Landauf, landab ist von einer "Krise" der deutschen Außenpolitik die Rede. Ob diese (oft parteipolitisch gefärbte) Rede sinnvoll ist, kann bezweifelt werden. Immerhin könnte sie dazu anregen zu bedenken, dass in einer Krise das deutlich wird, was zuvor bereits vorhanden war oder sich entwickelt hat, ohne ganz ins öffentliche Bewusstsein zu gelangen.
Auf unsere Thematik bezogen, heißt das: In der Irakpolitik sind die Grundbefindlichkeit und die Problematik der außenpolitischen Orientierung Deutschlands im neuen europäischen und internationalen System manifest geworden. Die eigentliche Zäsur waren der Zusammenbruch des bipolaren Systems und die veränderte (teils unipolare, teils multipolare) Machtverteilung im internationalen System sowie die Machtverschiebungen in Europa; auch die Reaktionen auf den 11. September 2001 sind nur im Lichte dieser neuen internationalen Machtrelationen zu verstehen. Bereits seit 1990/91 bestand also objektiv die Notwendigkeit, die außenpolitische Staatsräson des wieder vereinigten Deutschland zu bestimmen; d.h., unter Beachtung der internen Wertepräferenz (die sich offenbar nicht geändert hatte) die außenpolitischen Handlungsmaximen Deutschlands aus der Einsicht in die neuen internationalen Bedingungen herzuleiten und so eine Orientierung für aktuelle Entscheidungssituationen zu gewinnen.
Einige Wissenschaftler haben derartige Versuche unternommen. Aber von wenigen Ansätzen - wie dem Schäuble-Lamers-Papier und der Humboldt-Rede des "Privatmanns" Joschka Fischer abgesehen, sind die politisch Verantwortlichen und die "politische Klasse" dieser notwendigen Diskussion ein Jahrzehnt lang ausgewichen. Nicht, dass es in dieser Zeit keine gravierenden außenpolitischen Entscheidungen gegeben hätte. Es gab sie bekanntlich in beachtlicher Zahl. Sie wurden jedoch nicht zum Anlass einer grundlegenden, umfassenden Debatte genommen, sondern ad hoc getroffen, teilweise unter der Hand oder im Falle der Grundsatzentscheidung über Auslandseinsätze der Bundeswehr von dem "pouvoir neutre", dem Bundesverfassungsgericht (dessen irreführende Einordnung der NATO als kollektives Sicherheitssystem zusätzlich dazu beitrug, die qualitative Veränderung der NATO diskussionslos mitzuvollziehen). Schließlich ist auch die Entscheidung im Falle Iraks ad hoc und zunächst ohne Strategiediskussion getroffen worden (zudem primär unter innenpolitischen Wahlkampferwägungen).
Diese Praxis der Ad-hoc-Entscheidungen, die lediglich im Falle der Teilnahme an dem Anti-Terror-Kampf von der Sache her zwingend war, wird nun zunehmend als unbefriedigend empfunden, so dass die überfällige Grundsatz- und Strategiediskussion in Gang zu kommen scheint. Das erklärt sich aus dem Sachverhalt, dass die Irak-Entscheidung Krieg oder Frieden auch das Verhältnis zur stärksten Macht, den USA, betraf und die Kontinuitätsthese in Frage stellte, so dass jetzt sogar von extremer Diskontinuität die Rede ist; Gerhard Schröder sei "zum Abrissunternehmer der Kohl'schen Außenpolitik" (so die "Frankfurter Allgemeine Zeitung") geworden. Vor allem aber erklärt sich die neue Bereitschaft zur außenpolitischen Grundsatzdiskussion daraus, dass die USA nach dem Terroranschlag vom 11. September im September 2002 eine neue Nationale Sicherheitsstrategie formuliert und dann 2003 gegen den Irak angewandt haben, die eine Neuordnung der Weltpolitik nach hegemonial-imperialen Prinzipien anstrebt und mithin Deutschland und ihre anderen Verbündeten vor die Notwendigkeit stellt, im Lichte der und in Reaktion auf die amerikanische Strategie ihre eigene ordnungspolitische Orientierung zu bestimmen.
