werden. Deutschland ist zu 30 Prozent bewaldet. Davon sind nach Erhebungen des Bundesamtes für Naturschutz zwei Drittel keine naturnahen und nur 9 Prozent altersgemischte Wälder. Auch unsere Kulturgeschichte verliert, wenn nur 2,3 Prozent aller Bäume älter als 160 Jahre sind. Bei diesen Daten ist es nachvollziehbar, wenn Tier-, Pflanzen- und Pilzarten überproportional gefährdet sind, die auf typische Strukturen naturnaher Wälder spezialisiert sind. Doch wie hoch ist der Anteil naturnaher Wälder in Deutschland schon heute? Die Regierung hat bisher keine Aussagen über den Anteil des naturbelassenen Waldes machen können. Es ist zu begrüßen, dass das Bundesamt für Naturschutz ein Forschungs- und Entwicklungsvorhaben starten wird, an dessen Ende Zahlen stehen werden, sozusagen eine Eröffnungsbilanz. Wir wollen eine halbe Million Hektar Wald aus der Nutzung nehmen. Wo stehen wir? Wie viel Naturwald brauchen wir noch? In einem zweiten Schritt muss dann geklärt werden, welche Flächen und artreichen Biotope die Vielfalt an Flora und Fauna in Deutschland abbilden. Nach der Identifizierung der verschiedenen Lebensraumtypen muss sichergestellt werden, dass alle heimischen Waldgesellschaften in ausreichender Biotopgröße in den 5 Prozent Berücksichtigung finden. Bevor dieses Ziel nicht erreicht ist, muss Abstand von Privatisierungen bundeseigener Waldflächen genommen werden. Auch der Privatwald wird bei der Umsetzung des 5-Prozent-Ziels seinen Beitrag leisten müssen. Insofern ist die Idee eines "Deutschen Naturwalderbes" eine gute Diskussionsgrundlage für alles Weitere. Die unterschiedlichen Schutzzwecke des Waldes können dem Waldbesitzer Pflichten und Beschränkungen auferlegen. Ich würde mir wünschen, dass diese einfache Feststellung öfter Erwähnung findet. Die Erkenntnis, dass Klimawandel, Landnutzung und biologische Vielfalt unentrinnbar verbunden sind, nimmt glücklicherweise zu. Sie bedingen sich lokal, regional, global. Deshalb ist die Zielmarke von 5 Prozent Wald mit eigener Entwicklung auch für den Klimaschutz so immens wichtig. Wir bekommen durch die Vorgänge in Naturwäldern die Antworten auf die Frage: Was macht die Natur selbst im Hinblick auf den Klimawandel? Ungestörte Wälder besitzen durch die unablässige Anpassung an ihre Umwelt natürliche Abwehrkräfte, zum Beispiel gegen Schädlinge oder Krankheiten. Die dynamischen Prozesse laufen ohne menschlichen Einfluss ab, und der Wald befindet sich im ökologischen Gleichgewicht. Die hier angesprochene kontinuierliche Anpassung an die Umwelt ist heute eine andere als vor 150 Jahren, und die Wachstums- und Lebensvorgänge im Wald brauchen ihre Zeit. Wir sind aufgefordert und verpflichtet, dem Ökosystem diese Zeit zu geben. Spätestens bei dieser Erkenntnis wird klar, dass der Nutzungsverzicht nicht vorläufig, sondern dauerhaft angelegt werden muss, gekennzeichnet durch Verbindlichkeit und Rechtssicherheit. Die Abläufe im Naturwald geben uns wertvolle Hinweise für den naturnahen Waldbau auf ökologischer Grundlage, der dem Wald als Ökosystem am besten gerecht wird. Die SPD-Bundestagsfraktion bekennt sich daher zu einer ordnungsgemäßen, nachhaltigen und naturnahen Bewirtschaftung des Waldes nach den Grundsätzen der guten fachlichen Praxis. Wir sind der Meinung, dass dies die beste Garantie für ein stabiles Ökosystem ist, und daher gehören diese Grundsätze einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung in das Bundeswaldgesetz. Bundesminister Röttgen hat zur Eröffnung des Jahres der biologischen Vielfalt Anfang dieses Jahres angekündigt, ein "Bundesprogramm Biologische Vielfalt" aufzulegen. Eine konkrete Umsetzung des Beschlossenen zum Schutz der Natur sei wichtig. Wir nehmen ihn beim Wort. Das ökologische Gleichgewicht wurde an mancher Stelle empfindlich gestört. Nun ist es unser aller Pflicht, die Waldbestände zu schützen, also Ernst zu machen mit der Schaffung natürlicher Wälder. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die potenzielle natürliche Vegetation in Deutschland ist Wald. Wälder haben daher für die Biodiversität und den Artenschutz eine besondere Bedeutung. Die Ausformung einer nachhaltigen Forstwirtschaft ist in einem waldreichen Land wie Deutschland von besonderer Bedeutung. Die großen Holzvorräte in unseren Wäldern haben ein hohes Nutzungspotenzial. Holz ist zurzeit unser wichtigster nachwachsender Rohstoff. Dies gilt für die rohstoffliche Nutzung genauso wie für die energetische Nutzung. Die nachhaltige Nutzung von Holz bildet das Rückgrat einer nachhaltigen Entwicklung. Eine Fokussierung der Bewirtschaftung der Wälder allein auf die Belange der Ökologie oder der Ökonomie wird dem Anspruch an eine nachhaltige Entwicklung nicht gerecht. Wälder sind CO2-Senken. Sie sind nach dem Kioto-Protokoll anerkannt. Die Nutzung von Holz im Bau sowie für die Herstellung von Möbeln und die Erzeugung von Wärme und Strom aus Rest- und Durchforstungsholz liefern einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz und stärken gleichzeitig die regionale Wirtschaft. Die christlich-liberale Koalition hat sich in ihrem Koalitionsvertrag eindrücklich zu einer verstärkten Nutzung des Rohstoffes Holz bekannt. Gleichzeitig sind wir im Begriff, das Bundeswaldgesetz zu novellieren, um die Bedingungen für die privaten und öffentlichen Waldbesitzer zu verbessern und die Nutzung von Kurzumtriebsplantagen im Sinne einer nachhaltigen Gewinnung von Biomasse zu ermöglichen. Die Wälder bieten zahlreichen Menschen einen Arbeitsplatz und ein gesichertes Einkommen, insbesondere im strukturschwachen ländlichen Raum. Insgesamt sind hierzulande in der Forstwirtschaft einschließlich der nachgelagerten Bereiche Holzwirtschaft, Papierindustrie und Holzgroßhandel nach Schätzungen des Deutschen Forstwirtschaftsrates, DFWR, etwa 1,2 Millionen Menschen beschäftigt. Die Bedeutung des Clusters "Forst und Holz" hat inzwischen aufgrund der wirtschaftlichen Situation Deutschlands eine deutlich höhere Wertigkeit erhalten als noch vor wenigen Jahren. Das Cluster erwirtschaftete 2008 einen Gesamtumsatz von 168 Milliarden Euro. In unserem dicht besiedelten Land haben Wälder zugleich eine besondere Bedeutung für die naturnahe Erholung sowie für die Naherholung. Repräsentative Umfragen in Großstädten ergeben, dass der Erholungsraum Wald das am häufigsten genutzte Freiraumelement darstellt. Der sonntägliche Waldspaziergang gehört bei vielen Familien zu den besonders beliebten Freizeitaktivitäten. Durch die vielgestaltige Nutzung der Wälder ergeben sich verschiedene Zielkonflikte zwischen Waldbesitzern, Erholungssuchenden und dem Naturschutz. Die letzte Bundeswaldinventur hat gezeigt, dass die Waldbesitzer insgesamt ihre Wälder sehr verantwortlich bewirtschaften. Zahlreiche FFH-Gebiete liegen in Privatwäldern sowie in Körperschaftswäldern und zeigen, dass auch eine erwerbsorientierte Bewirtschaftung vereinbar ist mit den Zielen des Naturschutzes sowie mit dem Erhalt der Biodiversität. Besondere Anforderungen des Naturschutzes können andere Nutzungsmöglichkeiten einschränken. Dazu gehört insbesondere der totale Verzicht auf Holzeinschlag. Wo aus Sicht des Naturschutzes zur Sicherung der Biodiversität Bewirtschaftungsauflagen erteilt werden, die über die Gemeinwohlverpflichtung des Grundgesetzes hinausgehen, beispielsweise Nutzungsverzicht in ausgewählten Altwaldstandorten, müssen die Waldeigentümer, zum Beispiel mit den Instrumenten des Vertragsnaturschutzes, für solche Nutzungseinschränkungen finanziell entschädigt werden. Ansprüche der Gesellschaft an eine ausschließlich naturschutzorientierte Bewirtschaftung der Wälder müssen von der Gesellschaft finanziert werden, nicht vom einzelnen Waldbesitzer. Wir setzen uns im Naturschutzbereich auch künftig vordringlich für Maßnahmen auf freiwilliger Basis und für den Vertragsnaturschutz ein. Der Naturschutz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Im Waldland Deutschland hat gerade die Forstwirtschaft zur Sicherung der biologischen Vielfalt beigetragen. Der deutsche Wald erfüllt die Ziele der Nationalen Strategie zur Sicherung der biologischen Vielfalt bereits zu über 80 Prozent und hat damit eine Vorreiterrolle. Nach unserer Einschätzung hat die deutsche Forstwirtschaft im internationalen Vergleich Vorbildcharakter. Deutschland hat sich in der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt dazu bekannt, 5 Prozent der Waldfläche bis zum Jahr 2020 einer natürlichen Waldentwicklung zu überlassen. Wir wollen in Zusammenarbeit mit den Bundesländern die Erfassung der Flächen, auf denen schon jetzt auf eine Holznutzung verzichtet wird, verbessern. Es gibt bereits geeignete Instrumente, um das beschriebene Ziel umzusetzen. Aus diesem Grund halten wir die Schaffung neuer Instrumente für nicht erforderlich. Der Erhalt der waldlichen Biodiversität in Deutschland ist nur bei der Verfolgung eines integrativen Bewirtschaftungsansatzes auf ganzer Fläche möglich. Auf vielen Flächen gilt: Schützen durch Nützen. Die Stilllegung wertvoller Einzelflächen ist ein wirksames Instrument, die Biodiversität lokal zu schützen. Dadurch werden auch umliegende, nachhaltig bewirtschaftete Flächen in ihrer Biodiversität gestärkt. Wir lehnen die pauschale Stilllegung von Waldflächen ab, die mit der Erreichung des 5-Prozent-Ziels begründet wird, und befürworten die Stilllegung von Waldflächen, die nach fachlichen Kriterien ausgewählt wird. Dabei stehen insbesondere Altwaldflächen im Fokus. Im Hinblick auf die derzeit in der Vorbereitung befindliche "Waldstrategie 2020" und den Bericht zur Umsetzung der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt halten wir die von Bündnis90/Die Grünen geforderten Maßnahmen für wenig durchdachte Schnellschüsse, die nicht geeignet sind, die Ziele bei der Schaffung des nationalen Naturwalderbes zu erreichen. Sabine Stüber (DIE LINKE): Naturwalderbe in Deutschland schaffen - warum ist das wichtig? Weil es direkt unsere Zukunftsfrage berührt: Wie schaffen wir die Anpassung an die Klimaveränderung, an die Wasserverknappung und an die immer noch rückläufige Biodiversität? Uns fehlen nicht die Visionen von einem intakten Naturhaushalt und auch nicht die erforderlichen Kenntnisse. Das alles wird in der 2007 von der Bundesregierung beschlossenen nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt aufgezeigt. Die Konsequenz zum klaren Handeln ist es, was fehlt. Für den Wald bedeutet die nationale Strategie, dass sich Vielfalt, Struktur und Dynamik der heimischen Wälder bis zum Jahre 2020 weitgehend verbessern sollen. Die Frage nach dem Wie bleibt offen. Bisher ist leider kein roter Faden erkennbar. Immerhin ein substanzielles Ziel wurde festgeschrieben: "2020 beträgt der Flächenanteil der Wälder mit natürlicher Waldentwicklung 5 Prozent der Waldfläche." Das ist erst einmal eine starke Aussage, aber auch hier erkennt man keine konkrete Herangehensweise. Die Bundesregierung benötigt offensichtlich einen Fahrplan, der die zeitlichen und inhaltlichen Schritte vorgibt, um das Ziel zu erreichen, 5 Prozent der deutschen Waldflächen bis 2020 als Naturwalderbe dauerhaft dem Prozess einer natürlichen Entwicklung zu überlassen. Deshalb unterstützen wir den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Das Ziel - die Schaffung von 5 Prozent Naturwalderbe - steht für uns außer Frage, und wir folgen den Argumenten des Antrages weitgehend. Als vordringliche Aufgabe sehen wir für ein so weitreichendes Vorhaben ein Umsetzungskonzept. So wollen wir auch das Wort "zeitnah" in dem Antrag durch einen konkreten Zeitpunkt ersetzen, bis zu dem eine Bestandsaufnahme der bisher dauerhaft aus der Nutzung genommenen Wälder vorgelegt wird. Die Größen der Waldareale mit ihren charakteristischen Lebensraumtypen bilden für uns die Grundlage für ein Umsetzungskonzept. Es gibt noch viele Fragen zur Herangehensweise und zu den Maßnahmen. Diese hat die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen in ihrem Antrag angesprochen. Neben den Maßnahmen zur Erreichung des Naturwalderbezieles muss die Bundesregierung auch die berechtigten Befürchtungen der Holzwirtschaft aufgreifen. Neben sinkenden Umsätzen werden steigende Holzimporte aus schutzwürdigen Wäldern anderer Länder erwartet, womit wiederum nur ein Verschieben von Problemen stattfinden wird. Für die Zeit bis zur Schaffung eines deutschen Naturwalderbes gebietet schon der gesunde Menschenverstand, die weitere Privatisierung bundeseigener Wälder auszusetzen - von berechtigten Ansprüchen abgesehen. Eine entsprechende Vereinbarung mit Ländern und Kommunen muss gefunden werden. Die Zusammenfassung der Naturwalderbeflächen in einem eigenen Pool begrüßen wir sehr, sehen aber zu dessen Verwaltung die Gründung eines eigens dafür vorgesehenen Dachverbandes als nicht erforderlich an. Sinnvoll ist doch, eine geeignete, bereits bestehende Struktur mit dieser Aufgabe zu betrauen. Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die alte Bundesregierung hat sich 2007 in ihrer nationalen Biodiversitätsstrategie zum Ziel gesetzt, bis 2020 5 Prozent der deutschen Wälder mit einer natürlichen Entwicklung zu erreichen, wobei unter "natürlicher Entwicklung" "aus der Nutzung genommen" oder "stillgelegt" zu verstehen ist. Bei gut 11 Millionen Hektar Wald in Deutschland sind das etwa 550 000 Hektar. Da bei den Staatswäldern der Anteil 10 Prozent betragen soll, wären das bei einem Staatswaldanteil von 33,3 Prozent im Jahr 2002 etwa 370 000 Hektar. Die neue Bundesregierung hat sich in ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage zur Schaffung eines Naturwalderbes auf 5 Prozent der bundesdeutschen Waldfläche zum Festhalten an diesem Ziel bekannt. Ich weiß nicht, wie ernst diese Aussage gemeint gewesen ist. Gemessen am politischen Handeln kann man den Eindruck gewinnen, dass die Bundesregierung nur pro forma daran festhält. Sie hat trotz mehrfacher Nachfragen bisher keinerlei Angaben dazu gemacht, mit welchen Maßnahmen sie dieses Ziel erreichen will. Daher legen jetzt wir einen Fahrplan vor, wie für Mitteleuropa typische Wälder und alle in den deutschen Wäldern lebenden Arten auf entsprechend ausgewählten Flächen geschützt werden können. Vonseiten der Waldbesitzer wird vielfach argumentiert, der Schutz der biologischen Vielfalt im Wald bedürfe keiner stillgelegten Wälder. Schließlich genügten ordnungsgemäß bewirtschaftete Forsten ohnehin allen Ansprüchen, die man aus Sicht des Naturschutzes an den Wald stellen sollte. Wobei mancher meint, das würde bereits heute gelten. Andere meinen demgegenüber, das würde zumindest dann gelten, wenn die Ansprüche des Naturschutzes flächendeckend in die Waldbewirtschaftung integriert sind, also ein integrierter Naturschutz im Wald betrieben wird. Jedoch hat jüngst die dritte Tagung zur Waldstrategie 2020 belegt, dass nichts davon zutrifft. Bedroht sind vor allem die Arten, die an die Alters- und Absterbephasen von Bäumen und an Totholz gebunden sind. Um diese zu schützen, bedarf es eines Mindestanteils an nutzungsfreien Wäldern, in denen sich pro Hektar mehr als 30 bis 60 Kubikmeter an Totholz ansammeln. Deshalb ist der dauerhafte Nutzungsverzicht für besonders schutzwürdige Waldökosysteme so wichtig. Sollte Deutschland den erheblichen Vorbehalten in der Forst- und Holzwirtschaft gegen den Nutzungsverzicht in diesem 5-Prozent-Anteil der deutschen Wälder nachgeben, macht sich die deutsche Politik international unglaubwürdig, wenn sie andererseits den Erhalt von Urwäldern und damit den Verzicht auf die Nutzung eines Teils der Wälder dieser Welt fordert. Schon aus diesem Grund sind wir verpflichtet, ein nationales Naturwalderbe zu schaffen. Doch seit zweieinhalb Jahren hat es die Bundesregierung unterlassen, für Klarheit darüber zu sorgen, wie viel Hektar Naturwald es in Deutschland tatsächlich bereits gibt. Auch das nährt den Eindruck, dass es die Bundesregierung mit diesem Ziel nicht wirklich ernst meint. Dabei könnte man das recht unbürokratisch erreichen, indem zum Beispiel eine Dachorganisation gegründet wird, in die Institutionen und Waldbesitzer ihre stillgelegten Waldflächen ohne Verzicht auf ihr Eigentum einbringen können. Diese Dachorganisation hätte die Aufgabe, einen einheitlichen Standard für die Anerkennung als verbindlich und dauerhaft nutzungsfreie Wälder festzulegen. Außerdem hätte sie den Überblick über den aktuellen Bestand. Die Unsicherheit über den Zielerreichungsgrad hätte dann ein Ende. Zur Beruhigung der Privatwaldbesitzer möchte ich sagen: Bündnis 90/Die Grünen gehen davon aus, dass das Naturwalderbe überwiegend aus Wäldern im öffentlichen Eigentum bestehen wird. Denn Nutzungsverzicht ist im Privatwald weder durch Ordnungsrecht noch durch Vertragsnaturschutz dauerhaft abzusichern. Nutzungsverzicht per Ordnungsrecht ohne eine Entschädigung käme einem enteignungsgleichen Eingriff in das Privateigentum gleich. Statt einmalig Entschädigungen oder dauerhaft Prämien an Privatwaldbesitzer zu zahlen, dürfte es meist sinnvoller sein, die betreffenden Wälder zu erwerben. Angesichts der vorliegenden Zahlen und Rahmenbedingungen kommen wir Bündnisgrüne zu der Einschätzung, dass zur Schaffung des Naturwalderbes noch erhebliche Flächen fehlen, vielleicht sogar mehrere Hunderttausend Hektar. Daher wird der Bund auch Wälder erwerben müssen. In diesem Zusammenhang wäre es kontraproduktiv, wenn der Bund 165 000 Hektar Bundeswald zunächst privatisieren würde, nur um anschließend wieder Wald für das Naturwalderbe ankaufen zu müssen. Daher fordern wir ein Moratorium für die Privatisierung von Bundeswäldern. Das ist für eine Übergangszeit auch ohne Gesetzesänderung möglich, auch wenn die bundeseigenen Waldbesitzer allesamt gesetzliche Privatisierungsaufträge haben. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/796 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Wie ich sehe, sind Sie damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 5: Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Umgang mit Guantánamo-Häftlingen - Drucksache 17/1421 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Auch damit sind Sie einverstanden. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Rüdiger Veit, Serkan Tören, Ulla Jelpke, Volker Beck und des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Ole Schröder.7 Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1421 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Wie ich sehe, sind Sie damit einverstanden. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen. Für heute sind alle Abstimmungen und Debatten erledigt. Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich bedanke mich für das lange Ausharren. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 23. April 2010, 9 Uhr, ein. Ich schließe die Sitzung und wünsche Ihnen allen einen schönen und angenehmen Abend. (Schluss: 20.17 Uhr) Berichtigung 36. Sitzung, Seite 3436 B, der zweite Redebeitrag ist zu lesen als: (Zuruf von der SPD: Dann muss das ja ein falscher Fuffziger sein!) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22.04.2010 Binder, Karin DIE LINKE 22.04.2010 Dörmann, Martin SPD 22.04.2010 Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 22.04.2010 Dr. Geisen, Edmund Peter FDP 22.04.2010 Herrmann, Jürgen CDU/CSU 22.04.2010 Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22.04.2010 Kolbe, Daniela SPD 22.04.2010 Krischer, Oliver BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22.04.2010 Kumpf, Ute SPD 22.04.2010 Laurischk, Sibylle FDP 22.04.2010 Lutze, Thomas DIE LINKE 22.04.2010 Dr. de Maizière, Thomas CDU/CSU 22.04.2010 Dr. Miersch, Matthias SPD 22.04.2010 Mißfelder, Philipp CDU/CSU 22.04.2010 Dr. Mützenich, Rolf SPD 22.04.2010 Nietan, Dietmar SPD 22.04.2010 Ostendorff, Friedrich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22.04.2010 Dr. Raabe, Sascha SPD 22.04.2010 Riegert, Klaus CDU/CSU 22.04.2010 Steinbrück, Peer SPD 22.04.2010 Dr. Volkmer, Marlies SPD 22.04.2010 Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22.04.2010 Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Jörn Wunderlich (DIE LINKE) zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung des Finanzplanungsrates (Drucksache 17/1473) (Tagesordnungspunkt 11) Das Votum der Fraktion Die Linke ist "Ablehnung". Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes (1. Telemedienänderungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 13) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Am 25. Februar 2010 hatten wir diesen Gesetzentwurf bereits in erster Lesung im Plenum. Nun kann das Gesetz in zweiter und dritter Lesung verabschiedet werden. Im parlamentarischen Verfahren war dieser Gesetzentwurf nicht Gegenstand kontroverser Diskussionen. Worum geht es genau, was regelt dieses Gesetz? Es geht erstens um die Eins-zu-eins-Umsetzung einer Richtlinie der Europäischen Union in deutsches Recht. Konkret geht es um die Richtlinie 2007/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, Audiovisuelle-Mediendienste-Richtlinie - AVMD-RL. Innerhalb des deutschen Rechts enthält das Telemediengesetz, TMG, die wirtschaftsbezogenen Regelungen für die Telemedien. Speziell sind dies die Vorschriften, die der Umsetzung einer anderen Richtlinie der Europäischen Union, 2000/31/EG, sogenannte E-Commerce-Richtlinie, dienen. Der Rundfunkstaatsvertrag der Bundesländer beinhaltet ebenfalls Regelungen zum Thema Telemedien. Diese gesetzlichen Regelungen werden durch die Vereinbarungen des Bundes und der Bundesländer aus dem Jahre 2004 zur Fortentwicklung der Medienordnung abgerundet. Es geht zweitens um einheitliche rechtliche Rahmenbedingungen. Die nunmehr in deutsches Recht umgesetzte Richtlinie erweitert den bestehenden Rechtsrahmen für die Branche. Gerade in einer Branche mit hohem Innovationstempo ist es notwendig, die rechtlichen Rahmenbedingungen ständig zu aktualisieren und den Marktteilnehmern Rechtssicherheit zu gewähren. Das neue Telemediengesetz deckt nun sämtliche audiovisuellen Mediendienste ab. Neben den bisher umfassten Fernsehdiensten sind nun auch die audiovisuellen Mediendienste auf Abruf Gegenstand des Gesetzes. Die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für audiovisuelle Mediendienste auf Abruf hatten bisher unterschiedliche Inhalte, die teilweise den freien Dienstleistungsverkehr innerhalb der Europäischen Union zu behindern und den Wettbewerb innerhalb des EU-Binnenmarkts zu verzerren drohten. Bedenkt man das erhebliche Potenzial für hochqualifizierte Arbeitsplätze, welches die neuen audiovisuellen Mediendienste auf Abruf - gerade für kleinere und mittlere Unternehmen - bieten, dann ist die Absicht der Europäischen Union, hier gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, zu begrüßen. Gerade die Prinzipien des Binnenmarktes, freier Wettbewerb und Gleichbehandlung aller Marktteilnehmer, sind Vorraussetzungen für einen transparenten und berechenbaren Markt sowie für einen problemlosen Zugang der Verbraucher zu diesen Diensten. Gleiche Wettbewerbsbedingungen und Rechtssicherheit innerhalb der Europäischen Union für die audiovisuellen Mediendienste auf Abruf sind daher unbedingt positiv zu bewerten. Aus marktwirtschaftlicher Perspektive sind aktuelle und klare rechtliche Rahmenbedingungen stets zu begrüßen. Es geht drittens um klare Begriffbestimmungen. Die neue Richtlinie der Europäischen Union und deren rechtliche Umsetzung in das deutsche Recht sorgen nun dementsprechend auch für eine klare Begriffsbestimmung. Dazu zählen die Begriffe des Diensteanbieters und des audiovisuellen Mediendienstes auf Abruf. Das Gesetz definiert solche Dienste als audiovisuelle Mediendienste auf Abruf, die nach Form und Inhalt dem Fernsehen ähnlich sind. Dies gilt dann, wenn sie sich als Massenmedien an eine breite Öffentlichkeit wenden und die Bereitstellung fernsehähnlicher Dienste Hauptzweck des Angebots ist. Ist dieses Angebot nur Nebenzweck eines Anbieters, so ist dies kein audiovisueller Mediendienst auf Abruf. Audiovisuell erfordert in diesem Fall die Übertragung bewegter Bilder mit oder ohne Ton. Der Adressatenkreis des Gesetzes ist ebenfalls eingegrenzt. Anbieter audiovisueller Mediendienste auf Abruf sind dem Gesetz nach Anbieter, welche die wirksame Kontrolle über Auswahl und Gestaltung der oben angeführten Inhalte haben. Es geht viertens um eine Klarstellung des Sitzes und des Herkunftslandes. Klarheit bringt das Gesetz ebenfalls zum Problem des Sitzes und des Herkunftslandes. Gesetz und Richtlinie stellen einerseits auf die Niederlassung des Anbieters ab, den Ort also, an dem die redaktionelle Arbeit und das damit beauftragte Personal tätig sind. Andererseits - falls dieses nicht feststellbar ist - gilt der Ort der Nutzung einer Satellitenbodenstation. Es gab fünftens keine Änderungsanträge in den Ausschüssen. Im parlamentarischen Verfahren waren keine Änderungen notwendig. Sowohl im federführenden Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, als auch im mitberatenden Rechtsauschuss sowie dem Ausschuss für Kultur und Medien wurde der Gesetzentwurf mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP, SPD und Linken bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Die Absicht, EU-Richtlinien eins zu eins umzusetzen, ist erfüllt. Über spätere Nachbesserungen kann selbstverständlich nachgedacht werden. Zunächst galt es aber, den Auftrag der Umsetzung in nationales Recht zu erfüllen, um Sanktionen zu vermeiden. Schließlich ist ebenso positiv zu bewerten, dass der Nationale Normenkontrollrat im Rahmen seines gesetzlichen Prüfauftrags keine Bedenken gegen diesen Gesetzentwurf vorbringt. Zusätzliche Informationspflichten für die Unternehmen in unserem Lande werden nicht eingeführt, geändert oder aufgehoben. Folglich sind mit diesem Gesetzentwurf auch keine zusätzlichen Bürokratiekosten verbunden, ein Umstand, der mir als Wirtschaftspolitiker große Freude bereitet. Unsere Unternehmen, gerade die kleinen und mittelständischen Unternehmen, benötigen nicht mehr Bürokratie, sondern weniger. Der vorliegende Gesetzentwurf ist mit den Bundesländern abgestimmt. Diese enge Bund-Länder-Abstimmung wird bewirken, dass die erforderlichen Umsetzungsmaßnahmen durch die Bundesländer ohne Probleme geschehen. Die Länder werden die Anforderungen aus der Richtlinie mit dem 13. Rundfunkänderungsstaatsvertrag, 13. RÄStV, umsetzen. Ich meine, es ist gut für das Ansehen des Bundestages und aller Fraktionen, wenn Gesetzesvorhaben ohne juristische Streitereien und rechtliche Unklarheiten umgesetzt werden. Die Bürger unseres Landes erwarten schnelles Handeln. In diesem Fall ist dies durch vorausschauendes Agieren gelungen. Klaus Barthel (SPD): Das Internet hat nicht nur alle gesellschaftlichen Lebensbereiche erfasst, es hat auch unsere Gewohnheiten verändert. Heute ist es beispielsweise problemlos möglich, die eigene Lieblingssendung auch über das Internet oder das Mobiltelefon zu sehen. Da die Benutzung jener audiovisuellen Mediendienste grenzüberschreitend möglich ist, stehen sie auch im Fokus der Europäischen Union. Die neuen Möglichkeiten werden von den Menschen angenommen, und das ist gut so. Die Internetbranche ist ein Wachstumsmarkt für unser Land und hat in den vergangenen Jahren viele Arbeitsplätze insbesondere in kleineren und mittelständischen Unternehmen geschaffen. Zugleich aber entstehen praktische und rechtliche Fragen, die es zu lösen gilt. Hier will und muss die Politik Schritt halten; denn es liegt auf der Hand, dass die unzählbare Nutzung des Internets und die technischen Besonderheiten Herausforderungen mit sich bringen. Das erste Telemedienänderungsgesetz greift diesen Handlungsbedarf auf. Es widmet sich der Umsetzung der europäischen Audiovisuelle-Mediendienste-Richtlinie in nationales Recht. Damit werden Telemedien in die Vorschriften der Fernsehrichtlinie aufgenommen, die in fernsehähnlicher Form audiovisuelle Inhalte anbieten. Man spricht in diesem Fall von audiovisuellen Mediendiensten auf Abruf, Ondemand. Fernsehähnlich bedeutet, dass sich die Abrufdienste vergleichbar mit Fernsehsendungen an das gleiche Publikum richten und die Nutzer zudem einen ähnlichen Regelungsschutz erwarten können. Die Bundesländer haben hierzu den 13. Rundfunkänderungsstaatsvertrag beschlossen, der am 1. April in Kraft getreten ist. Damit wir in der Europäischen Union weitgehend die gleichen Standards haben, bedurfte es einer Harmonisierung innerhalb des Fernsehbinnenmarktes. Die Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste folgt der Richtlinie "Fernsehen ohne Grenzen" aus dem Jahre 1989, die 1997 und 2007 überarbeitet worden ist. Sie führt nun weniger detailreiche, im Gegenzug aber flexiblere Vorschriften ein. So werden in der neuen Fassung die Vorschriften für die Fernsehwerbung modernisiert. Ziel ist es, audiovisuelle Inhalte besser zu finanzieren. Hiervon profitieren vor allem private Anbieter, die ihre Dienste mit Werbung finanzieren. Mit den neuen Regelungen entstehen verbesserte Wettbewerbsbedingungen und Rechtssicherheit für Sender und Dienste der Informationsgesellschaft. Sie stärken die Wirtschaft und nützen den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Dabei steht außer Frage, dass die Begrenzungen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie bisher bestehen bleiben. Es wird also auch künftig keine Werbung an Sonn- und Feiertagen und nach 20 Uhr geben. Aus den genannten Gründen wird meine Fraktion dem Gesetzentwurf zustimmen. Ich will aber nicht verhehlen, dass mit Blick auf das Telemediengesetz noch ein Stück Arbeit auf uns wartet. Die Regelungen müssen mit Blick auf die rasanten Veränderungen im Bereich der elektronischen Kommunikation auf der Höhe der Zeit bleiben. Es ist daher weitgehend unstrittig, dass es Änderungs- und Ergänzungsbedarf am Telemediengesetz gibt. Wir mussten seinerzeit im Januar 2007 dieses Gesetz unter Termindruck verabschieden, damit es zeitgleich am 1. März 2007 mit dem neuen Rundfunkstaatsvertrag der Länder in Kraft treten konnte. Damit wurden das frühere Teledienstegesetz und der Mediendienste-Staatsvertrag zusammengeführt. Bestimmte Fragen, wie beispielsweise die Anbieterhaftung, konnten wir damals nicht mehr vollständig klären. Hinzu kommt, dass es sich um eine komplizierte Rechtsmaterie handelt, die nicht nur auf sich ständig verändernde Neuentwicklungen reagieren, sondern auch auf neue Geschäftsmodelle und Missbrauchstatbestände angewendet werden muss. Es besteht insbesondere Handlungsbedarf im Bereich der Fragen von Verantwortung und Haftung der Diensteanbieter. Das bezieht sich auf die Klärung der Störerhaftung sowie Fragen, die von den Haftungsbestimmungen der einschlägigen E-Commerce-Richtlinie nicht erfasst werden. Diese sind daher bisher im Telemediengesetz nicht ausdrücklich geregelt worden, was insbesondere Folgen für Suchmaschinen und Hyperlinks hat. Die Störerhaftung ist allerdings eine entscheidende Frage. Die Rechtsprechung beurteilt die Unterlassungsansprüche nach allgemeinen Grundsätzen. Daher werden Unterlassungsansprüche von einem bestimmten Fall auf "kerngleiche" Rechtsverletzungen ausgedehnt. Was kerngleich ist, ist jedoch immer noch unklar. Daher gibt es insbesondere für kleinere Diensteanbieter ein hohes Haftungsrisiko. Aus unserer Sicht muss ein gerechter und praktikabler Lösungsweg gefunden werden, der die unterschiedlichen Interessen von Rechteinhabern, Verbrauchern und Internetunternehmen berücksichtigt und in eine vernünftige Balance bringt. Auch muss geprüft werden, ob und inwieweit es einen Handlungsbedarf für die Speicherung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten in sozialen Netzwerken gibt. Dies gilt insbesondere für Unternehmen wie Facebook, die ihren Sitz nicht in Deutschland oder der EU haben. Hier muss möglicherweise noch klarer formuliert werden, dass die Verwendung und Weitergabe von personenbezogenen Daten nur bei ausdrücklicher Einwilligung der Nutzerinnen und Nutzer erfolgen darf. An dieser Stelle kann ich die Bundesregierung nur nochmals dazu auffordern, schnellstmöglich einen weiteren Gesetzentwurf vorzulegen, der den hier skizzierten Handlungsbedarf aufgreift. Wir werden auch immer ungeduldiger, wenn es darum geht, die Probleme des Datenschutzes und des Verbraucherschutzes, gerade in der elektronischen Kommunikation, zu lösen. Es reicht einfach nicht, wenn sich die zuständige Ministerin öffentlichkeitswirksam, von der Presseerklärung zur Talkshow und zurück, als Rächerin der Abgezockten inszeniert. Immer lauter stellt sich doch die Frage, wann der Gesetzgeber gegen die miesen und unlauteren Praktiken und gegen die Gesetzeslücken, gerade im Internet, vorgeht. Deshalb geht der Entschließungsantrag der Grünen, Drucksache 17/8718, in die richtige Richtung. Allerdings stellt er Positionen und Forderungen auf, die einer eingehenden Beratung bedürfen. Andere Punkte fehlen. So etwas kann man hier nicht einfach aus dem Ärmel schütteln. Deshalb enthalten wir uns bei der Abstimmung über den Entschließungsantrag. Claudia Bögel (FDP): Der vorliegende Entwurf soll die Audiovisuelle-Mediendienste-Richtlinie umsetzen. Das Ziel ist ein einheitlicher Rechtsrahmen für alle audiovisuellen Mediendienste, da ein europäischer Binnenmarkt zwingend für alle Wettbewerber gleiche Spielregeln erforderlich macht. Denn es ist ja unstrittig, dass Diensteangebote über das Internet, die alle nationalen Grenzen überschreiten, nur im europäischen oder weltweiten Rahmen behandelt werden können, wenn man ihr wirtschaftliches Potenzial bestmöglich ausschöpfen will. Das ist das Ziel, und es bedarf keiner Aufforderung der Opposition, die Reform des TMG immer weiter vo-ranzutreiben. Es ist unser ureigenstes Anliegen, das wir auch wiederholt deutlich gemacht haben. Wenn Sie zum Beispiel einmal einen Blick in den Koalitionsvertrag werfen: Hier steht schwarz auf weiß, dass wir das TMG fortentwickeln wollen. Und wir stehen zu unserem Wort. Seien Sie versichert: Hier wird nichts auf die lange Bank geschoben, sondern sorgfältig geprüft und schließlich, mit dem Ziel, einen ausgewogenen Interessenausgleich zu bekommen und zugleich auch mehr Rechtssicherheit zu schaffen, umgesetzt. Aber genau bei diesem ausgewogenen Interessenausgleich hinkt Ihr Antrag, liebe Kollegen von den Grünen. Einerseits wollen Sie keine Vorabkontrolle und keine Überwachung, sondern ein freies Internet. Andererseits aber fordern Sie hohe Anforderungen an den Datenschutz, und die Urheberrechte sollen gewahrt werden. Das sind alles hehre Ziele, deren gänzliche und prompte Erfüllung ich mir auch wünschen würde; aber es gibt eben keine eierlegende Wollmilchsau, sosehr wir uns das vielleicht alle manchmal wünschen mögen. Ich möchte kurz auf einige der Punkte Ihres Antrages im Einzelnen eingehen. Sie fordern eine Klarheit bei der Anbieterdefinition. Warum? Es gibt hier keine Unklarheiten im TMG. Allenfalls im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag lässt sich eine solche feststellen, aber das hat nichts mit dem TMG zu tun. Der Anbieterbegriff entspricht im Übrigen den Vorgaben der E-Commerce-Richtlinie. Zu Ihrem zweiten Punkt. Eine verpflichtende Vorabkontrolle der Inhalte durch Anbieter bei Web-2.0-Angeboten soll definitiv ausgeschlossen werden. Hierzu möchte ich § 7 Abs. 2 TMG zitieren: Diensteanbieter im Sinne der §§ 8 bis 10 sind nicht verpflichtet, die von ihnen übermittelten oder gespeicherten Informationen zu überwachen oder nach Umständen zu forschen, die auf eine rechtswidrige Tätigkeit hinweisen. Anbieter von Web-2.0-Angeboten, die sie mit Ihrer Forderung hier geschützt sehen wollen, sind das also bereits. Sie sind nach § 10 TMG als regelmäßige Hosting-Anbieter anzusehen und fallen damit unter diese Norm. Ihr Entschließungsantrag sieht außerdem die Schaffung von Klarheit für die Haftung von Zugangsanbietern wie Suchmaschinen vor. Das ist ganz im Sinne der FDP, und auch wir unterstützen eine Klärung der Verantwortlichkeit von Suchmaschinenanbietern. Zu den verschiedenen Punkten den Verbraucherschutz und den Verbraucherdatenschutz betreffend ist von unserer Seite zu sagen, dass die Verwendung von und der Handel mit Daten nur bei ausdrücklicher Einwilligung bereits geregelt sind. Nach § 12 Abs. 1 ist dies nur genehmigt, soweit es durch Gesetz erlaubt ist oder der "Nutzer eingewilligt hat". Außerdem noch ein Wort zu der von Ihnen geforderten Selbstverpflichtung sozialer Netzwerke, deutsche Datenschutzstandards einzuhalten. Soweit es sich um die in Deutschland niedergelassenen Anbieter handelt, ist es gar keine Frage, dass sie das deutsche Datenschutzrecht einhalten müssen. Natürlich müssen und werden mit den anderen Anbietern Gespräche geführt werden, sodass man auch hier zu einer Einigung gelangt. Doch unterschätzen Sie den Einfluss der Nutzer selbst hier nicht! Schon oft war zu beobachten, dass die sozialen Netzwerke die Anliegen ihrer Community sehr ernst nehmen und ihr Handeln danach ausrichten. Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Bundesregierung sich aus meiner Sicht intensiv mit der von Ihnen aufgeworfenen Fragestellung beschäftigt und einige Punkte auch bereits gesetzlich festgelegt hat. Doch Sie wissen genauso gut wie wir, dass das Thema erheblich komplexer ist als Ihr Antrag. Hier muss daher Qualität vor Schnelligkeit gehen. Darum, nehme ich an, haben Sie auch der Einsetzung der Enquete-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft" zugestimmt. Ich bin sicher, dass in diesem Gremium das Thema Rechtssicherheit und Rechtsklarheit für Diensteanbieter bearbeitet und diskutiert werden wird, und selbstverständlich ist auch meine Fraktion dafür. Eines ist aber klar: Schnellschüsse sind in jedem Fall alles andere als förderlich und ganz und gar hinderlich. Der Entschließungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen wird von meiner Fraktion daher abgelehnt werden. Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): Worüber diskutieren wir? Die Bundesregierung muss das erst vor drei Jahren in Kraft getretene Telemediengesetz korrigieren, da die EU-Fernsehrichtlinie das erfordert. Inhaltlich geht es dabei um Änderungen im Geltungsbereich, in den Begriffsbestimmungen und Regelungen zum Sitzland der audiovisuellen Mediendienste. Das ist im Grunde relativ unproblematisch und folgt der üblichen Gesetzgebungsroutine. Problematisch ist aber Folgendes: Als das Telemediengesetz im Februar 2007 verabschiedet wurde, gab es bereits mehrere schwierige Punkte. Schon damals war klar, dass in der Frage der Haftung für fremde Inhalte nachgebessert werden muss. Bei der Haftungsfrage müssen die Inhalte- und Zugangsanbieter wissen, was erlaubt und was verboten ist. Fakt ist, dass seit Inkrafttreten des Telemediengesetzes Gerichte in Deutschland in zahlreichen Urteilen in diesen und ähnlichen Fragen völlig unterschiedlich entscheiden. Wir sagen klipp und klar: Wir brauchen eine gesetzliche Klarstellung, damit beispielsweise Webseitenbetreiber und Inhalteanbieter künftig nicht - im vorauseilenden Gehorsam - Überwachungspflichten für fremde Inhalte ausüben müssen. Auch zu diesem Beispiel kann ich sagen: Das Telemediengesetz in der aktuellen Fassung ist niedergeschriebene Rechtsunsicherheit. Das Haus des Bundeswirtschaftsministers ist in der Lage, quasi über Nacht ein Internetsperrgesetz vorzulegen, das ursprünglich ebenfalls als eine Änderung des Telemediengesetzes angelegt war. Aber die immer wieder eingeforderte grundlegende Novellierung des Telemediengesetzes kann dieses Haus bis heute nicht vorlegen. Ich behaupte: Das ist ein Armutszeugnis für das Bundeswirtschaftsministerium. Meine Fraktion hat in der letzten Legislaturperiode Änderungsvorschläge zur Novellierung des Telemediengesetzes vorgelegt. Es ist uns wichtig, rechtliche Klarheit über die Haftung von Anbietern von Multimediadiensten wie Foren, Chats, Gästebücher und Blogs zu schaffen. Wir wollen den Datenschutz stärken. Daten dürfen nicht an eine nahezu beliebige Zahl von Interessenten aus Polizei, Geheimdienst und Militär herausgegeben werden. Wir fordern für die Herausgabe von personenbezogenen Daten einen Erlaubnisvorbehalt durch einen Richter oder eine Richterin. Außerdem fordern wir, dass die Erstellung von Nutzerprofilen durch Diensteanbieter nur nach vorheriger ausdrücklicher Einwilligung möglich ist. Auch die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und der FDP haben damals Änderungen vorgelegt. Wir dürfen gespannt sein, ob die FDP sich treu bleibt und als Regierungspartei ihre Vorschläge wieder einbringt. An dieser Stelle noch einmal zur EU-Fernsehrichtlinie, die ja die Grundlage für das von der Bundesregierung vorgelegte 1. Telemedienänderungsgesetz bildet. Mit der EU-Fernsehrichtlinie wurden zwei Dinge für die Anbieter von audiovisuellen Dienstleistungen auf dem europäischen Binnenmarkt getan: Werbebeschränkungen wurden abgebaut und Bedingungen für Werbeformen und Produktplatzierungen neu festgelegt. Die EU-Fernsehrichtlinie harmonisiert zuallererst Geschäftsbeziehungen. Es geht ums Geldverdienen und um Rendite. Verbraucherrechte, die Bereitstellung eines vielfältigen kulturellen Programmangebots und die Sicherstellung journalistisch-redaktioneller Autonomie spielen keine Rolle. Zum 1. April dieses Jahres ist nun der 13. Rundfunkänderungsstaatsvertrag in Kraft getreten. Mit ihm setzen die Bundesländer die Deregulierungsbestimmungen der EU für den Rundfunk in nationales Recht um. Bezahlte Produktplatzierungen müssen nun zu Beginn und zum Ende einer Sendung durch einen Hinweis gekennzeichnet werden, unbezahlte nicht. Davon profitieren die privaten Fernsehsender und die werbetreibende Industrie, nicht aber die Zuschauerinnen und Zuschauer. Die Länder haben es versäumt, hier ihren Ermessensspielraum zu nutzen. Denn die Richtlinie ließ zur Umsetzung der Werbebestimmungen für den Rundfunk ausdrücklich Ausnahmen zu. Das ist der Unterschied zu den vorliegenden Änderungen im Telemediengesetz, die nach der EU-Richtlinie tatsächlich unausweichlich sind. Aus diesem Grund werden wir uns den heutigen Änderungen des Telemediengesetzes nicht verweigern. Diese Änderungen sind, wie eingangs schon gesagt, rein formaler Art. Meine Damen und Herren von der Koalition, die Aufgabe einer grundlegenden Überarbeitung des Telemediengesetzes bleibt bestehen. Hier müssen Sie nacharbeiten. Das fordert auch der heute ebenfalls zur Diskussion und zur Abstimmung anstehende Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Diesem können wir ausdrücklich zustimmen. Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Telemediengesetz soll Fragen des Internets regeln. Es ist sozusagen das Internetgesetz. Aber ganz offensichtlich ist das zur schwarz-gelben Bundesregierung noch nicht so richtig durchgedrungen. Denn sonst hätte sie vielleicht endlich die Notwendigkeit gesehen, einige wichtige Problemfelder bei der Anbieterhaftung, dem Datenschutz und dem Verbraucherschutz anzugehen. Leider Fehlanzeige! Lassen Sie mich einige Beispiele nennen: Bei der Anbieterhaftung muss klargestellt werden, ob Suchmaschinen etwa wie Zugangsanbieter behandelt werden sollen. Die Anbieter von Blogs und Foren müssen wissen, woran sie sind. Wenn sie verpflichtet werden würden, die Beiträge auf ihren Seiten stündlich, ja minütlich oder sogar jede Sekunde auf mögliche rechtswidrige Inhalte zu prüfen, würde das diese Anbieter in ihrer Existenz bedrohen. Damit würde man eine Szene kaputtmachen, die für Vielfalt in öffentlichen Debatten sorgt und eine Alternative zum Mainstream-Journalismus darstellt. Gegenwärtig liegen ziemlich divergierende Gerichtsentscheidungen zur Reichweite der bestehenden Haftungsregelungen vor. Vereinzelt wird sogar die Auffassung vertreten, es bestehe eine allgemeine Verpflichtung zur präventiven Ausforschung und Überwachung der auf Userplattformen eigenständig generierten Inhalte. Das schafft Rechtsunsicherheit und bestärkt diejenigen, die in Verkennung des Mediums und seiner inzwischen gewachsenen kommunikativen gesellschaftlichen Bedeutung in der Tendenz einer Vorabzensur von Inhalten das Wort reden. Diese Unklarheiten sollten gesetzlich aus dem Weg geräumt werden. Leider findet sich nichts davon im Gesetzentwurf - trotz der FDP auf der Regierungsbank! Die Bundesregierung muss sich klar positionieren, was sie wem im Internet an Haftungspflichten auferlegen will, und sich für einheitliche Regelungen einsetzen, denn das Internet macht an Länder- oder Landesgrenzen nicht halt. Sie muss das dann mit den Bundesländern verhandeln - beim Jugendmedienschutz-Staatsvertrag wurde das leider versäumt -, und sie muss es bei der EU - Stichwort: EU-Netzsperren - durchsetzen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist reines Stückwerk. Er setzt lediglich die Anforderungen der Audiovisuellen Mediendienste-Richtlinie der EU um. Aber das genügt nicht. Auch in Fragen des Datenschutzes geht die Bundesregierung mit dem Gesetzentwurf nicht die notwendigen Schritte. Die bestehenden Regelungen tragen dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nicht ausreichend Rechnung. So sehen sich etwa Nutzerinnen und Nutzer immer häufiger damit konfrontiert, dass ihre persönlichen Daten im Internet veröffentlicht werden. Im Telemediengesetz fehlen auch nach dieser Gesetzesänderung effektive Regelungen für die Verwendung und den Handel mit personenbezogenen Daten. Das Gesetz schützt die Nutzerinnen und Nutzer auch nicht hinreichend vor personalisierter Werbung. Userinnen und User erhalten in der Regel automatisch personalisierte Werbung, solange sie dem nicht gezielt widersprechen. Auch fehlt noch immer eine Verpflichtung für die Betreiber der Plattformen, darüber aufzuklären, wofür die von Nutzerinnen und Nutzern bereitgestellten Daten verwendet werden sollen. Kundenprofile werden so, ohne Transparenz gegenüber den Kunden, an die Werbewirtschaft verkauft. Eine Nichteinwilligung in die Weitergabe personenbezogener Daten darf auch bei nicht marktbeherrschenden Unternehmen nicht zum Ausschluss aus dem Angebot führen. Wir Grüne wollen mehr Daten- und Verbraucherschutz im Telemediengesetz, so wie wir es in unserem Entschließungsantrag formuliert haben. Kundinnen und Kunden müssen durch Opt-in darüber entscheiden können, ob sie eine Weitergabe ihrer Daten möchten. Künftig muss der Grundsatz gelten, dass Werbung nur mit ausdrücklicher Einwilligung der Betroffenen erfolgen darf. Die Forschung im Bereich von sogenannten Privacy Enhancing Technologies, also datenschutzspezifischen Produkten, muss gefördert werden. Neue Produkte und Verfahren sollten zudem umfassend auf ihre Datenschutzfreundlichkeit und Datensicherheit geprüft werden können. Hier ist die Vorlage des längst überfälligen Auditierungsgesetzes dringend nötig. Außerdem wollen wir die Verfolgung und Vermeidung von Spam verbessern. Bislang sind die Schutzmöglichkeiten gegen ungewollt zugesandte Spam-Mails für Verbraucherinnen und Verbraucher überaus schwierig. Für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten wie Spam-Mails muss eine zuständige Verwaltungsbehörde konkret benannt werden. Aus Sicht unserer Fraktion sollte die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen diese Zuständigkeit erhalten. Die Bundesnetzagentur könnte zumindest eine bundeslandübergreifende Verfolgung gewährleisten. Sie sehen anhand meiner Beispiele: Das Gesetz ist völlig unzureichend. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, ich fordere Sie auf, uns so schnell wie möglich ein an die Realitäten des Internets angepasstes Telemediengesetz vorzulegen. Wir brauchen klare Definitionen von Anbietern, klare und einheitliche Regelungen zu Haftungsfragen, wir brauchen einen effektiveren Verbraucherschutz, der die Verfolgung und Unterlassung von ungewollten Spam-Mails ermöglicht, und wir brauchen ein Gesetz, das die persönlichen Daten der Nutzerinnen und Nutzer wirksam schützt. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes (Tagesordnungspunkt 15) Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Eine weltweite Studie der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2008 berichtet, dass alle sechs Sekunden ein Raucher stirbt. Tabak steht demzufolge an erster Stelle der vermeidbaren Todesursachen. Deutschland zählt zu den zehn Ländern, wo es die meisten Raucher weltweit gibt, einer von zehn Todesfällen gehe auf Tabak zurück, weltweit insgesamt 5,4 Millionen pro Jahr. Der aktuellen GEDA-Studie des Robert Koch-Instituts zufolge rauchten im Jahr 2009 in Deutschland 33,9 Prozent der Erwachsenen. Im Drogen- und Suchtbericht aus dem Jahr 2009 lesen wir, dass etwa 140 000 Menschen jedes Jahr vorzeitig an den direkten Folgen des Rauchens sterben, etwa 3 300 Menschen an Folgen des Passivrauchens. Die volkswirtschaftlichen Kosten des Rauchens für die Gesellschaft werden auf 18,8 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Besonders alarmierend: Das durchschnittliche Einstiegsalter in den Zigarettenkonsum liegt bei etwa 13 Jahren. Das sind Zahlen, die aufschrecken! Wir kämpften deshalb die letzten elf Jahre gemeinsam mit der Bundesregierung und der Drogenbeauftragten Frau Bätzing mit aufeinander abgestimmten präventiven, gesetzlichen und strukturellen Maßnahmen gegen den hohen Tabakkonsum, aber auch um Regulierung und Angebotsreduzierung. Stellvertretend seien hier die kontinuierliche Tabaksteuererhöhung, die Einführung von Warnhinweisen auf Zigarettenpackungen oder auch die Aufnahme eines Paragrafen zum Nichtraucherschutz in die Arbeitsstättenverordnung genannt. Jugendlichen dürfen Tabakwaren in Automaten seit dem 1. Januar 2009 nur noch dann angeboten werden, wenn durch Aufsicht bzw. technische Vorrichtung sichergestellt ist, dass der Bezug von Zigaretten für Personen unter 18 Jahren an Zigarettenautomaten nicht möglich ist. Zusätzlich verstärkten wir die Suchtprävention und Suchtberatung und Behandlung. "Be Smart - Don't Start"- oder "Rauchfrei"-Wettbewerbe sprachen zum Beispiel direkt Jugendliche an, den Einstieg in das Rauchen zu verzögern bzw. mindestens vier Wochen nicht zu rauchen. Langfristig gesehen ist in der deutschen Erwachsenenbevölkerung nur ein geringfügiger Rückgang des Nikotinkonsums erkennbar. Jedoch Dank der Programme und Förderungen des Nichtrauchens in Schulen ist ein Rückgang der Raucherquote unter Kindern und Jugendlichen offensichtlich. Und es findet - langsam - ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel statt, Nichtrauchen wird immer stärker zur sozialen Norm. Diese kleinen Erfolge dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass noch viel zu tun ist. Heute beschließen wir die Umsetzung der sogenannten Audiovisuelle-Mediendienste-Richtlinie. In Anbetracht der neuen Übertragungstechniken ist es notwendig, nicht nur wie bisher für das Fernsehen als das traditionelle audiovisuelle Medium Regeln zu schaffen. Für "Audiovisuelle Medien auf Abruf" oder einfacher gesagt Videos, egal ob mit oder ohne Ton, wird heute mit der Umsetzung der Richtlinie Rechtssicherheit in Deutschland geschaffen. Danach ist jede Form der audiovisuellen kommerziellen Kommunikation für Zigaretten und andere Tabakerzeugnisse, die Produktplatzierung sowie das Sponsoring von Sendungen durch Unternehmen, deren Haupttätigkeit die Herstellung oder der Verkauf dieser Produkte ist, untersagt. Uns ist bewusst: Alle Formen der Werbung für Tabak-erzeugnisse sind noch immer nicht erfasst. Diesem Schritt müssen weitere folgen, damit insbesondere Jugendliche so wenig wie möglich in Kontakt mit Tabakwerbung kommen. Ich denke da insbesondere an das Verbot von Tabakwerbung auf Plakaten und Postern. Große Teile der Industrie sind mit uns in dieser Forderung auf einer Linie. Sollte eine wirksame Selbstregulierung nicht erfolgen, fordern wir hier dringend gesetzliche Regelungen. Das Generaldirektorat der Europäischen Kommission für Gesundheit und Verbraucherschutz berät zurzeit Überarbeitungen der Tabakproduktrichtlinie. Fünf Schwerpunkte kristallisieren sich dabei heraus: die Anpassung des Geltungsbereiches, die Änderung der Kennzeichnungsanforderungen - einschließlich Warnhinweise -, die Einführung von Berichterstattungs- und Registrierungsvorhaben, die Überarbeitung der Regulierung der Inhaltsstoffe sowie die Einführung einer Regulierung der Verkaufs- und Vertriebsformen. Wir wollen den Diskussionsprozess eines stärkeren Nichtraucherschutzes aktiv begleiten. Dr. Erik Schweickert (FDP): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des vorläufigen Tabakgesetzes setzen wir eine Europäische Richtlinie aus dem Jahr 2007 um. Ja, Sie hören richtig, eine Richtlinie aus dem Jahr 2007. Denn die große Koalition hat es innerhalb von zwei Jahren nicht fertiggebracht, für eine Umsetzung zu sorgen. Aber wie in den anderen Politikbereichen auch wird deutlich: Die FDP steht für Verlässlichkeit. Wir bringen voran, wir setzen um. Aber, und das gestehe ich der großen Koalition ja zu, es gäbe durchaus auch gute sachliche Gründe gegen das Gesetz. Wie Sie sicherlich wissen, stehen wir Liberale einer Einschränkung von Werbeverboten sehr kritisch gegenüber. Verbote bevormunden den Verbraucher. Was frei verkäuflich ist, soll auch beworben werden dürfen. Statt auf dirigistische Eingriffe wie Werbeverbote haben wir Liberale immer auf Selbstverpflichtungen gesetzt, die häufig genauso erfolgreich wirken. Durch Verbote den Konsum steuern zu wollen, ist ein staatsdirigistischer Trugschluss - das betrifft alle Instrumente der Kommunikationspolitik, also Werbung genauso wie Sponsoring und Product Placement. Bislang hat mir auch noch keiner überzeugende Studien zeigen können, in denen ein Zusammenhang von Product Placement und Konsumverhalten bewiesen wird. Außerdem zementieren Sponsoringverbote nur Markenbilder und fördern dadurch die Großen der Branche. Nun also setzen wir eine Richtlinie der Europäischen Union um, weil wir die rechtliche Bindung der Entscheidungen auf europäischer Ebene anerkennen und respektieren. Denn wir kommen unserer Regierungsverantwortung nach - anders als die Große Koalition. Der Gesetzentwurf ist Teil der EU-Richtlinie für sogenannte audiovisuelle Mediendienste. Die Vorgaben der Europäischen Kommission setzen wir eins zu eins in nationales Recht um und kommen somit unseren Verpflichtungen nach. Künftig wird das Sponsoring von Fernsehsendungen durch Tabakunternehmen und das Product Placement von Tabakerzeugnissen und Tabakunternehmen verboten sein. Unter Product Placement ist die gezielte Darstellung eines Kommunikationsobjektes als dramaturgischer Bestandteil einer Video- oder Filmproduktion gegen finanzielle oder sachliche Zuwendungen zu verstehen. Man kann darüber streiten, ob es unbedingt ein Tabakunternehmen sein muss, das mit Geld sein Produkt in audiovisuellen Medien platziert. Insofern kann man der Richtlinie ja auch durchaus positive Aspekte abgewinnen. Eins-zu-eins-Umsetzung bedeutet, dass wir vom Begriff des Product Placements im engeren Sinne ausgehen. Dieses meint die Platzierung von Markenartikeln, nicht jedoch die Platzierung unmarkierter Produkte. Auch die Sozialdemokraten sollten im Übrigen ein großes Eigeninteresse an dieser Form der Umsetzung haben. Denn ansonsten wäre die SPD ja bald gar nicht mehr positiv im Fernsehen präsent. Interviews mit der letzten SPD-Ikone Helmut Schmidt dürften dann ja gar nicht mehr ausgestrahlt werden. Jeglichen Rufen aus den linken Reihen, die über eine Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinie hinausgehen, erteilen wir eine klare Absage. Eine Ausweitung des Tabakwerbeverbots auf Plakatwerbung und andere Werbeformen ist aus bereits genannten Gründen unangemessen. Werbung ist integraler Bestandteil der Marktwirtschaft. Sie basiert auf einem freien und fairen Wettbewerb. Die legale Herstellung und der legale Vertrieb eines Produktes bedürfen der Möglichkeit der legalen Bewerbung. Wir setzen nicht auf Verbote, sondern auf Informationen und Aufklärung über gesundheitliche Folgewirkungen des Tabakkonsums. Ein Werbeverbot halten wir als Präventionsmaßnahme für nicht geeignet. Stattdessen brauchen wir eine gesellschaftliche Sensibilisierung, die in der Schule beginnt, über den Freundeskreis und die Familie. Und mit Verlaub, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Ihre These, dass Tabakwerbung dazu führe, dass Jugendlichen der Ausstieg aus dem Rauchen erschwert werde, ist doch nun wirklich an den Haaren herbeigezogen. Das wäre ja so, als wenn überzeugte Liberale durch Parteiwerbung dazu gebracht würden, zukünftig die Grünen zu wählen. Auch das wird nicht passieren, das sage ich Ihnen. Auch der von Ihnen aufgemachte Zusammenhang von Tabakwerbung und Zigarettenkonsum lässt sich bei genauerem Hinsehen nicht halten. Denn der Zigarettenkonsum ist bereits vor der Einführung des Tabakwerbeverbots in Zeitungen, Zeitschriften und im Internet im Jahr 2007 deutlich rückläufig gewesen. Der Argumentation zu folgen, dass Werbung Verbraucher geradezu zwanghaft zu einem Fehlverhalten verleite, entmündigt die Bürgerinnen und Bürger, statt auf Aufklärung und Verbraucherbildung zu setzen und so die Mündigkeit zu stärken. Ein über die Eins-zu-eins-Umsetzung hi-nausgehendes Tabakwerbeverbot ist Ausdruck eines Staatsverständnisses, das die Verantwortung des Einzelnen zugunsten einer Staatsverantwortung abgibt. SPD, Linke und Grüne begegnen jeder verbraucherpolitischen Herausforderung mit einem Verbot. Als FDP nehmen wir die Gesundheitsgefahren des Rauchens und damit den Gesundheits- und Verbraucherschutz sehr ernst. Aber die übliche Verbots- und Symbolpolitik à la Künast oder Höhn hilft dabei nicht weiter. Das kann keine liberale Politik sein. Deshalb werden wir eins zu eins umsetzen. Karin Binder (DIE LINKE): Die Linke fordert ein generelles Werbeverbot für Tabakwaren, um Jugendliche und Heranwachsende vor den gesundheitlichen Gefahren des Rauchens besser zu schützen. Rauchen schadet der Gesundheit. Das ist allgemein bekannt. Jedem Erwachsenen steht es dennoch frei, zur Zigarette zu greifen. Es geht hier auch nicht darum, das Rauchen zu verbieten. Etwas anderes ist es aber, wenn Tabakkonzerne mit Werbung gezielt Jugendliche und Heranwachsende ansprechen, um sie zum Rauchen zu verleiten. Die Auswirkungen des Nikotingenusses sind bei dieser Gruppe besonders gesundheitsschädlich. Die Folgen zeigen sich aber erst viele Jahre später. Aus diesem Grund ist die Tabakwerbung im Fernsehen verboten. Mit ihren Marketingmethoden haben die Zigarettenhersteller diese Einschränkung jedoch geschickt umschifft. Sie werben indirekt durch Produktplazierung und im Internet. Die EU hat darauf reagiert und verbietet nun das Sponsering von Sendungen und die Produktplazierung in TV und Internet. Die Ausweitung auf weitere Medien war also auf jeden Fall nötig, und die vorliegende Regelung stellt eine Verbesserung dar. Natürlich hinkt Deutschland aber auch hier wieder einmal hinterher. Schon Ende letzten Jahres hätte die EU-Richtlinie hierzulande umgesetzt werden müssen. Aber der Druck der Tabaklobby bremst ein schnelles Vorgehen zugunsten des Gesundheitsschutzes bei Jugendlichen. Noch viel schlimmer: Das Werbeverbot wird nur halbherzig umgesetzt. Denn auch nach der neuen Regelung bleiben den Zigarettenherstellern ausreichend Lücken, um Jugendliche erfolgreich anzusprechen: Werbung im Kino, Direktwerbung vor Kneipen und Onlineshops im Internet, um nur einige Beispiele zu nennen. Das Verbot der Produktplatzierung und des Sponsorings bei Tabakwaren ist also ein Schritt in die richtige Richtung, greift aber deutlich zu kurz. Die Bundesregierung setzt nur die Minimalstandards um, statt die Chance zu nutzen, ein einheitliches Werbeverbot zum Schutz der Gesundheit zu schaffen. Die Verhinderung einer klaren Regelung hat bei der christlich-sozialen Union aber Tradition: Schon der Vorgänger der heutigen Verbraucherschutzministerin, Herr Seehofer, hatte seine Probleme mit dem Nichtraucherschutz. Nach seiner Auffassung hat die Einschränkung des Nikotingenusses "die bayrische Volksseele verletzt". Schon 2006 wurde die Bundesregierung in Sachen Werbeverbot erst auf Druck der EU-Kommission mit Androhung von Strafzahlungen tätig. Auch jetzt musste Brüssel erst mit den Säbeln rasseln. Fazit: Wieder einmal gehen bei Schwarz-Gelb Wirtschaftsinteresse vor Verbraucherschutz. Das ist für die Linksfraktion nicht hinnehmbar. Wir fordern die Bundesregierung auf: Nehmen sie die Gesundheitsvorsorge endlich ernst! Setzen sie ein umfassendes Werbeverbot für Tabakwaren durch! Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 140 000 Menschen sterben nach Angaben der Deutschen Krebshilfe in Deutschland jährlich an den Folgen des Rauchens. Nach Schätzungen des Deutschen Krebsforschungsinstitutes verursacht das Rauchen Gesamtkosten von über 33 Milliarden Euro für unsere Volkswirtschaft und das Gesundheitswesen. Angesichts dieser Zahlen ist der Regierungsentwurf zur Änderung des Tabakgesetzes eine armselige Minimallösung, welche vor allem die Interessen der Tabakindustrie im Blick hat. Die vorgelegte Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinie verbietet nur den eng begrenzten Bereich der Werbung in "audiovisuellen Medien auf Abruf". Damit bleibt Deutschland ein Tabakwerbeparadies in der EU. Bei der Plakatwerbung, die nur noch in Deutschland und Griechenland erlaubt ist, sind wir Schlusslicht in Europa. Auch in der Kinowerbung schon ab 18 Uhr darf munter weitergequalmt werden. Die Werbung in Tankstellen und Kiosken, wo neben Postern und anderen Werbemitteln zunehmend Werbefilmchen in Endlosschleife laufen, soll auch mit dem neuen Gesetz bestehen bleiben. Der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft, ZAW, jubelt bereits, weil die audiovisuelle Werbung in Verkaufsstellen und im Rahmen des Internetversandhandels nicht von der Gesetzesänderung betroffen sei. Solange die Tabakindustrie die bestehenden Werbeverbote durch solche Schlupflöcher umgehen kann, wird die Tabakprävention geschwächt statt gestärkt. Bereits 1997 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass Werbeverbote ein wichtiges Instrument gegen bedenkenlosen Tabakkonsum sind. Unser Fokus ist der Kinder- und Jugendschutz. Trotz der positiven Entwicklung in den letzten Jahren rauchen immer noch 15 Prozent aller minderjährigen Jugendlichen gelegentlich bis regelmäßig. Laut Deutscher Lungenstiftung sind Schüler und Schülerinnen im Alter von 11 bis 14 Jahren besonders gefährdet, das Rauchen anzufangen. Fast zwei Drittel aller rauchenden Kinder und Jugendlichen wollen mit dem Rauchen aufhören oder haben dies schon einmal vergeblich versucht. Tabakwerbung macht es den Jugendlichen doppelt schwer, vom Glimmstängel loszukommen. Studien belegen immer wieder, dass Zigarettenwerbung besonders stark das Rauchverhalten von Kindern und Jugendlichen beeinflusst. Die Imagestrategien der Tabakindustrie mit Bildern von Freiheit, Spaß, Erfolg und Sexappeal zielen nach wie vor besonders auf Jugendliche und junge Erwachsene. Nicht Figuren wie der Marlboro-Mann, sondern jugendlich wirkende Partygänger spielen die Hauptrollen in den Werbekampagnen. Die Selbstverpflichtungserklärung der Tabakindustrie zum Jugendschutz läuft daher selbst dann ins Leere, wenn alle Vorschriften formal eingehalten werden. Entscheidend ist nicht das tatsächliche Alter der Models, sondern der dargestellte Lebensstil, der oft dem Wunschbild von Jugendlichen entspricht. Dieser Zusammenhang wurde erst kürzlich wieder vom Kommunikationswissenschaftler Patrick Rössler sowie der Fachstelle für Suchtprävention bestätigt. Zudem haben Nichtraucherschutzorganisationen in den letzten Jahren zahlreiche klare Verstöße gegen die Selbstverpflichtungsgrundsätze dokumentiert. Wir fordern die Bundesregierung aus diesen Gründen in unserem Entschließungsantrag auf, Tabakwerbung deutlich über die Umsetzung der EU-Richtlinie hinaus einzuschränken. Das heißt: Erstens. Jegliche audiovisuelle Werbung in Verkaufsstellen und im Internetversandhandel muss gesetzlich verboten werden. Zweitens. Auch die Außenwerbung muss in Deutschland wie in fast der gesamten EU verboten werden. Drittens. Auch die Kinowerbung und die massive Werbung in Verkaufsstellen muss weiter eingeschränkt werden, um dem Jugendschutz gerecht zu werden. Statt wirkungsloser freiwilliger Selbstverpflichtungen brauchen wir klare gesetzliche Regelungen und wirksame Sanktionen bei Verstößen gegen diese Regeln. Ohne diese Maßnahmen sind Fortschritte bei der Tabakprävention kaum zu erreichen. Julia Klöckner (Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz): Der vorliegende Gesetzentwurf nimmt eine Eins-zu-eins-Umsetzung der Audiovisuelle-Mediendienste-Richtlinie für den Bereich der Tabakwerbung vor. Die weiteren Vorgaben der Richtlinie werden von den Ländern im Rahmen des 13. Änderungsvertrages zum Rundfunkstaatsvertrag sowie bundesrechtlich mit einem Änderungsgesetz zum Telemediengesetz umgesetzt. Bekanntermaßen besteht in Deutschland bereits eine Reihe von medienspezifischen Verboten. Seit 1975 ist Tabakwerbung im Hörfunk und Fernsehen verboten. Aufgrund der Vorgaben der Tabakwerberichtlinie der Europäischen Union aus dem Jahr 2003 wurden 2006 die Tabakwerbung in der Presse und gedruckten Veröffentlichungen grundsätzlich verboten. Ferner ist die Werbung in Diensten der Informationsgesellschaft wie dem Internet bereits seit 2006 entsprechend verboten. Wie Sie alle wissen, ist dies in § 21 a Abs. 4 des Vorläufigen Tabakgesetzes geregelt. Genau das sollten auch die Kolleginnen und Kollegen berücksichtigen, die hier kurzfristig noch einen Entschließungsantrag zum Gesetz eingebracht haben. Daneben besteht ebenfalls seit 2006 ein Sponsoringverbot für den Hörfunk. Die Umsetzung der Tabakwerberichtlinie erfolgte ebenfalls eins zu eins. