Das Parlament: Nachdem der erste Anlauf zur EU-Verfassung nicht zum Ziel geführt hat, droht der vom Konvent erarbeitete Entwurf jetzt im Vorfeld der Europawahl nicht nur von Parteien der extremen Rechten und Linken in anderen EU-Ländern zur Bedienung antieuropäischer Klischees herangezogen zu werden, sondern nun auch von einigen Bundestagsabgeordneten ihrer Schwesterpartei CSU. Hat die Verfassung mit dieser Aufkündigung des bisher parteiübergreifend gültigen Konsenses über die Ziele der Europapolitik überhaupt noch eine Chance?
Brok: Es gibt zu diesem Zeitpunkt und nach dem Gipfel des Europäischen Rates in Brüssel am 25. und 26. März eine politische Einigung, dass man die Verfassung in Europa baldmöglichst, spätestens am 17. und 18. Juni auf dem Brüsseler Gipfel verabschieden will. Von einem Scheitern des Verfassungsentwurfs ist auf keinen Fall die Rede. Alle Bedenken sollten spätestens nach dem Gipfel im März verflogen sein, und ich bin mir sicher, dass auch unsere Schwesterpartei CSU die positiven Entwicklungen der letzten und nächsten Monate unterstützen wird, um die Transparenz, Handlungsfähigkeit und Demokratie der EU zu garantieren.
Das Parlament: Wenn aber die europapolitischen und wirtschaftspolitischen Sprecher der CSU, Müller und Singhammer, den Verfassungsentwurf als Grundlage für die weitere Entwicklung Europas für ungeeignet erklären, weil er ein Fahrplan für einen zentralistischen Superstaat sei, und einen konzeptionellen Neuanfang verlangen - kann das noch als Wahlprofilierung abgetan werden?
Brok: Ich glaube nicht, dass zurzeit eine komplette Aufschnürung des Verfassungsentwurfs von irgendeiner Seite ernsthaft befürwortet werden kann. Außerdem ist der Entwurf in keiner Weise ein Fahrplan für einen zentralistischen Superstaat. Im Gegenteil, durch ein effizienteres Modell der doppelten Mehrheit und das Klagerecht der Nationalparlamente in Fällen der Subsidiaritätskontrolle sind die Rechte der Mitgliedstaaten gewährleistet. Der Verfassungsentwurf hat die Balance als Leitmotiv. Das gilt insbesondere auch für das Verhältnis zwischen der Unions- und der nationalen Ebene und die Kompetenzordnung. Der Grundsatz, dass nur das, was gemeinschaftlich besser gelöst werden kann, auf die Unionsebene kommt, die Zuständigkeit ansonsten bei den Mitgliedstaaten verbleibt, wurde verankert. Alles, was nicht ausdrücklich und detailliert als EU-Kompetenz benannt ist, ist nationale oder regionale Zuständigkeit. Somit ist der Vorwurf eines zentralistischen Superstaats unangebracht. Die Verfassung ist als Instrument gegen Zentralismus bei weitem besser als der Vertrag von Nizza.
Das Parlament: Wie können die beiden Regionalpolitiker in der EU von heute eine "Exekutiv-Diktatur" sehen, in der die Beamten entscheiden - oder ist nicht doch etwas dran am oft behaupteten Bürokratiemoloch Brüssel?
Brok: In der europäischen Union hat die Kommission zwar das Initiativrecht, aber das gesetzgeberische Entscheidungsrecht liegt allein und gleichberechtigt bei dem Rat und Parlament. Es kann in keiner Weise von einer "Exekutiv-Diktatur" die Rede sein. Innerhalb der Europäischen Union gibt es ein "Balance of Power". Die EU ist eine Union der Bürger und Staaten und reflektiert dies somit in diesen beiden Institutionen. Wie in allen Regierungen gibt es auch in Brüssel Bürokratie, vielleicht auch zuviel. Die Europäische Kommission ist aber insgesamt jedoch zum Beispiel kleiner als die Kölner Stadtverwaltung, und deshalb ist meiner Meinung nach sowieso nicht von einem Bürokratiemoloch zu sprechen.