Was anfangs wahltaktisch bedingt schien oder auch tatsächlich so motiviert war, erhielt daher eine strategische Qualität. So hat Bundeskanzler Schröder bereits im Februar 2003 vor der SPD-Fraktion den ordnungspolitischen Kern seines Nein zur amerikanischen Intervention im Irak benannt: Es gehe um die Frage, "ob es eine einzelne Macht gibt (d.h. geben soll W. L.), die die Dinge in der Welt bestimmt". Und später hat er in einer gemeinsamen Erklärung mit Präsident Jacques Chirac das Nein mit dem Anspruch verbunden, eine "Europe puissance" und eine "multipolare Welt" zu fördern. Neuerdings bevorzugt der Bundeskanzler die Bezeichnung "kooperative Weltordnung" (so in seinem Interview mit der Zeitschrift "Internationale Politik"). Der Unterschied, ja Gegensatz zur amerikanischen Ordnungspolitik ist eindeutig und unübersehbar - ebenso wie die ordnungspolitische Übereinstimmung zwischen Deutschland und Frankreich. Die Gegensätze wurden und werden im UN-Sicherheitsrat am sichtbarsten ausgetragen. Die antiimperiale, pluralistische Politik der beiden EU-Führungsmächte wurde für zahlreiche außereuropäische Staaten eine hoffnungsvolle Alternative zur amerikanischen Politik.
Um die skizzierte Entwicklung und den gegenwärtigen Orientierungsversuch verstehen zu können, muss ein fundamentaler Zusammenhang in Erinnerung gerufen werden: Die Frage der deutschen Außenpolitik war stets zugleich die Frage nach der gesamteuropäischen Ordnung. Und seit in den internationalen Beziehungen die Dominanz des Europäischen Systems von dem Weltsystem abgelöst wurde, ist die europäische Ordnungspolitik stets auch mit der Frage nach der weltpolitischen Ordnung verbunden. Die Präambel des Grundgesetzes hat diese Verzahnung treffend und mit klarer Wertepräferenz zum Ausdruck gebracht: Deutschland bekundet seinen Willen, "als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". Sowohl Europa als auch die Welt haben sich in dem oben skizzierten Sinne verändert, und zwar in unerwarteter Weise. Bis 1989 galt die Annahme, die Überwindung der deutschen Teilung könne nur nach der Überwindung der europäischen Teilung in einer neuen gesamteuropäischen Friedensordnung realisiert werden. 1989/90 wurde die Sequenzannahme plötzlich widerlegt: Die Wiedervereinigung Deutschlands erfolgte, bevor eine gesamteuropäische Friedensordnung entstanden war. Jetzt musste die Organisation Gesamteuropas und die Einordnung Deutschlands in sie gewissermaßen nachgeholt werden - unter maßgeblicher Beteiligung des wieder vereinigten Deutschland. Die qualitative Unterscheidung bei der Maxime "Westbindung und Ostverbindungen", die für die "alte" Bundesrepublik galt, war obsolet geworden.
In dieser Situation habe ich argumentiert, dass - in Anbetracht der geopolitischen Lage Deutschlands, seiner internen Wertepräferenz und der globalen Machtrelationen - die Entwicklung Europas mit konföderalen und föderalen Strukturen in einem balancierten Weltsystem (vor allem mit einem balancierten Verhältnis zwischen Europa und den USA) für Deutschland von höchstem Interesse sei und seine außenpolitische Handlungsmaxime begründe. In der Tat blieb in den neunziger Jahren Deutschland fest in die bis dahin auf den Westen beschränkten Systeme eingebunden, und die Ausweitung der EG und der NATO auf ganz Europa wurde von Deutschland mitinitiiert und aktiv unterstützt. Kontinuität mit Ausweitung! Die deutsche Interessendefinition konnte sich im Einklang mit derjenigen seiner europäischen Nachbarn und der USA fühlen. Allerdings ahnten einige, dass eine sich erweiternde EG keine hinreichende Bindekraft und Handlungsfähigkeit haben würde. So plädierte Präsident Franc<,ois Mitterrand 1990/91 für eine vertiefte EG als Kern einer weiteren gesamteuropäischen Konföderation. Die mittel- und osteuropäischen Staaten lehnten dieses Ordnungskonzept ab, so dass es keine Realisierungschancen hatte. Und als 1994 das Schäuble-Lamers-Papier eine im Grunde ähnliche Konstruktion vorschlug ("Kern-Europa"), wurde dieses Konzept weder von Helmut Kohl noch von Mitterrand unterstützt - eine verpasste "Sternstunde" Europas! Fortan lautete die Devise im europäischen Beziehungszusammenhang: "Parallelität" von Erweiterung und Vertiefung, ohne dass die geographischen Grenzen der Erweiterung bestimmt und die Vertiefung inhaltlich und institutionell geklärt wurden. Im transatlantischen Beziehungszusammenhang entsprach dem die angestrebte Parallelität von Osterweiterung und Transformation der NATO. Unterstellt wurde die Vereinbarkeit beider Entwicklungen.
