Die bevorstehenden Europawahlen im Juni werden historisch sein.
Zum ersten Mal werden die Menschen eines vereinten Europas an
Wahlen teilnehmen, die wahrhaft europäische Ausmaße
haben. Die Mitglieder des neu gewählten Europäischen
Parlaments werden sich für die Belange von 450 Millionen
Bürgern aus 25 Mitgliedstaaten einsetzen und dafür
sorgen, dass die Europäische Union ihren Bedürfnissen und
Prioritäten gerecht wird. Denn die Menschen in Europa haben
mittlerweile begriffen, dass den gemeinsamen Problemen und
Herausforderungen unserer Tage, wie Umweltschutz,
grenzüberschreitende Kriminalität oder Terrorismus, nur
auf europäischer Ebene dauerhaft begegnet werden kann.
Dabei machen wir Sozialdemokraten den Wählern drei
elementare Angebote für die kommende Legislaturperiode des
Europäischen Parlaments:
- Wir wollen eine umfassende Parlamentsreform, und wir brauchen
endlich ein Abgeordnetenstatut. Wir haben noch eine
Geschäftsordnung von 1979, aber die Gesetzgebungskompetenzen
von 2004, das passt nicht zusammen. Wir brauchen zügigere
Entscheidungsmechanismen, um uns den anderen Institutionen
gegenüber besser positionieren zu können. Wir brauchen
endlich eine Reform des Abgeordnetenstatuts, und es müssen
für jedermann klar nachvollziehbare Regelungen geschaffen
werden. Ich strebe eine enge Kooperation mit der europäischen
Volkspartei EVP in Gesetzgebungsfragen an, weil das Parlament in
Bezug auf die anderen Institutionen, insbesondere dem Rat, nur dann
Stärke entwickeln kann, wenn es in wichtigen Fragen belastbare
und beständige Mehrheiten mobilisieren kann. Deshalb
könnte es ein Rahmenabkommen zwischen den beiden großen
Parteienfamilien SPE und EVP geben. So kann die europäische
Volksvertretung auf Dauer Kraft gewinnen. Wir kämpfen auch
weiterhin für die Verfassung, denn ohne sie ist der 25er-Klub
der Europäischen Union handlungsunfähig. Auf der
Grundlage von Nizza wird es keine gedeihliche Entwicklung der EU
geben.
- Damit die EU bis 2010 weltweit zur dynamischsten,
wissensbasierten Wirtschaft mit einem nachhaltigen
Wirtschaftswachstum wird, müssen mehr neue hochwertige
Arbeitsplätze geschaffen werden. Der Aufschwung in Europa
benötigt eine eingehende Strategie, die verstärkte
Investitionen in Forschung und Technologie und die Förderung
neuer Wachstumsbereiche vorsieht sowie mehr Gewicht auf moderne
Bildungsmethoden und lebenslanges Lernen legt.
Dabei darf der Blick auf den Lissabon-Prozess nicht allein auf
Wirtschaftsreformen verengt werden. Er kann nur nachhaltig sein,
wenn die sozialen und beschäftigungspolitischen Ziele im Auge
behalten werden. Höhere Beteiligungsraten am
Wertschöpfungsprozess werden uns bei der Bewältigung der
demografischen Herausforderung der kommenden Jahre helfen.
Es ist für die europäischen Sozialdemokraten
unerlässlich, dass die EU und die Mitgliedstaaten den
Sozialstandards, insbesondere dem Ziel neuer und höherwertiger
Arbeitsplätze, Vollbeschäftigung, sozialer Eingliederung,
Umweltschutz und nachhaltiger Entwicklung höchste
Priorität einräumt. Unser europäisches Sozialmodell
mit seiner Verbindung von Wirtschaftswachstum und angemessener
sozialer Absicherung ist dabei unsere Stärke im Kampf um
Standortvorteile. Obwohl in Zeiten schwachen Wachstums häufig
kritisiert, ist es gleichzeitig der besondere Wert unserer viel
gerühmten Stabilität in Europa. Fairer Wettbewerb darf
nicht durch Sozialdumping ausgehöhlt werden. Wir sehen die
Europäische Union als Gemeinschaft, die auf den
Grundsätzen sozialer Marktwirtschaft und gegenseitiger
Unterstützung zum Wohle aller beruht. Dabei wird die
historische EU-Erweiterung um zehn neue Länder den
Lebensstandard der Bürger und Bürgerinnen in den neuen
Mitgliedstaaten erhöhen, den Handel beleben sowie unionsweit
zu einem Zuwachs an Arbeitsplätzen führen.