Das Parlament: Ist nicht doch etwas dran am Vorwurf aus München, die EU sei von dem von De Gaulle vorgezeichneten Weg zum Europa der Vaterländer abgekommen und laufe nun auf einen hässlichen Zentralstaat zu?
Brok: Wie bereits erwähnt, wird die EU durch den Verfassungsentwurf nicht zu einem Zentralstaat gemacht. In dem Bereich der Verteidigung besteht die Möglichkeit einer engeren Zusammenarbeit einer Gruppe von Mitgliedsstaaten, doch ein zweispuriges Europa wird auf keinen Fall propagiert. Die EU soll weiterhin eine in Vielfalt geeinte Union sein, in der alle Mitgliedstaaten gleichberechtigt mitwirken können und regionalen oder ideologischen Blöcken entgegengewirkt werden muss. Die Integration ist von Anbeginn von Monnet, Adenauer, Schuman in ihrem Aufbau geprägt. Sie ersetzt nicht den Nationalstaat und seine Identität, sondern ergänzt ihn und stärkt die Interessen aller Teilnehmer.
Das Parlament: Durch die Verfassung, so wird beklagt, sollen die Zuständigkeiten in weiteren 30 Sachbereichen von der nationalen auf die Verwaltungsebene in Brüssel verlagert werden, was die "Diktatur der Beamten" weiter ausbaue. Wo bleibt da die demokratische Legitimation und Kontrolle?
Brok: Es geht nicht um neue Zuständigkeit, sondern die Anwendung der qualifizierten Mehrheitsentscheidung im Rat für bestehende Zuständigkeiten. Eine EU mit 25 Mitgliedern wird paralysiert bei weiterem Nutzen des Vetos in Gesetzgebungsfällen. Der Bürger will Entscheidungen, nicht Blockaden, die nicht die Interessen des Bürgers, sondern nur Kompetenzgerangel von Bürokratien zur Folge haben.
Das Parlament: Die von den beiden bayerischen Politikern kritisierte Verlagerung der Zuständigkeit für die Kommunalpolitik auf die EU-Ebene, wodurch EU-Beamte die Höhe der Tarife im öffentlichen Personennahverkehr oder die Mindestzahl von Kindergartenplätzen bestimmen können, ist aber doch sicher nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar?
Brok: Richtlinien und Mindeststandards sind wichtig und unentbehrlich. Die Regionen verlieren nicht das Recht, sich weiterhin an der Formulierung der Politiken zu beteiligen. Der Politikprozess ist nicht ein abstrakter Vorgang, in dem EU-Beamte abseits von der Realität agieren. Der Prozess umschließt Stellungnahmen der anderen Institutionen, Verhandlungen und auch das Subsidiaritätsprinzip, sodass die Effizienz der Politiken durch die Verteilung auf die ihnen geeigneten Ebenen garantiert wird. Im übrigen sind das alles Schreckgespenste. Die Verfassung stärkt und sichert ausdrücklich die kommunale Selbstverwaltung zur Freude dieser Organisationen. Die Festlegung kommunaler Tarife und Mindestzahlen ist Unsinn und wird durch nichts in der Verfassung ermöglicht.
Das Parlament: Mit den Erweiterungsverträgen wird der Vorwurf verbunden, besonders die grenznahen und meist strukturschwachen deutschen Regionen nach Osten würden doppelt geschädigt, weil hier eine nationale Förderung von der EU verboten werde, während wenige Kilometer weiter mit einer
50-Prozentförderung durch EU-Mittel mit deutschen Steuergeldern Unternehmen angelockt würden, die zuvor in Deutschland ihre profitablen Werke geschlossen und Arbeitsplätze vernichtet hätten. Ist das nicht kontraproduktiv?