Das gegenwärtige doppelte Dilemma der deutschen Außenpolitik besteht darin, dass beide Parallelpolitiken sich bisher nicht erfolgreich verwirklichen ließen und die unterstellte Vereinbarkeit aufgrund der neuen amerikanischen Politik in Frage gestellt wurde.
Nun wird die Vertiefung der europäischen Integration zur Aufgabe nach der großen EU-Erweiterung, die zum 1. Mai in Kraft tritt. Diese erweiterte EU wird in vielerlei Hinsicht eine neue EU sein - mit einer Reihe unabsehbarer Folgen. Eine Folge ist freilich absehbar und sicher: Die EU der 25 bzw. die EU der 25 plus x (vermutlich einschließlich der Türkei) wird weit heterogener als die EU der 15 und insgesamt weit weniger integrationsfreudig und konsensfähig sein. Polens beharrliches Bemühen um eine günstige Sperrminoritätsklausel und die ausdrückliche Absage des tschechischen Staatspräsidenten an eine gemeinsame europäische Außenpolitik sind klare Indizien. Deutschland und mit ihm Frankreich sind aber unter den neuen Bedingungen in noch stärkerem Maße als früher vital daran interessiert, dass die Verbindung von "integrativem Gleichgewicht" und gemeinsamer Führungsmöglichkeit erhalten bleibt und den neuen Gegebenheiten angepasst wird. Diese Kombination hat die Hegemonie eines Staates und damit auch die deutsch-französische Hegemoniekonkurrenz ein halbes Jahrhundert lang ausgeschlossen und würde sie auch künftig ausschließen, wenn die EU politisch relevant, d.h. entscheidungs- und handlungsfähig bliebe, also wenn europäische Politikentscheidungen nicht unter der Blockadedrohung oder der tatsächlichen Blockade einer integrationsunwilligen Minderheit fraglich oder gar unwahrscheinlich werden.
Angesichts dieser Problemlage ist das Konzept der "differenzierten Integration" die einzig mögliche Antwort. Diejenigen Staaten, die in einzelnen Bereichen zur gemeinsamen Politik willens und fähig sind, müssen vorangehen können, ohne von einer integrationsunwilligen Minderheit daran gehindert zu werden. Ob man die pro-aktive Gruppe als "Kerngruppe" oder "Kernkoalition", "Pioniergruppe" oder "Avantgardegruppe" bezeichnet und von verschiedenen "Geschwindigkeiten" spricht oder andere Metaphern wählt, ist ein semantisches Problem. Entscheidend ist die Intention, Handlungsfähigkeit bei Berücksichtigung der blockadeträchtigen Heterogenität der Gesamt-EU zu erlangen.