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird nunmehr auch ein Sponsoringverbot für audiovisuelle Mediendienste und Sendungen geregelt. Wir erfassen damit Bilder mit oder ohne Ton, die vom klassischen Fernsehen ausgestrahlt werden, aber auch Mediendienste auf Abruf, wie zum Beispiel Video-on-demand. Beim Sponsoring handelt es sich vereinfacht gesprochen um einen Beitrag von privaten Unternehmen oder natürlichen Personen zur Finanzierung von audiovisuellen Mediendiensten oder Sendungen mit dem Ziel, zum Beispiel ihren Namen oder ihre Marke zu fördern. Zudem sieht das Gesetz ein Verbot der Produktplatzierung von Tabakerzeugnissen oder Tabakunternehmen in audiovisuellen Sendungen vor. Eine Produktplatzierung liegt vor, wenn zum Beispiel gegen Entgelt oder eine ähnliche Gegenleistung auf eine Marke Bezug genommen wird, sodass diese innerhalb einer Sendung erscheint. Zukünftig ist damit ausdrücklich geregelt, dass ein Tabakerzeugnis etwa im Rahmen einer Fernsehsendung nicht platziert werden darf. Neben diesen Verboten ist es mir wichtig, zu betonen, dass wir selbstverständlich den Verbraucher gesetzlich vor irreführender Werbung schützen. So ist es beispielsweise untersagt, den Tabakkonsum zu verharmlosen, seine gesundheitliche Unbedenklichkeit zu suggerieren. Auch ist es verboten, Jugendliche durch zielgerichtete Darstellungen und Aussagen zum Rauchen zu veranlassen. Eine weitere Ausweitung des Verbots der Tabakwerbung über den vorliegenden Entwurf hinaus steht derzeit für die Bundesregierung nicht an. Mir ist es auch ein besonderes Anliegen, dass wir das Gesetzgebungsverfahren nun zügig abschließen. Auch gegenüber Brüssel wäre es ein verfehltes Signal, die Umsetzung weiter zu verzögern. Wie gesagt, nimmt der Gesetzentwurf eine Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste vor - und das ist gut so. Dies entspricht der allgemeinen Haltung der Bundesregierung zur Umsetzung von EU-Recht. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass die bestehenden Verbote durch die Länder effektiv durchgesetzt werden. Dies gilt insbesondere auch für den Bereich des Internets. Nichtsdestotrotz ist festzuhalten, dass der Verkauf von Tabakerzeugnissen auch über das Internet grundsätzlich legal ist. Über das Angebot der Tabakerzeugnisse hinausgehende Werbemaßnahmen und demnächst auch die Produktplatzierung in audiovisuellen Mediendiensten sind hingegen verboten. Aus der Sicht unseres Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ist der Schutz der Verbraucher vor Schäden ein zentrales Anliegen. Daher besteht eine wesentliche Aufgabe im Rahmen der Tabakprävention auch darin, den Einstieg in das Rauchen zu verhindern, den Ausstieg aus dem Tabakkonsum zu fördern und den Schutz vor Passivrauchen zu stärken. So ist es Ziel, den Verbraucherinnen und Verbrauchern die gesundheitlichen Gefahren des Rauchens nachdrücklich vor Augen zu führen und insgesamt auf eine Einschränkung des Tabakkonsums hinzuwirken. Hierbei sind die zwingend vorgeschriebenen Warnhinweise auf den Tabakerzeugnissen ein wichtiges Element. Die Kennzeichnung von Tabakerzeugnissen ist auf EU-Ebene im Rahmen der Tabakprodukt-Richtlinie geregelt. Danach sind entsprechende Textwarnhinweise auf Tabakerzeugnissen europaweit verbindlich vorgeschrieben und wurden national mit der Tabakprodukt-Verordnung umgesetzt. Des Weiteren eröffnet eine Entscheidung der Kommission von 2003 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, diese Textwarnhinweise national durch kombinierte Warnhinweise zu ergänzen. Dabei sind ausschließlich die in einer Bibliothek der Kommission hinterlegten kombinierten Warnhinweise zu verwenden. Gegenwärtig werden von der Europäischen Kommission Aktivitäten eingeleitet mit der Zielsetzung, neue kombinierte Warnhinweise zu entwickeln, die im Hinblick auf die Bereitstellung von Informationen über die gesundheitlichen Wirkungen des Tabaks, die Motivation des Aufhörens mit dem Rauchen und die Abschreckung vor dem Rauchen geprüft sind. Das Ergebnis dieser Überprüfung sollte abgewartet werden. Ein weiterer Baustein zur Senkung des Tabakkonsums ist die nationale Dachkampagne "rauchfrei" der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). "rauchfrei" ist längst zu einer bekannten und geschätzten Marke rund um das Nichtrauchen geworden. Die "rauchfrei"-Kampagne der BZgA setzt sich aus zwei großen Teilkampagnen zusammen: Ein Kampagnenteil konzentriert sich auf die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren, ein zweiter Teil richtet sich an die Zielgruppe der Erwachsenen. Die bisher durchgeführten Maßnahmen zur Förderung des Nichtrauchens bei Jugendlichen haben sich als erfolgreich erwiesen: Nach einem Anstieg beim Rauchen in den neunziger Jahren ist - parallel zur Durchführung der "rauchfrei"-Jugendkampagne - seit 2001 ein kontinuierlicher Rückgang im Rauchverhalten Jugendlicher zu verzeichnen. Im Jahr 2001 rauchten noch 28 Prozent der Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren, 2008 waren es nur noch 15 Prozent. Damit hat das Rauchverhalten in dieser Altersgruppe einen historischen Tiefstand erreicht. Um diesen Trend zu halten und vor allem auf alle Gruppen von Jugendlichen auszudehnen, bedarf es unverminderter Anstrengungen und einer kontinuierlichen Weiterentwicklung der Kampagne. Die BZgA wird die "rauchfrei"-Jugendkampagne im Jahr 2010 weiterführen und vor allem an das "Web 2.0" anpassen. Damit wird dem Bedürfnis der Zielgruppe nach Interaktivität und Kommunikation stärker Rechnung getragen. Wie in vielen Industrienationen ist auch in Deutschland eine stark ausgeprägte Polarisierung des Rauchverhaltens zu beobachten. Vor allem unter Jugendlichen aus Familien mit geringer Bildung, geringem Einkommen und niedrigem beruflichen Status ist der Anteil der Raucherinnen und Raucher viel höher als in anderen Bevölkerungsschichten. Gerade diese Jugendlichen werden außerdem schwerer mit Maßnahmen zur Förderung des Nichtrauchens erreicht. Über zielgerichtete Maßnahmen in der Schule wird dies versucht auszugleichen. Dort können Schülerinnen und Schüler aller sozialen Schichten erreicht werden, und es ist auch eine Kopplung von Strukturmaßnahmen mit verhaltensbezogenen Maßnahmen möglich. Deshalb haben sich die Maßnahmen und Aktivitäten in den Vorjahren bereits schwerpunktmäßig auf das Setting Schule mit einem Schwerpunkt in den Haupt-, Real- und berufsbildenden Schulen konzentriert. Leider ist in der Erwachsenenbevölkerung nur ein geringfügiger Rückgang des Nikotinkonsums festzustellen. Daher sind weiterhin Maßnahmen notwendig, die den Rauchverzicht in der Erwachsenenbevölkerung zum Ziel haben. Von einem deutlichen Signal zum Verzicht auf Tabakprodukte bei Erwachsenen wird auch ein positiver Effekt für die Senkung des Rauchens bei Kindern und Jugendlichen erwartet. Mit einer zunehmenden Reduzierung des Rauchens in der Erwachsenenbevölkerung wird Nichtrauchen mehr und mehr die soziale Norm. Die BZgA wird deshalb auch 2010 die "rauchfrei"-Erwachsenenkampagne fortführen und weiterentwickeln. In Ergänzung zu den bisherigen Maßnahmen liegt die Schwerpunktsetzung auf der Aktualisierung und Weiterentwicklung der Beratungsangebote sowohl im Bereich des internetbasierten Ausstiegsprogramms als auch der Telefonberatung zum Nichtrauchen. 2010 wird die BZgA das neue Pilotprojekt "Fax to quit" starten. Ziel ist es, aufhörwilligen Rauchenden ein niedrigschwelliges, kostenneutrales Angebot der telefonischen Unterstützung beim Rauchstopp zu unterbreiten. All diese Maßnahmen belegen, dass die Bundesregierung den Schutz der Bevölkerung vor den Gefahren des Rauchens sehr ernst nimmt. Der von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte Entschließungsantrag wird von mir aus den angeführten Gründen abgelehnt. Das nunmehr zur Abstimmung vorliegende Zweite Gesetz zur Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes bildet einen weiteren wichtigen Baustein in dem dargestellten Gesamtkonzept. Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Europäische Antidiskriminierungspolitik unterstützen - 5. Gleichbehandlungsrichtlinie der EU nicht länger blockieren (Tagesordnungspunkt 16) Norbert Geis (CDU/CSU): Der neue Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Anwendung des Grundsatzes zur Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung, bezogen nicht nur auf den Arbeitsmarkt, sondern auf den gesamten zivilrechtlichen Bereich, stößt nicht nur in Deutschland auf Ablehnung. Dabei lassen die Bundesregierung, der Bundesrat und die CDU/CSU-Fraktion keinen Zweifel daran, dass die Bekämpfung von Diskriminierung aller Art eine wichtige Aufgabe darstellt. Durch das AGG wurde diese Aufgabe für den Arbeitsmarkt erfüllt. Diese Aufgabe gilt jedoch auch außerhalb des Arbeitsmarktes. In einer freien, zivilisierten Gesellschaft ist für Diskriminierung kein Platz. Es muss Übereinstimmung herrschen, dass ein solches Verhalten scharf zu verurteilen ist. Die EU hat aber bereits jetzt den weltweit fortschrittlichsten Rechtsrahmen im Bereich der Nichtdiskriminierung. Das Schutzniveau geht in der Bundesrepublik Deutschland und in vielen anderen Mitgliedstaaten sogar noch über die europäischen Vorgaben hinaus. Deutschland liegt in der EU an der Spitze. Der Schutz vor Diskriminierung ist bei uns und in vielen anderen EU-Staaten weltweit am besten gewährleistet. Deshalb ist es nicht so sehr erforderlich, uns Gedanken darüber zu machen, wie wir uns von dem Standard der EU und in der Welt noch weiter absetzen können. Wichtiger ist es, den jetzigen Stand zu konsolidieren. Neue Anforderungen, wie sie die Richtlinie vorsieht, würden neue Anpassungen notwendig machen und damit neue Unsicherheiten und neue Unruhe bringen. Bevor die EU neue Rechtsakte gegen die Diskriminierung erlässt, müssen erst einmal die Erfahrungen der Mitgliedstaaten mit der Umsetzung der bisherigen Antidiskriminierungsgesetze abgewartet werden. Im Übrigen sind wir mit der Bundesregierung und dem Bundesrat der Auffassung, dass anstatt neuer Regelungen andere Maßnahmen zielführender sind. Um den Konsens in der Gesellschaft zu stärken, geht es zum Beispiel um eine entsprechende Bildungspolitik in den Schulen. Das ist aber nicht Sache der EU und kann nicht durch eine entsprechende Richtlinie erreicht werden. Die Verantwortung für die Bildungspolitik bleibt den Mitgliedstaaten vorbehalten. Es geht um eine entsprechende Initiative aus der Mitte der Gesellschaft heraus, insbesondere von den Institutionen innerhalb der Gesellschaft, um das Ziel, Diskriminierung zu ächten, und um das Ziel, einen Konsens zu erreichen, dass Diskriminierung in einer freien Gesellschaft nicht möglich sein darf. Es ist aber wiederum nicht Sache der EU, den einzelnen Staaten vorzuschreiben, wie sie dieses Ziel erreichen. Schon gar nicht kann dieser Konsens durch Umgestaltung unseres Zivilrechtes erreicht werden. Ein erheblicher Eingriff wäre notwendig, der zu neuen Unsicherheiten und zu neuen Rechtsstreitigkeiten führen würde. Es käme zu einer völligen Überregulierung des täglichen Lebens. Diese völlige Überforderung wird bei dem Diskriminierungsverbot für Behinderte deutlich. Für sie soll ein diskriminierungsfreier Zugang zu Gütern und Dienstleistungen, die allen zur Verfügung stehen, gewährleistet werden. Wie aber soll das möglich sein? Muss dann jeder Wirt, um nicht gegen das Diskriminierungsverbot zu verstoßen, eine Toilette für Behinderte vorsehen? Müsste jeder Tante-Emma-Laden einen behindertengerechten Aufgang haben? Muss jede Mietwohnung, soweit der Vermieter bei der Vermietung gewerblich tätig wird, einen behindertengerechten Zugang haben? Dies kann doch nicht wahr sein. So viele Behinderte gibt es doch gar nicht, die eine Wohnung suchen. Dies zeigt, wie unpraktikabel der Richtlinienvorschlag ist und wie sehr er Rechtsunsicherheit schaffen würde. Deshalb kann man vernünftigerweise diesem Vorschlag der Kommission nicht zustimmen. Unsere Bedenken fassen wir in drei Punkten zusammen: Erstens würde der Richtlinienvorschlag in erheblichem Maße in die Vertragsfreiheit eingreifen. Zweitens käme es erneut zu einer Beweislastumkehr. Drittens ergibt sich daraus ein Verstoß gegen das Grundgesetz. Im Privatrecht herrscht der Grundsatz der Privatautonomie. Jede Bürgerin und jeder Bürger ist frei, Verträge ab- oder nicht abzuschließen. Nur dann, wenn diese Vertragsfreiheit besteht, hat unsere freiheitliche Wirtschaftsordnung Bestand. Durch staatliche Lenkungsmaßnahmen würde diese Ordnung in einem erheblichen Maße gestört. Unsere Privatrechtsordnung setzt die Vertragsfreiheit voraus. Sie ist der innerste Kern der freien Marktwirtschaft. Sie muss unantastbar bleiben. Durch das Diskriminierungsverbot käme ein völlig fremder Aspekt in unsere Zivilrechtsordnung. Es müsste nämlich nach der Gesinnung des Vertragspartners gefragt werden, weil ja die Ablehnung eines Vertragsangebotes ein subjektiver Vorgang ist. Damit aber hätten wir es mit einer Art Gesinnungszivilrecht zu tun, das, um seine Ziele durchzusetzen, auch Sanktionen verhängen müsste. Der Betroffene müsste nämlich mit Schadensersatzansprüchen rechnen. Die Kultur unseres Zivilrechtes hatte es aber in ihrer Entwicklung über Jahrhunderte hinweg sorgsam vermieden, Sanktionen an subjektive Merkmale zu knüpfen. Das BGB kennt nur zwei selten genutzte Ausnahmen: Schikane nach § 226 BGB und sittenwidrige Schädigung nach § 826 BGB. Für Sanktionen aus Gesinnungsdelikten ist ausschließlich das Strafrecht zuständig. Dort gilt aber der Grundsatz, dass dem Betroffenen das Verschulden nachgewiesen werden muss. Nach den Vorstellungen der geplanten Richtlinie aber müsste der ablehnende Vertragspartner selbst beweisen, dass die Ablehnung eines Vertrages nichts mit Diskriminierung zu tun hat. Im Zivilrecht gilt der Grundsatz, dass der, der einen Anspruch geltend macht, auch die Voraussetzung des Anspruches zu beweisen hat. Durch die Richtlinie aber würde dieser Grundsatz auf den Kopf gestellt: Der Ablehnende müsste beweisen, dass er nicht wegen der sexuellen Ausrichtung oder wegen des Alters oder der Behinderung den Vertragsabschluss ablehnt, sondern aus anderen, nicht diskriminierenden Gründen. Der Grundsatz "in dubio pro reo" würde dann im Zivilrecht, wenn es um den Nachweis der Diskriminierungsabsicht geht, in sein Gegenteil verkehrt. Es gilt in diesen Fällen nicht "in dubio pro reo", sondern "in dubio contra reum". Diese Umkehrung der Beweislast widerspricht aber unserer Verfassung. Darin sehen wir die Verletzung des Grundgesetzes. Nun ist uns natürlich klar, dass das europäische Recht Vorrang hat vor unserer Verfassung und vor dem untergeordneten Recht. Gerade deshalb müssen wir ja auch den Versuch unternehmen, zu verhindern, dass die europäische Richtlinie erlassen wird. Wir lehnen sie ab und bitten die Bundesregierung, ihr "Veto" weiterhin geltend zu machen. Markus Grübel (CDU/CSU): Die CDU/CSU-Fraktion setzt sich aktiv gegen alle Formen von Diskriminierung ein. Bereits in der vergangenen Wahlperiode hat die unionsgeführte Bundesregierung vier Richtlinien der Europäischen Union zum Schutz vor Diskriminierung in deutsches Recht umgesetzt. Im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz haben wir im Jahre 2006 sehr weitreichende Regelungen festgeschrieben, die deutlich über das bisherige europäische Recht hinausgehen. Dies bescheinigen uns übrigens auch die Grünen in ihrem heute zur Diskussion gestellten Antrag. Die Union hält daher weitere rechtliche Regelungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt für unnötig. Insbesondere halten wir den Entwurf der Europäischen Kommission zur 5. Antidiskriminierungsrichtlinie für ungeeignet und lehnen ihn daher ab. Bereits die Umsetzung der bisherigen Antidiskriminierungsrichtlinien hat zu einer großen Rechtsunsicherheit in den Mitgliedstaaten geführt. Trotz des weitreichenden Diskriminierungsschutzes im AGG hat die EU-Kommission mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland angestrengt. Insgesamt laufen seit dem zweiten Halbjahr 2008 31 Vertragsverletzungsverfahren gegen 18 Mitgliedstaaten. Der vorliegende Entwurf der 5. Antidiskriminierungsrichtlinie enthält eine Vielzahl von unklaren Begrifflichkeiten, die bei einer Verabschiedung ähnliche Probleme für die Zukunft befürchten lassen. Auch die finanziellen Folgewirkungen des Richtlinienvorschlags sind nicht geklärt, obwohl doch eine plausible Kostenabschätzung und eine kontinuierliche Folgenbewertung die Voraussetzung eines jeden gesetzgeberischen Aktes sein sollten. Ich befürchte erhebliche Belastungen für unsere mittelständischen Unternehmen, sollte der vorliegende Entwurf Gesetzeskraft erlangen. Auch in diesem Punkt ist uns die EU-Kommission noch eine Antwort schuldig. Eine Prüfung der Auswirkungen hinsichtlich der Selbstverpflichtung nach dem "Small Business Act" steht weiterhin aus. Mit diesen Befürchtungen ist Deutschland übrigens nicht alleine. Wir wissen, dass zahlreiche andere Mitgliedstaaten ähnliche Bedenken haben, auch wenn sie diese nicht so deutlich äußern wie wir. Insofern kann keine Rede davon sein, dass lediglich Deutschland auf die Bremse trete und die Richtlinie allein aufgrund der ablehnenden Haltung Deutschlands nicht zustande komme. Lassen Sie mich noch auf einen grundsätzlichen Aspekt hinweisen. Ich bin ein Anhänger des Subsidiaritätsprinzips: Probleme sollten möglichst dort gelöst werden, wo sie entstehen. Dieser Ansatz ist sowohl im europäischen als auch im deutschen Recht verankert. Der Richtlinienvorschlag geht jedoch aufgrund der Breite seines Geltungsbereichs über die Zuständigkeit der Europäischen Union hinaus und verstößt gegen das Subsidiaritätsprinzip, da weitestgehend keine grenzüberschreitenden Regelungen verfolgt werden. Der Schutz vor Diskriminierung sollte auf der Ebene der Mitgliedstaaten geregelt werden. Deutschlands Anstrengungen im Bereich von Gleichstellung und Diskriminierungsschutz können sich international sehen lassen. Wir haben in Deutschland ein engmaschiges Netz von Gesetzen und Regelungen geknüpft, das Betroffene effektiv schützt. Neben dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz sind beispielhaft das Behindertengleichstellungsgesetz, das IX. Buch Sozialgesetzbuch sowie der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der VN-Behindertenrechtskonvention zu nennen. Die Betroffenen benötigen nicht ständig neue Regelungen. Das AGG ist gerade einmal vier Jahre alt. Uns geht es darum, im Rahmen des bestehenden Rechts die konkrete Situation von diskriminierten Menschen in Deutschland weiter zu verbessern und ihnen noch schnellere und passgenauere Hilfe anzubieten. Die unionsgeführte Bundesregierung hat zu diesem Zweck die Antidiskriminierungsstelle des Bundes, ADS, ins Leben gerufen. Die Antidiskriminierungsstelle entwickelt sich immer mehr zu dem starken Akteur im Dienste der Betroffenen, den wir uns von Anfang an gewünscht haben. Ich würde es jedenfalls begrüßen, wenn die ADS ähnlich dem Datenschutzbeauftragten zu einer kraftvollen Stimme in der gesellschaftlichen Debatte in Deutschland wird. Die neue Leiterin, Frau Christine Lüders, hat in der gestrigen Sitzung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unterstrichen, dass sie die ADS energisch in diesem Sinne weiterentwickeln will. Dazu möchte sie ein deutschlandweites Netzwerk gegen Diskriminierung schaffen. Die verschiedenen bereits existierenden Akteure, die sich in der Regel einzelnen Aspekten des Diskriminierungsschutzes widmen und oft nur lokal oder regional aktiv sind, sollen so miteinander ins Gespräch kommen und ihre Arbeit verzahnen. Zukünftig will die Antidiskriminierungsstelle von Diskriminierung betroffenen Personen umgehend einen geeigneten Ansprechpartner vor Ort benennen können. Diese Anstrengung verdient unser aller Unterstützung. Sie zeigt uns zugleich, dass wir keine neue EU-Antidiskriminierungsrichtlinie benötigen. Deutschland ist beim Diskriminierungsschutz bereits