Brok: Damit das Wirtschaftswachstum in der EU weiterhin garantiert werden kann, muss die EU als Einheit gestärkt und auf einen Stand gebracht werden. Das Wirtschaftswachstum der deutschen Grenzregionen ist nicht gefährdet, sondern gewinnt an der Erweiterung. Durch die wirtschaftlichen Kombinationsmöglichkeiten zwischen den Ressourcen der alten und neuen Volkswirtschaften werden neue Effizienz und Wachstumseffekte freigesetzt werden, welche die Unternehmen auch in den alten Mitgliedstaaten auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähiger machen wird. Dies kommt vor allem den exportstarken Nationen wie Deutschland zugute. Das EU-Handelsvolumen mit den zehn neuen Mitgliedstaaten entspricht dem Handelsvolumen mit den Vereinigten Staaten. Fast 50 Prozent des EU-Handels mit den zehn Neuen wickelt Deutschland ab - mit Überschuss. Diese Ziffern bezeugen, dass die Erweiterung offensichtlich nicht kontraproduktiv ist. Im übrigen: Die EU stellt besondere Hilfen für deutsche und österreichische Grenzgebiete zur Verfügung. Große Teile der deutschen Grenzgebiete fallen ohnehin unter die allgemeine Förderung der EU.
Das Parlament: Wenigstens in der Frage der Begrenzung der zukünftigen EU-Ausgaben sind sich München und Berlin einmal einig. Haben die Bayern-Politiker nicht Recht, dass mit der Eindämmung auch die Korruption beim Umgang mit EU-Geldern begrenzt und besser bekämpft werden könnte?
Brok: Wenn eine effizientere Union herbeigerufen werden soll, welche in zunehmenden Bereichen, wie der Verteidigung, durch gestärkte Zusammenarbeit geprägt ist, dann muss es natürlich auch die Mittel für diese Fortschritte geben. Die Tatsache ist: Der deutsche Anteil an den EU-Eigenmitteln ist kontinuierlich von 33,3 Prozent (1994) auf 22,6 Prozent (2002) gesunken. In absoluten Zahlen bedeutet dieses eine Verringerung von 21,37 Milliarden Euro auf 17,58 Milliarden Euro im selben Zeitraum. Da es aber Rückflüsse etwa für Agrar-, Struktur- und Forschungspolitik gegeben hat, betrug die deutsche Nettozahlung im Jahr 1996 circa 10,4 Milliarden Euro und 2002 circa 5,1 Milliarden Euro. Auch dieser Betrag ist kontinuierlich gesunken. Die ganze Veranstaltung EU hat damit im Jahre 2002 Deutschland ganze 5 Milliarden Euro gekostet. Das sind circa zwei Prozent des Bundeshaushaltes.
Allein der ökonomische Nutzen des Binnenmarktes und der Euro, der Stabilität, Planbarkeit und Schutz vor internationalen Währungswirren sichert, überkompensiert die Kosten bei weitem.
Seit dem Beschluss zur Einführung des Binnenmarktes gilt: Die wirtschaftlich starken Staaten können ungehindert für Waren, Dienstleistungen und Kapital die Chancen des großen Marktes nutzen und die schwächeren Staaten und Regionen werden über Strukturpolitik für den Wettbewerb fit gemacht. Eine "win-win-Situation", die auch für die Stärkeren sich noch dadurch auszahlt, dass der Handel mit diesen Ländern und Regionen zum gegenseitigen Vorteil insgesamt steigt.
Die Korruption im Umgang mit den EU-Geldern ist ein komplett separates Thema. Vorwürfe der Korruption müssen untersucht werden und die Korruption somit bekämpft werden. Die legitime Ausgebung der EU-Gelder sollte auf keinen Fall beeinträchtigt werden, da sonst Ineffizienz und Stagnation herbeigerufen werden würde. Für eine handlungsfähige Union müssen die Fonds weiterhin vorhanden bleiben, und wie soeben erwähnt, rentieren sich diese Ausgaben vollkommen. Neben Europäischem Rechnungshof, OLAF und EP-Kontrolle verschafft die Verfassung durch die Einführung eines Staatsanwaltes Instrumente gegen Korruption.
Nicht alles läßt sich eins zu eins vergleichen. Dennoch muss festgehalten werden, dass der ökonomische Nutzen einschließlich der damit verbundenen Sicherheit der Arbeitsplätze, der gezahlten Steuern und Sozialabgaben und der nicht notwendig gewordenen Sozialabgaben riesig ist. Die 5 Milliarden Euro Nettobeitrag sind eine gute Investition.
Das Interview führte Hajo Friedrich.