Einerseits dem Staat Israel historisch-moralisch gegenüber in die Verantwortung genommen, andererseits wirtschaftliche Interessen gegenüber der arabischen Welt wahrnehmend, fiel es der Bonner Außenpolitik extrem schwer, einen geeigneten Standpunkt zu finden. Eine Spagatpolitik wurde erforderlich, in der immer wieder Rückschläge auftraten. Jeglicher Einsatz zugunsten der arabischen Seite wurde von der israelischen als Verrat bezeichnet - ein Verrat an der sich aus dem Holocaust ergebenden Verpflichtung gegenüber dem jüdischen Volk. Die Deutschen - so der Vorwurf aus Jerusalem - würden ihre historische Schuld abwälzen und sich von Interessen an arabischen Öllieferungen und eigenen Waffenverkäufen eher leiten lassen als durch die Gebote der Sühne.
Wurde also die Moralpolitik tatsächlich der Realpolitik untergeordnet? In der Retrospektive ergibt sich ein durchwachsenes Bild: Bis zum Sechs-Tage-Krieg wurden die Politik Israels und sein anfänglicher Kampf ums physische Überleben unkritisch akzeptiert, sogar gewürdigt. Geheime Waffenlieferungen sollten die Existenz des Staates Israel sichern. 1965 flog der Waffenhandel auf. Heftige diplomatische Reaktionen folgten. Der ägyptische Staatspräsident Nasser übte politische Vergeltung und empfing den Staatschef der DDR, Walter Ulbricht, offiziell und mit allen militärischen Ehren in Kairo. Die DDR war damit diplomatisch anerkannt worden - ein Vorgang, der Bonn massiv verärgerte. Die Bundesregierung verzichtete auf die Anwendung der Hallstein-Doktrin, die einen Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Ägypten vorgesehen hätte. Statt dessen wurde noch im selben Jahr der Staat Israel diplomatisch anerkannt - ein Schritt, der aus Sicht vieler Deutscher längst überfällig war. Für die arabische Seite hingegen, die Israel als ihren Todfeind betrachtete, lag darin jedoch ein besonderer Affront: Bis auf wenige Ausnahmen brachen die Araber ihre diplomatischen Beziehungen zu Bonn für mehrere Jahre komplett ab.
Die jungen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel erhielten bereits früh Risse - die "uneingeschränkte Solidarität" erfuhr schnell Einbrüche. Verantwortlich hierfür war einerseits die anhaltende Besatzungspolitik Israels, die seit 1967 (Sechs-Tage-Krieg) den Nahen Osten in Spannung hielt und für die palästinensisch-arabische Flüchtlingsfrage keinerlei Perspektive bot. Erschwerend kam andererseits die Ölkrise im Gefolge des Yom-Kippur-Krieges von 1973 hinzu. Die arabischen Staaten drohten, jedem Staat, der Israel unterstützen würde, die Öllieferungen einzuschränken. In der Wirtschaft wurden dramatische Einbrüche verzeichnet. Aus realpolitischer Sicht konnte nur eines die Konsequenz sein: Ein subtiles Abrücken von der stark Israel verbundenen Position und eine Zuwendung in Richtung der Araber und ihrer Interessen. Denn die Abhängigkeit von arabischem Erdöl, das seinerzeit einen Anteil von etwa 50 Prozent der bundesdeutschen Gesamtrohöleinfuhren ausmachte, war erdrückend. Zunehmend wurden im Westen Zugeständnisse in der Palästinenser-Frage gemacht, da sich alle Araber mit ihr identifizierten. Zwar haftete den Palästinensern in der Bundesrepublik nach dem verheerenden Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft in München 1972 das Stigma von Terroristen an, jedoch waren die palästinensische "Sache" und ihr Befreiungskampf seither weiträumig bekannt.
Im September 1974, nach der Rede des PLO-Chefs Yassir Arafat vor der UN-Generalversammlung, kam es zum Eklat. Die Bundesrepublik Deutschland forderte als erstes Land der westlichen Welt, das "Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes" anzuerkennen. Als Konsequenz dessen müssten die Palästinenser selber entscheiden, ob sie "auf dem von Israel zu räumenden Gebiet eine eigene Autorität errichten" wollen "oder eine andere Lösung wählen". Israel, das die Palästinenser nicht als eigenes Volk anzuerkennen bereit war, sah sich durch die Forderung Bonns maßlos enttäuscht. Das "Land der Täter" habe mit dieser Forderung seine historisch-moralische Verantwortung aufs gröbste verletzt.
Verkannt wurde hierbei, dass es nicht die Absicht der Bundesregierung war, dem Staat Israel damit zu schaden. Vielmehr sollte über den Umweg der Palästinenser darauf hingewiesen werden, dass auch in Deutschland das Selbstbestimmungsrecht bis dato nicht für alle Deutschen umgesetzt worden sei.