Dass sich die deutsche Außenpolitik an dem Konzept der differenzierten Integration orientiert, ist aus den erwähnten Gründen eine problemadäquate Entscheidung, die bisher der deutschen Öffentlichkeit nicht hinreichend vermittelt worden ist. Der aktuelle Grund dafür ist vermutlich, dass die deutsche Regierung bei den Schuldzuweisungen für das Scheitern der Brüsseler Konferenz im Dezember des vergangenen Jahres aus der Schusslinie bleiben möchte. Deshalb operiert der Kanzler mit einer Scheinalternative: Entweder werde der Verfassungsvertrag doch noch im Laufe dieses Jahres abgeschlossen oder einzelne Länder würden bei der Vertiefung der Integration "vorausgehen". Der Kanzler hat hinzugefügt, er wünsche sich ein solches "Europa der zwei Geschwindigkeiten" nicht, müsse sich jedoch darauf einstellen, "dass die Entwicklung in diese Richtung laufen könne". Außenminister Fischer hat sich ähnlich geäußert.
Wenn man jedoch genauer hinsieht, handelt es sich hier gar nicht um Alternativen, sondern um ein und dieselbe Entwicklung, die mit oder ohne Verfassungsvertrag stattfinden dürfte. Denn auch der Verfassungsvertrag würde - wenn er doch noch in Kraft träte - ein Europa der zwei Geschwindigkeiten fördern. Entsprechende Bestimmungen, die schon in früheren EU-Verträgen enthalten sind, werden im vorliegenden Vertragsentwurf ausgeweitet. Das ist im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik am deutlichsten sichtbar und zugleich am wichtigsten. Der Verfassungsvertrag eröffnet nämlich die Möglichkeit, dass eine Gruppe von EU-Staaten mit einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik beginnt, der sich später andere EU-Staaten anschließen können (so wie das z.B. bei der Europäischen Währungsunion bereits heute der Fall ist). Deutschland und Frankreich haben die Initiative für eine derartige "strukturierte Zusammenarbeit" ergriffen. Und dann haben sie zusammen mit Großbritannien einen Protokollvermerk zu dem betreffenden Verfassungsartikel erarbeitet, in dem sie (wieder ähnlich wie bei den Kriterien für den Beitritt zur Währungsunion) die Bedingungen und verbindlichen Leistungen benennen, an die der Beitritt zur Verteidigungsunion geknüpft ist. Auch die erforderlichen Planungs- und Führungsstellen werden geschaffen. Sowohl die deutsche als auch die französische Regierung haben mehrfach betont, dass die "verstärkte" bzw. "strukturierte" Zusammenarbeit einer Gruppe von EU-Staaten in verschiedenen Politikbereichen auf jeden Fall (d.h. notfalls auch ohne Verfassungsvertrag) angestrebt werden wird.
Eine erfolgreiche Politik im Rahmen der EU ist generell die Voraussetzung für eine konstruktive Außenpolitik Deutschlands. Die Entwicklung einer autonomen europäischen Sicherheitspolitik wäre auch der notwendige Beitrag zur Transformation der NATO in eine balancierte europäisch-amerikanische Allianz. Diese Transformation ist aus europäischer und speziell aus deutscher Sicht noch dringlicher geworden, seit sich die NATO aus einem Bündnis zur Verteidigung gegen die sowjetische Bedrohung zu einem globalen Interventionsbündnis gewandelt und der ordnungspolitische Dissens mit den USA eine neue Situation geschaffen hat. Es entspricht der neuen weltpolitischen Konstellation und dem neuen Charakter der NATO, dass die USA selbstverständlich von Fall zu Fall erwägen und entscheiden, ob sie sich der NATO als militärisches Instrument zur Durchsetzung ihrer Interessen bedienen wollen oder nicht. Deutschland und die anderen Bündnismitglieder müssen legitimerweise ebenfalls nach ihren Interessen eine analoge Abwägung und Entscheidung vornehmen (dürfen). Im Falle der Übereinstimmung wird ein NATO-Einsatz möglich. Solange jedoch keine eigenständige europäische Willensbildung und keine europäische Handlungsmöglichkeit auf der Basis autonomer Fähigkeiten existiert, sind die europäischen Staaten völlig davon abhängig, ob die USA die NATO einsetzen wollen oder nicht. Nur die USA verfügen ja bisher über die Alternative unabhängigen Handelns bzw. Nicht-Handelns oder der Bildung ausgewählter Koalitionen mittels bilateraler Vereinbarungen. Allein ist Deutschland kein gewichtiger Partner der USA, sondern nur im europäischen Verbund, dessen militärische Komponente bisher fehlt. Und gerade weil die europäische Integration nicht gegen die USA gerichtet und eine echte strategische Partnerschaft erstrebenswert ist, liegt es im Interesse Deutschlands und der anderen europäischen Staaten, vorrangig eine "Kernkoalition" (Maull), insbesondere eine Verteidigungsunion mit denjenigen EU-Mitgliedern, die dazu bereit sind, zu schaffen, notfalls auch gegen den Widerstand der USA, die eine Einflussminderung befürchten. Das heißt konkret für die deutsche Politik: Das Sowohl-als-auch von europäischer und atlantischer Zusammenarbeit ist im Dissensfall zugunsten der verstärkten bzw. strukturierten europäischen Zusammenarbeit aufzulösen - in dubio pro Europa.
