Südkoreas Präsident Roh Moo-hyun ist ins Blaue Haus zurückgekehrt. Am 14. Mai hat das Verfassungsgericht den von Parlament initiierten Amtsenthebungsprozess zurückgewiesen. Mit der im April neu errungenen absoluten Mehrheit seiner linksliberalen Uri-Partei in der Legislative kann Roh nun wegweisende Reformen initiieren. Angesichts oft widersprüchlicher Ziele und Erwartungen muss er aber in seinem zweiten Regierungsjahr zu einen stringenteren Kurs finden, um die innen- und außenpolitischen Herausforderungen zu bewältigen.
Reumütige Worte richtete Roh Moo-hyun nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts an die Nation. "Ich werde meine Fehler nicht vergessen und meine Schuld an die Bevölkerung zurückzahlen", so der 58-jährige Roh in einer Fernsehansprache. Er kehre zurück mit "dem Bewusstsein eines Läufers, der sich vor dem Rennen nun die Schnürsenkel zubindet". Durch kontroverse politische Entscheidungen und unachtsame Äußerungen hätte sich Roh fast selbst zu Fall gebracht.
Seine politischen Gegner hatten lange auf der Lauer gelegen. Die Grand National Party (GNP), bis zum April stärkste Partei im Parlament, hatte dem Präsidenten laut Statistik über 100 Mal mit Amtsenthebung gedroht. Ihr war der ehemalige Menschenrechtsanwalt, der sich im Dezember 2002 knapp gegen den GNP-Kandidaten durchsetzen konnte, zu Nordkorea-freundlich. Aufgrund der Truppenentsendung in den Irak und einer zunehmend arbeitnehmerfeindlichen Wirtschaftspolitik sanken Rohs Zustimmungswerte im Sommer 2003 auf 30 Prozent. Die Gelegenheit, Roh zu Fall zu bringen, erschien günstig, und der GNP gelang es schließlich, zwei weitere Parteien für die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit zu gewinnen. Am 12. März beschloss das Parlament, das Amtsenthebungsverfahren in Kraft zu setzen. Zum Anlass nahm die Parteienkoalition die Antwort Rohs auf einer Pressekonferenz, dass er "der Uri-Partei mit allen legalen Mitteln zum Stimmgewinn verhelfen möchte". Dies verstieße gegen die "Neutralitätspflicht", so die Begründung. Rechtswissenschaftler bezeichneten dies allerdings mehrheitlich als Äußerung im Sinne der Meinungsfreiheit, Presseberichte deuteten auf eine Manipulation diesbezüglicher Aussagen der Wahlkommission durch die GNP hin. Als zweiten Vorwurf führten die Parteien den "Empfang von illegalen Spendengeldern" während der Wahlkampagne 2002 ins Feld. Ein berechtigter Anklagepunkt, der allerdings zum Eigentor wurde: Die Untersuchungskommission der Staatsanwaltschaft kam zu dem Ergebnis, dass die GNP mit rund 82 Milliarden Won achtmal mehr illegale Spenden angenommen hat als Roh. Schließlich hielt man dem Präsidenten noch Inkompetenz im Amt vor, was Roh sich durch geäußerte Selbstzweifel und ein geplantes Referendum über seinen Verbleib im Amt mit eingebrockt hatte. Das Votum der Südkoreaner fiel eindeutig aus: bei den Parlamentschaftswahlen am 15. April errang die Roh nahe stehende Uri-Partei 152 von 299 Sitzen. Insbesondere die junge, oft als "368" (jetzt in den 30ern, in den 60ern geboren und in den 80ern die Universität besucht) Generation war der Machtspiele der alten politischen Eliten müde und hoffte mit Roh auf eine neue politische Ära.
Angesichts von Sachlage und Volksstimmung überraschte die Gerichtsentscheidung nicht. Dennoch gelten der Prozess und sein Ausgang als bedeutsam für die Festigkeit der noch jungen südkoreanischen Demokratie. Trotz einiger tumultartiger Szenen nach der Parlamentsentscheidung - bekannt aus allen jungen Demokratien - und des bis dato nicht veröffentlichten Abstimmungsergebnisses der Richter haben die beteiligten Akteure die Spielregeln der Verfassung akzeptiert. Vereinzelten Stimmen bezüglich einer Anfechtung des Urteils gebot die Vorsitzende der GNP, die Tochter des ermordeten Militärdiktators Park Chun-hee, energisch Einhalt. Die Armee wurde nicht aktiviert, und Südkorea versank auch nicht im Chaos. Zurück bleibt eine polarisierte Bevölkerung.
