Fotos, genauso wie Mythen, brauchen Zeit, um aus Helden ganz normale Menschen zu machen, besonders in Israel. Unter Eukalyptus-Bäumen, von jungen Soldaten umgeben, lehnt sich eine junge, schöne Frau an einen Baum. Sie trägt kurze Khaki-Hosen, eine Pistole im Halfter und eine Kaffiyeh (ein orientalisches Tuch) auf dem Kopf. Zu ihren Füßen sitzt ein junger Soldat, lächelnd.
Der "neue Jude" war das Kind der zionistischen Revolution und sollte das Gegenteil des typischen Diaspora-Juden verkörpern. Der in Israel geborene Sabra war ein tapferer Soldat, ein geschickter Bauer, säkular, stolz, selbstbewusst und gut aussehend. Kein Wunder, dass das entsprechende Bild, das der israelische Fotograf Boris Carmi während des Unabhängigkeitskrieges von 1948 knipste, zur Ikone des jungen Staates wurde. Nun steht es im Mittelpunkt von Carmis erster internationalen Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste. Dass dieser Schnappschuss ein Geheimnis verbirgt, entdeckte Carmis Freund, der Fotograf Shlomo Arad, erst bei den Vorbereitungen zu dieser Ausstellung:
"Dieses Bild ist das Symbol des Israeliseins", sagt Arad. "Jahrzehnte lang wurde es in allen Veröffentlichungen horizontal geschnitten, so dass der untere Teil ausblieb. So sah man nicht, dass der junge Soldat auf seiner linken Hand eine Nummer trägt. Das passte nicht zur israelischen Geschichtsschreibung. Diese Tätowierung verrät, dass der Soldat Häftling in einem Konzentrationslager war." Als Arad 1996 dieses Negativ zum ersten Mal sah, war er regelrecht erstaunt. "Jetzt hat das Bild für mich eine neue Bedeutung gewonnen. Sie erinnert mich an die Flüchtlinge in Uniform, die ich als Kind im Kibbuz persönlich kannte. Manche von ihnen kamen direkt vom Schiff in den Unabhängigkeitskrieg und haben nicht einmal die erste Woche in Israel überlebt."
Boris Carmi, der erste Fotograf der Unabhängigkeit Israels, war kein Sabra, also ein aus Israel stammender Jude. Er wurde in Moskau geboren und wuchs dort auf. Nach dem Tod seiner Eltern besuchte er von 1930 bis 1933 ein Internat in Thüringen. Dann lebte er in Italien und studierte Ethnografie an der Sorbonne in Paris. Fotografieren lernte er in Danzig, wo er drei Jahre auf seine Auswanderungspapiere nach Palästina wartete. Erst kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erreichte er seine neue Heimat. Carmi wurde der erste Pressefotograf des Soldatenmagazins Bamachane und ab 1952 Redaktionsmitglied der Gewerkschaftszeitung Davar, dem Organ des Regierungschefs David Ben-Gurion. Trotz einiger Ausstellungen nach seiner Pensionierung 1976, blieb Carmi in Israel weitgehend unbekannt.
Die Geburtsstunde dieser Berliner Fotoausstellung war im Café Silberstein in Tel Aviv. An einem schönen Tag im Jahr 2000 begegneten sich der 86-jährige Carmi und die 29-jährige deutsche Kulturwissenschaftlerin Alexandra Nocke. Der Künstler trank dort Wodka mit Freunden, die Doktorandin unterhielt sich mit Bekannten über ihr Forschungsthema, "Die Rolle des Mittelmeeres bei der Formung einer israelischen Identität."
Da Carmi gut Deutsch sprach, wurde ihm Nocke vorgestellt. Am nächsten Tag ließ er über einen Freund bei Nocke anfragen, ob er sie einmal fotografieren dürfe - er selbst traute sich nicht. Sie stimmte spontan zu. Hinter seiner Türschwelle fand sie die Geschichte Israels in Schwarz-Weiß.
"Ich habe in seiner kleinen, bescheidenen Wohnung einen Schatz entdeckt", sagt Nocke. Besonders beeindruckend fand sie die Aufnahmen der frühen Jahre Israels, "die sich abwenden von der zionistischen Idealisierung des Menschen." Boris Carmi interessierte sich immer für die einfachen Menschen, die "beladen mit Koffern und Kisten, aus Bagdad oder aus Berlin kamen und ein neues Zuhause suchten", so Nocke. "Es ging ihm um ihre Gefühle der Entwurzelung und Einsamkeit."
Ein wenig fremd ist auch Carmi in Israel zeitlebens geblieben. Er sprach gern Russisch, beschriftete seine Negativhüllen auf kyrillisch und fotografierte am liebsten die Landschaft im Herbst, der bei ihm die Sehnsucht nach Europa weckte.
In wie weit konnte er als Fotograf des Regierungsblattes seine künstlerische Freiheit bewahren? Damit seine Bilder erschienen, musste er sich einen neuen, hebräischen Namen zulegen. So wurde Boris Vinograd zu Boris Carmi, auf Hebräisch "Mein Weinberg". Seinen Vornamen wollte er aber nicht ändern und setzte sich damit auch durch.
Carmis Bilder erzeugen eine Sehnsucht nach einem bescheidenen Israel. Die Menschen auf der Tel Aviver Promenade tragen weiße Hemden und Anzüge; die Soldaten in der Parade des Unabhängigkeitstages reiten auf Kamelen; Beduinen und Ziegen stehen auf einem offenen Feld im Norden Tel Avivs, wo heute ein modernes Einkaufszentren steht; im Stadtzentrum sieht man mehr Radfahrer als Autos; Carmis Prominente sind meistens Künstler und Denker, keine Talkmaster und Sportler.
Die Ausstellung und der parallel erscheinende Bildband fügen die Fotos in den historischen Kontext ein - in die Geschichte der Kriege, der Einwanderung, der Stadt Tel Aviv und den Lebenslauf von Boris Carmi, der während der Vorbereitungen zu dieser Ausstellung verstorben ist.
Die Ausstellung an der Berliner Akademie der Künste läuft bis 27. Juni 2004. Einige Fotos findet man im
Internet unter www.adk.de/carmi (unter "Pressefotos"). Boris Carmi - Photographs from Israel ist auf Englisch und Deutsch im Prestel Verlag, München erschienen, umfasst 112 Seiten mit 138 Abbildungen und kostet 29,95 Euro.