Diese Grundorientierung deutscher Außenpolitik lässt sich in Auseinandersetzung mit den ins Feld geführten Einwänden und Alternativen verdeutlichen. Europapolitisch rangiert an erster Stelle der Einwand, "differenzierte Integration" mit deutsch-französischer Initiative und Führung, speziell die "strukturierte Zusammenarbeit" in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, spalte Europa bzw. die EU. Dieser Einwand ergibt schon allein deshalb wenig Sinn, weil das, was keine Einheit ist, nicht gespalten werden kann. Dass Europa bzw. die EU und erst recht die erweiterte EU keine außenpolitische Einheit darstellt, ist spätestens im Irak-Konflikt jedermann vor Augen geführt worden. Im Übrigen haben in der Irakkrise nicht die Ansätze einer "strukturierten Zusammenarbeit" eine gemeinsame EU-Politik verhindert, sondern die vorzeitige einseitige Unterstützung Großbritanniens für die amerikanische Interventionspolitik. Der kleine Gipfel in Brüssel, an dem Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg teilnahmen und bei dem konkrete Schritte zu einer autonomen europäischen Sicherheitspolitik vorgeschlagen wurden, fand am 29. April 2003 statt, also Wochen und Monate nach der Veröffentlichung des Briefes der Acht zur Unterstützung der amerikanischen Irakpolitik (30. Januar 2003), der nachweisbar von den USA angeregt und innerhalb der EU nicht konsultiert worden war. Kurzum: In der Irakkrise wurde der Vorhang einer vergeblich Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) hochgezogen, und es zeigte sich, dass auf der Bühne zwei europäische Außenpolitiken inszeniert wurden - unter dem Beifall des amerikanischen Verteidigungsministers, der das "neue" gegen das "alte" Europa ausspielte. Bei ähnlichen ordnungspolitischen Konflikten dürfte sich dies wiederholen, und zwar insbesondere wegen der einseitigen atlantischen Präferenz der neuen ost-mitteleuropäischen Mitgliedstaaten.
Auf die Einstellung dieser EU-Staaten bezieht sich auch der zweite Einwand: Sie seien gegen ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, aber ohne ihre Zustimmung gehe es nicht (so z.B. der frühere Bundeskanzler Kohl). Der erste Teil der Aussage ist wohl zutreffend. Aber diese Staaten haben erst recht gravierende Vorbehalte gegen eine integrierende Vertiefung der Gesamt-EU. Nicht zutreffend ist indes, dass für die verstärkte Zusammenarbeit Konsens erforderlich sei. Wenn mindestens ein Drittel der Mitgliedstaaten sich beteiligen will, kann eine qualifizierte Mehrheit einen entsprechenden Beschluss fassen. Nach dem Nizza-Vertrag haben die ostmitteleuropäischen Staaten zwar eine Sperrminorität, wenn sie gemeinsam stimmen. Das wird jedoch umso unwahrscheinlicher, je deutlicher sie die Nachteile einer Blockadepolitik erfahren. So hat schon jetzt in Polen ein Umdenken begonnen; es hat Adam Krzeminski von der polnischen Zeitung "Polityka" zu der Prognose veranlasst, Polen werde sich über kurz oder lang in Richtung auf eine "engere Umlaufbahn" um "Kerneuropa" bewegen.
