Libanon und Syrien sind nach wie vor Feindesland. Zwar gibt es Friedensverträge mit Ägypten und Jordanien, aber seit Beginn der Intifada im Herbst 2000 gilt es für Israelis als gefährlich, dorthin zu reisen. In die Palästinensergebiete wagt sich heute nur mehr die Armee. "Stellen Sie sich vor, Israel sei eine Insel", sagt ein Jerusalemer Diplomat, um die Eigenwahrnehmung zu erläutern. Weil die Nachfrage gesunken ist - Touristen kommen kaum noch -, gibt es heute aber nicht einmal mehr einen Passagierschiffsverkehr. Wer also die Heimat verlassen will, muss schon ins Flugzeug steigen.
1,3 Millionen Israelis fliegen jährlich ins Ausland, darunter viele Geschäftsleute, aber auch immer mehr Urlauber. Günstige Reisepakete locken in die Ferne, wo es oft - samt Flugticket - billiger kommt, ein paar Tage lang Ferien zu machen als in den meist teuren israelischen Hotels. Neben der Türkei ist vor allem der Alte Kontinent ein beliebtes Ziel. Die neue grenzenlose Realität in Europa weckt Begeisterung. Israelis schwärmen davon, was für ein tolles Gefühl das sei, im Zug oder mit dem Auto von einem Land ins andere zu fahren, ohne einen Pass herzeigen zu müssen. Im heutigen Nahen Osten klingt das wie Science Fiction.
Es gab aber auch hier schon einmal andere Zeiten. Nach dem Osloer Abkommen von 1993 machten Israelis gerne Kurzausflüge ins Westjordanland: zum palästinensischen Schmaus nach Bethlehem, abends zum Jazz nach Ramallah oder nachts ins Casino nach Jericho. Wer nur die brutale Realität nach 2000 kennt, kann sich kaum vorstellen, dass man von Jerusalem bis Ramallah mit dem Auto nur zwanzig Minuten brauchte. Wo die Grenze verlief zwischen Israel und den gerade erst etablierten Autonomiegebieten, war gar nicht so leicht auszumachen.
Heute ist diese Strecke - wie der Rest des Westjordanlandes - von Checkpoints übersät. Die besten Chancen voran zu kommen hat man als Ausländer, wenn man sich wie die Palästinenser von einem Checkpoint zum nächsten jeweils mit dem Sammeltaxi bewegt. Der grösste Kontrollpunkt auf dem Weg nach Ramallah ist Kalandiya. Weil die meisten "Grenzgänger" zu Fuß durch den staubigen und steinigen Pfad an den israelischen Soldaten vorbei gehen, haben sich im Umfeld längst Händler mit Ständen niedergelassen. Dort werden Kochtöpfe, Babystrampler, Herrensocken feil geboten, manchmal auch starker schwarzer Kaffee und Gebäck. Wie lange die Reise über Kalandiya dauert, lässt sich im Vorfeld nicht bestimmen. Wenn irgendwo ein Anschlag verübt wurde, kann es lange Wartezeiten geben.
Manchmal stehen vor Kalandiya auch israelische Frauen, die zum Teil schon die Grossmütter der diensthabenden Soldaten sein könnten. Sie gehören der Gruppe "Machsom Watch" an und haben es sich zum Ziel gesetzt hat, das Verhalten der israelischen Soldaten zu überwachen, die die Papiere und Genehmigungen der Palästinenser überprüfen. Ihre Anwesenheit soll Demütigungen und Übergriffe verhindern. Diese Frauen bilden eine ganz besondere Art von Grenzpolizei - sie kann zwar nicht eingreifen, aber allein schon die Tatsache, dass sie da steht, bleibt nicht ohne Wirkung.
Die Checkpoints haben nicht nur den Alltag der Palästinenser im Griff, sie trennen auch jene, die auf beiden Seiten am Dialog festhalten wollen. Das führt dazu, dass sich Israelis und Palästinenser in diesen Tagen am Checkpoint verabreden und ihre Gespräche dort zusammen im Auto führen. Auf diese Weise heckten Yossi Beilin und Yasser Abed Rabbo das Genfer Abkommen aus. Andere begeben sich in den virtuellen Raum und schicken einander E-Mails. So funktioniert auch das israelisch-palästinensische Ko-Herausgeberteam von www.bitterlemons.org, eine Internetzeitung, die sich mit nahöstlicher Politik beschäftigt. Hier ist alles ganz nah beieinander: die grenzenlose globalisierte Welt und ein 100 Jahre alter Streit um Land.
