Eine über viele Jahre charakteristische Verdrängung zunehmender Armut wurde spätestens durch die Veröffentlichung des Ersten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung 2001 beendet. Damit wurde der Weg zu einer sachlichen Bestandsaufnahme geebnet, was sich sowohl an einer Vielzahl von Untersuchungen als auch in der Einrichtung interdisziplinär zusammengesetzter Arbeitsgruppen auf kommunaler oder Landesebene zeigt.
Genau hier ist die vorliegende Veröffentlichung einzuordnen. Sie geht zurück auf ein vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördertes Projekt zur Armutsprophylaxe an der Universität Gießen. Es sollen zielgruppenorientierte und handelungsrelevante Empfehlungen zur Beratung, Hilfe und Unterstützung von Haushalten in prekären Lebenslagen, zur Bildungs- und Präventionsarbeit sowie zur Familien- und Sozialpolitik erarbeitet werden.
Die Veröffentlichung ist in acht Kapitel aufgeteilt. Einem Überblick über das Forschungsprojekt folgt der Stand der Armutsforschung sowie die Darstellung des Gießener Forschungsansatzes. Im Anschluss daran werden Experteninterviews zur Erschließung des Forschungsfeldes sowie das Konzept und die methodischen Grundlagen zu den Einzelfallstudien beschrieben. Im Hauptteil wird auf einem Umfang von mehr als 150 Seiten die Situation der 22 Projekthaushalte - hieraus ergibt sich auch der Titel der Veröffentlichung: Steckbriefe von Armut - anhand der Kriterien Erwerbseinkommen, zeitliche Situation, Bildung, Mietbelastung, Wohnungsgröße, Gesundheit, psychosoziale Situation, institutionelle Netzwerke, familiäre Netzwerke, Schulden und Alltagskompetenzen analysiert.
Aufgrund der bis hierher geleisteten Analyse können die Autorinnen Handlungsspielräume für betroffene Haushalte aufzeigen. Vier zentrale Punkte werden herausgearbeitet: erstens die Erweiterung des "Humanvermögenspotenzials" über berufliche Qualifikation und Verbesserung der Alltagskompetenzen; zweitens die Erhöhung des Einkommens durch Erwerbsarbeit sowie Inanspruchnahme der dem Haushalt zustehenden Transferleistungen; drittens geringere private Konsumausgaben durch Änderungen im Haushaltsstil (Verzicht oder Eigenleistung statt Marktbezug) und viertens die Mobilisierung sozialer Netzwerke durch Hilfe aus dem Familien- und Freundeskreis, durch professionelle Hilfe und durch Nutzung vorhandener Infrastruktur im häuslichen Umfeld.
Im letzten Kapitel geht es zunächst um eine stärkere Vernetzung der Hilfesysteme vor Ort, wonach bei mehr Kundenorientierung und einem modernen Dienstleistungsverständnis dezentral "alles aus einer Hand" angeboten wird und wobei statt verwaltungsmäßiger Abfertigung wieder in stärkerem Maße "Sozialarbeit" im Vordergrund stehen sollte. So kann bundespolitisch die Einführung einer schon viele Jahre diskutierten Grundsicherung als auch ein gerechterer Familienlastenausgleich die vorhandene Armut zumindest vermindern, wenn schon nicht vermeiden helfen. Zudem sind die Vermittlung von Alltags- und Haushaltsführungskompetenzen für beide Geschlechter in unser Bildungssystem aufzunehmen, da sie eine wesentliche Voraussetzung zur Lebensbewältigung sind. Am Schluss des Buches finden sich ein Literaturverzeichnis sowie ein Anhang mit dem benutzten Fragebogen.
Die Ausführungen sind gut zu lesen, für jedermann verständlich und bieten auch dem in der Materie nicht so Kundigen anhand der Beschreibung der Haushalte einen sehr guten Einstieg. Fraglich ist allerdings, ob bei der derzeitigen Kürzungspolitik der Bundesregierung die vorgeschlagenen Maßnahmen überhaupt greifen können.
Uta Meier, Uta Heide Preuße, Eva Maria Sunnus
Steckbriefe von Armut.
Haushalte in prekären Lebenslagen.
Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2003;
372 S., 14,90 Euro