Der dritte Einwand operiert mit der These, die kleineren und mittleren EU-Staaten (nicht nur die ostmitteleuropäischen) seien gegen eine deutsch-französische Dominanz. Diese Aussage ist ebenfalls zutreffend, aber die diesbezügliche Befürchtung ist unbegründet. Denn strukturell ist aufgrund der Stimmverteilung des Nizza-Vertrages und des Verfassungsentwurfs eine derartige Dominanz nicht möglich. Deutschland und Frankreich und auch Deutschland, Frankreich und Großbritannien können zu zweit bzw. "triangulär" nur dann führen, wenn sie für Akzeptanz sorgen, d.h., wenn sie eine hinreichende Zahl von mittleren und kleineren Staaten überzeugen und "mitziehen" (wie es in der deutsch-französischen Erklärung zum 40. Jahrestag des Elysée-Vertrages heißt). Das Zustandekommen des "Protokolls" zur strukturierten Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf der EU-Außenministerkonferenz in Neapel (28./29. November 2003) - mit dem vorangegangenen deutsch-französischen-britischen Berlin-Gipfel (20. September 2003) - ist das jüngste Beispiel für diesen schrittweisen Prozess von gemeinsamer Führung (unter Einbeziehung Großbritanniens) und Akzeptanzgewinnung. Ein gelungenes Beispiel aus den frühen neunziger Jahren ist die Gründung der deutsch-französischen Brigade (übrigens auch damals gegen den vehementen Widerstand der USA) und deren Ausweitung zum Eurokorps durch den Beitritt Belgiens, Luxemburgs und Spaniens. Heute wird das Eurokorps von der EU auf dem Balkan und vermutlich demnächst in Afghanistan genutzt. Einige kleinere und mittlere Staaten finden es also "sehr positiv", wie Frankreich und Deutschland zusammenarbeiten, und beteiligen sich an den entsprechenden Initiativen. So erklärte Belgiens Premier Guy Verhofstadt am 25. November 2003 ausdrücklich, die Ängste vor einer deutsch-französischen Allianz verstehe er nicht: "Ich finde, es kann nur gut sein für Europa, wenn diese beiden Länder enger zusammenarbeiten. Wir Belgier wollen daran teilhaben. Wir jedenfalls sind nicht beunruhigt."
Dass die antihegemoniale Struktur der EU und die ausgewogene Machtrelation zwischen Deutschland und Frankreich auch den extremen Einwand entkräftigt, Deutschland unterwerfe sich der französischen Hegemonie, ist evident. Im Europäischen Parlament und nach dem Verfassungsentwurf auch im Ministerrat ist Deutschland sogar ein etwas größeres Gewicht eingeräumt worden - mit französischer Zustimmung. Entgegen dem Zerrbild, das die deutschen Atlantiker von Frankreich zeichnen, hat sich in Frankreich längst die Einsicht durchgesetzt, dass eine Politik im europäischen Verbund und in Konzentration auf die gleichberechtigte Zusammenarbeit mit Deutschland im vitalen Interesse Frankreichs liegt. Das würde sich ändern, wenn Deutschland frankreichkritischen Ratgebern folgte und die kleinen EU-Staaten um sich scharte, um "auf gleicher Augenhöhe" mit Frankreich und Großbritannien Gehör bei den USA zu erlangen. Frankreich würde zur Bildung einer Gegengruppe und zur Neuauflage der alten Entente-Politik provoziert werden. Folglich begäbe sich Europa auf den Rückweg in die verhängnisvolle Vergangenheit - zum Schaden für Deutschland und für Europa.