auf einem sehr guten Weg. Christel Humme (SPD): Wer glaubt, mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, AGG, hätten wir schon alles gegen Diskriminierung getan, der irrt. Von einer diskriminierungsfreien Gesellschaft sind wir leider noch immer weit entfernt! Jedes Jahr wird uns der Spiegel vorgehalten. Die jährlich durchgeführten repräsentativen Studien "Deutsche Zustände" von Professor Heitmeyer decken jedes Mal aufs Neue auf, welche Vorurteile und Ressentiments gegenüber Frauen, Muslimen, Juden, Obdachlosen, Behinderten, Ausländern oder Homosexuellen nach wie vor bestehen. Diskriminierung ist bedauerlicherweise immer noch alltäglich. So hat die katholische Bischofskonferenz festgelegt, dass katholische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu entlassen sind, wenn sie eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen. "Homosexualität ist widernatürlich und eine menschliche Fehlentwicklung", so Bischof Overbeck in der TV-Sendung Anne Will. Neben diesen unmittelbaren Diskriminierungen, die klar erkannt werden können, gibt es nach wie vor eine Vielzahl mittelbarer, verdeckter Diskriminierungen, die sich zum Beispiel in geringeren Löhnen für Frauen bei gleicher und gleichwertiger Arbeit niederschlagen. Der Zugang zu Bildung und beruflicher Ausbildung hängt in Deutschland immer noch von der Herkunft ab, und ein ausländisch klingender Name lässt die Erfolgschancen bei einer Bewerbung nicht selten sinken. Wenn es um Behinderung geht, streitet Deutschland über Begriffe der Inklusion und Integration und erschwert damit die gemeinsame Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung in der Kita oder Grundschule. Diese wenigen Beispiele zeigen: Nach wie vor fehlt es an einer Antidiskriminierungskultur in Deutschland. Nach wie vor fehlt es an selbstverständlicher Toleranz gegenüber Minderheiten. Mit dem AGG aus dem Jahre 2006 und mit der Schaffung einer Antidiskriminierungsstelle haben wir vier europäische Antidiskriminierungsrichtlinien in nationales Recht umgesetzt. Das waren wichtige Schritte. Sie haben erst die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich Diskriminierte heute mit rechtlichen Instrumenten wehren können. Dieser Erfolg darf uns aber nicht daran hindern, noch besser zu werden; denn es gibt Kritik am AGG, Kritik von der Europäischen Kommission, die schon vor längerer Zeit Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat, Kritik von Organisationen wie dem Deutschen Juristinnenbund, dem DGB und dem Institut für Menschenrechte. Sie fordern, das Gesetz im Sinne eines effektiven Diskriminierungsschutzes noch besser auszugestalten. Vor 13 Jahren hat die damalige schwarz-gelbe Regierung unter Altkanzler Kohl den Amsterdamer Vertrag ratifiziert. Sie hat Deutschland damit verpflichtet, Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung zu bekämpfen. Jeder würde sagen, das sei eine Selbstverständlichkeit, denn schließlich habe der Staat mit dem Grundgesetz seit 60 Jahren den Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor Diskriminierung festgeschrieben. Diskriminierungsschutz ist ein grundlegendes Menschenrecht, darin sind wir uns doch wohl alle einig. Was macht die heutige schwarz-gelbe Regierung? Was machen Sie, Frau Schröder? Sie wollen die 5. europäische Richtlinie, die seit zwei Jahren auf europäischer Ebene diskutiert wird, verhindern. Sie wollen zusammen mit Malta und Litauen gegen die umfassende Diskriminierungsrichtlinie stimmen. Mit Ihrem Veto stellen Sie sich gegen das berechtigte Anliegen, in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union einen einheitlichen Standard für wirksamen Antidiskriminierungsschutz zu schaffen! Das ist ein Armutszeugnis für Deutschland! Frau von der Leyen hatte sich bereits in der letzten Legislatur gegen die Verabschiedung eingesetzt, Frau Schröder setzt diese traurige Tradition fort. Sie nimmt damit billigend in Kauf, dass in den Staaten der EU, in denen noch keine umfassende Antidiskriminierungsgesetzgebung existiert, entsprechende Regelungen auf Jahre hinaus verhindert werden. Sie suggerieren damit, für den Schutz vor Diskriminierung sei bereits genug getan und alle weiteren Initiativen seien überflüssig. Diese Botschaft, die Deutschland aussendet, ist verheerend und ein Schlag in das Gesicht aller diskriminierten Menschen! Das hat Amnesty International in einem offenen Brief an die Ministerin Kristina Schröder sehr deutlich gemacht und sie aufgefordert, ihre Fundamentalopposition aufzugeben. Dieser Aufforderung möchte ich mich im Namen der SPD-Fraktion ausdrücklich anschließen. Geben Sie Ihre Blockadehaltung auf! Was sind die Argumente der Bundesregierung? Sie befürchtet weitere Rechtsunsicherheit und kritisiert, die EU mische sich unzulässig in nationale Zuständigkeiten ein. So ist es der Pressemitteilung von Frau Schröder am 25. Februar 2010 zu entnehmen. Der Beweis dafür seien die zahlreichen Vertragsverletzungsverfahren. Ja, es stimmt. Es laufen derzeit Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland im Zusammenhang mit der Umsetzung der vier EU-Richtlinien im AGG. Diese Verfahren sind, soweit mir bekannt, bisher auch noch nicht abgeschlossen. Welche Konsequenz zieht die Bundesregierung daraus? Sie schlussfolgert: Es darf keine weiteren Richtlinien geben, damit solche Vertragsverletzungsverfahren nicht mehr stattfinden. Richtig wäre: Unsere Gesetzgebung muss besser werden, damit solche Vertragsverletzungsverfahren künftig gar nicht erst eingeleitet werden müssen! Woher kommt denn die Rechtsunsicherheit, wie Sie sie nennen? Waren es nicht die CDU und CSU, die durchgesetzt haben, dass das von Rot-Grün 2005 vorgelegte gute Antidiskriminierungsgesetz entschärft werden musste? Sonst hätten Sie von der Union in der Großen Koalition Ihre Stimme verweigert. Die FDP hat damals gar nicht erst zugestimmt. Wäre es also nach der FDP gegangen, hätte Deutschland lieber eine hohe Bußgeldzahlung billigend in Kauf nehmen sollen, anstatt seinen Bürgerinnen und Bürgern wirksamen Schutz vor Diskriminierung zu bieten. Müssen wir nicht gerade die Chance der 5. Gleichbehandlungsrichtlinie der EU nutzen, um unsere Gesetzgebung zu überprüfen und zielgenauer zu formulieren? Das wäre die richtige Schlussfolgerung, die aus den Vertragsverletzungsverfahren zu ziehen wäre. Die Blockadehaltung gegen einheitliche europäische Standards beim Diskriminierungsschutz ist eindeutig der falsche Weg. In der Vergangenheit und auch heute sind die Vertreter der Wirtschaft die heftigsten Kritiker von Antidiskriminierungsregelungen. Sie verkennen noch immer, dass Vielfalt auch in einem Unternehmen Gewinn bringt. Auch wenn sich Ihr Koalitionsvertrag gegen die 5. Gleichbehandlungsrichtlinie wendet: Geben Sie Ihre Klientelpolitik im Interesse der Millionen betroffenen Bürgerinnen und Bürger auf! Blockieren Sie die 5. Richtlinie nicht weiter und machen Sie den Weg frei für ein soziales und gerechtes Europa! Florian Bernschneider (FDP): Die FDP versteht die Vielfalt von Menschen und Kulturen als Chance. Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen und verschiedener Herkunft, mit und ohne Handicap, Jung und Alt, mit unterschiedlichen Glaubenshintergründen und sexueller Orientierung bereichern unsere Gesellschaft. Diese Unterschiedlichkeit macht unsere Gesellschaft bunt und lebenswert, fördert Innovationen und Kreativität. Deswegen geht es in dieser Frage um weit mehr als Antidiskriminierung. Es geht darum, diese Chance der Vielfältigkeit zu nutzen und in soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Potenziale umzusetzen. Es geht auch darum, Unterschiedlichkeiten nicht nur zu akzeptieren oder zu tolerieren, sondern sie zu fördern. Vielfalt wertzuschätzen heißt allerdings nicht, alle Menschen einfach gleich zu behandeln. Gleichmacherei wird den unterschiedlichen Talenten und Bedürfnissen von Individuen in keiner Weise gerecht, sondern verhindert die gezielte bedarfsgenaue Förderung. Meine Fraktion hat sich in der Vergangenheit intensiv mit diesem Thema beschäftigt. Auch in unserem Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2009 findet sich an mehreren Stellen das klare Bekenntnis zu einer Kultur der Vielfalt. Dabei haben wir uns beispielsweise für die Förderung betrieblicher Diversity-Strategien und die Verankerung dieser in den Leitbildern öffentlicher Unternehmen ausgesprochen. Es besteht hier wohl Einigkeit darüber, dass niemand aufgrund der genannten Charakteristika diskriminiert werden darf. Es geht hier also nicht darum, ob wir eine vielfältige, weltoffene Gesellschaft haben wollen, sondern vielmehr um die Frage, wie wir dieses Ziel am besten erreichen. An diesem Punkt jedoch unterscheiden wir uns deutlich. Gerade als Liberaler möchte ich hier festhalten: Wir können eine Kultur der Vielfalt und Toleranz politisch fördern, unterstützen, flankieren. Aber wir werden - und das ist entscheidend - einen gesellschaftlichen Wandel nicht mit Gesetzen und Richtlinien erzwingen können. Vielleicht würde dieser Antrag, wenn er denn eine Mehrheit in diesem Hohen Hause erhielte, dazu beitragen, das Gewissen einiger Kolleginnen und Kollegen zu beruhigen. Aber den Menschen, den Betroffenen, würden wir mit diesem Antrag relativ wenig helfen, und zwar deshalb, weil diese Richtlinie an den Lebenswirklichkeiten der Menschen vorbeizielt. Wir reden doch gerade über eine Vielfältigkeit im unmittelbaren Lebensumfeld der Menschen. Die Chancen von beispielsweise kultureller Vielfältigkeit sind schon jetzt in unser aller Alltag greifbar. Deswegen ist es genau der falsche Weg, politische Entscheidungen auf diesem Gebiet nach Brüssel oder Straßburg zu verlagern. Denn nicht zuletzt diese Nähe zur Lebenswirklichkeit der Menschen entscheidet über die Akzeptanz solcher Regelungen. Genau diese Akzeptanz in der Bevölkerung ist es, die wir bei den bisherigen vier EU-Richtlinien zur Gleichstellung so häufig vermissen. Mit dieser neuen, fünften, Richtlinie, die vor inhaltlichen Fehlern nur so strotzt, riskieren wir, diese Akzeptanz noch weiter zu verspielen. Ich will Ihnen dafür gerne einige Beispiele nennen: Erstens. Die Richtlinie sieht unter anderem die Beweislastumkehr vor. Wir warnen dringend davor, die in Deutschland schon bestehenden Regelungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, AGG, auf andere Rechtsbereiche auszudehnen. Denn was bedeutet das in der Praxis? Es muss zukünftig noch mehr dokumentiert und archiviert werden, um im Streitfall abgesichert zu sein. Zweitens. Die Richtlinie enthält eine Fülle an unbestimmten Rechtsbegriffen. So ist im Text von "einer weniger günstigen Behandlung", "unverhältnismäßigen Belastungen", "grundlegenden Veränderungen" oder von "angemessenen Vorkehrungen" die Rede. Dies fördert die Rechtsunsicherheit bei den Unternehmen, da für sie nicht absehbar ist, welche Art von Maßnahmen von ihnen konkret verlangt werden. Die Maßnahmen müssen von den Unternehmen bereits "im Voraus vorgesehen" werden, unabhängig davon, ob zum Beispiel eine Nachfrage von Kunden mit Behinderung überhaupt vorliegt. Von diesen Regelungen wären insbesondere kleine mittelständische Unternehmen betroffen, für die die geforderten Maßnahmen einen erheblichen finanziellen und bürokratischen Aufwand darstellen. Damit vergrätzen Sie diejenigen, die wir noch stärker als bisher für Diversity-Strategien begeistern wollen: die Unternehmen in unserem Land. Drittens. Auch das in der Richtlinie enthaltene Diskriminierungsmerkmal "Weltanschauung" sehen wir sehr kritisch, gerade in Bezug auf den Missbrauch durch radikale Gruppierungen. Zur Erinnerung: Als das AGG verabschiedet wurde, hat man sich bewusst dafür entschieden, auf das Merkmal "Weltanschauung" zu verzichten. Den Grund für diese Entscheidung will ich Ihnen gerne noch einmal nennen: Man sah die Gefahr, dass zum Beispiel Anhänger rechtsradikalen Gedankenguts versuchen könnten, sich Zugang zu Geschäften zu verschaffen, der ihnen aus anerkennenswerten Gründen verweigert wird. Würde diese neue Richtlinie, wie Sie von Bündnis 90/ Die Grünen es fordern, verabschiedet, könnte genau dieses Problem erneut auftreten. Wollen Sie das? Viertens. Der Richtlinienentwurf der Kommission greift schwerwiegend in die Abschluss- und Gestaltungsaspekte der Vertragsfreiheit ein. Die Vertragsfreiheit gehört zu den Grundpfeilern unserer sozialen Marktwirtschaft und damit unserer Wirtschaftsordnung. Im Zivilrecht gilt grundsätzlich Vertrags- und Wahlfreiheit und damit das Recht, keine Gründe dafür benennen zu müssen, einen Vertrag abzuschließen oder zu verweigern. Würde man jede Bevorzugung als Diskriminierung ansehen, so stünde der gesamte Zivilrechtsverkehr unter generellem Diskriminierungsverdacht. Auch das kann man nicht wirklich wollen. Es ist der Vertragsfreiheit fremd, dem Einzelnen vorzuschreiben, welche Gesichtspunkte für den Abschluss oder die Gestaltung eines Vertrages maßgeblich sein dürfen. Es gäbe noch etliche weitere Punkte. Um es kurz zu machen: Für uns Liberale ist dieser Entwurf insgesamt nicht geeignet, die Freiheit des Einzelnen mit den berechtigten Anliegen von Gesellschaft und Wirtschaft zu einem vernünftigen Ausgleich zu bringen. Es wäre ärgerlich, wenn das Ziel, Gerechtigkeit durch Gleichbehandlung zu schaffen und Diskriminierung auch im Privatrecht zu vermeiden, wegen mangelnder Akzeptanz einer unnötig ausufernden Regelung verfehlt würde. Ich glaube nicht, dass es uns gelingen kann, den Menschen die Vorteile von Vielfalt und Toleranz quasi am Aktenschrank zu vermitteln. Deswegen ist es so wichtig, dass wir klar formulieren, wofür wir sind, und endlich damit beginnen, die Menschen auf die Chancen der Vielfalt hinzuweisen, ohne zusätzliche Ängste und Unsicherheit durch die Umsetzung überflüssiger Richtlinien zu verursachen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang im Übrigen eine Pressemitteilung des Büros gegen Altersdiskriminierung, das, wie die Grünen, zwar die ablehnende Haltung der Bundesregierung zur Richtlinie kritisiert, aber gleichzeitig feststellt: ... im April 2009 stimmten sie - die Abgeordneten des EP - mit immerhin 363 zu 226 Stimmen für die neue Antidiskriminierungsrichtlinie. Das war möglich, weil die 5. Antidiskriminierungsrichtlinie so viele Ausnahmen von der Regel enthält, so offen für juristische Interpretationen ist, wie keine ihrer Vorgängerinnen. Es sind genau diese juristisch offenen Fragen und die vielen Ausnahmen von der Regel, die bei den Menschen die angesprochenen Ängste verursachen und Verwirrung stiften. Auch die letzte Bundesregierung stand dieser neuen Antidiskriminierungsinitiative der EU-Kommission ablehnend gegenüber. Damals wurde darauf verwiesen, dass zunächst die Erfahrungen mit dem in Kraft getretenen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz abgewartet werden sollen. Ich möchte Ihnen auch eine interessante Feststellung der Antragsteller in ihrer eigenen Antragsbegründung nicht vorenthalten. Dort heißt es: Das deutsche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ... mit seinem horizontalen Ansatz geht - bei allen Mängeln bei den Instrumenten - in diesem Punkt bereits über das ... europäische Recht hinaus ... Wofür brauchen wir in Deutschland dann überhaupt eine weitere Richtlinie, wenn wir deren Inhalt mit dem AGG bereits umgesetzt haben? Sie entgegnen: Um ein positives Zeichen in der EU für Gleichstellung und Antidiskriminierung zu setzen. Ich bin der Meinung, bevor wir anderen Ländern gute Ratschläge zur Antidiskriminierung geben, sollten wir zunächst unsere eigene Gesetzgebung ordentlich prüfen und gegebenenfalls auftretende Mängel beseitigen. Schließlich würde das den Menschen in unserem Land tatsächlich helfen. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Eines der Hauptargumente der Gegner der Antidiskriminierungsrichtlinie ist, dass es - angeblich - kaum Diskriminierungstatbestände gäbe. Ein Blick ins "richtige Leben" genügt, dies ad absurdum zu führen. Menschen, die anderer ethnischer Herkunft oder homosexuell sind, die mit Behinderungen leben oder ein höheres Alter haben, erleben praktisch täglich Benachteiligungen bzw. Herabwürdigungen. Oft sind diese sehr subtil. Häufig ist den Diskriminierenden nicht einmal bewusst, dass sie mit ihren - üblen - Scherzen, Gesten oder Haltungen Menschen verletzen. Das zu ändern ist eine Herkules-Aufgabe. Der Gesetzgeber, also wir, kann dazu seinen Teil beitragen, indem er Diskriminierungen jeglicher Art ächtet und Zuwiderhandlungen mit spürbaren Sanktionen belegt. Damit sind längst nicht alle Diskriminierungen beseitigt, aber es ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Derzeit ist der Antidiskriminierungsschutz EU-weit äußerst uneinheitlich geregelt. Einen gemeinsamen Standard gibt es nur beim Schutz vor Diskriminierung am Arbeitsplatz. Ausformuliert sind auch die Rechte in Bezug auf Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit. Ich betone - denn mir scheint das immer wieder notwendig zu sein -: Die Rechte sind ausformuliert. Die Realität sieht noch immer anders aus; Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeiten sind Alltag, auch in Deutschland. Die neue Richtlinie von 2008 soll europaweit einheitliche Standards in Bezug auf Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung schaffen. Was ist daran verwerflich? Damit die Richtlinie gelten kann, bedarf es der Zustimmung aller im Europarat vertretenen Länder. Und nun wird es spannend, bzw. hier beginnt unsere konkrete Verantwortung: Deutschland blockiert. Die Koalition hält den Richtlinienentwurf für ungeeignet. Allen voran "argumentiert" die FDP mit der Gefahr der Überregulierung. "Die Freiheit des Einzelnen", so die FDP in ihrem Antrag zur Fortsetzung der Blockadehaltung Deutschlands vom Februar 2009 (Drucksache 16/11682), sei nicht "mit berechtigtem Anliegen von Wirtschaft und Gesellschaft zu einem vernünftigen Ausgleich zu bringen". Die unternehmerische Freiheit werde gefährdet. Zur unternehmerischen Freiheit gehört jedoch keinesfalls das Recht, irgendjemanden diskriminierend zu behandeln. Und nun wird es noch spannender: Die Richtlinie, der die Koalition nicht zustimmen will, geht kaum über die Bestimmungen des Allgemein Gleichbehandlungsgesetzes, AGG, von 2006 hinaus. Der Geltungsbereich des AGG bezieht sich, wie in der Richtlinie gefordert, auf den Sozialschutz, soziale Vergünstigungen, die Bildung und den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen einschließlich Wohnraum und Verkehr. In Hinblick auf Menschen mit Behinderungen geht der Richtlinienentwurf auch nicht weit über die Bestimmungen der UN-Konvention zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen - von Deutschland ratifiziert - hinaus. Die Verpflichtung zur Schaffung diskriminierungsfreier Zugänge zu Sozialschutz, sozialen Vergünstigungen, Gesundheitsdiensten und Bildung besteht also bereits. Die Koalition verhindert also, dass europaweit gilt, was in Deutschland schon seit 2006 im Gesetzblatt steht. Um es ausnahmsweise einmal mit den Worten meines Kollegen und Fraktionsvorsitzenden Gregor Gysi auszudrücken: "Ja, wo leben wir denn?!" Können Sie mir bitte nachvollziehbar erklären, weshalb Sie in Deutschland alte Menschen vor Diskriminierung schützen wollen, aber in anderen EU-Ländern nicht? Was spricht ernsthaft gegen ein europaweites Engagement für Gleichbehandlung? Die Regierung, agierend als Interessensvertreter der Wirtschaft, hat Angst vor Verbandsklagerechten, Beweislastumkehr, vor hohen Schadensersatzforderungen, die nach dem neuen Richtlinienentwurf nicht mehr nach oben hin begrenzt werden dürfen. Aber da kann ich Sie - als Linker und Interessenvertreter der Betroffenen - dreifach beruhigen. Erstens. Wenn nicht diskriminiert wird, wird nicht massenhaft geklagt. Zweitens. Wenn nicht diskriminiert wird, ist die Höhe der Schadensersatzforderungen egal. Drittens. Die Bestimmungen der Richtlinie in Bezug auf die barrierefreie Zugänglichkeit insbesondere für Menschen mit Behinderungen zu öffentlichen Gütern, Gebäuden und Wohnraum enthalten viele weit auslegbare Ausnahmeregelungen. Die EU schützt mit ihrem Richtlinienentwurf vor "unverhältnismäßige[n] Belastungen", Art. 4 Ziff. 2 RLE. Unternehmen müssen nur dann für Umbauten oder Ähnliches zahlen, wenn es sie nicht ruiniert. Die von Ihnen befürchtete Rechtsunsicherheit ist eigentlich in Ihrem Sinne. Das bedauere ich wiederum; denn die vielen Ausnahmeregelungen schwächen den Schutz vor Verstößen gegen elementare Menschenrechte. Mit ihrem Blockadeverhalten zeigt die Bundesregierung: Eine Kultur der Teilhabe und Antidiskriminierung ist ihr nicht wichtig. Vielfalt gilt nur dann als schützenswert, wenn sie der Nutzung von Arbeitskräftepotenzial dient, wenn sie den Wirtschaftsstandort Deutschland aufwertet. Die "Antidiskriminierungspolitik" der Koalition soll nicht Chancengleichheit und Solidarität europaweit fördern, sondern lediglich das reibungslose Zusammenarbeiten von Beschäftigten, die immer heterogener werden, organisieren. Ich möchte zum Schluss darauf hinweisen, dass es die Koalition selbst war, die zu Beginn ihrer Regierungszeit, im Dezember 2009, mit einem eigenen Antrag, Drucksache 17/257, mit dem Titel "Menschenrechte weltweit schützen" bekannte: Angehörige von Minderheiten bedürfen eines umfassenden staatlich gewährleisteten Schutzes, um ihr Recht auf Selbstbestimmung ausüben zu können. Meine sehr verehrten Damen und Herren, nehmen Sie sich eigentlich selbst ernst? Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem Lissabon-Vertrag ist der Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe gehoben worden. Die Werte, auf die sich die Union gründet, zeichnen sich in Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union, EUV, ausdrücklich auch durch Nichtdiskriminierung aus. Demzufolge kämpft die Union gegen soziale Ausgrenzungen und Diskriminierungen, wie Art. 3 Abs. 3 EUV festhält. Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV, benennt in Art. 19 Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion und Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung als solche, die von der Union in allen Bereichen ihrer Zuständigkeit zu bekämpfen sind. Hierzu kann der Rat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, solche Maßnahmen in ihren jeweiligen nationalen Rechtsordnungen zu verankern. Im Jahre 2000 entstanden die beiden Richtlinien zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse und ethnischen Herkunft sowie zur Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. 2004 und 2006 folgten die Richtlinien zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen und zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen. Nach dem damit erreichten Niveau des europäischen Diskriminierungsschutzes ist festzuhalten, dass für die unterschiedlichen Diskriminierungsmerkmale - leider - unterschiedliche Schutzstandards gelten. Manche Richtlinien gelten nur für bestimmte Merkmale, manche andere gelten für alle Merkmale, aber nur für bestimmte Lebensbereiche. Wir sind in Deutschland einen konsequenteren Weg gegangen. Mit dem allgemeinen Antidiskriminierungsgesetz hat Rot-Grün einen Vorschlag eines vollwertigen Diskriminierungsschutzes in allen Lebensbereichen und unter Bezugnahme auf alle Diskriminierungsmerkmale gemacht. Die Große Koalition, also auch die Union, hat diesen Vorschlag übernommen und nur unwesentlich abgeändert Gesetz werden lassen. Uns ist damit - ich sage dies bei aller fortbestehenden Kritik an den gewählten Instrumenten und einzelnen Regelungen - mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz ein Diskriminierungsschutz gelungen, der dem europäischen Geist entspricht, dabei aber über die bisher zustande gekommenen europäischen Richtlinien hinausgeht. Nunmehr hat die EU-Kommission im Sommer 2008 einen Richtlinienvorschlag zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung vorgelegt. Die Richtlinie soll auch außerhalb der Bereiche der Beschäftigung und des Berufs für die Bereiche Sozialschutz, soziale Vergünstigungen, Bildung sowie Zugang zu Gütern und Dienstleistungen gelten. Mit ihr sollen die bestehende Hierarchie der Diskriminierungsmerkmale und ihre nur sektorale Bekämpfung überwunden werden. Das Europäische Parlament hat im April 2009 diese Initiative unterstützt und eigene Vorschläge zum Diskriminierungsschutz gemacht. Aus unserer Sicht sind dies Selbstverständlichkeiten; jedenfalls sind es Regelungen, die bereits Bestandteil des deutschen nationalen Rechts sind. Umso unverständlicher ist, dass sich die Bundesregierung darauf festgelegt hat, das Zustandekommen dieser Richtlinie zu sabotieren. Damit bezieht die Bundesregierung offen Front gegen die spanische Präsidentschaft, die die Gleichstellungspolitik zu einer ihrer wichtigsten Aufgaben erklärt hat. Aber auch für Belgien und Ungarn ist das Vorgehen der Bundesregierung wie ein Schlag ins Gesicht, haben doch diese Mitgliedstaaten in ihrem Triopräsidentschaftsprogramm erklärt, alle Formen der Diskriminierung in Europa bekämpfen und im Bereich der Nichtdiskriminierung neue Akzente setzen zu wollen. Ausdrücklich zählt dazu die Verabschiedung der 5. Gleichstellungsrichtlinie. Mit ihrem Verhalten sabotiert die Bundesregierung Regelungen in den anderen Mitgliedstaaten, die in Deutschland längst Gesetz sind. Diese irrationale Politik ist nur mit der Aversion der FDP und von Teilen der Union gegen jede Bekämpfung von Diskriminierungen durch staatliche Regelungen zu erklären. Denn sie sehen Antidiskriminierungsanstrengungen nur als finanzielle Belastungen der Wirtschaft, und sie sind eher bereit, der deutschen Wirtschaft ökonomische Nachteile gegenüber der europäischen Konkurrenz zuzufügen, indem sie die deutsche Wirtschaft mit den Kosten der Beachtung des AGG belasten, die europäischen Konkurrenten aber von diesen Kosten freihalten wollen, als sich zu einer kohärenten Diskriminierungsbekämpfung auf europäischer Ebene zu bekennen. Wir Grünen fordern mit unserem Antrag die Koalition auf, ihren irrationalen und für das Ansehen Deutschlands in Europa schädlichen Kurs aufzugeben und die spanische Präsidentschaft zu unterstützen. Ich will mit den Worten von Amnesty International schließen, die diese Menschenrechtsorganisation an die Bundesregierung gerichtet hat: Vor allem aber sendet Deutschland - mit dem Verhalten der Bundesregierung - ein verheerendes Signal aus: Dass die EU nicht tätig werden müsse, um eine Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung, Religionszugehörigkeit, Alter oder Behinderung zu bekämpfen, die zur Wirklichkeit in Europa gehört, und dies nicht nur auf dem Arbeitsmarkt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, gestern wurden im Rechtsausschuss Sachverständige zu dem Vorschlag der SPD, der Linken und von uns Grünen gehört, das Merkmal der sexuellen Identität in den Diskriminierungsschutz des Grundrechts aus Art. 3 Abs. 3 unserer Verfassung aufzunehmen. Ein von der Union benannter Sachverständiger verstieg sich zu der Behauptung, die Integration von Migranten muslimischen Glaubens erlaube einen solchen Schutz vor Diskriminierung in der Verfassung nicht, weil er von diesen Menschen abgelehnt werde. Niemand von Ihnen hat im Ausschuss widersprochen. Es war beklemmend zu sehen und zu hören, dass Ihnen selbst solche unglaublichen "Argumente" recht sind, um sich gegen jeden weiteren Diskriminierungsschutz zu wehren. Heute haben Sie eine Gelegenheit, Ihre Position nochmals zu überdenken. Dazu fordern wir Sie ganz ausdrücklich auf. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung (Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung) (Tagesordnungspunkt 19) Manfred Kolbe (CDU/CSU): Lassen sie mich zunächst vorausschicken, dass meine Fraktion, die CDU/ CSU, die Steuerhinterziehung energisch bekämpft. Während bis 2005 unter Rot-Grün in dieser Richtung wenig passiert ist, hat die unionsgeführte Große Koalition seit 2005 zahlreiche gesetzgeberische Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung auf den Weg gebracht. Der verfassungsrechtlich problematische § 370 a Abgabenordnung, gewerbsmäßige oder bandenmäßige Steuerhinterziehung, wurde gestrichen und die entsprechende Qualifizierung als neuer § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 AO neu gefasst. Damit ist eine wirksamere Strafverfolgung der bandenmäßigen Hinterziehung von Umsatz- oder Verbrauchsteuern möglich. Das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung vom 21. Dezember 2007 nimmt erstmals mit diesem § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 AO einen qualifizierten Steuerhinterziehungstatbestand in den Katalog des § 100 a StPO auf, der ohne Wissen der Betroffenen eine Telekommunikationsüberwachung und Aufzeichnung ermöglicht. Damit wird erstmalig eine Telekommunikationsüberwachung für schwere Steuerhinterziehungstatbestände ermöglicht. Das Jahressteuergesetz 2009 vom 19. Dezember 2008 verlängert in § 376 AO die Verjährungsfrist für besonders schwere Fälle der Steuerhinterziehung auf zehn Jahre. Auch die Steuerfahndung in Deutschland war grundsätzlich erfolgreich. Jahr für Jahr haben wir rund 40 000 Verfahren, 17 000 Strafverfahren und Mehreinnahmen in Milliardenhöhe. Zu begrüßen ist auch, dass der Bundesgerichtshof die Strafzumessungsregeln bei Steuerhinterziehung präzisiert hat. Der Strafrahmen von bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe ist durchaus ausreichend, als problematisch empfunden wurde aber mitunter dessen mangelnde Ausschöpfung durch einzelne Urteile. Der Bundesgerichtshof hat jetzt entschieden, dass Freiheitsstrafen künftig schon bei einem Steuerschaden von mehr als 50 000 Euro möglich und ab 100 000 Euro unerlässlich sind, allerdings bei Ersttätern noch zur Bewährung ausgesetzt werden können. Bei Hinterziehung in Millionenhöhe schließt der Bundesgerichtshof die Möglichkeit einer Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung grundsätzlich aus. Wer künftig Steuern in Millionenhöhe hinterzieht, sitzt tatsächlich im Gefängnis. Schließlich haben wir im Mai 2009 den Koalitionsantrag "Steuerhinterziehung bekämpfen" beschlossen, der eine weitere Vielzahl von zu ergreifenden Maßnahmen enthält. Insbesondere fordert er im internationalen Bereich eine Überarbeitung und umfassende Erweiterung der Europäischen Richtlinien zur Zinsbesteuerung und einen verbesserten Informationsaustausch auf internationaler Ebene. Besonders im internationalen Bereich sind wir durch Anstrengungen aller großen Industriestaaten deutlich weitergekommen und haben jetzt weitgehend einen Informationsaustausch nach Art. 26 des OECD-Musterabkommens durchgesetzt. Derzeit laufen zahlreiche Verhandlungen mit Staaten, die dazu bisher nicht bereit waren. Der heute in erster Lesung von der Fraktion der SPD eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung macht gleich zu Beginn durch dreierlei erstaunliche Umstände auf sich aufmerksam: Erstens liegt dieser seit langem angekündigte Gesetzentwurf erst seit gestern ausformuliert dem Hause vor. Diese lange Reife ist offenbar auf heftige Geburtswehen zurückzuführen. Offenbar war man sich auch unter Sozialdemokraten nicht ganz einig, ob es tatsächlich sinnvoll ist, die seit über 100 Jahren in der deutschen Steuerrechtsordnung verankerte Möglichkeit der strafbefreienden Selbstanzeige abzuschaffen. Jedenfalls dort, wo die Sozialdemokraten noch regieren und den Finanzminister stellen, herrscht eine etwas realitätsbezogenere Sichtweise. So verteidigte der rheinland-pfälzische Finanzminister Carsten Kühl, SPD, die Strafbefreiung durch Selbstanzeige bei Steuerdelikten gegen Kritik aus seiner Partei mit den Worten: Ich bin dafür, dass wir die Möglichkeit der Strafbefreiung durch Selbstanzeige beibehalten. Letztlich profitiert der Staat davon, denn wer sich selbst anzeigt, muss alles offenlegen. Das ist viel effektiver als der Einsatz von Ermittlern. Zweitens fällt auf, dass die Sozialdemokraten ihren Gesetzentwurf nicht mit übertriebender Energie einbringen, wenn sie heute auf die mündliche Erörterung im Plenum verzichten und alle Reden zu Protokoll gegeben werden. Drittens schließlich ist der Gesetzentwurf denkbar einfach gestrickt und fordert die völlige Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige. Anstatt sich differenzierte Gedanken zu machen, wie dieses Instrument fortentwickelt werden kann und kriminalpolitische Zielsetzungen einerseits und fiskalpolitische Zielsetzungen andererseits besser vereinbart werden können, heißt es nur: Weg damit! Dies ist zu einfach gestrickt und wird der Bekämpfung der Steuerhinterziehung nicht gerecht. Meine Fraktion tritt einerseits für die Beibehaltung der strafbefreienden Selbstanzeige gemäß § 371 Abgabenordnung ein, möchte aber andererseits dort, wo die Selbstanzeige mit krimineller Energie bereits von Anfang an in die Steuerhinterziehungsplanung mit einbezogen wird, engere Schranken ziehen. Die "strafbefreiende Selbstanzeige" ist der verfassungsrechtlich anerkannte Weg zurück in die Steuerehrlichkeit. Den Regelungen der strafbefreienden Selbstanzeige nach § 371 AO liegen dabei fiskal- und kriminalpolitische Zielsetzungen zugrunde: Aus fiskalpolitischer Sicht ist § 371 AO ein Instrument zur "Erschließung bisher verheimlichter Steuerquellen". Dem an einer Steuerhinterziehung Beteiligten soll mit der in Aussicht gestellten Straffreiheit ein attraktiver Anreiz zur Berichtigung vormals unzutreffender oder unvollständiger Angaben gegeben werden, um im Interesse des Fiskus eine diesem bislang verborgene und ohne die Berichtigung möglicherweise auch künftig unentdeckt bleibende Steuerquelle zu erschließen. Daneben kommt in § 371 AO auch das strafrechtliche Prinzip zum Ausdruck, dass eine "tätige Reue" - mit der die Wirkungen einer Tat rückgängig gemacht werden - dem Täter zugutekommen soll. Änderungen in Bezug auf § 371 AO müssten daher sowohl auf die fiskalpolitischen als auch auf die kriminalpolitischen Belange abgestimmt werden. Weiter ist die strafbefreiende Selbstanzeige auch kein deutsches Sonderrecht, sondern sie gibt es in der einen oder anderen Form auch in den meisten anderen europäischen Ländern und in den USA. Schließlich ist die strafbefreiende Selbstanzeige derzeit ein besonders wirkungsvolles Instrument im Kampf gegen die Steuerhinterziehung. Seit dem Ankauf der sogenannten Steuersünder-CD in diesem Winter haben sich bisher circa 16 000 Steuerpflichtige auf Grundlage des § 371 Abgabenordnung selbst angezeigt. Experten rechnen mit wöchentlich 1 000 neuen Anzeigen, wobei mit jeder neuen angekauften Steuersünder-CD auch die Zahl der Selbstanzeiger höher werden wird. Die Finanzministerien von Bund und Ländern rechnen mit Steuernachzahlungen von mehr als 1 bis zu 3 Milliarden Euro. Genauere Schätzungen wird es beim Bericht der Steuerschätzung im Mai geben. Ohne das Instrument der Selbstanzeige würden diese Beträge niemals vereinnahmt werden können. Auch bei einer Verdoppelung oder Verdreifachung der Zahl der Steuerfahnder könnten die Tausenden von Fällen niemals ausermittelt werden. Aber: Die Flut der Selbstanzeigen zeigt aber eben auch, dass vielfach nicht ehrliche Reue der ausschlaggebende Grund für die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit ist, sondern vielmehr die Angst vor Entdeckung oder das Nichtaufgehen einer kühl kalkulierten Hinterziehungsstrategie. Wir werden deshalb die Erkenntnisse aus dem Ankauf der Steuerhinterzieher-CDs zum Anlass nehmen, die strafbefreiende Selbstanzeige mit dem Ziel zu überprüfen, dass dieses Instrument zwar notwendigerweise erhalten bleibt, aber nicht mehr als Gegenstand einer Hinterziehungsstrategie missbraucht werden kann. Folgende Änderungen wären zielführend: Erstens: Vorverlegung des Zeitpunktes der Tatentdeckung, damit für die Inanspruchnahme der strafbefreienden Selbstanzeige der Spielraum für Hinterziehungsstrategien genommen wird. Es sollte schon auf einen tatsachengestützten Anfangsverdacht abgestellt werden und nicht mehr wie bisher auf eine konkrete Tatentdeckung - Wahrscheinlichkeit der Verurteilung. Außerdem sollte schon der Zeitpunkt des Zugangs der Betriebsprüfungsanordnung und nicht mehr erst das Erscheinen des Amtsträgers zur steuerlichen Prüfung maßgeblich sein. Zweitens: Ausschluss der sogenannten Teilselbstanzeige, mit der sich Steuerhinterzieher häufig nur scheibchenweise je nach aktuellem Entdeckungsrisiko erklären. Steuerhinterzieher sollen nur noch durch eine umfassende Selbstanzeige die Strafbefreiung in Anspruch nehmen können. Damit würde verhindert, dass sich Steuerhinterzieher etwa nur im Hinblick auf die Schweiz anzeigen, verstecktes Geld in anderen Ländern jedoch weiter verschweigen. Sämtliches auf der Welt verstecktes Geld muss künftig offengelegt werden, damit die Strafbefreiung gewährt wird. Drittens: Einführung eines Zinszuschlages, damit Steuerhinterzieher bei Inanspruchnahme einer strafbefreienden Selbstanzeige am Ende wirtschaftlich auch spürbar stärker belastet sind als ehrliche Steuerzahler, die lediglich zu spät zahlen - zum Beispiel Stundungsfälle. Derzeit gilt ein Zinssatz von 6 Prozent sowohl für ehrliche Steuerzahler als auch für Steuerhinterzieher. Eine Abschaffung des § 371 Abgabenordnung wird es mit den Koalitionsfraktionen nicht geben. Wir sind für eine sachgerechte Reform dieser Vorschrift. Ziehen Sie besser Ihren Gesetzentwurf zurück, und lassen sie uns gemeinsam überlegen, wie wir Steuerhinterziehung effektiver bekämpfen können - unter fiskalischen und kriminalpolitischen Aspekten. Martin Gerster (SPD): Steuerhinterziehung war nie ein Kavaliersdelikt. Sie ist es nicht und wird es niemals sein. So weit, so gut. Das Bekenntnis zu einem entschlossenen Kampf gegen alle Formen von Steuerkriminalität hört man in diesem Haus gegenwärtig aus allen Richtungen. Wir dürfen nicht zulassen, dass es zum Lippenbekenntnis verkommt. Wo andere Leerformeln daherbeten, wollen wir Sozialdemokraten Steuerhinterziehung wirksam bekämpfen. Der von uns eingebrachte Gesetzentwurf führt deshalb den unter Finanzminister Peer Steinbrück mutig beschrittenen Erfolgsweg fort. Seinem Einsatz ist zu verdanken, dass sich das Geschäftsmodell "Steueroase" international auf dem Rückzug befindet. Das Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz hat Wirkung gezeigt. Seit Herbst 2008 haben zahlreiche Länder den OECD-Standard zu Bankauskünften akzeptiert. Damit haben sich auch die Chancen, deutschen Steuerkriminellen auf die Schliche zu kommen, deutlich verbessert. Angesichts dieser erfreulichen Entwicklung ist es jetzt an der Zeit, den Umgang mit der strafbefreienden Wirkung von Selbstanzeigen zu überdenken. Wir wollen Steuerhinterziehern in Zukunft die Möglichkeit nehmen, sich auf diesem Wege ihrer gerechten Strafe zu entziehen; denn wir sind überzeugt, dass die bisherige Regelung ihren ursprünglichen Sinn verloren hat und zu einem Instrument im strategischen Werkzeugkasten von Tätern verkommen ist, die ihre baldige Überführung fürchten müssen. Wir gehen diesen Schritt im Interesse der überwiegenden Mehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger, die ehrlich ihre Steuern zahlen, damit unser Gemeinwesen seine Leistungen erbringen kann. Deren Gerechtigkeitsempfinden wird durch die strafbefreiende Selbstanzeige in empfindlichem Maße verletzt. Umso enttäuschender ist es, dass Schwarz-Gelb - trotz vieler Sonntagsreden - bei der Bekämpfung von Steuerhinterziehung kaum wahrnehmbares Engagement an den Tag legt. In manchen Bundesländern drängt sich sogar der Eindruck auf, dass CDU und vor allem FDP mehr am aktiven Täterschutz Interesse haben als an der Aufklärung von Steuerstraftaten. Wie kann es sein, dass sich diese Bundesregierung noch immer nicht auf einen eindeutigen Kurs im Umgang mit Steuerdaten, die ihr zum Kauf angeboten werden, hat einigen können? Wie kann es sein, dass ein baden-württembergischer FDP-Justizminister sich dem Ankauf entsprechender Datenträger verweigert und dafür Bedenken vorschiebt, die sein nordrhein-westfälischer Kollege und Parteifreund offensichtlich in keinem Punkt teilt. Statt solcher taktischer Spielchen wären CDU und FDP besser beraten, ein klares Signal zu setzen: Steuerehrlichkeit ist eine Bürgerpflicht, die sich unser Staat nicht abhandeln lässt. Es darf nicht sein, dass Menschen unser Gemeinwesen über Jahre hinweg und systematisch betrügen - mit dem klaren Kalkül, sich in letzter Sekunde mit einer Selbstanzeige aus dem Sumpf der Kriminalität zu ziehen. Wir beobachten: Das Verhalten der Steuerhinterzieher wird vor allem von der Angst vor Entdeckung geleitet. Mit jeder CD mit Steuerdaten, die den Steuerbehörden einen Ankauf wert erscheint, rollte eine neue Welle von Selbstanzeigen an. Mittlerweile sind es mehr als 16 000, davon allein 4 300 aus meinem Heimatland Baden-Württemberg. Die Selbstanzeigen kommen und gehen - das Phänomen der Steuerflucht bleibt bestehen; denn offensichtlich erscheint vielen Steuerkriminellen das Risiko, erwischt zu werden, noch zu gering. Deshalb streben wir einen Strategiewechsel an, der das uralte Gezeitenspiel von Steuerflucht und Selbstanzeige neuen Regeln unterwirft. Wir müssen klare Kante ziehen: Der § 371 der Abgabenordnung ist ersatzlos zu streichen. Ab dem 1. Januar 2011 muss die Tür zur Flucht in die Selbstanzeige geschlossen sein. Bis dahin bleibt jenen, die den Rückweg in die Steuerehrlichkeit suchen, eine letzte Frist. Um wirksam zu werden, muss diese Maßnahme jedoch durch weitere Anstrengungen flankiert werden. Das heißt, wir müssen unseren Finanzbehörden bereits im Besteuerungsverfahren die notwendigen Mittel an die Hand geben, um auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene erfolgreich und effizient zusammenzuarbeiten. Gleichzeitig muss uns daran gelegen sein, das Schwert der Steuerfahndung so scharf zu halten, dass potenziellen Steuerhinterziehern das Entdeckungsrisiko jederzeit klar vor Augen steht. Deshalb müssen wir den Finanzbehörden die notwendigen Mittel in die Hand geben, um im In- und Ausland effizient zu ermitteln. Der ein oder andere mag nun argumentieren, durch eine Streichung von § 371 AO würde das Element der "tätigen Reue" zu kurz kommen. Darüber können wir diskutieren. Ich gebe aber zu bedenken: Das Prinzip wird weiterhin im Steuerstrafverfahren berücksichtigt werden. Insofern bieten sich auch ohne die völlige Straffreiheit bei Selbstanzeige hinreichende Anreize für Steuerkriminelle, mit den Behörden zusammenzuarbeiten. Wir Sozialdemokraten im Deutschen Bundestag streben mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Steuerhinterziehung an. Nicht mehr und nicht weniger. Auch aufseiten unseres früheren Koalitionspartners gab es ja noch vor kurzem Anzeichen, uns auf diesem Weg zu folgen. Ich denke da nicht nur an den Kollegen Hans Michelbach, sondern vor allem an den saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller, der sich in dieser Frage ganz in unserem Sinne geäußert hat. Ich darf ihn aus der Frankfurter Rundschau vom 22. Februar zitieren: Steuerhinterziehung ist soziales Schmarotzertum. Sie muss konsequent verfolgt werden. ... Steuerhinterzieher dürfen künftig nicht mehr generell straffrei davonkommen, wenn sie sich selbst anzeigen. ... Der Staat kann sich doch nicht seinen Anspruch, Unrecht zu bestrafen, abkaufen lassen. Wer Unrecht begeht, muss dafür geradestehen, egal, ob es Körperverletzung oder ein Steuerdelikt ist, und egal, ob es sich um einen armen Schlucker oder einen Millionär handelt. Leider ist bis auf Ankündigungen nicht viel von Ihrem Elan übrig geblieben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union. Als es vor der Osterpause um das Thema Steuerkriminalität ging, haben Sie von uns konkrete Vorschläge eingefordert. Wir legen hier einen konkreten Vorschlag vor. Zwischenzeitlich hatten Sie ja mit einem eigenen Gesetzentwurf geliebäugelt. Gestern im Finanzausschuss war nur noch von einem Antrag die Rede. Schlagen Sie sich nicht zu ihrem Koalitionspartner ins gelbe Gebüsch! Verpassen Sie nicht die Chance, hier gesetzliche Fakten zu schaffen! Ich lade Sie herzlich ein, sich aus ihrer Koalition der Unwilligen zu lösen und gemeinsam mit uns die mittlerweile überkommene Regelung zur Straffreiheit bei Selbstanzeige aus der Welt zu schaffen. Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu, und setzen Sie ein Zeichen, dass es Ihnen mit dem Kampf gegen Steuerkriminalität ernst ist! Frank Schäffler (FDP): "Die Strafe tritt nicht ein, falls der Schuldige, bevor die Sache zur Untersuchung an das Gericht abgegeben ist, seine Angaben an der zuständigen Stelle berichtigt oder vervollständigt." - Diese Regelung stand im Sächsischen Einkommensteuergesetz vom Dezember 1874. 126 Jahre Rechtsgeschichte wollen Sie seitens der SPD-Fraktion nun einfach in den Wind schlagen. Und auch auf diesem Gebiet ist es so, wie wir es schon kennen: Die SPD hat elf Jahre den Finanzminister gestellt und blieb in vielen Feldern untätig. Nun, da sie das Ministerium nicht mehr führt, bricht der Aktionismus aus. Sie hätten die strafbefreiende Selbstanzeige ja längst abschaffen können, wenn Sie denn wirklich davon überzeugt wären. Sie können sich seitens der SPD-Fraktion auch nicht mit Hinweis auf den Koalitionspartner herausreden. Denn Sie schreiben ja in dem Antrag mehrfach, was die SPD alles gegen die Union durchgesetzt habe. Nach Ihrer eigenen Darstellung hätten Sie es dann auch hier schaffen müssen. Aber wahrscheinlich wissen Sie selbst, dass es nicht sinnvoll ist, die strafbefreiende Selbstanzeige abzuschaffen. Seit Jahresbeginn haben sich 13 000 Steuerpflichtige selbst angezeigt. Ihre Nachzahlungen summieren sich auf 1,1 Milliarden Euro. Hätte es die strafbefreiende Wirkung der Selbstanzeige nicht gegeben, hätten es viele Steuerpflichtige sicherlich darauf ankommen lassen und sich nicht bei ihrem Finanzamt gemeldet. Der Staat ist bei der Besteuerung auf die Mitwirkung des Steuerpflichtigen angewiesen. Wenn jedoch ein Strafverfahren läuft, wird die steuerliche Mitwirkungspflicht verdrängt. Dann gilt der Grundsatz, dass sich niemand selbst belasten muss. Das Ermittlungsverfahren und das Gerichtsverfahren werden entsprechend aufwendiger und am Ende besteht die Gefahr, dass doch nicht alles aufgedeckt wird. Dies macht deutlich, dass der Zweck der strafbefreienden Wirkung der Selbstanzeige ja gerade darin besteht, die Gleichmäßigkeit der Besteuerung sicherzustellen. Es ist gerade auch im Interesse der ehrlichen Steuerzahler, dass Steuerhinterzieher sich offenbaren und damit ihrer Steuerpflicht nachkommen. Dadurch können sie umfassend nachbesteuert und auch Mittäter und Gehilfen verfolgt werden. Durch eine Selbstanzeige werden dem Staat auch Steuerquellen für die Zukunft erschlossen. Hat der Steuerpflichtige die verborgene Steuerquelle aufgedeckt, so ist es ihm in der Zukunft nicht mehr möglich, diese Quelle nicht mehr anzugeben. Der Staat wird deshalb auch in Zukunft von dieser Steuerquelle profitieren. Eine Möglichkeit, das Besteuerungsrecht des Staates durchzusetzen, besteht auch in der derzeit stockenden Überarbeitung der EU-Zinsrichtlinie. Dadurch kann eine Quellenbesteuerung im Ausland ermöglicht werden, die höher ist als die deutsche Abgeltungsteuer. Die Bundesregierung ist dabei, den Informationsaustausch mit ausländischen Staaten zu verbessern. Wir machen das übrigens, anders als Herr Steinbrück, auch ohne befreundete Staaten zu beschimpfen. Dadurch steigen die Erfolgsaussichten deutlich. Wir werden als Koalition die Einzelheiten der Regelung der strafbefreienden Selbstanzeige genau prüfen und sie auch entsprechend ändern. Eine pauschale Streichung, wie sie die SPD vorschlägt, lehnen wir ab. Vor allem werden wir aber das Steuersystem einfacher und gerechter machen. Laut einer Umfrage der Stiftung Marktwirtschaft halten rund 50 Prozent der Deutschen Steuerhinterziehung für vertretbar. Wir werden mit einer Steuerreform dazu beitragen, dass diese Zahl deutlich sinkt. Richard Pitterle (DIE LINKE): In meiner Nachbarstadt Leonberg hat die Stadtverwaltung vorgeschlagen, alle fünf Jugendhäuser zu schließen und die Sozialarbeiter zu entlassen. In meiner Gemeinde Sindelfingen, einst eine der reichsten Städte, wurde beschlossen, eine Schule, die hervorragende Sozialarbeit betreibt, zu schließen. Eine Hortgruppe soll trotz einer langen Warteliste aufgelöst werden. Menschen, die Kinder in Musik unterrichten, sollen aus einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis in ein Honorarverhältnis gezwungen werden, wodurch sie ein Stück Lebenssicherheit verlieren. Viele Gemeinden reduzieren ihre sozialen und kulturellen Angebote. Und das alles mit dem Argument, es sei kein Geld da. Aber das Geld ist da. Es liegt bei den Banken in der Schweiz, in Liechtenstein oder auf einer exotischen Insel, weil "ehrenwerte" Bürger dieser Gesellschaft das Geld, das wir dringend zur Finanzierung von wichtigen Aufgaben benötigen, der Besteuerung entziehen wollen. Die genaue Höhe der jährlichen Steuerhinterziehung lässt sich bekanntermaßen nicht genau beziffern. Wenn jedoch durch die Arbeit von Steuerfahndern, trotz des Personalmangels bei den Finanzämtern, im Jahr 2004 1,6 Milliarden Euro zusätzlich eingenommen wurden, kann man sich vorstellen, welche Reserven hier stecken. Der jüngste Fall des Steuer-CD-Ankaufs aus der Schweiz hat die Höhe der Steuerhinterziehungen ebenfalls deutlich bewiesen: Bei den bundesdeutschen Finanzämtern sind nach einer Medienmeldung bis heute rund 16 000 Selbstanzeigen mit einer durchschnittlichen Rückzahlung von 60 000 Euro pro Anzeige, also insgesamt circa 1 Milliarde Euro, eingegangen. Da kann man schon eine ziemliche Wut bekommen. Und ganz nebenbei: Steuersünder-CD, das klingt so verharmlosend, ein wenig nach dem Motto: wir sind doch alle Sünder vor dem Herrn. Daher spreche ich lieber von einer Steuerkriminellen-CD. Laut Medienberichten sollten sogar bis zu 100 000 Deutsche 23 Milliarden Euro an der Steuer vorbei auf Schweizer Konten deponiert haben und die Schweiz ist ja auch nur eine der sogenannten Steuer-oasen. Das ist doch ein Skandal. Daher habe ich großes Verständnis für den Antrag der SPD, die Straffreiheit bei Selbstanzeigen abzuschaffen. Dieses Anliegen findet auch die Unterstützung meiner Fraktion. Nun lese ich Vorschläge von einigen Finanzpolitikern der Regierungsparteien, wie die Möglichkeit für eine straflose Selbstanzeige eingeschränkt werden könnte, darunter einige Vorschläge, mit denen ich persönlich auch mitgehen könnte. Aber die Frage ist doch, Herr Dautzenberg: Warum entfalten Sie Ihre Fantasie auf diesem Gebiet, nachdem die SPD den Antrag gestellt hatte, die strafbefreiende Selbstanzeige zu streichen? Da kommt doch der Verdacht auf, dass es Ihnen darum geht, den Antrag der SPD aufzuweichen und sich schützend vor die Steuerhinterzieher zu stellen. Wir brauchen jetzt von der Regierung Taten und nicht nur Ankündigungspolitik, die davon ablenkt, dass die Koalition zugelassen hat, dass sich Vermögende legal oder auch illegal der Steuerzahlung entziehen können. Ich appelliere an die Bundesregierung: Sorgen Sie auch durch konsequente Bekämpfung der Steuerhinterziehung dafür, dass die Kommunen wieder ihren Pflichtaufgaben nachkommen können! Sorgen Sie endlich für Steuergerechtigkeit bei uns im Land! Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir diskutieren heute den Gesetzentwurf der SPD zur Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung. Ich sage es ganz offen: Mich überzeugt weder der Zeitpunkt der Einbringung noch der Inhalt des Vorschlags der SPD. Vor zwei Tagen kannten wir noch nicht mal den Text des Gesetzentwurfs. Auf Biegen und Brechen muss er heute, in der letzten Sitzungswoche des Bundestages vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, diskutiert werden. Die SPD-Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer wollen ab morgen im Land ausschwärmen und sich mit dieser Initiative schmücken. Die Begründung des Gesetzes ist außerordentlich dürftig und kümmerlich. Eigentlich habe ich nur ein "Argument" in Ihrem Entwurf gelesen: "Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass die Möglichkeit zur Selbstanzeige mit Straffreiheit keinen Rückgang der Steuerhinterziehung bewirkt, sondern nur den Täter vor Bestrafung bewahrt." Im Jahre 2001 hat die damalige Bundesregierung - zuständig waren der sozialdemokratische Finanzminister Eichel und die sozialdemokratische Justizministerin Däubler-Gmelin - auf Anfrage der PDS erklärt: "Bei der Selbstanzeige handelt es sich um ein Rechtsinstrument, das sich über Jahrzehnte hervorragend bewährt hat" - Bundestagsdrucksache 14/6723. Ein Jahr später hat der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und einer ihrer Finanzexperten, der Kollege Poß, erklärt, die Selbstanzeige sei eine "goldene Brücke", die nicht infrage gestellt werden dürfe - siehe Handelsblatt vom 5. April 2002. Ich frage Sie deshalb angesichts ihres heutigen Gesetzesvorschlags: Was ist nun richtig: Hat sich die Selbstanzeige im Steuerrecht jahrzehntelang hervorragend bewährt oder ist sie seit Jahrzehnten nutzlos und kontraproduktiv? Die strafbefreiende Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung gibt es in Deutschland durchgehend seit 1874. So hieß es in Art. 30 des Badischen Kapitalrentensteuergesetzes vom 29. Juni 1874: "Wird die unterbliebene oder zu niedrig abgegebene Erklärung späterhin nachgetragen oder berichtigt, bevor das Vergehen ... angezeigt worden ist, so fällt jede Strafe weg." Eine Vorschrift, die es seit 140 Jahren ununterbrochen - wenn auch in verschiedenen Gesetzen und Formulierungen - gibt, kippt man nicht so mir nichts, dir nichts wegen eines laufenden Wahlkampfs in Nordrhein-Westfalen über den Haufen; und das auch noch ohne jede überzeugende Begründung. Wenn die Behauptung der SPD richtig wäre, dass die Selbstanzeige über Jahrzehnte zum Rückgang der Steuerhinterziehung nichts beigetragen habe, müsste sie wenigstens verlässliche Zahlen zum Umfang der Steuerhinterziehung und ihrer Entwicklung über Jahrzehnte vorlegen. Nichts davon können wir in der Begründung lesen, dafür aber mehr vom angeblichen "Rechtsempfinden der Bevölkerung". Das Bundesministerium der Finanzen hat auf seiner Homepage die Ergebnisse der Steuerfahndung 2008 zusammengefasst. Dort können wir die Aussage lesen: "Das tatsächliche Ausmaß der Steuerhinterziehung ist nicht messbar." Auch zu Ausmaß und Entwicklung der Selbstanzeigen sind verlässliche Zahlen schwer zu bekommen. Gestern konnten wir im Stern von rund 16 000 Selbstanzeigen seit Kenntnis vom drohenden Ankauf der Daten aus der Schweiz lesen. Das erscheint ein rasanter Anstieg, der uns sowohl fiskalisch als auch rechtspolitisch freuen könnte. Im Jahre 2001 hat die Bundesregierung auf eine Anfrage der FDP folgende Zahlen bekannt gegeben: Im Jahr 1998 gab es 10 400, im Jahr 1999 26 365 und im Jahr 2000 27 334 Selbstanzeigen. Es liegt auf der Hand und ist unmittelbar einleuchtend: Nicht alle, die zur Selbstanzeige greifen, tun dies aus Gründen der moralischen Läuterung. Das wäre auch sehr verwunderlich: Wir verlangen ja nicht mal von den Bürgerinnen und Bürgern insgesamt, dass sie gerne Steuern zahlen. Es reicht in einem Rechtsstaat völlig, wenn sie es tun, weil sie dazu verpflichtet sind. Damit komme ich zum Kernpunkt des Problems, wie wir Grüne ihn sehen: Steuerhinterziehung ist eindeutig eine kriminelle Handlung und kein Kavaliersdelikt. Die wirksamste Bekämpfung - im Sinne der SPD gesprochen: "der Rückgang der Steuerhinterziehung" - ist nur zu erreichen durch erhöhten Verfolgungsdruck, ein hohes Entdeckungsrisiko, durch eine schnelle und schuldangemessene Bestrafung, vollständige Nachzahlung der Steuern und Abschöpfung aller Vorteile aus der Straftat. Was ist also zu fordern, welche Maßnahmen sind notwendig und überfällig? - Wir brauchen die Austrocknung der Steueroasen, keine Duldsamkeit mehr mit Staaten, die steuerrechtlich unkooperativ sind - niemand will ernsthaft, wie es aber der letzte sozialdemokratische Bundesfinanzminister halb im Scherz, aber mit drohendem Unterton vorschlug, mit der Kavallerie einmarschieren; es würde reichen, die Mechanismen der OECD-Standards konsequent anzuwenden -, eine konsequente Verfolgung der professionellen Anstifter und Helfershelfer - seien es auch honorige Banken oder Freiberufler -, eine Aufstockung und Ausrüstung der Steuerfahndung und nicht zuletzt eine Bundessteuerverwaltung. Das sind die Kernaufgaben. Der Streit um die Selbstanzeige ist ein populistischer Nebenkriegsschauplatz. Die Selbstanzeige ist eine Rückkehr zu Steuerehrlichkeit und Rechtstreue - aus welchen Motiven auch immer. Sie völlig abzuschaffen ist kontraproduktiv und rechtspolitisch verfehlt. Wir Grünen sind überzeugt vom Grundgedanken der Zurückdrängung des Strafrechts auf einen Kernbereich unerträglichen, verwerflichen Verhaltens und wollen einen Ausbau des Grundgedankens der Straffreiheit bei tätiger Reue und nicht seine völlige Beseitigung im Steuerstrafrecht. Das bedeutet nicht, dass die Regeln zur Selbstanzeige nicht zu verbessern wären. Wir können Wiederholungstätern die rote Karte zeigen. Wir können die Bedingungen der Freiwilligkeitsschwelle schärfer fassen, und wir können die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit auch teurer als bisher machen: Wenn schon - siehe die "goldene Brücke" des Kollegen Poß -, dann wollen wir den Brückenzoll erhöhen. Dazu werden wir konkrete und konstruktive Vorschläge machen. Dem Populismus der SPD werden wir aber nicht folgen. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Umgang mit Guantánamo-Häftlingen (Zusatztagesordnungspunkt 5) Rüdiger Veit (SPD): Mit dem vorliegenden Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen soll die Bundesregierung aufgefordert werden, die Bitte der USA, Häftlinge aus Guantánamo in Deutschland aufzunehmen, solidarisch zu prüfen. Worum geht es hier im Kern? Am 11. Januar 2002 wurden die ersten Gefangenen auf den US-Militärstützpunkt Guantánamo Bay in Kuba gebracht. Seither ist das Lager zusammen mit dem Gefängnis Abu-Ghraib zum Synonym für den Exzess im Kampf gegen den Terror und zum Sündenfall der USA und damit der westlichen Welt und ihrer Werte, allen voran dem absoluten Schutz der Menschenrechte und -würde geworden: Seit sage und schreibe acht Jahren werden in Guan-tánamo nunmehr Menschen ohne Anklage, Anrufung eines Gerichts und ohne anwaltliche Verteidigung ihrer Freiheit beraubt. Unbestritten wurden die Gefangenen Verhörmethoden unterzogen, die Folter und grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung gleichkommen. Insgesamt wurden in Guantánamo rund 800 Männer interniert. Ende 2009 saßen in Guantánamo immer noch 198 Gefangene. 103 Gefangene sollen in ihre Heimatländer oder Drittstaaten gebracht werden, weil gegen sie offenbar nichts vorliegt; eine Reihe von Gefangenen will die US-Regierung in den USA vor Zivilgerichten anklagen. 45 Gefangene können nicht in ihre Heimat zurückkehren, weil ihnen dort Gefahren für Leib und Leben drohen; zum Teil sogar deshalb, weil sie als Guantánamo-Häftlinge stigmatisiert sind. Bei diesen 45 Personen handelt es sich um Gefangene, die bereits unter der Bush-Regierung befragt und überprüft worden sind und dann noch einmal unter der Obama-Administration und bei denen beide Untersuchungen zweifelsfrei ergeben haben, dass gegen sie nichts vorliegt und keine Anklage vor einem US-Gericht erhoben wird. Dieser Sachverhalt wurde mir und weiteren Kollegen der SPD-Fraktion anlässlich eines Treffens am 10. Februar 2010 von Vertretern von ai und von Rechtsanwälten, die Guantánamo-Häftlinge vertreten haben, dargelegt. Darunter war RA Zachary Katznelson, US-amerikanischer Rechtsanwalt und Chefberater für "Reprieve", einer in London ansässigen Organisation, der sich für unrechtmäßig Inhaftierte sowie zum Tode Verurteilte einsetzt. RA Katznelson hat 40 Gefangene in Guantánamo vertreten und berichtete glaubwürdig, dass gegen die oben genannten 45 Personen nichts, aber auch gar nichts, vorliegen würde. Ich möchte noch einmal wiederholen: Gegen insgesamt 103 Gefangene wurden keine Verfahren eröffnet. Sie wurden acht Jahre unschuldig und willkürlich in Guantánamo festgehalten und mussten Unvorstellbares erleiden. So steht Guantánamo heute in aller Welt für einen totalen, verabscheuungswürdigen Bruch mit den Grundlagen aller demokratischen Rechtsstaaten der westlichen Welt, in deren Reihen sich nach eigenem Selbstverständnis sicherlich auch die USA sieht, so dass sie - die internationale Gemeinschaft demokratischer Staaten - ihren Beitrag dazu leisten sollte, dass dieses menschenverachtende Lager schnellstens aufgelöst wird. Man kann es vereinfacht auch so auf den Punkt bringen: Wer Guantánamo kritisiert und zugleich Mitglied dieser westlichen Wertegemeinschaft ist, muss letztlich selbst einen Beitrag leisten wollen, um in seiner Kritik glaubwürdig zu bleiben. Ich darf erinnern: Bereits vor eineinhalb Jahren, im November 2008, fand ein erstes Treffen von ai und Anwälten des US-amerikanischen Center for Constitutional Rights und Innnenpolitikern aller im Bundestag vertretenen Fraktionen statt, bei dem die Anwälte auf die schreckliche Lage der Inhaftierten hinwiesen und im Vorfeld der Wahl von Barack Obama die Situation und Bereitschaft europäischer Staaten zur Aufnahme von ehemaligen Guantánamo-Häftlingen sondierten. Im Anschluss an dieses Treffen habe ich je ein Schreiben an den Bundesminister des Auswärtigen Amts und an den Bundesinnenminister geschrieben, in dem ich um die Aufnahme überprüfter und zu unrecht inhaftierter Häftlinge gebeten habe. In den diesbezüglich gleichlautenden Antworten aus beiden Ministerien wurde ich darauf verwiesen, dass abzuwarten sei, was die "künftige US-Regierung nach ihrem Amtsantritt am 20. Januar 2009 unternehmen wird, um dieses Vorhaben - die Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo - umzusetzen". Heute ist die neue US-Regierung bekanntermaßen seit über einem Jahr im Amt und Guantánamo Bay ist immer noch nicht geschlossen. Allerdings hat die US-Regierung inzwischen offiziell Deutschland um Hilfe bei der Aufnahme von ehemaligen Häftlingen gebeten, die - aus welchen Gründen auch immer - nicht in ihre Heimat zurückkönnen. Die SPD unterstützt ausdrücklich die Ankündigung von Bundesinnenminister Thomas de Maizière, nunmehr nach Vorliegen entsprechender konkreter Anfragen der USA auch in Deutschland einige Gefangene aufnehmen zu wollen und somit die im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen enthaltene Forderung an die ganze Bundesregierung, in eben dieser Weise tätig zu werden. Solche Herangehensweise steht in Kontinuität zur Auffassung unseres Fraktionsvorsitzenden und damaligen Bundesaußenministers Dr. Frank-Walter Steinmeier und der SPD-Fraktion. Dagegen vorgebrachte Sicherheitsbedenken einiger CDU-Bundestagskollegen und einiger der CDU angehörenden Länderinnenminister sind abwegig: Bei den infrage kommenden Menschen handelt es sich ja gerade um solche, die eben nicht wegen des Verdachts terroristischer Aktivitäten in den Vereinigten Staaten vor Gericht gestellt werden - gegen die möglicherweise niemals wirklich konkrete Verdachtsmomente vorgelegen haben, sondern von dritter Seite gegen entsprechende "Kopfprämien" an die Vereinigten Staaten "verkauft" wurden. Allenfalls verständlich ist in diesem Zusammenhang noch die Haltung, vielmehr seien es die USA selbst sozusagen als Verursacher, die zu einer menschenwürdigen Behandlung dieser gequälten Menschen und damit zu ihrer Aufnahme in ihren Staat aufgerufen seien. In der Tat, die USA hätte wohl alle Veranlassung zu wahrhaft großherziger Wiedergutmachung. Dass dies nicht geschieht, muss man auch gegenüber unserem Verbündeten politisch scharf kritisieren. Jedenfalls darf es die internationale Völkergemeinschaft nicht hinnehmen, dass Gefangene aus Guantánamo in Heimat- und/oder Herkunftsstaaten gebracht werden, in denen ihnen aus welchen Gründen auch immer Gefahren für Leib, Leben oder ihre Freiheit drohen. Daneben gibt es aber auch noch eine ganz andere Problematik zu berücksichtigen, die meines Erachtens bisher nicht ausreichend beleuchtet wurde: Selbst in Fällen, in denen die USA ihrerseits bereit sein sollten, ehemaligen Häftlingen