Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts machten sich die Europäer daran, Afrika unter sich aufzuteilen. Und sie gaben sich nicht eher zufrieden, bis auch das weltabgeschiedenste Wüstengebiet - formal wenigstens - unter europäische Herrschaft gestellt war. Die vom deutschen Reichskanzler Bismarck einberufene so genannte Kongo-Konferenz, die von November 1884 bis Februar 1885 in Berlin stattfand, trug entscheidend zur völkerrechtlichen Fixierung und Regelung des Teilungsprozesses in Afrika bei.
In vielen Büchern wird immer wieder das Bild bemüht, Afrika sei auf dieser Konferenz wie ein Geburtstagskuchen aufgeteilt worden. So suggestiv dieses Bild ist, so trifft es doch nicht zu. "Keineswegs aber", schreibt der Berliner Politologe und Historiker Franz Ansprenger, "zogen die europäischen Diplomaten in Berlin (wie viele Afrikaner hartnäckig meinen) mit dem Lineal Grenzen kreuz und quer durch den Kontinent". Die Vertreter der Imperialmächte einigten sich vielmehr auf einen Rechtsgrundsatz, um Krisen untereinander möglichst zu verhüten. So steht in Artikel 35 der Generalakte, die am 26 Februar 1885 unterzeichnet wurde: "Die Signatarmächte ... anerkennen die Verpflichtung, in den von ihnen an den Küsten des afrikanischen Kontinents besetzten Gebieten das Vorhandensein einer Obrigkeit zu sichern, welche hinreicht, um erworbene Rechte ... zu schützen."
In den drei folgenden Jahrzehnten bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden dann die Grundmauern des bis heute bestehenden afrikanischen Staatensystems gelegt. Die Europäer machten im gegenseitigen Wettstreit jene internationalen Grenzen aus, die heute noch Geltung haben; und die Kolonialherren begannen, in den von ihnen eroberten Gebieten koloniale Verwaltungsstaaten zu errichten. Wo früher eine Vielzahl unterschiedlichster politischer Systeme nebeneinander existierte, wurde im Gefolge der kolonialen Durchdringung der territoriale Verwaltungsstaat zum alleingültigen staatlichen Organisationsmodell.
Dabei kam es in der Tat nur zu einem Krieg zwischen Europäern um afrikanischen Landbesitz: Im so genannten Burenkrieg zwischen 1899 und 1902 standen sich in Südafrika Buren und Briten gegenüber. Dieser Krieg zählte zu den härtesten und blutigsten Auseinandersetzungen der Kolonialgeschichte. Ansonsten schrammten europäische Staaten zwei Mal knapp an bewaffneten Konflikten vorbei: Großbritannien und Frankreich balgten sich 1898 in der sogenannten "Faschoda-Krise" um die Region am oberen Nil; die Briten setzten sich durch. Die deutschen Ambitionen, sich im noch nicht "verteilten" Marokko festzusetzen, ließen 1905/06 und dann wieder 1911 einen europäischen Krieg um Afrikas willen ebenfalls gefährlich nahe rücken. Frankreich teilte dann schließlich Marokko mit Spanien.
Die von den europäischen Kolonialherren vorgenommenen Grenzziehungen nahmen vielerorts keine Rücksicht auf historisch gewachsene Gegebenheiten. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Große Teile des zum Kalifat Sokoto gehörenden Emirats Adamaua gerieten unter deutsche Herrschaft; dessen politisches Zentrum Yola hingegen wurde von den Engländern zu Nordnigeria geschlagen. Auch die Ewe sprechenden Gesellschaften im Voltagebiet in Westafrika sahen sich durch die Grenzziehung zwei verschiedenen Kolonien zugeordnet: die einen dem deutschen Togo, die anderen der englischen Goldküste.
Geografische Konstellationen machen diese Willkür ebenfalls deutlich. Das Territorium des Staates Senegal wird etwa durch den Staat Gambia wie mit einem Schlauch in der Hälfte durchschnitten. Gambia weist dabei eine Länge von etwa 300 Kilometern und eine Breite von maximal 50 Kilometern auf und ist auf allen Landseiten von Senegal umgeben. Der so genannte Caprivi-Zipfel durchtrennt in ähnlicher Weise Botswana und Angola und erschwert die ökonomische Integration in der Region. Als ähnlich problematisch für die wirtschaftliche Entwicklung erwiesen sich die Grenzen von Benin (ehemals Dahomey) und Togo. Beide westafrikanische Staaten haben "wie zwei nebeneinander gelegte Handtücher" (Leonhard Harding) jeweils einen sehr schmalen Küstenstreifen und ein langgestrecktes Hinterland. Die Kolonialherren errichteten die Hauptstädte Coutenou und Lomé an der Küste, was die Integration aller Teile des Territoriums in einen modernen Staat zusätzlich erschwerte.