Der letzte Einwand, der zugleich politisch der wichtigste ist, bezieht sich auf die USA. Die Varianten sind vielfältig: Die verstärkte bzw. strukturierte Zusammenarbeit in einem Kerneuropa sei gegen die USA gerichtet und werde die deutsch-amerikanische "Partnerschaft" aufs Spiel setzen; die Vermittlung zwischen Frankreich und den USA sei Deutschlands Funktion; wenn sie sich als nicht möglich erweise, entspräche dem deutschen Interesse nicht die Maxime "in dubio pro Europa", sondern "in dubio pro America"; oder es müsse (so die extreme Variante) von vornherein die Maxime gelten, sich von Frankreich zu distanzieren und sich an die USA "anzulehnen" (Arnulf Baring) - als "Juniorpartner" der stärksten weltpolitischen Macht.
Das sind fragwürdige Behauptungen und gefährliche Alternativen. Deutschland und Frankreich haben wiederholt betont, dass sie die europäische Eigenständigkeit nicht gegen, sondern gegenüber den USA erreichen wollen, und sie handeln entsprechend, ohne freilich den USA ein Vetorecht einzuräumen. Speziell die autonomen sicherheits- und verteidigungspolitischen Arrangements werden nicht als NATO-Ersatz, sondern komplementär zur NATO konzipiert und - wenn auch mühsam - verwirklicht. Deutschland und Frankreich schaffen mit anderen EU-Staaten eine europäische Eingreiftruppe und beteiligen sich gleichzeitig am Aufbau der NATO Response Force. Was die viel berufene Partnerschaft anbelangt, so dürfte jedermann klar sein, dass Partnerschaft, die mehr als Verhüllung und wohlmeinende Rhetorik ist, eine gewisse Ausgewogenheit zwischen den Beteiligten voraussetzt, und die soll ja gerade durch die strukturierte europäische Zusammenarbeit erst geschaffen werden.
Eine Partnerschaft wird von den USA, nicht von Europa, dann und insoweit in Frage gestellt, wenn unilateral Entscheidungen gefällt und eine hegemonial-imperiale Ordnungspolitik betrieben wird. Dann sind es die USA, welche die europäischen Staaten vor eine Wahl stellen, der sie sich nicht entziehen und die sie mit Aussicht auf Wirkung nur konsortial treffen können. Ein eigenständiger Machtfaktor einer europäischen Kerngruppe würde, so er zustande käme, gegenüber der amerikanischen Übermacht ein gewisses (keineswegs ein gleiches) Gewicht haben und erwarten können, Gehör zu finden für eine Politik gemeinsamer Führung und kooperativer Balance. Zugegebenermaßen würde eine europäische "Kernkoalition" (Hanns W. Maull) tendenziell die amerikanische Handlungsfreiheit einschränken; deshalb ist die amerikanische Opposition verständlich und auch künftig zu erwarten. Schritte zur verstärkten europäischen Zusammenarbeit von der Zustimmung der USA abhängig machen, hieße, auf sie zu verzichten. Dann wäre die Anlehnung Deutschlands an die USA in der Tat die verbleibende Alternative, die freilich wenig verlockend erscheint; eine deutsch-amerikanische "special relationship" würde die europäischen Nachbarn irritieren und zu Gegenaktionen herausfordern. Die Empfehlung, Deutschland müsse immer dann, wenn sich die USA massiv engagieren, "irgendwie mit von der Partie" sein (Hans-Peter Schwarz), machte die deutsche Interessendefinition von der amerikanischen abhängig. Die Bundeswehr würde zu einer Hilfstruppe der USA. Und eine Distanzierung von Frankreich würde der europäischen Integration, die auf der deutsch-französischen Zusammenarbeit basiert, das Todesglöcklein läuten. Dann müsste konsequenterweise die Präambel des Grundgesetzes geändert werden, nämlich in dem Sinne, dass Deutschland von dem Willen beseelt sei, "als (Junior-)Partner der USA dem Frieden der Welt zu dienen". Eine derartige Veränderung der Wertepräferenz fände nicht die Unterstützung der Bundesbürger. Hingegen wird die enge Zusammenarbeit mit Frankreich im Rahmen der EU von einer großen Mehrheit befürwortet (wie alle Umfragen übereinstimmend belegen).