Polarisierungen können die Entwicklung von Demokratien durchaus begünstigen. Die Herausbildung von programmatischen und ideologischen Alternativangeboten hat sich in der traditionell personenbezogenen Parteienlandschaft Südkoreas schon während der Präsidentschaftswahl 2002 abgezeichnet. Bis dato finden alle gesellschaftliche Gruppen eine Vertretung innerhalb des demokratischen Systems. Die demokratische Arbeiterpartei hat erstmalig den Sprung ins Parlament geschafft - linke Parteien waren aufgrund der kommunistischen Bedrohung aus dem Norden lange Zeit politisch tabu. Die GNP hat angekündigt, ihre Außenpolitik neu zu überdenken, die linksliberale Regierung bringt offensichtlich Bewegung in eingefahrene Strukturen. In wie weit sich Parteiprogramme festigen und eventuell auch annähern, bleibt abzuwarten.
An dem Wunsch der Bevölkerung nach einer neuen politischen Kultur wird sich Präsident Roh Moo-hyun messen lassen müssen. Eine konstruktivere und harmonischere Zusammenarbeit zwischen Regierung und Parlament, speziell auch mit der Oppositionspartei steht dabei an erster Stelle. In seiner Fernsehansprache nach dem Gerichtsurteil hat Roh dem Parlament die Verantwortung für neue politische Reformen übertragen, er sieht sich "jetzt nicht in der Lage dazu". Ob Frustration, Schmeichelei oder Siegesgewissheit, Roh weiß, dass er bei wichtigen Entscheidungen eine Zweidrittelmehrheit im Parlament braucht. Nach anfänglich positiven Signalen einer gemeinsamen Vereinbarung mit den Oppositionsparteien hat sich die Neubesetzung des Premierministerpostens zur Zerreißprobe entwickelt: Roh hat den von der GNP zur Uri-Partei gewechselten Kim Hyuck-kyu vorgeschlagen, die GNP fühlt sich vor den Kopf gestoßen. Eine weitere Herausforderung in der politischen Entscheidungsfindung steht Roh bevor: er muss einen Kurs finden, der zum einen unterschiedliche Interessenlagen ausbalanciert, aber dennoch eine stringente Linie ohne Angriffsfläche für seine politischen Gegner zeichnet. Der anfängliche Schlitterkurs in Bezug auf die unterschiedliche Handhabungen von Streiks und Gewerkschaften hat Roh im letzten Jahr viel Vertrauen gekostet. Eine neue konsequentere Politik erfordert zudem eine Konsensfindung mit der Uri-Partei und dem Kabinett. Nicht nur die Opposition, sondern auch Analysten und Wissenschaftler verweisen auf Unerfahrenheit in Verbindung mit linken Position einiger Uri-Mitglieder, die sich mit Rohs bisheriger Politik nicht ohne weiteres vereinbaren lassen. Durch seinen Parteibeitritt und die geplante Berufung von neuen Ministern aus den Reihen der Fraktion hat sich der Präsident auf Uri-Kurs gebracht. Allerdings hat er in seiner Ansprache nach der Rückkehr angekündigt, "illegitimen Stimmen" - eine Anspielung auf radikale Gewerkschaftsinteressen - keine Beteiligung an dem Reformprozess zuzubilligen. Zudem bestätigte er Wachstum und Revitalisierung als Prioritäten in der Wirtschaftspolitik. Dies deutet auf eine Fortführung seines pragmatischen Kurswechsels, die stärkere Berücksichtigung von Unternehmen hin.
Internationale Herausforderungen entwickeln sich zum ersten Test. Präsident Roh steht bis jetzt zu der im Herbst 2003 angekündigten Unterstützung der USA in Form der Entsendung von 3.000 Soldaten, darunter erstmals auch Kampftruppen, in den Irak. Die Stimmen innerhalb der Uri-Partei, die eine Neubewertung dieser Entscheidung fordern, mehren sich. Doch die Verunsicherung bezüglich Südkoreas zukünftiger Außen- und Sicherheitspolitik geht tiefer. Die Ankündigung Washingtons, rund 3.600 Bodentruppen aus Südkorea in den Irak zu verlegen, rief gemischte Gefühle sowohl in der Regierung als auch unter den Oppositionsparteien hervor. In der Bevölkerung nehmen anti-amerikanische Tendenzen zwar zu und den Beziehungen zu China werden auch aus wirtschaftlichen Gründen Priorität eingeräumt. Laut Korea Social Opinion Research Institute sprachen sich 2003 mehr als zwei Drittel für den Verbleib der US-amerikanischen Truppen aus. Rohs neues Konzept der "kooperativen Selbstverteidigung" mit möglichen militärischen und wirtschaftlichen Konsequenzen könnte sich somit zu einer Grundsatzdebatte um Südkoreas Zukunft entwickeln. In diesem neuen Lauf als Präsident wird Roh Moo-hyun nicht nur gut gebundene Schuhe, sondern auch einen langen Atem brauchen.