Die knapp dreistündige Debatte machte allerdings bei aller Genugtuung über den Beitritt auch die Unterschiede von Koalition und Opposition in der Bewertung deutlich. Sie zeigten sich in der Frage eines künftigen Beitritts der Türkei in die Europäische Union ebenso wie in den Differenzen um niedrige Löhne und Steuern als Wettbewerbsaspekt innerhalb der EU.
Bundeskanzler Schröder warnte davor, die EU-Erweiterung als Motiv für Steuer- und Lohnsenkungen in Deutschland zu nehmen. "Die Zukunft unseres Landes kann nicht darin liegen, in eine gnadenlose Konkurrenz um niedrige Löhne und Steuersätze einzutreten", betonte der Kanzler. Er warnte vor Panikmache angesichts der erweiterten Europäischen Union. Es gehe trotz berechtigter Ängste um Arbeitsplätze und Furcht vor wachsender Kriminalität darum, die großen wirtschaftlichen Chancen und die gestiegenen Möglichkeiten der engeren Zusammenarbeit der EU-Länder zu sehen. "Wir werden darauf achten, dass es keinen einseitigen Steuerwettbewerb zu Lasten der Nettozahler der Europäischen Union gibt", warnte der Bundeskanzler. Er sprach sich dafür aus, den Beitritt der Türkei in die Union nachdrücklich zu unterstützen, falls die EU-Kommission im Herbst 2004 entsprechende Verhandlungen mit dem Land empfehle. Der Türkei 40 Jahre lang den Weg nach Europa zu versprechen, um dann zu sagen, das gehe jetzt nicht, sei "blanker Populismus".
CDU-Chefin Angela Merkel sprach sich dagegen erneut gegen eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union aus. Sie wolle dem Land keine Versprechungen machen, die am Ende nicht zu halten seien. In Bezug auf die künftige EU-Verfassung forderte sie einen klaren Gottesbezug auf das christlich-jüdische, aufklärerische Erbe Europas.
Bundesaußenminister Joseph Fischer (Bündnis 90/ Die Grünen) kritisierte Angela Merkels Haltung zur Aufnahme der Türkei in die EU als falsch. Wenn der islamistische Terrorismus die schwerste Bedrohung für die europäische Sicherheit sei, dann sei es von zentraler Bedeutung, darauf hin zu weisen, dass die Grundwerte der europäischen Aufklärung mit einem modernen Islam vereinbar seien. Vor einem solchen Hintergrund habe die Ablehnung der Türkei als Beitrittskandidat eine fatale Wirkung, unterstrich Fischer. Er gab seiner Genugtuung Ausdruck, dass seit dem 1. Mai 2004 Deutschland erstmals in seiner Geschichte auschließlich von befreundeten Ländern umgeben ist.
Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle betonte in diesem Zusammenhang, dass es nicht nur um politische Beziehungen, sondern eine "wirkliche Freundschaft der Völker" in Osteuropa gehe, so wie sie sich in der Nachkriegszeit zu den westlichen Nachbarn entwickelt habe. Er forderte eine Volksabstimmung in Deutschland zur angestrebten EU-Verfassung.
Der bayerische Ministerpräsident Edmund Soiber (CSU) verband seine Zufriedenheit über die EU-Erweiterung mit scharfen Attacken auf die Koalitionsregierung. Sie habe die aus dem Beitritt der zehn neuen Länder entstandenen Sorgen der deutschen Bevölkerung um ihre Arbeitsplätze nicht ernst genommen. Die Reformunfähigkeit von Rot-Grün habe zu einer ernsthaften Arbeitsmarkt- und Haushaltskrise geführt, so dass es Deutschland nicht ausreichend gelinge, die durch die EU-Erweiterung eröffneten Möglichkeiten zu nutzen. Das betreffe vor allem die Grenzregionen von Greifswald bis nach Passau. Gerd Weisskirchen (SPD) warf Stoiber Polemik vor. Es gehe darum, vorhandene Ängste wahrzunehmen und nicht zu schüren. Die fraktionslose Abgeordnete Gesine Lötzsch verwies darauf, dass viele Menschen in Ost und West die Erweiterung auch mit gemischten Gefühlen sähen. Sie verlangte eine europäische Sozialunion.