So ergibt sich resümierend - auch unter Berücksichtigung der Einwände und Alternativen - aus der skizzierten Priorität der europäischen Grundorientierung Deutschlands folgender Argumentationszusammenhang: Die Handlungsfähigkeit Europas liegt im vitalen Interesse Deutschlands. In der erweiterten, heterogenen EU kann geopolitische Handlungsfähigkeit nur dann erreicht werden, wenn Deutschland in gemeinsamer Führung mit Frankreich und möglichst auch mit Großbritannien die differenzierte Vertiefung der EU betreibt, d.h. die Bildung einer Gruppe integrations- und handlungswilliger EU-Staaten als Gravitations- und Aktionszentrum (mit offener Beitrittsmöglichkeit). Im Zuge dieser Politik sollte und kann die Balancierung des transatlantischen Verhältnisses erfolgen. Mit anderen Worten: Die Herstellung europäischer Handlungsfähigkeit ist die notwendige Voraussetzung für die transatlantische Erneuerung.
Beides wird ein schwieriger und langwieriger Prozess sein. Umso wichtiger ist Beständigkeit und Zuverlässigkeit. Deutschland darf sich in diesem Prozess nicht als "Swing"-Staat (Heritage Foundation) definieren oder definieren lassen, der sich zwischen Frankreich und den USA hin und her bewegt und sich als politischer "Festlanddegen" der USA einsetzen lässt (wie einst in den zwanziger Jahren). Die Vereinbarkeit der konsequent europäischen Orientierung mit der Transformation der NATO würde dann nicht mehr in Frage gestellt sein und erleichtert werden, wenn die USA ihre "imperiale Ambition" (G. John Ikenberry) aufgäben und eigenständige regionale Machtzentren akzeptierten - vor allem ein europäisches Machtzentrum. Dass dies auch im wohlverstandenen Interesse der USA liegt, hat Charles Kupchan eindrücklich gezeigt. In denjenigen Fällen, in denen der ordnungspolitische Dissens keine oder eine untergeordnete Rolle spielt, wird eine gemeinsame europäisch-amerikanische Politik möglich sein.
Wünschenswert ist sie allemal. Die europäische Orientierung Deutschlands schließt sie nicht aus, sondern - wie alle relevanten politischen Kräfte betonen - ausdrücklich ein. Die aktive, ununterbrochene Beteiligung Deutschlands am Kampf gegen islamistische Terrorgruppen unter Führung der USA beweist, dass bei Interessenentsprechung der ordnungspolitische Dissens die Kooperation mit Amerika nicht beeinträchtigt. Für die europäische Entwicklung ist der ordnungspolitische Schulterschluss zwischen Deutschland und Frankreich eine bewahrenswerte Errungenschaft. Dass die deutsch-französische Grundlinie in Europa akzeptanz- und anschlussfähig ist, belegt die neue Sicherheitsstrategie der EU, die deutlich eine Alternative zur amerikanischen Sicherheitsstrategie formuliert. In der operativen Außenpolitik zeigt die deutsch-französisch-britische Teheran-Mission, dass europäische "trianguläre Führung" auch dann, wenn sie alternativ oder komplementär zur amerikanischen Politik ist, erfolgreich sein kann und in der EU hinreichende Zustimmung findet.
Schließlich würde eine europäische Orientierung mit der Konsequenz einer handlungsfähigen Kerngruppe nicht nur Deutschland weiterhin zuverlässig einbinden und seine Entfaltung in Europa verträglich machen, sondern auch seinen Einfluss in der Welt steigern. Als europäische Mit-Führungsmacht, zusammen mit seinen Partnern im europäischen Verbund, kann Deutschland ein kooperatives Verhältnis zu den USA und zu den anderen weltpolitischen Zentren pflegen, eine pluralistische Friedensordnung fördern und somit weltweit für die gemeinsamen europäischen Werte eintreten. Die Schlussfolgerung unserer Erörterung lautet also: Aus der prioritären europäischen Grundorientierung Deutschlands folgt die außenpolitische Maxime, die erweiterte EU durch die verstärkte und strukturierte Zusammenarbeit einer Kerngruppe handlungsfähig zu machen und in diesem Verbund eine kooperative Politik in einem balancierten multipolaren Weltsystem zu betreiben.