Diese Form der willkürlich gezogenen Grenzen wird bis heute nicht selten als eines der Grundübel in Afrika angesehen. Dass diese Art der Grenzziehung Probleme schuf, indem sie Freunde trennte und Feinde schuf, ist naheliegend. Die neuen Grenzen verteilten Großfamilien auf unterschiedliche europäische Verwaltungs- und Sprachgebiete, unterbrachen aber auch Handelsrouten, die Bevölkerungszentren verbunden und den Austausch etwa von Nahrungsmitteln in benachbarten ökologischen Zonen ermöglicht hatten. Dennoch sollte die Bedeutung der Grenzen nicht überbewertet werden. Zumindest bis zum Zweiten Weltkrieg hat der koloniale Staat nicht die Durchsetzungskraft gehabt, die Mobilität der Menschen gleichsam zu begrenzen. Handel, Arbeitsmigration, grenzüberschreitende Weidewirtschaft sowie Fluchtbewegungen vor Hunger waren möglich und üblich.
Als wesentlich schwerwiegender erwies sich die Grenzziehung nach innen, das heißt die mit dem Aufbau kolonialer Verwaltungsstaaten einhergehende Territorialisierung von Herrschaft. Der Prozess, der heute unter dem Label "Konstruktion von Ethnizität" firmiert, nahm seinen Ausgang nicht zuletzt in dem Bestreben der Europäer, eindeutig abgrenzbare Verwaltungsbezirke einzurichten, an die man je eigene bürokratische, juristische und Haushaltskompetenzen delegieren konnte. Die vielfältigen gesellschaftlichen Organisationsformen des vorkolonialen Afrika wurden allesamt umgedeutet in "tribale" Einheiten, in so genannte Stämme, die man ihrerseits nach dem Muster des heimischen europäischen Nationalstaates als Sprach-, Kultur-, Abstammungs- und politische Gemeinschaften mit abgegrenzten Territorien interpretierte.
In der Periode der Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Bedeutung der von den Kolonialmächten installierten Grenzen jedoch zu. Die Auseinandersetzungen um die Ressourcen der Zentrale und die Ausbildung politischer Klientelsysteme im Kampf um die Unabhängigkeit fanden innerhalb der politischen Grenzen statt - und diese wurden von der nationalen Elite nun verteidigt und zementiert. Den zumeist in Europa ausgebildeten Oberen der jungen afrikanischen Staaten war die Gefahr der Revision der kolonialen Grenzen besonders bewusst. Sie rechneten damit, dass es in einem solchen Fall zu zahlreichen Kriegen kommen würde, ähnlich wie im Europa des 19. Jahrhunderts. Die neuen Staaten Afrikas versprachen sich daher, die Grenzen gegenseitig zu respektieren. Dass diese Grenzen von Fremden willkürlich gezogen waren, nahm man in Kauf. Diese Entscheidung wurde in den ersten Jahrzehnten der Unabhängigkeit in bemerkenswerter Weise durchgehalten.
Der Ost-West-Konflikt mit seiner Rivalität der Groß- und Supermächte um Einflusszonen trug wesentlich dazu bei, den territorialen Status quo und damit die Grenzen in Afrika zu konservieren. In der Regel waren Grenzfragen bei zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen eher Auslöser oder Vorwand, nie die eigentlichen Kriegsgründe. Häufig ging es eher um Fragen regionaler Hegemonie, um die Schaffung von Sicherheitszonen sowie um die gezielte Unterstützung von Aufständischen im Nachbarland. So waren beim Krieg zwischen Uganda und Tansania 1978/79 nicht Grenzprobleme maßgeblich, sondern das Herrschaftssystem in Uganda unter Idi Amin.
Nach dem Ende des Kalten Krieges nehmen gewaltsame Grenzkonflikte in Afrika auffallend zu. Nigeria und Kamerun streiten etwa seit einigen Jahren zum Teil mit Waffen um die öl- und fischreiche Bakassi-Halbinsel. Schlagzeilen hierzulande machte auch der Grenzkrieg zwischen Eritrea und Äthiopien. Allerdings sind viele afrikanische Staaten bereit, bei Grenzstreitigkeiten den Internationalen Gerichtshof in Den Haag anzurufen und sich dessen Rechtsprechung zu unterwerfen. Die meist willkürlichen kolonialen Grenzen haben sicherlich politische und wirtschaftliche Probleme geschaffen und neue regionale Identitäten produziert. Doch nicht diese Grenzen, sondern die Schwäche des postkolonialen Staates ist die Hauptursache vieler gegenwärtiger Konflikte südlich der Sahara. Andreas Eckert Der Autor ist Professor für die Geschichte Afrikas an der Universität Hamburg.