Die Jubelraketen sind noch nicht alle verglüht, da melden sich schon in den Medien jene kritischen Stimmen, welche die EU-Erweiterung für "verfrüht" erklären, die das neue Europa - nun 455 Millionen Menschen in 25 Ländern - für "eine Frühgeburt" halten, die noch "lange Zeit im Brutkasten wird verbringen müssen".
Aber müssen wir Deutschen uns wirklich Sorgen machen? In der Tat ist das europäische Szenario wenige Tage nach dem Maifeuerwerk nicht gerade ermutigend. Im reichen Alt-Europa gibt es Streit, wie die neue Verfassung am besten zu legitimieren sei - allein durch die Regierungen oder durch direkte Beteiligung der Völker. In den armen Beitrittsländern treten Regierungschefs zurück, werden Staatspräsidenten aus dem Amt gejagt und West-Investoren ins Land gelockt. Die Republik Zypern hat alle reingelegt, ihre Nordzyprer lässt sie nicht in die EU, obwohl vorher hoch und heilig versprochen.
Die meisten alteuropäischen Sorgen richten sich auf den ökonomischen Bereich. Man fürchtet die möglichen Arbeitsmigranten, die hier die Arbeitslosigkeit erhöhen könnten. Schließlich beträgt der Durchschnittslohn in den neuen Mitgliedsländern nur 13 Prozent des deutschen. Doch wo sollten diese Menschen Arbeit finden, wenn es schon für 4,5 Millionen Deutsche keine gibt? Man fürchtet auch Belastungen für die alten Nettozahler wie Deutschland, obwohl doch zum Beispiel nach Polen erst in zwei Jahren lediglich zehn Prozent des EU-Nettotransfers fließen werden, den vor zwei Jahren noch Spanien allein erhielt.
Fünf Journalisten befanden kürzlich im ARD-"Presseclub", dass sich das Land in einer "trostlosen Lage" befindet. Zu wenig Wirtschaftswachstum, zu große drohende Haushaltslöcher, zu viele Arbeitslose, zu wenig Binnenkaufkraft, zu große Verunsicherung der Bevölkerung, eine alles erstickende Perspektivlosigkeit, eine in Einzelkämpfer zerfallende Regierungskoalition, eine kaum Vertrauen erweckende, ebenfalls zerstrittene Opposition und ähnliches mehr. Der Ausländer, der heute Deutschland besucht, muss fürchten, dass hierzulande vielleicht schon morgen die schwarzen Pestfahnen aufgezogen werden. Hat also tatsächlich die rot-grüne Koalitionsregierung "ihre Hausaufgaben nicht gemacht", wie von der Opposition behauptet wird? Ist Deutschland zum "kranken Mann Europas" geworden (so der "Economist") ?
Wenn man bei den Fakten bleibt, hellt sich das Bild freilich etwas auf - auch wenn daraus noch keine gepflegte Landschaft wird. Eine unleugbare, bedenkliche Tatsache bleibt, dass die deutsche Wirtschaft seit 1994 das geringste Wachstum aller europäischen Volkswirtschaften aufweist. Auf der Suche nach den Ursachen für diese Entwicklung lohnt sich freilich, beide Seiten der Medaille anzusehen. Wenn es stimmt, dass die Arbeitskosten in (West-)Deutschland fünfmal höher sind als in Osteuropa, von Asien noch abgesehen, höher auch als in den westeuropäischen Nachbarstaaten, dann fragt man sich doch, warum trotz allem, nach Berechnungen des Berliner DIW, die deutschen Exporte seit 1998 deutlich stärker sind als in allen anderen Industriestaaten und Regionen der Welt, einschließlich Japan, den USA und der EU insgesamt. Sie haben, wie gerade gemeldet, im ersten Quartal 2004 eine neue Rekordhöhe erreicht.
Das hängt auch an der in Deutschland stärker als anderswo gestiegenen Arbeitsproduktivität. Das macht nämlich unsere angeblich viel zu hohen Lohnstückkosten tatsächlich zu den nahezu günstigsten im Vergleich mit fast allen Konkurrenzwirtschaften. Folge dieser Entwicklung ist, dass in den letzten fünf Jahren in Europa nur Frankreich mehr ausländische Direktinvestitionen ins Land gelockt hat als Deutschland. Die Dresdner Bank und andere Sachverständige halten daher das Problem der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands für gelöst. Das gelte auch dann, wenn man berücksichtigt, dass es einzelne deutsche Unternehmen nach der Osterweiterung künftig etwas leichter haben werden, Betriebe - bis heute in der Regel nur Betriebsteile - Richtung Osteuropa zu verlagern. Vom Gesamtvolumen spielt das jedoch vorläufig volkswirtschaftlich keine große Rolle, zumal einige große Unternehmen schon lange dort vertreten sind.
Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Bundestag, Friedrich Merz, hat erst kürzlich eine Rückführung der Staatsquote gefordert, so, als ob eine positive Korrelation zwischen niedriger Staatsquote und starkem Wachstum bestünde - was nebenbei gesagt von Mitgliedern des Wirtschaftssachverständigenrates bestritten wird. Lohnt sich also in Deutschland Arbeit deswegen nicht, weil der Staat dem Bürger zu viel Geld aus der Tasche zieht? Ziemlich gefehlt: Addiert man nämlich die Steuer- und Sozialabgabenquote, so findet man Deutschland erst auf dem achten Platz im alten EU-Europa, wie die Bundesbank errechnet hat. Weniger Abgaben garantieren also keineswegs Wachstum, zumal die Staatsquote heute in Deutschland ungefähr so hoch wie vor 30 Jahren ist. Rund um uns herum ist sie dagegen zum Teil erheblich gestiegen. Kurzum: In Deutschland ist der Staat tatsächlich weniger erdrückend als in prosperierenden Nachbarwirtschaften.
Ein weiteres leidiges Thema ist der Arbeitsmarkt. BDA-Präsident Hundt hört nicht auf zu klagen, die Deutschen müssten für weniger oder das gleiche Geld mehr arbeiten und der Arbeitsmarkt müsse von Grund auf liberalisiert werden. Nun steht fest, dass nach einer Statistik der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) von Mitte 1997 bis Mitte 2001 über 1,5 Millionen neue Arbeitsplätze entstanden sind - neben der seit zehn Jahren ständig steigenden Zahl von Arbeitslosen. Man übersieht dabei leicht, dass in keinem europäischen Industriestaat die Erwerbsneigung der 25- bis 55-Jährigen so stark gestiegen ist wie in den letzten Jahren in Deutschland. Forderungen nach Enttarifisierung erweisen sich zudem als nicht stichhaltig, wenn in Betracht gezogen wird, dass gerade in den neuen Ländern, wo nur noch 30 Prozent der Betriebe an den Flächentarifvertrag gebunden und die Löhne am niedrigsten sind, die Arbeitslosigkeit am höchsten ist. Der amerikanische Nobelpreisträger Solow ist daher auch der Auffassung, dass selbst ein völlig liberalisierter Arbeitsmarkt kaum einen entscheidenden Wachstumsimpuls liefern kann. Jedenfalls kurzfristig nicht.
Beim Gerede über Deutschlands angeblichen Abstieg muss immer wieder an ein deutsches Sonderproblem erinnert werden. Erst langsam setzt sich bei uns die Erkenntnis durch, dass bei der Vereinigung Deutschlands, zumindest ökonomisch, etwas schief gelaufen sein muss. Die hohen, politisch gewollten Transferleistungen der alten Länder (bisher rund eine Billion Euro) sind in zu großem Umfang in den Konsum statt in Wachstum erzeugende, selbsttragende Investitionen geflossen. Und bis heute müssen die alten Länder rund vier Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes in die neuen leiten. Dies belastet die Wirtschaftsleistung Deutschlands stärker als die der immer wieder gelobten westlichen Konkurrenten und darf bei einer Gesamtbilanz nicht vergessen werden.
Dieses Bild ist noch unvollständig. Die KfW hat nämlich einmal die Kosten der in den neuen Ländern zusammengebrochenen Baubranche herausgerechnet, und da zeigt sich erstaunlicherweise, dass die jährliche Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes Deutschlands die der EU (ohne Deutschland) im Jahre 2000 sogar übertroffen hat, danach bis 2002 zwar wieder - allerdings nur leicht - zurücklag, aber ebenso schnell zunahm und erst 2003 wieder einen größeren Abstand erreichte.
Und noch ein Umstand wird übersehen, wenn über den Standort Deutschland an der Wende zum größeren Europa räsoniert wird. Seit der Aufgabe der faktischen europäischen Leitwährung Mark und der Einführung des Euro 2002 steht Deutschland vor einem unverschuldeten Zinsproblem. Zwar sind jetzt die Nominalzinsen in Europa überall gleich. Doch Deutschland gereicht jetzt ein Vorzug zum Nachteil: Seine niedrige Inflationsrate muss aus den Nominalzinsen rausgerechnet werden, um die wirtschaftlich interessanten und für Investitionsentscheidungen allein entscheidenden, vergleichsweise stärker gestiegenen Realzinsen zu erkennen. Deren Anstieg aber bremst das Wachstum hier stärker als in der übrigen EU, wie Stefan Bergheim, Volkswirt bei der Deutschen Bank Research, nachweist. Erschwerend kommt die restriktive, seit 1992 immer zögerlichere Kreditvergabe der Finanzinstitute vor allem an den Mittelstand hinzu, so die Bundesbank.
Keine Frage, die Lage ist schwierig genug. Die Bürger fassen auch deshalb kein Vertrauen, weil ihnen ständig eingeredet wird, Deutschland steuere ungebremst auf den Abgrund zu. Befürchtungen, die EU-Erweiterung träfe Deutschland angesichts seiner angeblich schlimmen Lage auf dem falschen Fuß oder mache den Aufschwung noch schwieriger, sind also Übertreibungen. Berücksichtigt man ferner, dass mit der Erweiterung ungesättigte Märkte hinzu kommen, auf und zu denen Deutschland über traditionell gute Bindungen verfügt, sind wir an der Wende der europäischen Entwicklung besser aufgestellt, als manche Kritiker uns Glauben machen wollen.
Der Autor ist freier Journalist in Bonn.