Ein Kanzlerbesuch in Washington allein macht noch keinen Frühling in den transatlantischen Beziehungen. Den guten Willen in Ehren - damit die Wiederannäherung der USA an "Old Europe" inklusive Deutschlands nach den Erschütterungen des Irak-Krieges gelingt, müssen beide Seiten noch ein hartes Stück Arbeit leisten: Tiefgreifende Differenzen in der Wahrnehmung der internationalen Bedrohungssituation einerseits und die Uneinigkeit über die Strategien als Antwort auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen nach dem 11. September andererseits prägen, ja belasten nach wie vor die notdürftig gekittete transatlantische Gemeinschaft.
Dies bleibt nicht ohne schwerwiegende Folgen: Das "drohende Schisma" (Harald Müller) schwächt die westliche Welt im Kampf gegen den internationalen Terror und gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und es gefährdet durch den Rückgriff der USA in seiner Rolle als Hegemon und Ordnungsmacht vorzugsweise auf militärische Mittel zur Krisenintervention den rechtlichen Standard der internationalen Beziehungen, namentlich die Vereinten Nationen. Dieses Resultat förderte die jüngste Jahreskonferenz der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Berlin zu Tage. Namhafte Politiker und Wissenschaftler diesseits und jenseits des Atlantiks debattierten dort Kernfragen, über die die westliche Gemeinschaft sich verständigen muss: Wie kann die Proliferation von Massenvernichtungswaffen - eines der größten Sicherheitsrisiken nach dem Irak-Krieg - effektiv unterbunden werden? Wie können Risiko-Staaten wie Iran, Pakistan und Nordkorea zur Aufgabe ihrer Atomprogramme bewegt werden? Welche Rolle sollen das Völkerrecht und Rüstungskontrollregime in Zukunft spielen und müssen die Vereinten Nationen reformiert werden? Hebelt die US-Strategie des militärischen Erstschlags, nicht geradezu die Errungenschaft des Völkerrechts mit seinem grundsätzlichen Verbot von Angriffskriegen aus? Welchen sicherheitspolitischen Beitrag kann, soll und will die Europäische Union neben den USA leisten? Überfordert sich die EU mit der Formulierung einer eigenständigen Sicherheitsstategie, die erhebliche Ressourcen beansprucht, oder kann sie die präferierten kooperativen Lösungs-ansätze sinnvoll in eine transatlantische Arbeitsteilung einbringen?
Wie sich herausstellte, ist die Perzeption der Bedrohung in den USA nach den Terroranschlägen sehr viel tiefgreifender als in Europa (Karsten Voigt). Während die USA glauben, bereits im "zweiten nuklearen Zeitalter" angekommen zu sein, sind die Europäer noch dem ersten verhaftet (Michael Rühle). Demzufolge ist auch die Neigung in der US-Politik zu "radikalen Lösungen" stärker ausgeprägt. Dies zeigt sich deutlich im Fall Iran: Nach Auffassung des Staatssekretärs für Rüstungskontrolle im US-Statedepartment, John Bolton, liegen trotz des Einlenkens Teherans in der Frage der Atomkontrolle für die USA "alle Instrumente auf dem Tisch". Auch andere außenpolitische Experten halten die Option eines Regimewechsels zum Beispiel in Iran für denkbar (Muravchik).
Während diese Sichtweise bei europäischen Friedensforscher auf zahlreiche Bedenken stieß, wirkten umgekehrt in den USA die ersten Gehversuche der Europäischen Union auf dem Feld der Sicherheitspolitik - niedergelegt in dem Strategiepapier zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungpolitik - als riskante "Emanzipation" von den USA (Archik).
Demgegenüber trifft die Erstschlagsdoktrin sowohl bei Völkerrechtlern in Europa wie auch in den USA auf massive Kritik. Zwar müsse die UN-Charta den neuen Herausforderungen - vor allem dem Auftreten zur Gewalt bereiter nichtstaatlicher Akteure - angepasst werden. Eine faktische Auflösung des Gewaltverbots durch die USA würde wahrscheinlich viele Nachahmer finden (Thielmann, State Department). Skeptisch zeigten sich US-Wissenschaftler (O'Connell), ob die USA überhaupt ein Interesse daran haben, das internationale Recht und die UN zu stärken. Auf der deutschen Seite zeigten Politiker (Roland Koch) jedoch auch ein gewisses Verständnis für eine weite Auslegung des Selbstverteidigungsrechts.
Dass die Konflikte im weiteren Nahen Osten - die (demokratische) föderale Konstituierung und der Wiederaufbau des Irak und seine Eingliederung in die Weltgemeinschaft, der Palästina-Konflikt und die Transformation des Iran - zur entscheidenden Bewährungsprobe für die Neuformulierung einer gemeinsamen Sicherheitspolitik Europas und der USA werden wird, stand auf der HSFK-Tagung außer Frage.
Europäische Diplomatie und amerikanischer Druck könnten "auf gleicher Augenhöhe" (Scharioth, Auswärtiges Amt) hier in einem "neuen transatlantischen Projekt" zusammenwirken. Die Kehrseite der Medaille: Ohne die USA und den Einsatz ihres - oft in Europa gescholtenen - Machtpotenzials, das heißt bei einer Politik des Disengagements (Paasch/Stürmer), wäre eine Stabilisierung zum Beispiel des Iraks kaum denkbar. Das Risiko eines erneuten Scheiterns in den Konfliktregionen wie auch transatlantischer Frustrationen ist jedoch groß (Müller). Ein anderer Krisenherd wurde mit Pakistan ausgemacht (Uta Zapf), dessen absolute Unberechenbarkeit bei der Verbreitung von waffenfähigem Atommaterial und entsprechendem Know how erst vor wenigen Wochen aufgedeckt worden war. Ein Tatbestand, der die für den Westen ein akutes Risiko bedeutet.
Mehrere Ansatzpunkte gemeinsamer Politik ausgemacht, Grundsatzdifferenzen zwar nicht gelöst, aber eine gemeinsame Rückbesinnung auf die Wertebasis angeregt - so lautete denn auch die abschließende Zusammenfassung der Tagungsergebnisse durch Harald Müller.