Wolfram Henn ist Professor für Humangenetik und Ethik in
der Medizin an der Universität des Saarlandes und Mitglied der
Kommission für Grundpositionen und ethische Fragen der
Deutschen Gesellschaft für Humangenetik. In seinem Buch geht
es um vier Themenkreise: Wie ist es mit unserer Toleranz bestellt
gegenüber der biologischen Verschiedenheit a. anderer Arten,
b. anderer Völker, c. dem anderen Geschlecht und d. dem
gesundheitlich Anderen?
Der Titel des Buches widerspricht einigen gängigen
Klischees - derart gängigen, dass man geneigt ist zu sagen:
das wusste ich schon. Wer sich aber mit den Inhalten im Detail
auseinandersetzt, wird sich von einer Reihe weiterer möglicher
Klischees verabschieden können. Hier einige Beispiele:
- Es gibt keine Beziehung zwischen Hirnvolumen und Intelligenz;
ebenso ist es evolutionsbiologisch abwegig, an rassen- oder gar
geschlechtsspezifische Unterschiede in der allgemeinen Intelligenz
zu glauben.
- Der wichtigste Steuermechanismus bei der Entwicklung zu Mann
oder Frau sind weniger die geschlechtsbestimmenden Gene als die
Geschlechtshormone (und ein Geschlechtsbewusstsein); die
Neurobiologie liefert keine Grundlage für ein Schubladendenken
nach sogenannten Frauen- und Männerberufen.
- Nicht bei allen Genen sind beide von Vater und Mutter ererbten
Kopien aktiv; ganze Chromosomenabschnitte unterliegen einer
elternspezifischen Prägung ("Imprinting"). Da jeder Organismus
nicht nur sozial, sondern auch genetisch Vater und Mutter
benötigt, würden einem geklonten Kind (jedenfalls bei
Anwendung der bisher üblichen Praktiken) die notwendigen
Genaktivitäten eines Elternteils fehlen.
- Das geistige Entwicklungspotential eines behinderten Menschen
ist - wie bei gesunden auch - nicht nur vom Funktionszustand eines
einzelnen Gens abhängig, sondern vom Zusammenwirken einer
Vielzahl von genetischen und sozialen Faktoren. Auch für
Behinderte gilt: kein Mensch ist wie der andere.
- Auch eine monogenetische Erbkrankheit wie die Mukoviszidose ist
uneinheitlich: für das für diese Erkrankung
verantwortliche, den Salzhaushalt regulierende Protein
beziehungsweise Gen gibt es über tausend verschiedene
Mutationen mit einer entsprechend völlig unterschiedlichen
Krankheitssymptomatik.
- Viele prädiktive Gentests sind vor allem ein Geschäft
für kommerzielle Labors und Patentinhaber. Tests auf
Brustkrebs auslösende Genmutationen liefern weder eine sichere
Prognose für eine künftigeErkrankung noch sichern sie im
negativen Fall Risikofreiheit.
- Unsere genetische Konstitution ist grundsätzlich
unvollkommen. Bei mehreren tausend, meist rezessiven Erbleiden ist
wohl jeder Mensch mit hoher Wahrscheinlichkeit Träger mehrerer
solcher Erbkrankheiten. Eine Keimzelle unterscheidet sich gar
infolge spontaner Neumutationen in etwa 100 Einzelinformationen von
der Körperzelle des Menschen, der sie gebildet hat.
- Die evolutionäre Notwendigkeit genetischer Vielfalt ist
ein wichtiges Argument gegen jeden Versuch gezielter
Vereinheitlichung des menschlichen Genbestandes durch Eugenik.
- In fast jeder einzelnen afrikanischen Population gibt es mehr
genetische Vielfalt als im gesamten Rest der Welt zusammen.
- Die meisten Behinderungen eines Menschen sind nicht erblich
bedingt, sondern wurden vor oder nach der Geburt erworben - das ist
ein entscheidenes Argument gegen eine
Präimplantationsdiagnostik!
- Jeder Form artifizieller Vitaminsubstitution (etwa durch den
gentechnisch erzeugten "Golden Rice") ist eine originär
ausgewogene Ernährung vorzuziehen; die Empfehlung der
Welternährungsorganisation: Rückbesinnung auf gewachsene
regionale Formen des Landbaus.
Die Zahl der Beispiele ließe sich vermehren. Anders als
der etwas reißerische Titel vermuten lässt, ist das Buch
getragen von wohl ausgewogener und fundierter Sachkenntnis und
-information. Die Literaturhinweise allein umfassen 13 Seiten.
Fazit: Ein spannendes Buch mit einer teils neuen Sicht auch auf
Sinn oder Unsinn von Gentechnik. Wolfgang Hanneforth
Wolfram Henn
Warum Frauen nicht schwach, Schwarze nicht dumm und Behinderte
nicht arm dran sind.
Der Mythos von den guten Genen.
Herder Verlag, Reihe "Herder-Spektrum",
Freiburg/Br. 2004; 190 S. , 8,90 Euro