- Wir wollen die "Friedensmacht Europa", die sich aktiv für
eine sichere, friedliche und gerechte Welt einsetzt. Dafür
braucht es eine starke Europäische Union, die mit klarer
Stimme auf der Grundlage des Völkerrechts und mit den
gestärkten Vereinten Nationen für eine gerechte,
beständige und friedliche Welt eintritt. Die Europäische
Union muss bei der Schaffung eines effektiven Multilateralismus
eine Vorreiterrolle spielen, um eine bessere Zusammenarbeit der
Staaten bei Konfliktlösungen zu ermöglichen und neuen
Sicherheitsbedrohungen gemeinsam zu begegnen. Die Bekämpfung
des internationalen Terrorismus wird nur dann erfolgreich sein,
wenn wir bei seinen Ursachen anfangen.
Wir müssen die Europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik weiter zu einem glaubhaften Instrument der
Konfliktverhütung und des Krisenmanagements ausbauen. Mit
Blick auf unsere neuen östlichen Nachbarn haben wir keine
ausreichende Strategie zur Bekämpfung des Armutsgefälles,
aber auch zur Nutzung der Marktchancen und der
Rohstoffbeschaffungschancen. Die Entscheidung über die
Sicherheit der EU fällt auch im Mittelmeerraum, im Nahen Osten
und der Türkei. Wie gestaltet die EU ihre Beziehungen zur
islamischen Welt? Die Türkeifrage ist dabei eine
Schlüsselfrage. Wenn es gelänge, eine muslimische
Gesellschaft zu organisieren auf der Grundlage des Wertekatalogs
Europas, wie die Grundrechtecharta ihn vorgibt, dann wäre die
These des fundamentalistischen Islamismus, dass sich Islam und
westliche Werteordnung ausschließen, nachdrücklich
widerlegt.
Es ist meine tiefe Überzeugung, dass nicht wir
Europäer oder die Amerikaner in der Lage sind, die Islamisten
zu isolieren. Dies kann nur die islamische Welt aus sich selbst
heraus leisten. Und wir müssen die, die das wollen, als
Partner anerkennen und unterstützen. Viele Europäer sind
auf eine dramatische Weise eurozentriert. Wir nehmen zu wenig wahr,
was außerhalb Europas passiert. Das mittlere und das
südliche Afrika, von AIDS gezeichnet, gleichen sterbenden
Landstrichen. Es gibt Regionen des Zerfalls jeder staatlichen
Ordnung. Überall dort kann sich der Terrorismus ungehindert
entwickeln. Den damit verbundenen außenpolitischen
Herausforderungen müssen wir uns Sozialdemokraten in Europa
stellen. Die Entscheidungen über europäisches Recht und
den europäischen Haushalt, die von den Mitgliedern des
Europäischen Parlaments in Brüssel und Straßburg
getroffen werden, mögen manchem weit weg erscheinen, aber sie
wirken sich direkt auf die Arbeits- und Lebensbedingungen von uns
allen aus. Die Europäische Union muss dafür sorgen, dass
die Bürger und Bürgerinnen nicht nur von ihren
Beschlüssen profitieren, sondern auch mitentscheiden.
Gleichzeitig sollte unter Anwendung des Subsidiaritätsprinzips
die EU dort nicht eingreifen, wo nationale oder regionale
Institutionen dafür besser geeignet sind.
Die Europäische Union, wie wir sie sehen, gründet auf
Demokratie, Gleichberechtigung, Achtung der Menschenrechte,
Vielfalt und Rechtsstaatlichkeit. Wir sollten diese Werte auch
über die Grenzen der EU-Mitgliedstaaten hinaus vertreten. Aus
diesem Grunde treten wir für eine verstärkte Rolle des
Europäischen Parlaments als einzig direkt gewählte Stimme
aller europäischen Bürger und Bürgerinnen ein.
Europa wächst. Gemeinsam können wir es stärker
machen. Europa braucht Ihre Stimme. Martin Schulz
Martin Schulz ist Spitzenkandidat der SPD zur Europawahl.