Die "Verbundenheit" mit Israel blieb, wie auch das folgende Beispiel zeigt: Anfang der 80er-Jahre platzte ein milliardenschwerer Verkauf von deutschen Leopard II. Panzern an die Saudis, die sich durch die sowjetische Afghanistan-Invasion bedroht fühlten. Saudi Arabien, der erklärte Gegner Israels, dürfe keinesfalls mit deutschen Waffen beliefert werden, so seinerzeit die Mehrheitsmeinung im Deutschen Bundestag. Kanzler Helmut Schmidt fuhr 1982 also mit leeren Händen zum Staatsbesuch nach Riad. Aufgrund der angespannten Energieversorgungslage zu Beginn des Iran-Irak-Krieges galt es jedoch, Saudi-Arabien als Freund zu halten. Ohne Panzer im Gepäck konnte Schmidt den Saudis nur Konzessionen in der Palästinenser-Frage anbieten. Man könne - so Schmidt - im Nahost-Konflikt nicht einer Seite alle Moral zubilligen und bei der anderen Seite "die Achseln zucken".
Zunehmende militärische Auseinandersetzungen im Nahen Osten im Juni 1982 entfachten in Deutschland einen erneuten Sturm der Entrüstung bezüglich israelischer Politik - diesmal im Libanon. Nachdem Christenmilizen unter Duldung der israelischen Armee in zwei palästinensischen Flüchtlingslagern (Sabra und Shatilla) ein Massaker an mehreren hundert Menschen angerichtet hatten, wurde der israelische Verteidigungsminister Ariel Sharon gedrängt, von seinem Amt zurückzutreten. Viele Deutsche fragten sich seinerzeit, wie ein Volk, das selber den Holocaust erfahren hatte, eine solche Vorgehensweise seiner Armee tolerieren konnte. Vergleiche der israelischen Armee mit den Nazis wurden insbesondere in linksradikalen Kreisen der Bundesrepublik erstellt. Konnte ein Staat wie Israel, in dem viele Opfer des Holocausts ihre Zuflucht gefunden hatten, von Deutschen, den "ehemaligen Tätern", in seiner Politik kritisiert werden? Andere argumentierten, dass gerade die Deutschen - eben wegen der Ereignisse von Auschwitz - die Verpflichtung hätten, auf Menschenrechtsverletzungen ausdrücklich hinzuweisen, dies auch im Falle Israels.
Die Diskussion darüber sollte nicht abreißen. Mit Beginn der ersten Intifada liefen vermehrt Bilder von angeschossenen jugendlichen Palästinensern über die Bildschirme, die auf israelische Soldaten Steine geworfen hatten. Der Bundestag debattierte im Dezember 1987 über das Thema, wobei die Frage aufgeworfen wurde, ob die Palästinenser als "Opfer der Opfer" zu betrachten seien. Mit den Worten, es seien gierige Gleichungen unterwegs, die den Holocaust verharmlosen wollten, brach Otto Schily seine Rede mit Tränen in den Augen vorzeitig am Rednerpult ab. "Das Blut lässt sich nicht abwaschen."
Der Beginn des Nahost-Friedensprozesses 1993 brachte auch für die bundesdeutsche Nahost-Politik einen Wandel. Das Palästinenser-Problem verlor seither zunehmend seine Bedeutung als Konfrontationspunkt innerhalb der deutsch-israelischen Beziehungen. Heute nimmt Deutschland gegenüber der PLO und im Nahost-Friedensprozess eine europäische Vorreiterrolle ein. Als erstes EU-Land eröffnete es in Jericho ein Verbindungsbüro und setzte in der EU-Erklärung von Berlin die Forderung nach einem "unabhängigen" und "eigenständigen Staat Palästina" durch. Deutschland ist heute auch zum wichtigsten Geldgeber und größten Nettofinanzier für die Palästinensischen Autonomiegebiete geworden, die umgerechnet auf ihre eigene Bevölkerungszahl die höchsten deutschen Entwick-lungszuwendungen erhalten. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse brachte es am 23. Mai 2002 im Deutschen Bundestag auf den Punkt: Bezug nehmend auf den Friedensprozess in Nahost erklärte er, dass die Deutschen "…diese Friedensinitiative nachdrücklich unterstützen, weil wir vor dem Hintergrund unserer Geschichte eine besondere, eine doppelte Verantwortung tragen: für Israel und für die Palästinenser".
Deutsche Waffenverkäufe verlaufen heute offenbar problemlos an beide Seiten. Israel erhält mehrere U-Boote kostenlos aus deutschen Beständen, gleichzeitig werden den Vereinigten Arabischen Emiraten Fuchs-Spürpanzer angeboten. Auch beim Öl hat sich einiges verändert: Deutsche Rohöleinfuhren aus dem arabischen Raum sind auf etwa zwölf Prozent zurückgefahren worden, der größte Teil deutscher Energie kommt heute aus Norwegen, Großbritannien und Russland.
Dr. Kinan Jäger, geboren in Damaskus, ist Lehrbeauftragter für Politische Wissenschaft an der Universität Bonn.