Weil die Begegnungen vor Ort so kompliziert sind, reisen Israelis und Palästinenser gerne zusammen ins Ausland, um dort an organisierten Treffen teilzunehmen. Da kann es passieren, dass ein Palästinenser von seiner jüngsten Begegnung mit Israelis erzählt, die in Paris, Rhodos, Istanbul, Berlin oder London statt gefunden hat. Sogar bis nach Tokio flogen schon "gemischte" Delegationen, wo sich dann ein Palästinenser aus Ostjerusalem mit einem Israeli aus Westjerusalem angeregt über die Lage unterhalten hat. Theoretisch hätten das die beiden auch in ihrer Heimatstadt tun können. Praktisch aber wird die unsichtbare Grenze zwischen dem Ost- und dem Westteil Jerusalems kaum überwunden. Nur Touristen passiert es, dass sie von einer Seite auf die andere laufen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Denn jeder Einheimische weiss genau, welches Viertel arabisch und welches jüdisch ist. Solche Grenzen verlaufen in den Köpfen. Man überquert sie nur, wenn es unbedingt sein muss.
Seitdem die Angst vor Selbstmordanschlägen den Alltag der Israelis prägt, ist der Ruf nach Trennung noch lauter geworden. Der Mauerzaun, der vor Terroristen schützen soll und sich dabei aber grosse Stücke palästinensischen Bodens miteinverleibt, verändert nun die gesamte Landschaft. Der geplante Verlauf ist doppelt so lang wie die Grüne Linie, die Israel vom Westjordanland trennt. Wo sich der Mauerzaun schlängelt und windet, sind palästinensische Dörfer fast ganz eingesperrt. Ursprünglich war diese Abgrenzung sogar eine Idee der Linken in Israel gewesen. Sie wollte ihn bauen, um für Ruhe zu sorgen und die darniederliegende Friedensbewegung wiederzubeleben. Und weil diese ursprünglich als reine Sicherheitsmassnahme verkaufte Idee bei der Bevölkerung so populär war, hat sie die rechte Regierung übernommen - und dann an die eigenen Bedürfnisse angepasst.
Es gibt aber auch ein grenzübergreifendes Engagement gegen den Mauerzaun, oder zumindest dessen Verlauf. Israelische linke Gruppen demonstrieren Seite an Seite mit den betroffenen Palästinensern. Aber auch ganz normale Bürger aus Mevasseret bei Jerusalem protestierten mit ihren arabischen Nachbarn vor Gericht gegen den Zaun, der sich zwischen ihnen erheben sollte. Mit Erfolg. Jetzt soll die Route verlegt werden. Der Zaun sperre nicht nur die Palästinenser aus und in Enklaven ein, er umzäune auch die Israelis, sagt ein älterer Jude. Das erwecke bei ihm Erinnerungen ans Ghetto.
Die Angst vor Terror hat in Israel nicht nur zu einer breiten Unterstützung für die Idee eines Trennzaunes geführt, sondern auch zu mehr Abgrenzung innerhalb ihres eigenes Landes. Wer mit dem öffentlichen Bus fährt, wird irgendwann feststellen, dass er jeden einsteigenden Fahrgast genau mustert. Doch auf die Frage, wie lässt sich ein Attentäter erkennen, gibt es keine befriedigende Antwort. Im Sommer mag seine üppige Kleidung auffallen, der nötig ist, um den Sprengsatzgürtel zu verbergen. Vielleicht lässt er sich an seinem starren Blick erkennen, aber sicherlich nicht an seinem Aussehen. Denn Attentäter waren auch schon als ultraorthodoxe Juden oder israelische Soldaten verkleidet, oder trugen einen Ohrring, um wie einer aus der coolen Tel Aviver Szene zu wirken. Zur Strategie des Sicherheitskontrolleure vor den Eingängen zu den Supermärkten und Cafés gehört es neuerdings, die Kunden außer dem Öffnen ihrer Taschen jetzt auch zum Sprechen aufzuforden. Das Reden könnte einen Attentäter überfordern; er mag sich auch durch seinen Akzent verraten oder weil er nicht Hebräisch kann. Manchmal aber täuschen sich auch die Attentäter, so wurde vor kurzem erst ein palästinensischer Junge in Jerusalem beim Joggen erschossen. Sie hatten ihn für einen jüdischen Israeli gehalten.
Es gibt heute nur noch ganz wenige Orte, wo solche Kategorien keine Rolle spielen. Dazu gehören die Krankenhäuser in Israel. Sie sind trotz all der Mauern, Zäune und Checkpoints ein Niemandsland geblieben. Die Ärzte betreuen jüdische und arabische Patienten, sie selber bezeichnen ihr Reich als letzte Insel der Koexistenz. Da pflegen arabische Ärzte jüdische Anschlagsopfer, da werden auch schwer verwundete Selbstmordattentäter von jüdischen Ärzten betreut. Organe jüdischer Patienten retten das Leben arabischer Bedürftiger und umgekehrt. Die Reihenfolge spielt keine Rolle. Die Grenze ist hier nur der Tod.
Gisela Dachs ist Israel-Korrespondentin der "Zeit".