die Einreise zu erlauben, ist ja wohl auch die Gefühlslage der Betroffenen zu berücksichtigen. Wem will man es verdenken, dass er sich nicht in die Obhut eben desjenigen Staates begeben will, der ihn womöglich jahrelang gequält und mindestens seiner Freiheit grundlos beraubt hat? Schließlich kann man vom Opfer einer schweren Straftat schlecht verlangen, dass er nach der Tat ins Haus des Täters sozusagen zur Untermiete einzieht. Dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist zu entnehmen, dass von den europäischen Staaten derzeit Frankreich, Italien, Ungarn, Albanien, die Schweiz und die Slowakei der Bitte der USA nachgekommen sind und bereits ehemalige Häftlinge aufgenommen bzw. zugesagt haben, dies zu tun. Die Bundesregierung hat jahrelang verlangt, Guan-tánamo zu schließen. Wenn sie nun durch die Aufnahme einiger weniger von Sicherheitsbehörden wiederholt überprüfter ehemaliger Inhaftierter - und meinetwegen auch nach einer nochmaligen eigenständig durchgeführten Überprüfung - die Schließung dieses fürchterlichen Camps beschleunigen kann, dann sollte sie nicht mehr lange zögern. Auch dies ist eine Frage der Glaubwürdigkeit. Ich schlage vor, aus all den vorher genannten Gründen den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zu unterstützen. Serkan Tören (FDP): Wie nicht anders zu erwarten, lehnen wir den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab. Der Antrag ist weder substanziiert, noch bietet er inhaltlich etwas Neues. Er greift in ein laufendes Prüfungsverfahren ein, dessen Ausgang noch völlig offen ist. Da dieses Thema allerdings für die FDP besonders essenziell ist, möchte ich ausführlich darauf eingehen. Auf dem US-amerikanischen Militärstützpunkt Guan-tánamo Bay werden von den USA bis heute circa 180 Terrorverdächtige unter rechtsstaatlich zweifelhaften Bedingungen gefangen gehalten. Aus Sicht der FDP ist die Schließung des Gefängnisses in Guantánamo ohne Zweifel überfällig. Dieses Lager hätte niemals gegründet werden dürfen. Die Obama-Administration hat mit der erklärten Absicht zur Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo einen wesentlichen Politikwechsel bei der Terrorismusbekämpfung eingeleitet, der sehr im europäischen Interesse liegt. Die US-Regierung hat zahlreiche Schritte unternommen, um Lösungen für die noch verbliebenen Häftlinge zu finden, etwa eine Freilassung oder fortgesetzte Inhaftierung im Hinblick auf Gerichtsverfahren vor zivilen Straf- oder Militärgerichten. Unsere Position als FDP-Bundestagsfraktion war und ist, dass ehemalige Guantánamo-Häftlinge zunächst von ihren Heimatländern aufgenommen werden müssen. Wenn dies nicht möglich ist, zum Beispiel wegen drohender Folter, dann stehen die Vereinigten Staaten in der Pflicht, das von ihnen geschaffene Unrecht zu beseitigen. Dazu gehört neben der Frage des Aufenthaltes auch die Beantwortung der Frage der Entschädigung der unschuldig einsitzenden Häftlinge. Falls eine Aufnahme in den USA nicht möglich oder zumutbar ist, dann sollte sich die Bundesrepublik Deutschland einer Aufnahme nicht grundsätzlich verschließen. Es gibt seit Monaten intensive Gespräche zwischen dem Bundesinnenministerium und den amerikanischen Behörden. Wir Liberalen begrüßen ausdrücklich, dass der Bundesinnenminister über konkrete Fälle verhandelt, die für eine Ausreise nach Deutschland infrage kommen. Es geht hierbei ausdrücklich um "einzelfallbezogene Prüfungen". Demnach ist zunächst zu prüfen, ob von dem betreffenden Häftling eine Gefahr für die innere Sicherheit in Deutschland ausgeht. Falls dies nicht der Fall ist, ist zu prüfen, weshalb die jeweilige Person nicht in den Vereinigten Staaten verbleiben oder in ihr Heimatland reisen kann. Für die FDP-Bundestagsfraktion steht fest, dass wir grundsätzliche Sicherheitsrisiken schon im Vorfeld ausschließen wollen. Falls wir aus humanitären Gründen ehemalige Häftlinge aufnehmen, müssen alle Sicherheitsbedenken bei jedem einzelnen Exhäftling geprüft und ausgeräumt werden. Die FDP unterstützt daher uneingeschränkt das Vorgehen von Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière. Der Minister agiert aus unserer Sicht sehr vorsichtig und verantwortungsbewusst. Wir teilen in der christlich-liberalen Koalition die Auffassung, dass wir weder Straftäter noch potenzielle Gefährder nach Deutschland holen wollen. Es muss um diejenigen Häftlinge gehen, die selbst nach Einschätzung der USA jahrelang unschuldig und unrechtmäßig in dem umstrittenen Lager festgehalten worden sind. Auf keinen Fall darf auf Deutschland ein nicht kalkulierbares Sicherheitsrisiko zukommen. Wir gehen davon aus, dass die amerikanische Seite dies genauso gewissenhaft und gründlich prüft, wie unser Bundesinnenminister. Gemeinsam mit unserem Koalitionspartner sind wir uns allerdings auch darüber einig, dass die Prüfung noch nicht abgeschlossen ist. Worum es letztlich auch geht, ist, ob und wie wir der USA als unserem wichtigsten Bündnispartner Hilfeleistung geben können. Daher dürfen wir uns in dieser Frage nicht verbarrikadieren. Den Antrag der Grünen lehnen wir allerdings schon allein deshalb ab, da er mit der Aufforderung an die Bundesregierung, solidarisch die Aufnahme von Guan-tánamo-Häftlingen zu prüfen, nichts wesentlich Neues bringt, sondern eine Tatsache beschreibt, welche zurzeit ein Prüfverfahren durchläuft. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Linke plädiert entschieden dafür, Häftlinge aus Guantánamo aufzunehmen. Diese Forderung richten wir schon seit langem an die Bundesregierung. Der hauptsächliche Grund hierfür ist ein humanitärer: Die Gefangenen, über die wir hier sprechen, werden keinerlei Straftat beschuldigt. Nicht einmal die USA, die bekanntlich jahrelang Foltermethoden angewandt haben, können diesen Häftlingen auch nur die geringste Straftat anhängen. Es sind Unschuldige, die seit Jahren illegal, in völlig unzumutbarer und unmenschlicher Haft gehalten werden, was jedem demokratischen Anspruch spottet. Die Frage, die sich stellt, ist natürlich: Was hat Deutschland damit zu tun? Ist das nicht ein Problem der USA, die das Folterlager ja selbst geschaffen haben und jetzt auch selbst damit zurande kommen sollen? Nein, so einfach ist es nicht. Zunächst ist da die humanitäre Seite, die ich gerade angesprochen habe. In den USA können diese Menschen schließlich nicht bleiben, das könnte ihnen auch keiner zumuten. Die Aufnahmebereitschaft der BRD würde ihnen dagegen endlich die Freiheit bringen, und wir würden damit dem Beispiel anderer Staaten folgen. Es gibt aber auch eine politische Begründung: Die Bundesrepublik steckt selbst bis zum Hals im Guantánamo-Sumpf, sie hat sich selbst mitschuldig gemacht und muss wenigstens ansatzweise Wiedergutmachung leisten. Das ist übrigens ein Thema, über das die Grünen in ihrem Antrag wohlweislich nicht reden. Schließlich waren sie selbst in jener Regierung, die den USA im Jahr 2001 "unbedingte Solidarität" gelobt hat und sich dem schmutzigen Krieg gegen Afghanistan angeschlossen hat. Schließlich waren die Grünen Teil jener Regierung, die den US-Geheimdiensten beim weltweiten Entführen und Foltern geholfen hat. Ich erinnere an Murat Kurnaz aus Bremen, der vier Jahre in Guantánamo inhaftiert war, ohne dass Rot-Grün auch nur einen kleinen Finger für seine Freilassung bewegt hätte. Ich erinnere an den Ulmer Khaled el-Masri, der nach allem, was wir wissen, von den deutschen Behörden regelrecht an die CIA verkauft worden ist und der von den Folgen seiner Haft bis heute schwerst traumatisiert ist. Ich erinnere an den in Italien lebenden Imam Abu Omar, der von US-Diensten illegal festgenommen und über den deutschen Flughafen Ramstein verschleppt wurde. Der Sonderbeauftragte des Europarates, Dick Marty, hat in jahrelanger Kleinarbeit das globale Entführungsnetzwerk der CIA aufgedeckt und dabei auch eindeutig festgestellt, dass etliche europäische Regierungen massive Beihilfe dazu geleistet haben. Auch die Bundesregierung hat beide Augen zugedrückt, wenn US-Flugzeuge durch den deutschen Luftraum, über deutsche Flughäfen Menschen verschleppt haben, die ohne Haftbefehl, ohne Anklage und ohne jegliche Verteidigungsmöglichkeit nach Guantánamo und in andere Folterlager verbracht wurden. Sie hat nichts dagegen getan, stattdessen hat sie hinterher jeglichen Aufklärungsversuch nach Kräften vereitelt. Ich erinnere darüber hinaus daran, dass auch deutsche Geheimdienste nach Guantánamo in der Hoffnung gereist sind, aus diesen verschleppten, gefolterten, traumatisierten Gefangenen noch Informationen herauszulocken und vom Foltersystem der USA zu profitieren. An all diesen Menschenrechtsverbrechen hat sich die damalige Grünen-SPD-Regierung beteiligt, und ich finde es nahezu beschämend, dass die Grünen dazu bis heute nicht stehen wollen und sich hier als unschuldige Lämmer darstellen. Und dann legen sie einen vollkommen nichtssagenden Schaufensterantrag vor, in dem die Bundesregierung zu etwas aufgefordert wird, was sie ohnehin tut, nämlich Aufnahmegesuche der USA zu prüfen. Dieser Antrag bringt uns also in der Debatte überhaupt nicht weiter! Beschämend ist auch das Gebaren vor allem der CSU, deren Vertreter sich in der bisherigen Debatte hinstellen und so tun, als ginge sie das Ganze nichts an. So etwa der bayerische Innenminister Joachim Herrmann, der vor wenigen Wochen barsch erklärte: "Nach Bayern kommt mir keiner rein." Hermann vertritt die Logik, die voriges Jahr auch der alte Innenminister Wolfgang Schäuble verfolgt hat: Wer in Guantánamo inhaftiert war, wird schon irgendwie Dreck am Stecken gehabt haben, sonst hätten die USA ihn ja nicht inhaftiert. - Mit dieser Logik lässt sich nun wirklich jedes Willkürregime rechtfertigen. Aus Sicht der Linksfraktion ist es also ein Akt der Wiedergutmachung, wenigstens einigen der Häftlinge eine Zukunftsperspektive in Deutschland zu bieten. Ich will allerdings ausdrücklich betonen, dass es uns hier, anders als im Grünen-Antrag formuliert, nicht um Solidarität mit den USA geht. Es geht uns einzig und allein um Solidarität mit den unschuldigen, widerrechtlich eingesperrten Menschen. Es geht uns darum, den Menschenrechten wieder Geltung zu verschaffen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bundesrepublik Deutschland ist in der humanitären Pflicht, Gefangene aus Guantánamo aufzunehmen. Die Menschenrechte sowie die Achtung und der Respekt vor der Würde eines jeden Menschen lassen der Bundesrepublik Deutschland in dieser Frage überhaupt keine andere Wahl. Guantánamo ist das Kainsmal und der Schandfleck der westlichen Demokratien in ihrem Kampf um Menschenrechte. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dies bereits im Jahre 2006 erkannt, als sie dem Spiegel sagte: Eine Institution wie Guantánamo kann und darf auf Dauer so nicht existieren. Es müssen Mittel und Wege für einen anderen Umgang mit den Gefangenen gefunden werden. Diese Haltung verdient aktive Unterstützung. Vollkommen zu Recht sagte deshalb Bundesinnenminister Thomas de Maizière am 8. April 2010 im ZDF-Morgenmagazin: Wenn unser wichtigster Bündnispartner uns um Hilfe bittet, dann ist das allemal eine solidarische Prüfung wert. Und genau dies fordert nun unser Antrag. Wir unterstützen die Bundeskanzlerin und den Bundesinnenminister damit gegen ihre eigene Fraktion. Denn große Teile der Union sind in der Frage, ob die Aufnahme von Häftlingen aus Guantánamo solidarisch geprüft werden solle, ganz anderer Auffassung als die Bundeskanzlerin und der Bundesinnenminister. Der Fraktionschef der Union hier im Bundestag, Volker Kauder, machte deutlich, dass die Bundestagsabgeordneten von CDU und CSU die Pläne geschlossen ablehnen. Der bayerische Innenminister Herrmann, CSU, sagte: "Nach Bayern kommt mir keiner rein." Der Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestages, Bosbach, CDU, äußerte, "Es muss ja Gründe geben, warum diese Menschen noch inhaftiert sind, und deshalb gibt es nur zwei Möglichkeiten: Rückkehr in die Heimatländer oder Aufnahme in den Vereinigten Staaten." Erika Steinbach, CDU, meint, es könne nicht sein, dass amerikanische Gerichte den Guantánamo-Häftlingen ein Bleiberecht verweigerten "und als Konsequenz daraus andere Länder Hilfestellung geben sollen". Der sächsische Ministerpräsident Tillich, CDU, sagte: "Wir sehen uns nicht in der Pflicht. Wir haben sie schließlich auch nicht gefangen genommen." Der niedersächsische Innenminister Schünemann, CDU, schloss für sein Bundesland die Aufnahme von Häftlingen ebenfalls aus. "Es hat sich gezeigt, dass freigelassene Häftlinge Straftaten begangen haben", sagte er. Offensichtlich weiß also in der Union die linke Hand nicht, was die rechte tut. Dies wäre nicht weiter neu und auch nicht weiter bemerkenswert, wenn die Leidtragenden dieser Querelen nicht unschuldige Menschen wären. Doch leider trägt die Union in der Guantánamo-Debatte ihre internen Streitigkeiten auf den Rücken von Gefangenen aus, die ohne Grund und ohne Anklage seit Jahren eingesperrt sind. Das zeigt einmal mehr, dass es der Union an einem Kompass in der Menschenrechtspolitik fehlt. Menschenrechtspolitik ist nicht nur das Zeigen mit dem Finger auf ferne Länder und das Schwingen von Sonntagsreden. Menschenrechtspolitik bedeutet, auch die Innenpolitik und das eigene konkrete Handeln nach menschenrechtlichen Standards auszurichten. Das haben die CDU-Landesinnenminister offensichtlich vergessen. Dabei müssten sie doch nur dem Bundesinnenminister zuhören: Solidarische Prüfung bedeutet nämlich nichts weiter, als sich für unschuldige Menschen einzusetzen und damit einen Beitrag zur Stärkung der Menschenrechte und des Völkerrechts zu leisten. Prüfung heißt auch, zu klären, welches Bundesland wie viele Häftlinge aufnimmt. Wenn es am Ende der Prüfung keine Aufnahme gäbe, wäre dies unsolidarisch. Doch nicht nur unter humanitären Gesichtspunkten ist die Bundesrepublik Deutschland in der Pflicht, Guan-tánamo-Häftlinge aufzunehmen. Auch die transatlantische Partnerschaft mit den USA gebietet eine kooperative Grundhaltung der Bundesrepublik Deutschland. Die Schutzbehauptung, wir hätten keine Verantwortung für die Gefangennahme der Häftlinge, ignoriert die stillschweigende Arbeitsteilung im Bündnis. Zu Beginn des Einsatzes hat Deutschland die schwierigeren Aspekte gern seinen Bündnispartnern überlassen, jetzt will die Union nicht einmal ansatzweise dabei helfen, die schlimmen Folgen zu beseitigen. Doch nur weil Deutschland im Gegensatz zu den USA in Afghanistan merkwürdigerweise nie Gefangene gemacht hat, sind wir an der Situation der Guantánamo-Häftlinge nicht unschuldig. Wir können nicht einfach so tun, als seien wir nie dabei gewesen. Genau jetzt ist die Zeit gekommen, den USA im Rahmen unseres Bündnisses zur Seite zu stehen. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel in der vergangenen Woche in die USA reisen wollte, hatte sie für Präsident Obama eigentlich bereits ein Geschenk in ihren Koffer gepackt: die Zusage, die Aufnahme von Häftlingen aus Guantánamo solidarisch prüfen zu wollen. Dieses Geschenk musste sie infolge des unionsinternen Wirrwarrs wieder auspacken und wurde so von ihren eigenen Leuten ohne echte Verhandlungsmöglichkeiten nach Washington D. C. geschickt. Das war die peinliche außenpolitische Auswirkung dieses Hickhacks. Das ist einer Regierungspartei absolut unwürdig und schadet dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland. Unsere Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen macht sich schon seit Jahren für eine Aufnahme unschuldiger Häftlinge aus Guantánamo stark. Denn für uns ist eines ganz klar: Ein Gefangenenlager, wie Guantánamo es war und heute immer noch ist, hätte in dieser Form und unter diesen Umständen bereits gar nicht eröffnet werden dürfen. Rasch wurde der ganzen Welt klar, dass in Guan-tánamo Menschenrechte und Grundfreiheiten auf das Schlimmste verletzt werden. Das Lager besteht jedoch unter anderem weiterhin fort, weil sich auch für diejenigen Inhaftierten, gegen die selbst die USA keine strafrechtlichen Vorwürfe erheben und die aus Gründen ihrer Sicherheit nicht in ihre Heimatstaaten zurückgeschickt werden können, nicht genügend Drittstaaten für ihre Aufnahme finden. Warum die Bundesrepublik hier nicht Hilfe anbietet, ist mir unbegreiflich. Viele unserer europäischen Partner haben es vorgemacht: Frankreich, Italien, Ungarn, Albanien, Portugal, die Schweiz oder die Slowakei. Warum nicht wir? Die Unions-Kakophonie muss jetzt endlich ein Ende haben, damit die Bundesregierung ihren humanitären Verpflichtungen endlich nachkommen kann. Dazu braucht es nicht viel: Wir bitten die Koalitionsfraktionen aus CDU/CSU und FDP nur darum, einem wörtlichen Zitat des von ihnen gewählten Bundesinnenministers zuzustimmen. Bitte stimmen Sie daher unserem Antrag zu: "Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die Bitte der USA, Häftlinge aus Guantánamo zu übernehmen, solidarisch zu prüfen." Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Barack Obama, hat von seiner Vorgängerregierung als Erbe das Gefangenlager in Guantánamo übernehmen müssen, ein Erbe, das das Ansehen der USA bis heute belastet. Präsident Obama hat am 22. Januar 2009 angeordnet, alle Insassen des Gefängnisses auf Guantánamo überprüfen zu lassen, um eine zeitnahe Schließung zu erreichen. Hinsichtlich der Personen, gegen die die USA strafrechtliche Vorwürfe erheben wollen, bemüht sich die US-Administration in Zusammenarbeit mit dem US-Kongress um die Schaffung einer eigenen Bundeshaftanstalt in Illinois (Thomson Correctional Center). Hinsichtlich der Personen, bei denen die Überprüfung der US-Behörden keinen strafrechtlichen Vorwurf ergeben hat (cleared for release), bittet die US-Administration befreundete Staaten um Prüfung einer Übernahme. Unter diesen Staaten befinden sich viele Mitgliedstaaten der Europäischen Union und auch Deutschland. Auch der Rat der Europäischen Union hat sich in seiner Schlussfolgerung vom 4. Juni 2009 aus rechtsstaatlichen und humanitären Erwägungen dafür ausgesprochen, Präsident Obama bei der Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo zu unterstützen und sich in der Folge auf gemeinsame Regeln für die Aufnahme von ehemaligen Insassen geeinigt. Verschiedene europäische Staaten haben seitdem bereits Personen aus Guantánamo aufgenommen, bei denen die USA und die Aufnahmeländer keinen Anlass für eine strafrechtliche Verfolgung sahen. Der Guantánamo-Sondergesandte der USA hat im Dezember 2009 erneut an das Bundesministerium des Innern die Bitte gerichtet, bestimmte Personen für eine Übernahme nach Deutschland zu überprüfen. Der in- frage kommende Personenkreis wurde zunächst durch die Bundessicherheitsbehörden anhand eigener und von den US-Behörden übermittelter Erkenntnisse sowie anhand von Informationen der Sicherheitsbehörden der EU-Mitgliedstaaten überprüft. Zudem reiste Ende März dieses Jahres eine deutsche Delegation, bestehend aus Mitarbeitern des Bundesministeriums des Innern, des Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, nach Guantánamo. Derzeit erfolgt eine Auswertung dieser Dienstreise und weiterer Sicherheitserwägungen, auf deren Grundlage der hierfür nach dem Aufenthaltsgesetz zuständige Bundesminister des Innern seine Entscheidung treffen wird. Diese Prüfung umfasst vor allem die Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Deutschland, die Abwägung humanitärer Aspekte sowie möglicher ausländerrechtlicher und sicherheitsbehördlicher Begleitmaß-nahmen. Ich bitte um Verständnis, wenn die Bundesregierung während eines laufenden Prüfverfahrens hierzu keine weiteren Einzelheiten erläutern kann. Deutschland hat bereits in der letzten Legislaturperio-de im August 2006 den türkischen Staatsangehörigen Murat K. aus Guantánamo aufgenommen. Die vormalige rot-grüne Koalition hatte sich aus Sicherheitserwägungen gegen eine Aufnahme von Murat K. entschieden. Erst mit der Regierungsübernahme durch Bundeskanzlerin Merkel erfolgte eine Neubewertung, bei der am Ende humanitäre Erwägungen den entscheidenden Ausschlag gegeben haben. Die Bundesregierung bleibt, in Kontinuität mit der Vorgängerregierung, bei ihrer Haltung, die Vereinigten Staaten von Amerika bei ihren Bemühungen zur Auflösung des Gefangenlagers zu unterstützen. Wir wollen unseren selbst gesetzten humanitären Verpflichtungen gerecht werden, ohne dabei die Sicherheit zu vernachlässigen. Dies im Einzelfall umzusetzen, erfordert schwierige Abwägungen, die zurzeit ergebnisoffen laufen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat beantragt, der Deutsche Bundestag möge die Bundesregierung auffordern, die Bitte der USA, Häftlinge aus Guantánamo zu übernehmen, solidarisch prüfen. Dieser Antrag ist abzulehnen, weil dies - im Gegensatz zur rot-grünen Koalition - durch die jetzige Bundesregierung längst geschieht. 1 Ergebnis Seite 3572 D 2Anlage 2 3 Anlage 3 4 Anlage 4 5 Anlage 5 6 Anlage 6 7Anlage 6 ______ ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ 3492 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 37. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 37. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3493 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 38. Sitzung - 4. April 2003 3501 3658 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 37. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 37. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3659